Diabetiker werden häufiger depressiv

Werbung
52 LEIB & SEELE
F R A N K F U R T E R A L L G E M E I N E S O N N TAG S Z E I T U N G , 1 2 . A P R I L 2 0 1 5 , N R . 1 5
SAGEN SIE MAL,
FRAU DOKTOR
F R AG E N V O N L E S E R N ,
BEANTWORTET VON ÄRZTIN
C H R I S T I N A S T E FA N E S C U
Sagen Sie mal, Frau Doktor,
warum riecht der Urin nach dem
Spargelessen so intensiv?
Diese Frage, die mich von einem
Leser erreicht hat, kommt jedes
Jahr pünktlich zum Beginn der
Spargelsaison wieder auf. Dabei
kann man fast den Eindruck gewinnen, dass diese Frage schon so
salonfähig ist, dass sie sogar am
Tisch schon gestellt werden darf,
während das weiße lange Gemüse
noch verspeist wird.
Und obwohl schon viel drüber
gesprochen wurde, meint der Leser, vergesse man bis zum nächsten Jahr doch wieder die Begründung für dieses körperliche Phänomen.
Damit Sie dieses Jahr sicher mitreden können am Tisch, habe ich
mich der Frage des Lesers noch
mal gewidmet, noch bevor die
Spargelsaison in diesem Jahr so
richtig losgeht.
Mit dem Uringeruch nach dem
Spargelverzehr verhält es sich wie
mit dem Zungerollen oder dem
Ohrenwackeln: Der eine kann es,
der andere nicht. Genauer formuliert, müsste man eigentlich sagen,
der eine hat es, der andere nicht schuld sind nämlich die Gene.
Mehrere Aromastoffe im Spargel sind schwefelhaltig, dominierend ist darunter die Asparagusinsäure, die auch Asparagussäure genannt wird.
Menschen, die beim Toilettengang verraten, was sie heute zu
Mittag verspeist haben, besitzen
ein Enzym, dass die Asparagussäure in schwefelhaltige Stoffe mit
solch schwierigen Namen wie
S-Methyl-thioacrylat sowie S-Methyl-3-(methylthio)thioproponiat
zersetzt. Und dass Schwefel unangenehm riecht, ist allseits bekannt.
Wer dieses Enzym nicht besitzt, hat in diesem Fall Glück, bei
ihm wird die Aspargussäure nicht
zersetzt, und deshalb riecht sein
Urin nicht nach Schwefel.
Aber es gibt auch Menschen,
die riechen den Geruch des Urins
nach dem Spargelverzehr nicht
etwa, weil er nicht da ist, sondern
weil sie wegen einer Mutation im
Gen eines Geruchsrezeptors den
spezifischen schwefeligen Duft
nicht riechen können. Sie leiden
an einer sogenannten spezifischen
Anosmie, also einem selektiven
Nicht-Riechen. Das lassen unter
anderem die Studiendaten von
Wissenschaftlern aus Philadelphia
aus dem Jahr 2010 vermuten.
Eins ist aber in jedem Fall sicher: Der beißende Geruch des
Urins nach dem Spargelkonsum
ist harmlos und kein Anzeichen
für Krankheiten oder gar Vergiftungen. Ganz im Gegenteil sogar,
Spargel ist eigentlich bekannt für
seine wertvollen Inhaltsstoffe wie
viele Ballaststoffe, Eisen, Vitamine oder Kalzium. Also lassen Sie
sich das Gemüse schmecken.
Die Asparagussäure ist übrigens
nicht nur für den beißenden Geruch verantwortlich, sondern auch
dafür, dass wir nach dem Spargelessen relativ schnell auf die Toilette müssen; sie gilt nämlich als
harntreibend.
Ob man am Uringeruch auch die
Qualität des Spargels messen
kann, wie der Leser in seiner Frage noch mutmaßt?
Dazu kann ich nichts sagen. Ich
als Ärztin kann mit einer kurzen
Geruchsprobe sagen, ob Sie einen
Infekt im Urin haben.
Die Qualität des Spargels teste
ich aber doch lieber auf dem Teller.
Haben Sie auch eine Frage?
Haben Sie auch eine Frage, die Sie
schon immer mal einem Arzt
stellen wollten, ohne dass Sie sich
extra einen Termin in seiner
Sprechstunde
geben
lassen
wollen? Kennen Sie Hausmittel,
von denen Sie schon immer mal erfahren wollten, ob sie auch halten,
was die Großmutter versprochen
hat? Bekommen Sie regelmäßig
Tipps für Ihre Gesundheit, deren
Wahrheitsgehalt Sie anzweifeln?
Dann fragen Sie doch einfach unsere Kolumnistin, Christina Stefanescu, Ärztin aus Hessen, und
schicken Sie uns die Frage an:
[email protected].
Foto Helmut Fricke
„Diabetiker werden häufiger depressiv“
Der Psychologe Bernhard Kulzer erklärt, wie Zucker und seelische Probleme aufeinander wirken – und was zu tun ist
Herr Kulzer, dass Diabetespatienten unter einer schlechten Durchblutung, Sehproblemen und Unterzuckerung leiden können, ist bekannt. Dass Diabetes in der Folge
aber auch psychische Erkrankungen hervorrufen kann, wissen viele nicht. Sind das neue Erkenntnisse?
Ganz neu sind diese Erkenntnisse
nicht. Aber man hat erst in den letzten Jahren begriffen, in welch gravierender Art und Weise Diabetes
und psychische Erkrankungen sich
gegenseitig beeinflussen können.
Neue medizinische Erkenntnisse
brauchen ihre Zeit, bis sie in der
Fachwelt und darüber hinaus bekannt und akzeptiert werden. Man
kann von dem heutigen Stand der
Forschung aber sagen, dass alle psychischen Erkrankungen die Behandlung des Diabetes erschweren
und die Prognose des Diabetes verschlechtern.
Wie erklären Sie sich diesen Zusammenhang?
Diabetes ist eine chronische Erkrankung. Bei der Diabetestherapie kommt dem Patienten die entscheidende Rolle zu. Er muss die
Therapiemaßnahmen in unterschiedlichen Situationen in seinem
Alltag eigenverantwortlich umsetzen. Das kann Stress bedeuten.
Dies gelingt im Zusammenhang
mit einer psychischen Erkrankung
fast immer schlechter. Der Diabetes wird dadurch zu einer immer
stärkeren Belastung. Kommen
dann noch andere mögliche Stressfaktoren wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Einsamkeit oder berufliche
Probleme hinzu, dann ist die Stressachse der Betroffenen andauernd
aktiviert. Als Folge wirkt das Insulin schlechter, und entzündliche
Prozesse in den Gefäßen werden aktiviert. Dies schädigt die Blutgefäße, die durch den Zucker sowieso
schon gefährdet sind, zusätzlich.
Das Problem also ist, depressive
Diabetespatienten kümmern sich
schlechter um sich.
Aus zahlreichen Studienergebnissen wissen wir, dass Patienten mit
einer depressiven Symptomatik weniger auf ihre Gesundheit achten
und die Therapie deutlich schlechter umsetzen. Medikamente werden nicht regelmäßig eingenommen, der Blutzucker weniger häufiger kontrolliert. Daher weisen Diabetespatienten mit einer Depression im Vergleich zu nichtdepressi-
ven Patienten eine schlechtere Blutzuckereinstellung auf und mehr
Folgeerkrankungen wie Augen-,
Nieren- oder Herzprobleme. Zudem ist die Lebenserwartung deutlich verkürzt.
Sie haben gesagt, dass Diabetes
und Depression sich gegenseitig beeinflussen. Heißt das, depressive
Menschen entwickeln auch häufiger Diabetes?
Es ist tatsächlich so, dass nicht nur
Menschen mit Diabetes öfter depressiv werden, sondern auch umgekehrt depressive Menschen ein erhöhtes Risiko aufweisen, an
Typ-2-Diabetes zu erkranken. Wahrscheinlich liegt das daran, dass aufgrund des psychischen Stresses das
Insulin nicht mehr so gut wirkt.
Aber auch die Einnahme von Antidepressiva könnte aufgrund einer möglichen Gewichtszunahme und Verschlechterung der Insulinwirkung einen negativen Einfluss auf die Entwicklung des Diabetes haben.
Sie arbeiten als Fachpsychologe jeden Tag mit Diabetespatienten zu-
sammen. Wie viele von diesen leiden unter einer Depression?
Ehrlich gesagt, bin ich immer wieder überrascht, wie viele Patienten
zumindest mit leichten depressiven
Symptomen ich sehe. In Deutschland leidet jeder achte Mensch mit
Diabetes mellitus an einer klinischen Depression, jeder dritte Patient weist eine erhöhte Depressivität auf. Damit kommen bei Menschen mit Diabetes depressive Stimmungen und Störungen etwa doppelt so häufig vor wie bei Menschen ohne Diabetes.
Gilt das für Typ-1-Diabetespatienten genauso wie für den
Typ-2-Diabetes?
Das gilt sowohl für den selteneren
Typ-1-Diabetes, der oft bereits
schon in jungen Jahren auftritt, als
auch für den Typ-2-Diabetes, von
dem über neunzig Prozent der Menschen mit Diabetes betroffen sind.
Gibt es Patienten, die besonders gefährdet sind?
Ganz allgemein sind Frauen eher
gefährdet, an einer Depression zu
erkranken, ebenso wie Personen
mit einem niedrigeren sozialen
Status und Menschen, die sozial
nicht gut integriert sind. Dies gilt
gleichermaßen auch für Menschen mit Diabetes. Dauerhaft erhöhte Blutzuckerwerte, das Auftreten von Folgeerkrankungen oder
schwere Unterzuckerungen sind
zusätzliche Risikomerkmale. Allerdings bedeutet dies noch keine
Aussage über mögliche Kausalitäten. Es ist wie bei dem berühmten
Henne-Ei-Problem: Oft wissen
wir bei einem Patienten nicht, ob
dauerhaft erhöhte Blutzuckerwerte bei ihm zu einer depressiven
Verstimmung geführt haben oder
umgekehrt.
Wohin können sich Diabetespatienten, die gedrückte Stimmung, Antriebslosigkeit und Interessenverlust bei sich feststellen, wenden?
Die ersten Ansprechpartner sind
der Hausarzt oder der Diabetologe. Allerdings gibt es da noch viel
Fortbildungsbedarf, da weniger als
die Hälfte aller betroffenen Patien-
Für die regionalen Unterschiede verantwortlich sind nach Schätzung von Experten der Sozialstatus, wirtschaftliche Faktoren, aber auch eine uneinheitliche medizinische Versorgung. In sozioökonomisch benachteiligten Regionen leiden Bewohner
demnach durchschnittlich häufig an Diabetes. Im internationalen Vergleich, so wird vermutet, können zusätzlich noch
unterschiedliche Ernährungs- und Verhaltensweisen der Grund sein.
ten auch tatsächlich diagnostiziert
werden. Da häufig diabetesspezifische Ursachen für die depressive
Verstimmung verantwortlich sind,
wäre es wünschenswert, dass solche
Fachleute im Behandlungsteam integriert sind. Dies ist jedoch nur in
Ausnahmen in Deutschland der
Fall. Zudem sollten wir viel mehr
tun, um durch präventive Maßnahmen die Entwicklung von Depressionen bei Menschen mit Diabetes
zu verhindern. Wir brauchen dringend Anlaufstellen und bessere
Konzepte für gefährdete Patienten.
Immerhin reden wir hier über
etwa zwei Millionen Menschen in
Deutschland, die nicht gut versorgt sind.
An welche Anlaufstellen denken
Sie da?
In Deutschland gibt es für eine
Vielzahl von Krankheiten Beratungsstellen, so zum Beispiel für
Krebs-, Parkinson-, Sucht- oder
HIV-Erkrankte. Diese haben das
Ziel, Patienten zu beraten, wie sie
mit Problemen im Zusammenhang mit ihrer Krankheit gut zurechtkommen können. So etwas
fehlt für Diabetespatienten, dabei
sollte es doch ein wichtiges Ziel
sein, durch eine gezielte Beratung
die Kompetenz im Umgang mit
der Erkrankung und die Lebensqualität von Betroffenen zu stärken und zu verhindern, dass Diabetespatienten überhaupt psychisch krank werden. Gerade hier
sollten niedrigschwellige Beratungsangebote ansetzen, die Patienten nicht gleich den Stempel
„psychisch krank“ aufdrücken,
sondern versuchen, persönliche
Ressourcen zu aktivieren, um wieder besser mit dem lebenslangen
Begleiter Diabetes klarzukommen.
Aber solange es die nicht gibt,
muss ich mich doch irgendwo hinwenden, wenn ich „Zucker“ und
„Niedergeschlagenheit“ bei mir
feststelle.
Es ist sicher sinnvoll, den Hausarzt
oder Diabetologen auf den eigenen Verdacht, depressiv zu sein,
aufmerksam zu machen. Gemeinsam sollte man dann herausfinden,
ob es wirklich eine Depression ist
und ob sie mit dem Diabetes zusammenhängt. Hat man das eruiert, sollte der Arzt feststellen, wie
schwer die depressive Episode ist
und welche Therapiemaßnahme
geeignet ist.
Und welche gibt es?
Bei leichten Depressionen reichen
oft einige wenige Gespräche,
manchmal auch der Besuch einer
Diabetesschulung. Bei mittelschweren und schweren Depressionen
lautet die Empfehlung, einen Psychotherapeuten aufzusuchen, hierbei haben sich vor allem relativ
kurze Verhaltenstherapien als erfolgreich erwiesen. Zusätzlich ist
die Einnahme von Medikamenten
sinnvoll. Sie sollten aber weder
Körpergewicht noch Blutzucker
beeinflussen.
Wie effektiv sind diese Therapien?
Die Patienten haben gute Chancen, die depressiven Symptome
wieder in den Griff zu bekommen.
Etwa 80 Prozent der Patienten
geht es nach einem halben Jahr
deutlich besser. Es gibt aber auch
einen Wermutstropfen: Zwei von
drei dieser Patienten erleben irgendwann im Leben einen Rückfall.
Könnte man das auch durch bessere Versorgungsstrukturen verhindern?
Sicherlich. Diabetes ist eine Erkrankung mit vielen Facetten. Betroffene sollten interdisziplinär behandelt werden, doch insbesondere die psychische Seite des Diabetes wird vernachlässigt wie auch
das Thema Sexualität.
Ein Tabuthema also?
Absolut. Viele Diabetiker leiden
unter sexuellen Störungen, was für
die Betroffenen sehr belastend ist.
Fast jeder zweite Mann mit Diabetes hat eine sogenannte erektile
Dysfunktion. Das ist deutlich häufiger als bei dem Rest der Bevölkerung. Potenzprobleme nagen sowohl am Selbstwertgefühl der Betroffenen, sind aber auch eine Belastung für die Partnerschaft. Allerdings machen wir in der Diabetologie vor diesen Problemen häufig die Augen zu und verdrängen
es aufgrund fehlender Interventionsmöglichkeiten. Die Onkologen
sind da schon deutlich weiter.
In welcher Beziehung?
Bei Krebserkrankungen werden immer häufiger schon frühzeitig routinemäßig Psychoonkologen in die
Behandlung mit einbezogen. Das
würde ich mir auch für die Diabetespatienten wünschen.
Die Fragen stellte Lucia Schmidt.
Bernhard Kulzer ist Psychologe am Diabetes-Zentrum Mergentheim und Vorsitzender in der Arbeitsgemeinschaft „Diabetes
und Psychologie“ der Deutschen Diabetes
Gesellschaft.
Infos unter www.diabetes-psychologie.de
Herunterladen