Titel 1..1 - Deutsche Diabetes Gesellschaft

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Diabetologie und Stoffwechsel
Diabetologie
und Stoffwechsel
Dezember 2014 • Seite S95–S228 • 9. Jahrgang
www.thieme-connect.de/ejournals
S2 • 2014
Supplement 2 • Dezember 2014 • 9. Jahrgang • Seite S95–S228
Supplement
Praxisempfehlungen
der Deutschen
Diabetes Gesellschaft
Hrsg.:
M. Kellerer, E. Siegel, im Auftrag der DDG
Die Praxisempfehlungen der DDG
Aktualisierte Version 2014
Offizielles Organ
der Deutschen
Diabetes-Gesellschaft
This journal is listed in
Science Citation Index,
EMBASE and SCOPUS
S196
DGG Praxisempfehlung
Diabetes, Sport und Bewegung
Autoren
K. Esefeld1, P. Zimmer2, M. Stumvoll3, M. Halle1, 2, 4, 5
Institute
1
2
3
4
5
Präventive und Rehabilitative Sportmedizin, Klinikum rechts der Isar, Technische Universität München, München
AG Diabetes und Sport der DDG
Med. Klinik und Poliklinik III, Universitätsklinik Leipzig, Leipzig
DZHK (German Centre for Cardiovascular Research, partner site Munich Heart Alliance, Munich, Germany
Else Kröner Fresenius-Zentrum, Klinikum rechts der Isar, Munich, Germany
Physiologie der Muskelarbeit
!
Letzte Aktualisierung
10/2014
Bibliografie
DOI http://dx.doi.org/
10.1055/s-0034-1385400
Diabetologie 2014; 9:
S196–S201 © Georg Thieme
Verlag KG Stuttgart · New York ·
ISSN 1861-9002
Korrespondenzadresse
Univ.-Prof. Dr. med. Martin
Halle
Technische Universität
München Klinikum rechts
der Isar Präventive und
Rehabilitative Sportmedizin
Georg-Brauchle-Ring 56
80992 München
Tel.: ++ 49/0 89/28 92 44 31
Fax: ++ 49/0 89/28 92 44 50
[email protected]
www.sport.med.tum.de
Muskelarbeit bezeichnet ganz allgemein Körperbewegung oder körperliche Aktivität durch Muskelkontraktionen, die zu einem Energieverbrauch
zusätzlich zum Grundumsatz führt. Jede Art
körperlicher Aktivität, unabhängig davon, ob sie
im Alltagsleben, im Beruf oder in der Freizeit in
strukturierter Form als Sport geleistet wird, folgt
den gleichen metabolischen und hormonellen
Regelmechanismen.
Unter Ruhebedingungen wird der Energiebedarf
der Skelettmuskulatur fast vollständig durch die
Oxidation freier Fettsäuren gedeckt. Mit einsetzender Muskelarbeit steigt der Energiebedarf akut an
und kann unter Umständen das 8- bis 10-Fache
des Ruhebedarfs erreichen. Zur Deckung dieses
Energiebedarfs greift die Muskulatur anfangs vorrangig auf Glukose und erst bei länger als einer
Stunde andauernder Muskelarbeit auf eine Mischung aus freien Fettsäuren und Glukose zurück.
Dabei überwiegt der Anteil der Fettsäureoxidation
und variiert in Abhängigkeit vom Trainingszustand
zwischen 60 und 75 % der VO2max.
Während körperlicher Aktivität verbraucht der
Muskel zunächst freie Glukose, die anschließend
aus dem Abbau der muskulären Glykogenreserven
nachgeliefert wird. Für die Muskelarbeit wird zudem auch Glukose aus dem Blut verwendet und insulinabhängig in die Zelle aufgenommen. Die Steigerung des Glukosetransports aus dem Blut in die
Muskelzelle erfolgt durch die Translokation der
Glukosetransporter (GLUT-4) vom endoplasmatischen Retikulum in die Muskelzellmembran. Zusätzlich steigert jede Muskelaktivität genau diesen
Vorgang insulinunabhängig. Die Eigenkontraktion
der Muskulatur entspricht somit der physiologischen Wirkung des Insulins [1 – 4].
Der durch die Muskelarbeit bedingte Glukoseabfall
wird durch eine präzise und adäquate Steigerung
der hepatischen Glukosefreisetzung ausgeglichen,
wenn keine gleichzeitige Glukoseresorption aus
Esefeld K et al. Diabetes, Sport und … Diabetologie 2014; 9: S196–S201
der Nahrung zur Verfügung steht. Die Steigerung
dieser Freisetzung wird im Wesentlichen durch
eine Hemmung der pankreatischen Insulinsekretion und dem daraus resultierenden Abfall des
Insulinspiegels im Pfortaderblut bewirkt. Unterstützend und modulierend wirken dabei die kontrainsulinären Hormone (Katecholamine, Glukagon, Cortisol und Wachstumshormone) [2, 3, 5, 6].
Diese Anpassungsvorgänge der Glukosebereitstellung führen je nach Dauer und Intensität der
Muskelarbeit zur teilweisen bis vollständigen Entleerung der muskulären und hepatischen Glukosespeicher. Diese werden nach Beendigung der
Muskelarbeit wieder aufgefüllt. Abhängig vom
Entleerungsgrad kann die Glukoseaufnahme in die
Muskulatur noch bis zu 48 Stunden nach Ende der
Muskelarbeit erhöht sein.
Nutzen und Nachteile von Muskelarbeit
für Menschen mit Typ-1-Diabetes
!
Pathophysiologie
Bei Menschen mit Typ-1-Diabetes fehlt die endogene Insulinsekretion. Die notwendige exogene Insulinsubstitution stört die physiologische, fein abgestimmte Regulation des Substratflusses während
der Muskelarbeit. So führt jede Insulininjektion zu
einem relativen Insulinüberschuss. Dieser verhindert während Muskelarbeit die bedarfsgerechte
Steigerung der hepatischen Glukosefreisetzung bei
gleichzeitig stark stimulierter muskulärer Glukoseaufnahme. Daraus resultiert ein Abfall des Blutglukosespiegels, der bei erhöhtem Ausgangswert
des Blutzuckers erwünscht ist, aber bei längerer
Dauer der Bewegung und bei bereits zu Beginn
der Muskelarbeit bestehender Normoglykämie
rasch unerwünschte Hypoglykämien zur Folge
hat. Auslassen von Insulininjektionen, Katheterokklusionen bei Insulinpumpentherapie oder Infekte
führen zu einem absoluten bzw. relativen Insulinmangel. Dieser Insulinmangel führt zusammen
Diabetes, Sport und Bewegung
mit den kontrainsulinären Hormonen zu einer Steigerung der hepatischen Glukosefreisetzung, während parallel dazu die Glukoseaufnahme in die Muskulatur nur geringfügig zunimmt. Ergebnis ist
ein Anstieg des Blutzuckers. Der gesteigerte Energiebedarf der arbeitenden Muskulatur wird dann fast vollständig durch freie Fettsäuren gedeckt, was die Entstehung einer Ketoazidose durch Muskelarbeit erklärt.
Konsequenzen für den Umgang mit Sport
▶ Höhe des aktuellen Blutzuckers vor der Bewegung: Optimal
▶
▶
▶
▶
▶ Regelmäßig
▶
▶
▶
▶
durchgeführter Ausdauersport kann zwar vom
Grundsatz her bei Typ-1-Diabetikern das kardiovaskuläre Risikoprofil und das HbA1C verbessern [7, 8], aber jede Muskelarbeit einschließlich Sport stört die Glukosehomöostase und
stellt daher keine allgemein brauchbare Therapieoption zur
langfristigen Verbesserung der Stoffwechseleinstellung dar.
Sport und Spiel sind für alle Menschen ein Stück Lebensqualität und insbesondere für Kinder und Jugendliche ein wichtiges
integratives Moment. Daher müssen alle therapeutischen Bemühungen primär auf die Vermeidung sportinduzierter Ketoazidosen sowie Hyper- und Hypoglykämien abzielen.
Sportinduzierte Hypoglykämien lassen sich durch Imitation
der physiologischen Insulinsekretion in Kombination mit zusätzlichen exogenen Kohlenhydraten vermeiden [9, 10].
Bei Blutzuckerwerten > 13,9 mmol/l (250 mg/dl) und Ketonämie (Blutazeton > 1,1 mmol/l) und Ketonurie (Azeton im
Urin) liegt ein starker Insulinmangel vor [11]. Dieser muss
durch Insulinsubstitution behoben werden, bevor Muskelarbeit begonnen oder fortgesetzt wird.
Praktische Wissensvermittlung über Präventionsstrategien
muss Bestandteil jeder strukturierten Schulung für Typ-1Diabetiker sein [10, 12].
Praxis der Prävention sportinduzierter Komplikationen:
Basisregeln
▶
▶
▶
▶
▶
Da es nur grobe Dosis-Wirkungs-Beziehungen gibt, müssen individuelle Anpassungsregeln erarbeitet werden.
Bei Bewegung und Sport häufige Blutzuckerselbstkontrollen
durchführen und zusammen mit Insulindosis und ZusatzKHE in einem Sporttagebuch protokollieren. Dieses Protokoll
bildet die Basis für die Analyse individueller Stoffwechselreaktionen bei Sport, dient zur Sammlung von Erfahrungen und
hilft bei der Therapieoptimierung mit dem Arzt oder Diabetes-Team.
Beim Sport immer ein SOS-Sportset (z. B. Traubenzucker, Glukosegels, Softdrinks, Saft) mitführen.
Sportkameraden, Freunde, Trainer, Lehrer über Hypoglykämierisiko und Gegenmaßnahmen informieren.
Umgebungsbedingungen (Hitze, Kälte und Höhe) müssen mit
berücksichtigt werden.
Dosisfindung für Insulin und Zusatz-KHE
Für die Festlegung der Insulindosisreduktion und zusätzlicher
Kohlenhydrate beim Sport müssen folgende Faktoren berücksichtigt werden [12 – 28]:
▶ Art, Intensität und Dauer der Muskelarbeit.
▶ Trainingszustand.
▶ Einflüsse auf Insulinverfügbarkeit durch Umgebungstemperatur, Injektionsort und ‑zeitpunkt des Insulins, Art des Insulinpräparats (Normalinsulin, Basalinsulin, Mischinsulin, Insulinanaloga), Höhe der Insulindosis, Art der Therapieform (CT,
ICT CS II).
▶
▶
▶
▶
▶
▶
▶
▶
sind Ausgangswerte von 120 – 180 mg/dl (bei gefährlichen
Sportarten höhere Werte anstreben!).
Zeitpunkt der letzten Mahlzeit vor der Bewegung.
Art und Menge der aufgenommenen Kohlenhydrate.
Vor mehrstündigem und ganztägigem Sport Normal- und Basalinsulin bis zu 50 % reduzieren.
Bei ganztägigem Sport, Sport am Nachmittag und Abend
Basalinsulin abends in Abhängigkeit von Dauer und Intensität
um 10 bis 50 % reduzieren, da die Auffüllung der muskulären
Glykogendepots bis zum Folgetag dauern kann. Gleichzeitig
kann auch eine Erhöhung der KHE-Zufuhr nach dem Sport erfolgen.
Bei Sport von kurzer Dauer und geringer Intensität nur zusätzliche Kohlenhydrate (sog. Sport-BE) zuführen.
Bei Sport in der Wirkungszeit des Bolusinsulins Reduktion des
Bolus um 25 – 75 %
Wenn die Verminderung der Insulindosis unmöglich oder unpraktikabel ist, müssen wiederholt (alle 20 – 30 min) zusätzliche Kohlenhydrate in kleinen Mengen (1 – 2 KHE) mit hoher
Energiedichte getrunken oder gegessen werden.
Mehrere Portionen von 1 bis 2 KHE sollen auf den Zeitraum
vor, während und nach der Bewegung verteilt werden.
In Abhängigkeit von Dauer und Intensität können Zusatz-KHE
von insgesamt 8 oder mehr erforderlich sein.
Geeignet sind Cola, Fruchtsäfte, Müsliriegel, Obst und Brot.
Welche Kombination dieser KHE besonders geeignet ist, muss
individuell ermittelt werden.
Zur Senkung der Hypoglykämiegefahr bei langandauernden
Belastungen sind kurze Sprints vor, während oder nach der
Belastung zu empfehlen, da kurze intensive Intervalle den
Blutzucker erhöhen.
Sport bei Typ-1-Diabetikern
Typ-1-Diabetiker können im Grunde jegliche Sportart, auch
als Wettkampf- oder Leistungssport, ausüben. Allerdings sind
Sportarten, bei denen das Risiko von Bewusstseinsstörungen/
eingeschränkter Urteilsfähigkeit infolge evtl. Hypoglykämien
erhöht ist (z. B. Tauchen, Fallschirmspringen, Extrem-Klettern,
Skitouren in großer Höhe, Wildwasser-Kanufahren oder
Drachenfliegen) eher ungeeignet. Falls sie dennoch durchgeführt werden, erfordern sie große persönliche Erfahrung, besonders sorgfältiges Verhalten, individuelle Planung und eine
intensive Schulung.
Auf ausreichende Flüssigkeitszufuhr muss immer geachtet
werden. Erhöhte Blutzuckerwerte erfordern eine zusätzliche
Steigerung der Flüssigkeitszufuhr, um eine Dehydrierung zu
vermeiden.
Praxistools
● Tab. 1: Prävention sportinduzierter Komplikationen bei der
"
Therapie mit Insulinanaloga
● Tab. 2: Prävention sportinduzierter Komplikationen bei der
"
Therapie mit einer Insulinpumpe
Esefeld K et al. Diabetes, Sport und … Diabetologie 2014; 9: S196–S201
S197
S198
DGG Praxisempfehlung
Tab. 1 Prävention sportinduzierter Komplikationen bei der Therapie mit
Insulinanaloga.
– Bei Sportbeginn bis zu 3 h nach Insulininjektion und einer Mahlzeit
Reduktion kurz wirkender Insulinanaloga um 25 – 75 %
▶
– Bei Sportbeginn von mehr als3 h nach Insulininjektion und einer
Mahlzeit keine Reduktion kurz wirkender Insulinanaloga, bedarfsweise
zusätzliche Kohlenhydrate
– Bei kurzzeitigem Sport keine Reduktion lang wirkender Insulinanaloga; ggf. zusätzliche Kohlenhydrate bzw. Reduktion kurzwirksamer
Insuline zur Vermeidung von Hypoglycämien
– Vor ganztägigen körperlichen Aktivitäten Reduktion von langwirksamen Insulinanaloga (Glargin) um 20 – 40 % und danach um 10 – 20 %
▶
▶
Tab. 2 Prävention sportinduzierter Komplikationen bei der Therapie mit einer Insulinpumpe.
– Für Reduktion des Mahlzeitenbolus und zusätzlicher Kohlenhydrate:
gleiche Regeln wie bei traditioneller Insulininjektionstechnik
– Bei Sport von mehr als 1 – 2 h Halbierung der Basalrate bei Normalinsulin 2 h und bei Analoginsulin ca. 1 h vor Sportbeginn, dann je nach
Dauer und Intensität Reduktion der Basalrate um 10 – 50 % bis zu 14 h
– Bei Ablegen der Pumpe für mehr 2 – 4 h Umstellung auf traditionelle
Insulintherapie
Nutzen und Nachteile von Muskelarbeit für
Menschen mit gestörter Glukosetoleranz
und/oder Typ-2-Diabetes
!
Pathophysiologie
Der grundlegende Defekt dieser Erkrankung ist die gestörte Insulinsensitivität in Verbindung mit einer relativen Defizienz der sekretorischen Kapazität des Insulins, hauptsächlich bedingt durch
einen bewegungsarmen und hyperalimentären Lebensstil. Maßnahmen [29], die die Steigerung der Insulinsensitivität bewirken
(in erster Linie regelmäßige körperliche Aktivität), bieten daher
eine kausale therapeutische Option zur Behandlung dieser Menschen [30, 31]. Jede akute Muskelaktivität steigert die Glukoseaufnahme unabhängig vom Insulin durch Stimulation der Translokation von GLUT-4 in die Zellmembran und bewirkt dadurch
auch bei Typ-2-Diabetes einen akuten Abfall des Blutzuckers.
Ständige Wiederholung von Muskelarbeit in Form von Ausdauertraining steigert die Insulinsensitivität vor allem in der Muskulatur und nur unwesentlich im Fettgewebe. An diesem Anstieg der
Insulinsensitivität in der Muskulatur sind sowohl eine stärkere
Insulinbindung an Insulinrezeptoren der Muskelzellen als auch
eine Zunahme der muskulären Insulinrezeptoren, die gesteigerte
Aktivität zytoplasmatischer und mitochondrialer Enzyme und
die Zunahme der Kapillardichte beteiligt. Eine ganz zentrale Rolle
kommt neben der insulinunabhängigen Stimulation der GLUT-4Translokation in die Muskelzellmembran auch der gesteigerten
Expression des GLUT-4-Gens durch regelmäßige körperliche Bewegung zu, was zu einer gesteigerten Insulineffektivität bei der
Stimulation der Glukoseaufnahme des Muskels führt [1].
Therapeutischer Nutzen
▶ Bei bestehendem Typ-2-Diabetes bewirkt regelmäßiges Train-
ing eine Senkung des Blutzuckers sowie die Verbesserung weiterer kardiovaskulärer Risikofaktoren wie Übergewicht, Dyslipidämie und Hypertonie [32 – 30]. Dies konnte auch in einer
großen multizentrischen Langzeitstudie (LOOK Ahead) über
11,5 Jahre an über 5.000 Typ-2-Diabetikern nachgewiesen
Esefeld K et al. Diabetes, Sport und … Diabetologie 2014; 9: S196–S201
werden, jedoch ohne Nutzen in Bezug auf kardio- und zerebrovaskuläre Ereignisse und Mortalität [30, 35, 36].
Bei gestörter Glukosetoleranz lassen sich durch Ausdauertraining zusätzlich die Insulinsensitivität und die Stoffwechseleinstellung verbessern. Dieser Effekt hält aber nur wenige Tage
an, wenn das Ausdauertraining beendet wird. Um einen dauerhaften positiven Therapieeffekt durch Muskelarbeit zu erreichen, ist die lebenslange Umstellung auf einen aktiven Lebensstil mit regelmäßiger Bewegung erforderlich.
Positive Effekte hinsichtlich glykämischer Kontrolle konnten
in kleineren Studien auch durch ein Intervalltraining festgestellt werden [41, 42].
Eine dauerhafte Umstellung auf einen aktiven Lebensstil kann
bei gestörter Glukosetoleranz das Risiko für die Manifestation
eines Typ-2-Diabetes verringern, auch bei Personen mit Übergewicht, positiver Familienanamnese für Typ-2-Diabetes und
Hypertonie [35, 43 – 53].
Hindernisse auf dem Weg zu einem aktiven Lebensstil
Ein grundlegendes Problem besteht darin, dass die Mehrzahl aller Typ-2-Diabetiker älter als 60 Jahre ist und wegen erhöhter
Morbidität und Risikofaktoren (koronare Herzkrankheit, periphere arterielle Verschlusskrankheit, periphere diabetische Neuropathie, proliferative diabetische Retinopathie, Hypertonie), Immobilität und fehlender Motivation vermeintlich nicht oder nur
eingeschränkt an Bewegungsprogrammen teilnehmen kann. Allerdings ist gerade in diesen Fällen der Nutzen körperlicher Aktivität besonders evident.
▶ Bewegungsprogramme sind dann zum Scheitern verurteilt,
wenn sie die potenziellen Teilnehmer körperlich und psychisch überfordern.
▶ Um bei älteren Menschen Erfolg zu haben, müssen Bewegungsprogramme deren körperliche Fähigkeiten, den altersbedingten Leistungsabbau, krankheitsbedingte Beeinträchtigungen, ihre Interessen, ihre sozialen Bindungen und vor
allem ihre Lebensgewohnheiten berücksichtigen.
▶ Bewegungsprogramme, die diese Prinzipien nicht berücksichtigen, können eher schaden, wenn sie organische Schäden auslösen und Minderwertigkeits- oder Schuldgefühle wecken oder
verstärken.
▶ Bewegungsprogramme sollten vor allem dazu genutzt werden, Freude an der Bewegung zu wecken und den Einstieg in
einen aktiven Lebensstil zu ermöglichen.
▶ Bewegungsprogramme können als Keimzelle für neue Freundeskreise fungieren, in denen Wandern, Nordic-Walking, Radfahren, Schwimmen, Gymnastik oder andere Ausdauersportarten gepflegt werden.
▶ Bewegungsprogramme für Diabetiker können auch in Herzsportgruppen integriert werden.
Praktisches Vorgehen bei der Durchführung von
Bewegungsprogrammen
!
▶ Bewegungsprogramme
sollen primär die aerobe Ausdauer
steigern, weil sie aus metabolischer und kardiopulmonaler
Sicht gesundheitlich das wertvollste Element darstellen. Empfehlenswert sind Ausdauersportarten, die dynamische Beanspruchungen möglichst großer Muskelgruppen gegen einen
möglichst geringen Widerstand in rhythmisch gleich bleibender Form erlauben, wie z. B. Nordic-Walking, schnelles Gehen,
Bergwandern, Skiwandern, Schwimmen oder Radfahren.
Diabetes, Sport und Bewegung
▶ Alternativ
▶
▶
▶
empfiehlt sich ein Kraft(ausdauer)programm für
die großen Muskelgruppen, da die Kraftbelastung zu einer Zunahme der Muskel- und somit fettfreien Masse führt, resultierend in einer verbesserten Insulinresistenz [54]. Dabei ist allerdings das Risiko durch Blutdruckanstiege bei Vorliegen
einer Hypertonie zu beachten.
Optimale Effekte werden durch eine Kombination aus einem
Ausdauer- und einem Kraft(ausdauer)training erzielt [55 – 60].
Um alterungsbedingten Verlusten entgegenzuwirken, sollten
die Bewegungsprogramme auch motorische Beanspruchungsformen enthalten, die Geschicklichkeit, Schnellkraft, Reaktionsvermögen, Koordination und Gelenkigkeit erfordern, wie
z. B. im Rahmen von Ballspielen oder Tanzen. Verbesserung
der Balance lassen sich auch durch Ganzkörper-Vibrationstrainingsprogramme erreichen [61].
Zusätzlich sollte die Alltagsaktivität (Treppensteigen, Spazierengehen, Gartenarbeit etc.) gesteigert werden. Auch hierdurch lassen sich bereits positive Effekte auf den Glukosestoffwechsel/die Insulinresistenz erzielen.
Vermeiden von Komplikationen
durch Bewegungsprogramme
!
▶ Ältere
▶
▶
▶
▶
▶
▶
Menschen mit Typ-2-Diabetes mellitus haben im Vergleich zu gleichaltrigen Gesunden ein höheres kardiovaskuläres
Risiko [62 – 64]. Dieses Risiko liegt umso höher, je geringer die
kardiopulmonale Leistungsfähigkeit ist. Zur Vermeidung unerwünschter kardiovaskulärer Zwischenfälle nach jahrelangem
Bewegungsmangel müssen vor Beginn strukturierter Bewegungsprogramme eine differenzierte Anamneseerhebung, eine
ausführliche klinische Untersuchung mit Blutdruckmessung
und ein Ruhe-EKG durchgeführt werden. Mit einer zusätzlichen
ergometrischen Untersuchung, ggf. mit Laktatbestimmung oder
Spirometrie, lassen sich kardiopulmonale Leistungsfähigkeit
und kardiales Risiko durch KHK vor Beginn des Bewegungsprogramms einschätzen [65, 66].
Während der Trainingsstunden in Diabetikersportgruppen für
Diabetiker ohne Risikoprofil für KHK ist keine Arztpräsenz erforderlich.
Diabetiker mit definiertem Risikoprofil für KHK gehören in
eine Herzsportgruppe, weil in diesen Gruppen ein in Notfallmedizin geübter Arzt anwesend ist, der über Defibrillator und
Notfallkoffer verfügt.
Blutzuckermessungen vor, während und nach dem Sport bei
Diabetikern durchführen, die mit Insulin und/oder Sulfonylharnstoffen behandelt werden.
Beachtung von Insulindosisanpassung und Zusatz-KHE bei
Typ-2-Diabetikern mit Insulinbehandlung.
Reduktion oder Absetzen von Sulfonylharnstoffen kann erforderlich werden, um Hypoglykämien zu vermeiden [67, 68];
ggf. Umstellung auf DPP-4-Hemmer oder Inkretine wegen geringerer Hypoglykämiegefahr.
Bezüglich der Spätschäden und des Trinkverhaltens gelten die
gleichen Regeln wie bei Typ-1-Diabetikern.
Sport/Bewegung bei Typ-2-Diabetikern
▶ Zur Beurteilung der körperlichen Belastung wird als indirek-
tes Maß die Herzfrequenz genutzt, da gesicherte Beziehungen zwischen Herzfrequenz und O2-Aufnahme bestehen.
▶ Der
▶
▶
▶
▶
Trainingspuls sollte individuell bestimmt werden,
optimal durch Ergometrie mit Laktatbestimmung bzw. spiroergometrisch, ansonsten Ermittlung mithilfe der Karvonen-Formel. Faustregeln, wie z. B. Herzfrequenz = 180/min
– Lebensalter, sind insbesondere unter Betablockertherapie
oder häufig beobachteter chronotroper Inkompetenz nicht
geeignet.
Die initiale Belastungsintensität sowie -dauer (anfangs
< 10 min) sollten niedrig gehalten werden, dafür sollte die
Bewegung an möglichst vielen Tagen der Woche (optimal
täglich) durchgeführt werden bzw. sollten bevorzugt kurze
Einheiten mehrmals am Tag durchgeführt werden.
Die Belastungsdauer und -intensität sollte über Wochen
langsam gesteigert werden.
Zur Erzielung der gewünschten Langzeiteffekte werden Belastungsintervalle von mehr als 30 min optimal 6 – 7 ×/Woche benötigt.
Auch durch Steigerung der Alltagsaktivität lassen sich positive Effekte erzielen.
Sport bei diabetischen Spätschäden
▶ Bei proliferativer Retinopathie Blutdruckanstiege über 180 –
200/100 mmHg vermeiden.
▶ Nach Laserung der Netzhaut oder Augenoperation 6 Wochen keine körperliche Belastung.
▶ Krafttraining und Kampfsportarten sind bei Retinopathie
▶
▶
ungeeignet und potenziell schädlich.
Bei peripherer diabetischer Neuropathie bestehen Risiken
durch unpassendes Schuhwerk für die Manifestation eines
Diabetischen Fußsyndroms (siehe Leitlinie DFS)
Bei bestehender autonomer Neuropathie muss die Störung
der physiologischen Blutdruck- und Herzfrequenzregulation beachtet werden.
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