Text - Schweizerische Gesellschaft für Analytische Psychologie

Werbung
SCHWEIZER CHARTA FÜR PSYCHOTHERAPIE
4. WISSENSCHAFTSKOLLOQUIUM VOM 25. NOVEMBER 2000
DISKUSSIONSBEITRAG DER KINDERTHERAPIE AUS DER SICHT DER JUNGSCHEN TIEFENPSYCHOLOGIE
EINLEITUNG
Dieser Text möchte die Stellungnahme des C.G. JUNG-Instituts zu den Themen ergänzen,
die einer spezifischen Betrachtung aus der Sicht der analytischen Kinder- und Jugendpsychotherapie bedürfen. Dies betrifft die Punkte 2.3. und 3.2. des Themenkatalogs.
2.3. THEORIE ALS FORSCHUNGSGEGENSTAND
C.G. JUNG erkannte in einer Reihe von Aufsätzen die Bedeutung der kindlichen Entwicklung
an und skizzierte damit einen ersten theoretischen Ansatz. Seine schriftlichen Äusserungen
zu diesem Thema finden sich aber nur verstreut. Wenn man seine Werke zu Themen wie
Kindheit, Jugend, Familienkonstellation, Vater und Mutter untersucht - und zwar in
persönlichem als auch in archetypischem Sinne -, so entdeckt man, dass er eine Basis
geschaffen hat, auf der einige seiner NachfolgerInnen die wichtigen Konzepte der
analytischen Jugendpsychotherapie aufgebaut haben. Diese Erweiterung der ursprünglichen
Theorie führte zu verschiedenen klinischen Schwerpunktsetzungen und therapeutischen
Haltungen. Ich möchte hier nur folgende NachfolgerInnen erwähnen: E. Neumann (1960) in
Israel, M. Fordham (1980) in England und U. Eschenbach (1978) in Deutschland.
 E. Neumann (1960) bearbeitete als erster eine kindliche Entwicklungspsychologie aus
dem Blickwinkel der Analytischen Psychologie. Leider blieb das Werk ‚Das Kind‘ (1963)
durch seinen frühen Tod unvollendet und unüberarbeitet. Neumanns Entwicklungstheorie betrachtet das Neugeborene als ‚ganz im Chaos des Unbewussten‘ (postuterine
Embrionalzeit) eingebettet, aus dem sich langsam während der seelischen Entwicklung
des Kindes ein psychischer Kern entfaltet (Ich-Bewusstsein). Er spricht auch von einer
zweiten psychologischen Geburt des Kindes gegen Ende des ersten Lebensjahres. Das
Neugeborene lebt zuerst in einer ‚Ureinheit mit der Mutter‘ (Urbeziehung), die als
‚Enthaltende‘, ‚Ernährende‘ und ‚Schützende‘, gleichzeitig aber auch als ‚Vermittlerin‘ zur
seelischen Differenzierung erlebt wird.
Eine frühe Störung, die durch eine negative Urbeziehung entstehen kann, wirkt sich als
primäres Schuldgefühl aus. Im Kind entsteht das Gefühl, selber schlecht und unwert zu
sein, dass es keine Liebe und Geborgenheit verdient. Ein Versuch, das Gefühl des
Nicht-Geliebt-Seins zu kompensieren, kann sich in einer Überanpassung, in dem
Wunsch, es allen recht zu machen, um von allen geliebt zu werden, zeigen.
Eine andere Auswirkung der gestörten Urbeziehung ist die Bildung eines Not-Ich. Die Störung
tritt ein, wenn das ‚Ich‘ schon ausgebildet ist. Die hier konstellierte Situation steht im Zeichen des
Hungers, des Schmerzes, der Ohnmacht und des völligen Ausgeliefertseins.
Die Umsetzung Neumanns Theorie in der therapeutischen Arbeit besteht darin, die
seelische Differenzierung in Gang zu bringen, indem eine Wiedergutmachung der
gestörten Urbeziehung initiiert wird. Dies geschieht durch die bedingungslose Annahme
von Seiten der Therapeutin (mütterliche empfangende Haltung). Nur so kann sich ein
genügend starkes Ich beim Kind bilden. Erst wenn sich die seelischen Grenzen
entwickelt haben, ist eine konfrontativere, strukturierende, eventuell deutende
Annäherung zum Kind möglich (väterliche Funktion).
Für Neumann sind die verschiedenen Entwicklungsstadien archetypisch konditioniert,
d.h. die Umgebung spielt keine grosse Bedeutung. Diese Darstellung wurde deswegen
eingehend kritisiert: Viele Autoren betonten, dass Neumann allzusehr das soziale Feld,
einschliesslich der Familie in der sich die Entwicklung des Kindes abspiele, vernachlässigte.
 Im 1974 wurden in London innerhalb der analytischen Gesellschaft die erste Einrichtung
einer kindertherapeutischen Abteilung und parallel dazu des ersten Ausbildungsganges
in der Analyse und Psychotherapie von Kindern gestartet. M. Fordham (1980) erweiterte
die Theorie über den Reifungsvorgang des Kindes. Er konstatierte, dass die
Individuation bereits am Lebensanfang beginnt. Er sprach diesbezüglich vom UrsprungsSelbst, einem potential-enthaltenden, primären Integrationszustand, aus dem sich das
Kind herausentwickelt. Als Beispiel beschrieb er die Still-Situation: Der Säugling bewegt
sich instinktiv auf die Brust zu. Der positiven Erfahrung des Geniessens geht ein Moment
des Unbehagens, der Spannung und der Angst voran (De-Integration, auch Bewegung
nach Aussen). Die positive Erfahrung des Gestillt-Werdens wird dann integriert in den
psychischen Erfahrungsschatz (Re-Integration, auch Bewegung nach Innen). Die
rhythmische Abwechslung von de-integrativen mit re-integrativen Erfahrungen treibt die
Wachstumstendenz des Babys, d.h. die Individuation, voran. Mit der Zeit und mit fortschreitender Entwicklung werden immer mehr Objekte und Erfahrungen auf diese Weise
internalisiert.
Im Unterschied zu E. Neumann betonte M. Fordham die Individualität des Kleinkindes
und die Tatsache, dass die angeborene archetypische Erwartungshaltung des Kindes
einen ausschlaggebenden Einfluss auf seine Umwelt ausübt und Formen der Wahrnehmung, des Einwirkens und des Reagierens auf die Umgebung prägt. Die Mutter
erleichtert die Entwicklung des Kindes vor allem durch ihre Fähigkeit, das Kind ‚zu
enthalten‘.
Wenn das Kind zu grosse Widersprüche zwischen archetypischen Erwartungen einerseits und Gegebenheiten in der Aussenwelt anderseits erfährt, erlebt es sich
fragmentiert und kommt deshalb mit der Aussenwelt nicht zu Rande. Es gibt zwei
mögliche pathologische Reaktionen: Das Kind kann mit einem schwachen Ich heranwachsen oder entwickelt einen starren Umgang mit seinen Gefühlen, die es mit Allmachtsphantasien und narzisstischer Abwehr zu kompensieren versucht.
Die Umsetzung Fordhams Theorie in die therapeutische Arbeit besteht darin,
de-integrative und re-integrative Prozesse zu fördern, die beim Kind oder Jugendlichen
beeinträchtigt oder blockiert sind. Dies zeigt sich zum Beispiel in Situationen, wo das
Aushalten von Spannungen und unangenehmen Gefühlen für die Individuation wesentlich sind (im Gegensatz zu Verschmelzungsphantasien und symbiotischen Beziehungen).
 U. Eschenbach (1978) betrachtete den symbolischen Prozess als Mittelpunkt der
analytischen Behandlung. Wie C.G. JUNG verstand sie das Symbol als ‚Ausdruck des
dialogischen Prozesses nach Innen‘, da es den Weg vom ‚bewussten Erlebnisbereich
des Ichs‘ zum ‚unbewussten im archetypischen Kernelement‘ eröffnet. Das Symbol
enthält das Formprinzip für die psychischen Energien des Unbewussten, es ist ein
wichtiger Energiefaktor. ”Das Symbol im therapeutischen Prozess ist bereits autonome
Therapie”, dies ist ihr zentraler Gedanke. ... “Das Symbol selbst ermöglicht gerade über
seine kollektiv gültige Chiffre den Weg zum archetypischen Kernelement” (S. 30).
In der praktischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen betrachtete sie die Entfaltung
des Symbols in Träumen, Spielen und Phantasien als der Weg zu den zentralen
Komplexen und Konflikten. Aus der symbolischen Phänomenologie leitete sie einen
Behandlungsverlauf ab, der aber meistens nicht linear stattfindet:
1. Initialraum: Der Initialraum umfasst die Anfangszeit der Behandlung. In Form einer
Symbolszene kommt ein Initialgeschehen zum Ausdruck, das erste Hinweise auf die
individuelle Prozessdynamik des individuellen Behandlungsplanes gibt.
2. Latenz- und Erprobungsphase: Diese Phase verläuft meist ruhiger. Es geht hier um
die Stabilität des Ichs im bewussten Kontaktbereich, um die Prüfung der
Tragfähigkeit der therapeutischen Beziehung, allgemein um Beziehungsfragen.
3. Negative und progressive Regression: Während der negativen Regression werden
oft Emotionen und Affekte im Sinne einer Spannungsabfuhr einfach ausagiert und
nicht als persönlich registriert. Hier taucht die symbolische Phänomenologie des
Kampfes. Der Übergang in die positive Regression ist gekennzeichnet durch positive
Symbole des gebärenden und wärme-spendenden matriarchalen Aspektes.
4. Individuationsphase: In dieser letzten Phase werden die meisten Projektionen
zurückgezogen. Es findet eine zunehmende Konfrontation des bewussten Ichs mit
seinen inneren Möglichkeiten und deren äusserer Realisierung statt
(Identitätsfindung). Dies ist die Phase der Ablösung von der konkreten
therapeutischen Beziehung.
3.2. FORSCHUNGSMETHODEN
GEFORSCHT?
MIT IHREM
FORSCHUNGSANSATZ. MIT
WELCHEN
MITTELN
WIRD
Innerhalb einer internationalen Gruppe von JUNGschen KinderanalytikerInnen hat sich seit
einigen Jahren das sogenannte ‚Fallbesprechungsmodell‘ als Forschungsmethode als sehr
fruchtbar erwiesen. Im Jahr 1984 trafen sich zum ersten Mal analytische KindertherapeutInnen aus verschiedenen Ländern in einem internationalen Workshop. Die TeilnehmerInnen vertieften theoretische und praktische Aspekte der analytischen Praxis mit Kindern und
Jugendlichen anhand von Falldarstellungen, -vignetten und klinischer Erfahrung. Diese
internationalen Workshops finden seither jährlich statt. Aus diesen Workshops entstanden
später regionale Arbeitsgruppen, die im Verlauf des Jahres die Vertiefung der Themen
fortsetzten und somit einen dauernden Austauschprozess ermöglichten. Alle
TeilnehmerInnen nennen sich JUNGsche AnalytikerInnen (oder KandidatInnen), obwohl sie
unterschiedliche Zugänge dazu haben. So sind verschiedene ‚Denkrichtungen‘ und
Konzepte vertreten: die KLEINsche Richtung, die familientherapeutischen Konzepte, die
Gestalttherapie bis hin zur Körperarbeit. Dieser Methodenvielfalt bietet der analytischen
Psychologie einen verbindenden sinngebenden Rahmen.
 Im Verlauf der Jahre entstand eine intensive wissenschaftliche Diskussion, deren theoretische Auseinandersetzung zu einer Erweiterung und einem Ausbau der analytischen
Kinderpsychotherapie geführt hat. Die klinischen Diskussionen werden regelmässig im
‚Internationalen Bulletin des Workshops für analytische Psychologie in Kindheit und
Adoleszenz‘ (Materia Prima) veröffentlicht und sind somit für die interne wissenschaftliche Diskussion zugänglich.
Zuerst in Amerika und dann auch in vielen europäischen Ländern wurde zusätzlich die
Säuglings- und Kleinkindbeobachtung als Forschungsmethode vermehrt entwickelt und auf
die psychotherapeutische Situation angewendet. Durch die Kenntnisse, die aus diesem
Forschungsansatz resultieren, kann die Therapeutin ihre Erfahrung im Bereich von Übertragung und Gegenübertragung verschärft reflektieren und verfeinern. Zusätzlich kann sie in
ihrer interaktiven pädagogischen Rolle bei den Bezugspersonen des Kindes wachsende
affektive und interaktive Muster fördern.
 Wie die Ergebnisse der Säuglings- und Kleinkindbeobachtung für die JUNGsche Praxis
bereichernd sein können hat M. Jacoby (1998) in seinem neuen Buch ‚Grundformen
seelischer Austauschprozesse. JUNGsche Therapie und neuere Kleinkindforschung‘
sehr gut illustriert. Er stützt sich auf die Forschungsergebnisse von R.A. Spitz, M.S.
Mahler, besonders aber von J.D. Lichtenberg und D.N. Stern. “Das Bemerkenswerte an
den Ergebnissen der Säuglingsforschung ist die Erkenntnis, dass die Grundmotivationen,
Grundbedürfnisse und Grundemotionen angeboren sind oder sich sehr früh
manifestieren, sich aber durch die ganze Lebenszeit erhalten, da sie zur menschlischen
Grundausstattung gehören”. Diese Grundformen des Fühlens und des Erlebens sind im
Sinne C.G. JUNG archetypischer Natur und entwickeln sich im Austausch mit der
psychosozialen Umgebung und den engeren Bezugspersonen. Diese emotionalen
Austauschprozesse spiegeln sich auch in der therapeutischen Interaktion wider. Die
analytische Psychotherapeutin kann durch die Erkenntnis der Säuglings- und
Kleinkindbeobachtung die “Innenwelt eines Analysanden mit ihren Vorstellungsinhalten
(Repräsentanzen) und die Entstehung seelischer Komplexe” besser verstehen und die
“Feinheiten des seelischen Austausches, wie sie ......... oftmals im Hier und Jetzt der
analytischen Interaktion zum Tragen kommen”, besser wahrnehmen. “So besteht die
Hoffnung, dass störend wirkende Komplexmuster durch fördernde therapeutische Austauschprozesse modifiziert werden können” (S. 248-250).
Zusammengestellt aus folgenden Texten:
 C.G. JUNG: Gesammelte Werke. Olten: Walter Verlag, 1971. Besonders Band 17: Die
Entwicklung der Persönlichkeit.
 M. Fordham: Die Analytische (komplexe) Psychologie in England. In: PSYCHOLOGIE
des XX. JAHRHUNDERTS, Band III, S. 913.
 H. Prokop: Erich Neumann in Israel. In: PSYCHOLOGIE des XX. JAHRHUNDERTS,
Band III, S. 841.
 E. Neumann: Das Kind. Zürich: Rhein-Verlag, 1963.
 ‚Internationales Bulletin des Workshops für analytische Psychologie in Kindheit und
Adoleszenz‘. Materia Prima, Nummer 01 bis 07, Jahr 1992 bis 2000.
 U. Eschenbach (Hrsg.): Das Symbol im therapeutischen Prozess bei Kindern und
Jugendlichen. Stuttgart: Bonz Verlag, 1978.
 A. Samuels: Jung und seine Nachfolger. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag, 1989.
 M. Jacoby: Grundformen seelischer Austauschprozesse. JUNGsche Therapie und
neuere Kleinkindforschung. Zürich: Walter Verlag, 1998.
Weitere Literatur:
 M.S. Mahler et. al.: Die psychische Geburt des Menschen. Frankfurt a. M.: Fischer
Verlag, 1978.
 R.A. Spitz: Vom Säugling zum Kleinkind. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag, 1967.
 D.N. Stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag, 1992.
 J.D. Lichtenberg: Psychoanalyse und Säuglingsforschung. Berlin: Springer Verlag, 1991.
Morena Walzer
Herunterladen