Department of Psychiatry and Psychotherapy Department of Psychiatry and Psychotherapy Trauma und Migration Migration (und Trauma) Dr. phil. Naser Morina Ambulatorium für Folter und Kriegsopfer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie UniversitätsSpital Zürich Page 2 Department of Psychiatry and Psychotherapy VIOLENT CONFLICTS IN 2014 (Subnational Level) Department of Psychiatry and Psychotherapy Moderne Kriegsführung - Flüchtlingsbewegungen Konfliktbarometer 2014 (HIKK, 2015) Aktuell mehr als 45 Kriege, offene bewaffnete Konflikte und/oder Krisen weltweit (HIIK, 2015) Art der Kriegsführung hat sich geändert Zahl der Zivilisten, die in den letzten Jahren von Krieg betroffenen sind, hat sich ständig erhöht und verursacht mehr Leiden (Murthy & Lakshminarayana, 2006) Weltweit aktuell mehr als 59 Millionen auf der Flucht (UNHCR, 2015) über 231 Millionen Migranten weltweit (IOM, 2013) Über 38 Million in ihrem Heimatland vertriebene Menschen 18 Millionen internationale Flüchtlinge Über 1.2 Million Asylbewerber etwa die Hälfte dieser Menschen sind Kinder Immer mehr „unbegleitete minderjährige Asylsuchende“ Department of Psychiatry and Psychotherapy Department of Psychiatry and Psychotherapy Unbegleitende mingerjährige Asylsuchende: spezifische Gründe für Flucht Migranten: Wen haben wir dabei im Blick? • Verlust der Eltern • Keine homogene Gruppe • Angst vor Genitalverstümmelung • zumeist Menschen nach erzwungener Migration (forced migration) • Angst vor Zwangsheirat • nicht mitteleuropäisch • Sexueller Missbrauch, Zwangsprostitution • schlecht integriert • Sklaverei, Kinderarbeit • niedriger sozio-ökonomischer Status und niedriges Bildungsniveau • Zwangsrekrutierung als Kindersoldaten • Unzureichende Kenntnisse der Landessprache • Wehrdienstverweigerung • Fehlende/mangelnde Schul-/Ausbildung • Insgesamt also meistens fern der eigenen Erfahrungs- und Erlebniswelt Page 5 Page 6 Department of Psychiatry and Psychotherapy Department of Psychiatry and Psychotherapy Was heisst es Flüchtling zu sein? Psychische Folgen von Krieg bei zivilen Opfern Flüchtling sein... Viele von ihnen haben schwere Traumatisierungen erlebt: z.B.: Krieg, Völkermord, Folter (z.B. Silove et al., 1997) • „Ich werde dauernd befragt, erhalte aber keine Antworten“ • „Ich soll froh sein, dass ich ein Dach überm Kopf habe und keine Fragen stellen“ Erhöhtes Risiko, an psychischen Störungen zu leiden (z.B.: Cardozo et al., 2004; Johnson & Thompson, 2008; Kashdan, Morina, & Priebe, 2009; Scholte et al., 2004; Gerritson et al., 2006; Priebe et al., 2010). Zum Beispiel: • „Ich habe hier etwas anderes erwartet“ Depression bis zu 68% • „Daheim erwarten meine Angehörigen vieles von mir, was ich nicht erfüllen kann“ Angststörungen bis zu 47% „An der Grenze (unterwegs) habe ich meine Biographie hängen lassen“ Somatisierung und chronische Schmerzen bis zu 42% • Posttraumatische Belastungsstörungen (PTSD) bis zu 67% Betroffene leiden zusätzlich an Nachkriegs-Lebensschwierigkeiten: Mangel an Nahrung, Wasser und medizinische Versorgung; mangelnde Sicherheit, usw. (Heptinstall et al., 2004; King et al.,1998; Klaric et al., 2007; Miller et al., 2002; Wenzel et al., 2009) Höhere Prävalenzen bei Flüchtlingen und Migranten (Johnson & Thompson, 2008; Ahmad et al., 2008; Fazel et al., 2005; Priebe et al., 2010) Page 7 Page 8 Department of Psychiatry and Psychotherapy Department of Psychiatry and Psychotherapy Atlas der Folter (2013) Traumatische Erfahrungen bei Migranten und Flüchtlingen Mehrzahl der Flüchtlinge stammt aus aktuellen Kriegs- / Konfliktgebieten (Afrika, Syrien, Afghanistan, Irak…) Krieg, Vertreibung, Zerstörung des Heimatortes Haft, Folter, Todesdrohungen Zeugenschaft bei Gewalt / Morden Sexualisierte Gewalt, Vergewaltigung Beschneidung, Zwangsheirat Zwangsprostitution Eigene Täterschaft (z.B. Kindersoldaten) Lebensgefahr / Gewalt auf der Flucht Page 9 Page 10 Department of Psychiatry and Psychotherapy Department of Psychiatry and Psychotherapy Migranten und Flüchtlinge: vielfältige Schwierigkeiten Trauma und Migration: macht Migration krank? Persönliche Faktoren z.B. Resilienz, Coping Prozedere des Asylverfahrens Ungesicherter Aufenthaltsstatus Integration in den Arbeitsmarkt; Arbeitsbedingungen und Arbeitsunfähigkeit (Langzeit-)Arbeitslosigkeit und Fürsorgeabhängigkeit soziale Degradierung, Status- und Autonomieverlust; Orientierungslosigkeit eingeschränkter Zugang zu Dienstleistungen und Ressourcen Trauma z.B. Migration Traumafolgestörungen Wohnsituation Materielle & soziale Verluste Familiäre Probleme Brüche im familiären, verwandtschaftlichen und weiteren sozialen Netzwerk Mangelhafte Sprachkenntnisse soziale Desintegration Page 11 UmgebungsFaktoren z.B.Migration Widersprüchliche Ergebnisse über Folgen von Migration 35-50% der Kinder mit psychischen Problemen Flüchtlingskinder mit besserer psychischer Gesundheit als anderePage Kinder 12 Department of Psychiatry and Psychotherapy Department of Psychiatry and Psychotherapy Trauma-Dimensionen: Sprechen wir alle vom Gleichen? Politik….Gesellschaft….Moral….Kultur….Recht….Werte…. Heimat….Identität….Verlust….Brüche….Trauer….Sinn…. Individuum….Beziehung….Familie….Volk….nächste Generation Körper….Seele….Gesundheit….Arbeit….Sicherheit…. Trauma (und Migration) Versicherung....Opfer....Entschädigung....Übelebende/r Vergangenheit….Gegenwart….Zukunft…. DSM-IV... DSM 5... ICD-10... ICD-11... usw…. ….Medizin… ....Schule... ....Integration... Page 13 Department of Psychiatry and Psychotherapy Department of Psychiatry and Psychotherapy Definition «Trauma» DSM-5, APA 2013 Trauma Die Betroffenen waren aufgrund eines oder mehrerer der folgenden Kriterien dem Tod (tatsächlich oder angedroht), schwerwiegenden Verletzungen oder sexueller Gewalt ausgesetzt: 1. Direktes Erleben des traumatisierenden Ereignisses 2. Persönliches Miterleben, wie das traumatisierende Ereignis anderen zustösst 3. Erfahren (indirektes Erleben), dass das traumatisierende Ereignis einem engen Familienmitglied oder einem engen Bekannten zugestossen ist (Bezüglich des tatsächlichen oder angedrohten Todes muss der Todesfall durch ein gewaltsames Ereignis oder einen Unfall geschehen sein) 4. Page 14 Wiederholte oder sehr extreme Konfrontation mit aversiven Details des traumatischen Ereignisses (z.B.: Polizei, Feuerwehr, aber nicht elektronische Medien) Page 15 Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten Nicht objektive Eigenschaften des Ereignisses machen dieses zu einem Trauma, sondern die subjektive Bewertung der betroffenen Person Entscheidend: Gefühl von Ohnmacht, Kontrollverlust, Hilflosigkeit und völligem Ausgeliefertsein dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis Page 16 Department of Psychiatry and Psychotherapy Department of Psychiatry and Psychotherapy Traumatische Ereignisse: Typen Trauma als... Akzidentelle Traumata Zäsur ---------------------------------| --------------------------------------- Sequenz / Prozess ---------------------------------||||| ? ? ? ? ------------------ Zustand / Ausdruck sozialpolitischer Umstände kollektive, transgenerationelle Identität Kein «nach dem Trauma» Typ-I-trauma einmalig, akute Lebensgefahr, unerwartet Typ-IItrauma anhaltender traumatischer Prozess traumatische Kontamination / Filter wiederholt, langandauernd, unvorhersehbarer Verlauf (Schick, 2014) Page 17 Medizinisch bedingte Traumata man-made Trauma (durch Mensch verursacht) • Verkehrsunfälle • berufsbedingte Traumata (z.B. Polizei, Feuerwehr) • Arbeitsunfälle • kurzdauernde Naturkatastrophen (z.B. Wirbelsturm, Blitzeinschlag) kriminelle & körperliche Gewalt Vergewaltigungen zivile Gewalterlebnisse (z.B. Banküberfall) langdauernde Naturkatastrophen (Flut, Erdbeben) technische Katastrophen (z.B. Giftkatastrophen) sexuelle & körperliche Misshandlungen in der Kindheit Geiselhaft Kriegserlebnisse Folter & politische Inhaftierung Akute lebensgefährliche Erkrankungen Chronische lebensbedrohliche/ schwerste Krankheiten Als notwendig erlebte medizinische Eingriffe Komplizierter Behandlungsverlauf nach Behandlungsfehler Department of Psychiatry and Psychotherapy Department of Psychiatry and Psychotherapy Symptomkriterien der PTBS (DSM 5) Negative Änderungen in Kognition und Stimmung (D Kriterium) 1. Unvermögen, sich an wichtige Aspekte des Traumas zu erinnern (aufgrund dissoziativer Amnesie) 2. Andauernde, verzerrte Kognitionen über Grund oder Konsequenzen des traumatischen Ereignisses – Betroffene/r beschuldigt sich selbst oder Andere 3. Andauernder negativer emotionaler Zustand (Angst, Schrecken, Wut, Schuld, Scham) 4. Interessenverlust 5. Gefühle der Losgelöstheit und Entremdung von Anderen 6. Eingeschränkte Bandbreite des Affekts Page 19 Page 20 Department of Psychiatry and Psychotherapy Department of Psychiatry and Psychotherapy Hyperarousal/ Übererregung (E Kriterium) Weitere typische Traumafolgesymptome Kontroll-, Sicherheits- und Vertrauensverlust 2. Irritierbarkeit und Wutausbrüche Gestörtes Sozialverhalten & Veränderungen der Beziehungen: Misstrauen, Entfremdung, Ärger, Wut, Rache, Aggression 3. Leichtsinniges oder selbstzerstörerisches Verhalten Veränderte Selbstwahrnehmung: Schuld- & Schamgefühle, Ekel 4. Konzentrationsprobleme Amnesien 1. Ein- und Durchschlafschwierigkeiten 5. Interessenverlust Persönlichkeitsveränderungen: missmutig, pessimistisch, zynisch, gefühlslos... 6. Übermässige Wachsamkeit (Hypervigilanz) 7. Übertriebene Schreckreaktionen Dissoziative Störungen Depression, Angst, Schmerzen, Alkoholmissbrauch ..... Page 21 Department of Psychiatry and Psychotherapy Department of Psychiatry and Psychotherapy Sozial-interpersonale Perspektive/Veränderungen Phasen der Flucht Kultur & Gesellschaft: - Soziale Anerkennung als Opfer - Werteveränderung Traumatische Erfahrungen Enge Bindung: - Offenlegung Soziale Unterstützung/sozialer Stress Empathie Soziale Emotionen: - Folgen Scham Schuld Wut/Aggression Rachesucht Vorflucht Flucht Exil Strukturen Warten Enttäuschung Desorientiertheit Krieg, Vertreibung Überleben von Hunger & Gefahr Falsche Versprechungen Individual Beziehungen Integration Page 23 Ausgeliefertsein Verlust an: • Ressourcen • Identität • Soziale Bindungen Page 24 Department of Psychiatry and Psychotherapy Department of Psychiatry and Psychotherapy Zentrale Folgen von Trauma Traumatisierte Migrantenkinder Department of Psychiatry and Psychotherapy Department of Psychiatry and Psychotherapy Trauma und Familien: Häufige Problembereiche Risikofaktoren psychischer Gesundheitsprobleme von Flüchtlingskindern Kinder gehen vergessen, auch durch Fachleute!!! Faktoren des Kindes Anzahl erlebter oder bezeugter traumatischer Erlebnisse Sprachschwierigkeiten Erhöhte Vulnerabiliät aufgrund eigener PTSD Somatische Gesundheitsprobleme durch Trauma oder Mangelernährung Kinder sind ungenügend über das Trauma der Eltern informiert, Trauma als Tabu -> Unsicherheit, Phantasien Alltagsprobleme der Kinder werden im Verhältnis zum eigenen Trauma abgewertet Überängstliche, überprotektive Eltern vs. misstrauische Eltern Emotionale Abwesenheit der Eltern Identifikation mit den Erlebnissen der Eltern Brav sein, um die Eltern nicht zusätzlich zu belasten Negative Auswirkungen elterlicher Traumatisierung auf die Paarbeziehung (hohe Scheidungsraten) Generationenkonflikte Elterliche Faktoren PTSD eines Elternteils Mütterliche Depression; Andere psych. Probleme der Eltern, insbesondere der Mutter Folter, vor allem der Mutter Tod oder Trennung von einem Elternteil Direktes Beobachten der elterlichen Hilflosigkeit Elterliche Unterschätzung der kindlichen Belastung Arbeitslosigkeit der Eltern Page 28 Überblicksartikel von Fazel & Stein, 2002 Department of Psychiatry and Psychotherapy Department of Psychiatry and Psychotherapy Risikofaktoren psychischer Gesundheitsprobleme von Flüchtlingskindern Folgen von Kriegstraumata für Kinder Umgebungsfaktoren Primärfolgen 20-44% haben PTSD Armut Kulturelle Isolation Aufenthaltsdauer in Flüchtlingslagern Dauer bis zum Entscheid der Behörden über Aufenthaltsstatus Aufenthaltsdauer im Exil (möglicherweise steigendes Risiko mit längerer Dauer) Lange chronische Krankheitsverläufe Komorbidität bei 25% der Kinder mit PTSD-Diagnose Weniger gute soziale Anpassung Verhaltensauffälligkeiten wie aggressives Verhalten, antisoziales Verhalten, Schulprobleme häufig Sekundäre Gefahren erhöht Obdachlosigkeit, Mangelernährung, Verlust eines Elternteils, familiäre Gewalt Page 29 Überblicksartikel von Fazel & Stein, 2002 Department of Psychiatry and Psychotherapy Department of Psychiatry and Psychotherapy Arbeit/Therapie mit Migranten Migranten gelten generell als „schwierig“ Migranten gelten als therapieresistent Migranten somatisieren Therapie Migranten finden keinen Zugang zur Psychotherapie Psychotherapie kann Migranten nicht erreichen Migranten brauchen andere Formen von Interventionen bei psychischen Problemen Etc....... Page 32 Department of Psychiatry and Psychotherapy Department of Psychiatry and Psychotherapy «Problem» traumatisierter Flüchtling Behandlung von Trauma bei Migranten: Dimensionen Patienten präsentieren häufig komplexe psychosoziale Herausforderungen • Zuweiser • Hausarzt Wohnung • Angehörige Ausbildung – Schule – Arbeit • Sozialamt Versicherung • BFM Aufenthaltsstatus • SVA Familie • Patient ....... Viele Betroffene möchten lieber diese Probleme ansprechen als traumabezogene Symptome (Schick, 2015) Page 33 Page 34 Department of Psychiatry and Psychotherapy Department of Psychiatry and Psychotherapy Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen Das überlaufende Fass Die Lebenswelt von traumatisierten Flüchtlingen in der Postmigration ist geprägt: PTSD was sie zunächst mitgebracht haben: lebensbedrohliche Ängste und Verluste (Werteverlust und Verluste an Ich-Stärke und Selbstwertgefühl) Migration, Flucht was sie vom Aufnahmeland erwartet haben: Sicherheitsgefühl und soziale Anerkennung Grössere Probleme Statt sozialer Anerkennung erleben traumatisierte Flüchtlinge aufgrund ihrer ausländerrechtlichen Stellung häufig: Enttäuschungen (erschüttertes Selbst- und Weltverständnis) Alltagsprobleme Gefühl Nicht-Erwünscht zu sein Misstrauen (Schick, 2015) Page 35 Page 36 Department of Psychiatry and Psychotherapy Department of Psychiatry and Psychotherapy Behandlung der Traumafolgestörungen Behandlung: Transdisziplinär Justizwesen, Tribunale, Wahrheitskommission Reconciliation Psychologische Ansätze: Frühinterventionen Psychotherapie Gesundheits-, Asyl-, Versicherungswesen Biologische Therapien: (Helfer-) System Psychopharmakotherapie Familie, soziales Netz, Sozialberatung Körperorientierte Verfahren Psycholog. und psychotherapeutische Massnahmen, Trauerarbeit Soziale Interventionen: Sozialarbeit Juristische Beratung Page 37 Department of Psychiatry and Psychotherapy Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit… …für Ihr Interesse an dieser Tagung!!! …für Ihre wertvolle und engagierte Arbeit mit Traumatisierten!!! Kontakt: Dr. phil. Naser Morina MAS in Psychotraumatology UZH Department of Psychiatry and Psychotherapy University Hospital Zurich Culmannstr. 8 CH-8091 Zürich Tel.: +41 (0)44 255 51 21 Fax.: +41 (0)44 255 86 45 www.psychiatrie.usz.ch [email protected] Aus-, Weiterbildungen, Erwerbsarbeit, Sprachkurse