gws-Forum 23./24.2.06 Von emotionalen Stiefkindern und der Sehnsucht nach der Klarheit des Gefühls Priv.-Doz. Dr. Annette Kämmerer Psychologisches Institut Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Was ist mit den Gefühlen? Wie sind sie angemessen zu beschreiben? Welches ist eines und welches ist (schon) keines mehr? Wie lassen sie sich psychologisch erklären? Welche sind „angesagt“ und welche nicht? Gibt es so etwas wie „emotionale Stiefkinder“? Können wir unser Gefühlsleben schulen? Vielfalt von Emotionstheorien 1. 2. Evolutionstheorien: Konzept der Basisemotionen (z.B. McDougall) Psychophysiologie: Neurologische Korrelate von Emotionen (z.B. William James) 3. Ausdruckstheorien: Mimischer und gestischer Ausdruck (z.B. Ekman & Friesen) 4. 5. 6. Entwicklungstheorien: Ontogenetische Prozesse (z.B. Izard) Psychoanalyse: Emotionale Konflikte, Unbewusstes (z.B. Freud) Kognitive Theorien: Kognitive Bewertungen bestimmen das emotionale Erleben (z.B. Scherer, Mandler) 7. Attributionstheorien: Kausale Attribuierungen bestimmen die Qualität der Emotionen (z.B. Schachter, Weiner) 8. Kognitive Einschätzungstheorien: „primary and secondary appraisal“ (z.B. Lazarus, Ortony & Turner) 9. Sozial-konstruktivistische Theorien: Gefühle = Ergebnis von Skripts, Schemata, normativen Vorgaben (z.B. Hochschild, Weber). Quelle: Otto, O.; Euler, H. & Mandl, H. (Hrsg.)(2000). Emotionspsychologie. Weinheim: Beltz/pvu Emotionstheorien haben verschiedene Ansatzpunkte: Makroebene: Evolutionsbiologie Gefühle sind wichtig zum Überleben der Art, sie sichern Reproduktionsvorteile.. Mesoebene: Sozial-konstruktivistische Theorien Gefühle sind Teil sozialer Skripts; diese enthalten die für eine Emotion prototypischen Merkmale. Skripts für Gefühle sind an soziale Normen und Werte gebunden, unterliegen einem ständigen Wandel, d.h. sie werden stets neu konstruiert und gelten für bestimmte Gruppen. Mikroebene: Intrapsychische Verarbeitungsprozesse Gefühle sind die Folge spezifischer, situationaler Einschätzungsprozesse des handelnden Individuums; sie entstehen aufgrund von Attributionsprozessen, d.h. aufgrund evaluativer Kognitionen. Erstes Fazit: Gefühle sind überlebenswichtig! Gefühle beeinträchtigen und fördern unsere Fähigkeit, zu denken, zu planen, Schlussfolgerungen zu ziehen; Sie bestimmen somit das Ausmaß, in dem kognitive und motivationale Fähigkeiten genutzt werden können; Gefühle finden in sozialen Kontexten statt, sie sind eine wichtige Richtschnur für soziale Interaktionen („scripts“); Gefühle können deshalb auch falsch sein in dem Sinne, dass sie nicht zu der Situation passen, in der sie auftreten bzw. zu stark oder zu schwach erlebt/gezeigt werden. Kämmerer, A. (2002). Gefühle mit Gefühlen behandeln. Psychotherapie im Dialog, 3/2, 112-119 Erstes Beispiel: „Etwas wird sichtbar...“ Schamgefühle • selbstreflexive, selbstbewertende Emotion • plötzlich auftretend, ein „heißes Gefühl“ • Erröten, Vermeiden von Blickkontakt • die ganze Person ist betroffen • bezogen auf moralische Standards • Diskrepanz zwischen dem realen und dem idealen, erwünschten Selbst Emotionale Verarbeitung von Schamgefühlen • Rückzug, Verbergen: „Scham macht einsam“. • Ärger und Aggressionen, Feindseligkeit, Wut („shame-rage“) • Zorn als Abwendung von Beschämung/Scham („Ehrverletzung“) • Unterwerfung, Verleugnung • Traurigkeit, Verstimmtheit Anlässe für Schamgefühle Körper und Intimität • Tugendhaftigkeit • Sexualität, Nacktheit • Normen für Privatheit und Intimität Gesellschaftliches Zusammenleben • Sozialer Status • Interpersonale Kompetenzen • Leistung etc. • „aidos“ als das „Gebot der • „aischyne“ – Verhaltensweisen, die nach Scham“ allgemeiner Auffassung anstößig sind Beschämung und Scham: Die interpersonale Struktur des Normverstoßes • „Wenn ich mich schäme, schäme ich mich für etwas vor jemandem“. – Status und Macht in der Beschämungssituation: • • • • Reichtum materielle Demütigung Wissen Prüfung Hierarchie Degradierung Zugehörigkeit Ausschluss Kämmerer, A. (im Druck). Zur Intensität des Schamerlebens bei psychischen Störungen. Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie Zweites Beispiel: „Etwas wird beendet“ Vergebung Bewältigungshandeln, das bei interpersonalen Konflikten bedeutsam wird; An der Vergebung sind Gefühle beteiligt, z.B. Wut und Trauer, aber auch Hoffnung und Zuversicht; Vergebung kann sich auf andere und auf sich selbst richten. Was heißt es, zu vergeben? Vergebung .... bedeutet, auf Rachegefühle der verletzenden Person gegenüber zu verzichten; beinhaltet die Reduktion feindseliger Gefühle, Gedanken und Handlungsimpulse; entschuldigt nicht die Tat, sondern ist eine Haltung einer Person gegenüber. Die verletzende Person wird als moralisches Subjekt (wieder) anerkannt. Schritte des Vergebens 1. Auseinandersetzung mit der eigenen Verletztheit 2. Auseinandersetzung mit der verletzenden Person 3. Entscheidung zur Vergebung und zum Loslassen der negativen Gefühle 4. Neues Verhalten und neues kommunikatives Verhalten gegenüber der verletzenden Person Kämmerer, A. & Kapp, F. (2002). Emotionale Stiefkinder therapeutischen Handelns: Zum Beispiel Vergebung . Psychotherapie im Dialog, 3/2, 184-187 Schamgefühle, Vergeben Emotionale Stiefkinder? • Beide sind in ein sozial-konstruktivistisches Verständnis des Emotionalen eingebettet; • In individualistischen, säkularisierten Gesellschaften eher als altmodisch etikettiert; • Verwoben mit moralischen Überzeugungen Emotionale Intelligenz Fähigkeit, die eigenen Emotionen korrekt wahrzunehmen, zu bewerten und auszudrücken; Fähigkeit, eigene Emotionen zu regulieren; Fähigkeit, Emotionen bei anderen zu verstehen und ein emotionales Wissen zu besitzen. Goleman, D. (1999). Emotionale Intelligenz. München: dtv. Goleman, D. (2004). Emotionale Intelligenz - zum Führen unerlässlich Hamburg: Manager-Magazin-Verl. „Mindfulness“ = Achtsamkeit • Genaue Introspektionsfähigkeit i.S. der Sensibilität für das eigene emotionale Empfinden in bestimmten Situationen; • Heraustreten aus dem unmittelbaren emotionalen Erleben, z.B. nicht nur zornig zu sein, sondern zu wissen, dass es Zorn ist, den man empfindet (und nicht ein anderes Gefühl). Emotionale Intelligenz – Aspekte des Erwerbs • Selbstmotivation – Realistische Selbsteinschätzung, Ausdauer, Geduld – Werte nicht aus den Augen verlieren • Selbstkontrolle – – – – Verantwortung für eigene Gefühle übernehmen Emotionale Auslöser identifizieren Auf das Handeln konzentrieren „Kontrollierter Rückzug“ Ryback, D. (1998). Putting emotional intelligence to work. Successful leadership is more than IQ. Boston: Butterworth-Heinemann. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit ! Psychologisches Institut Hauptstr. 47-51, 69117 Heidelberg Tel. 06221-547290 [email protected]