Stellvertreterentscheide am Lebensende

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Luzerner Kantonsspital
18. Mai 2015
Stellvertreterentscheide
am Lebensende
Prof. Dr. iur. Regina Aebi-Müller
Ordentliche Professorin für Privatrecht und
Privatrechtsvergleichung
[email protected]
Inhaltsübersicht 1.  Wie wird das Arzthandeln rechtlich eingeordnet –
und warum ist die Urteilsfähigkeit des Patienten
von Bedeutung?
2.  Unter welchen Voraussetzungen gilt ein Patient
als urteilsunfähig?
3.  Wer entscheidet bei Urteilsunfähigkeit des
Patienten?
4.  Wie ist der Stellvertreterentscheid zu treffen?
5.  Welche Bedeutung hat eine Patientenverfügung?
Übersicht: Rechtliche Einordnung des Arzthandelns §  Jede medizinische Behandlung
stellt eine grundsätzlich widerrechtliche Persönlichkeitsverletzung dar.
§  Folglich bedarf jede Behandlung der
gültigen Einwilligung des Patienten
oder von dessen Vertreter.
Urteilsfähigkeit
Aufgeklärtheit
Hinreichende Bestimmtheit
Voraussetzungen
der gültigen der
Voraussetzungen
gültigen Einwilligung
Einwilligung
Freiheit der Entscheidung
und Abwesenheit von
Willensmängeln
Freiheit von Inhaltsmängeln
(insbes. Rechts- und
Sittenwidrigkeit)
Kein Widerruf der Einwilligung
Insbesondere zur Urteilsfähigkeit als Voraussetzung der Selbstbes?mmung des Pa?enten § 
Der urteilsfähige Patient entscheidet alleine über medizinische Behandlungen.
o  Volle Handlungsfähigkeit (d.h. Volljährigkeit, keine umfassende
Beistandschaft) ist nicht erforderlich!
o  Der Behandlungsentscheid muss nicht „vernünftig“ sein!
o  Aber selbstverständlich darf/wird der Patient meist den Arzt
fragen, was in der konkreten Situation sinnvoll ist.
§ 
Der urteilsunfähige Patient muss für den Behandlungsentscheid vertreten werden, seine Einwilligung oder Weigerung
ist (grundsätzlich) unbeachtlich.
§ 
Handlungsfähigkeitsrecht als Schutzrecht: Nur dem (voll)
Urteilsfähigen sollen seine Willensäusserungen und Handlungen zugerechnet werden.
Urteilsfähigkeit als „Schlüssel“ zu Patientenrechten!
Ist der Patient mit Bezug auf den
konkreten Eingriff urteilsfähig?
Ja
Der Patient entscheidet alleine und
stimmt medizinischen Massnahmen
zu oder lehnt sie ab.
Nein
An Stelle des Patienten entscheidet dessen gesetzlicher Vertreter
(Vertretungskaskade beachten!).
Ausnahmen:
•  Bei Dringlichkeit – wenn der Vertreter nicht rechtzeitig entscheiden kann –
obliegt der Behandlungsentscheid dem behandelnden Arzt.
•  Wenn eine direkt anwendbare Patientenverfügung vorliegt, ist dieser
grundsätzlich zu entsprechen.
Teilvoraussetzungen der Urteilsfähigkeit mit Bezug auf medizinische Behandlungsentscheide Urteilsfähigkeit Willensbildungsfähigkeit Willensumsetzungsfähigkeit Gelingt es dem Pa=enten, fremder Willensbeeinflussung zu widerstehen? Verstandes-­‐
gemässes Urteilsvermögen • Versteht der Pa=ent, was wie die Behand-­‐
lung abläuD? • Versteht er die alter-­‐
na=ven Behandlungs-­‐
möglichkeiten? Realitätsbezug des Urteilsvermögens Beeinträch=gt u.a. bei Suchterkrankungen oder Wahnvorstellungen Fhk. zur Bildung und Abwägung nachvollziehbarer Mo=ve Fähigkeit zur Mo=vkontrolle und Willens-­‐
bildung i.e.S. Aber: Keine Mo=v-­‐
kontrolle bzw. kein VernünDigkeitstest! Auch: Emo=onale Stabilität und Stabilität der Willensbildung Rela?vität der Urteilsfähigkeit Die Urteilsfähigkeit ist stets für einen bestimmten Zeitpunkt und mit Blick auf
ein ganz konkretes, rechtlich relevantes Verhalten zu klären:
Relativität der Urteilsfähigkeit
in sachlicher Hinsicht
Komplexität
des
Entscheids
Tragweite
des
Entscheids
in zeitlicher Hinsicht
Urteilsfähigkeit im
Zeitpunkt der Einwilligung
(und der Behandlung?)
Beispiele:
•  Urteilsfähigkeit für pflegerische Massnahmen oder für Behandlungsentscheid.
•  Schwankende Urteilsfähigkeit bei Verabreichung starker Schmerzmittel.
Fallbeispiel „Fragliche Urteilsfähigkeit“ Bei Frau L., Jahrgang 1972, wurde im Jahr 2008 Brustkrebs diagnostiziert.
Es folgten eine operative Entfernung des Tumorgewebes. Hingegen lehnte
die Patientin Chemotherapie und Hormontherapie zur Reduktion des
Rückfallrisikos ab zugunsten alternativmedizinischer Behandlungen. Im Jahr
2013 erfolgte eine Radiotherapie eines Rückfalls in der Brust, die
Hormontherapie setzte die Patientin ab. Die Information anderer betreuender
Ärzte liess die Patientin nicht zu.
2014/15 trat ein ausgedehnter Befall verschiedener Organe (Skelett, Lunge,
Leber) auf, später auch des Gehirns. Frau L. lehnte bei vollständig fehlender
Krankheitseinsicht jede tumorgerichtete Therapie ab, ebenso eine psychiatrische Untersuchung. Sie untersagte zudem die Information von Angehörigen.
•  Ist die fehlende Krankheitseinsicht und der (irrationale) Verzicht auf schulmedizinische Behandlung ausreichendes Indiz für fehlende Urteilsfähigkeit?
•  Ist ein Aufklärungsverzicht in dieser Situation gültig?
•  Dürfen – entgegen dem ausdrücklichen Wunsch der Patientin –
Angehörige informiert werden?
Wer entscheidet als Stellvertreter? Hat der Patient (im urteilsfähigen Zustand) keinen Vertreter eingesetzt (1.)
und besteht auch keine Beistandschaft mit Bezug auf medizinische
Behandlungsentscheide (2.), so besteht nach Art. 378 Abs. 1 ZGB eine
gesetzliche Vertretungsbefugnis folgender Personen:
3. wer als Ehegatte (od. eingetragene/r Partner/in) einen gemeinsamen
Haushalt mit der urteilsunfähigen Person führt oder ihr regelmässig und
persönlich Beistand leistet;
4. die Person, die mit der urteilsunfähigen Person einen gemeinsamen
Haushalt führt und ihr regelmässig und persönlich Beistand leistet;
5. die Nachkommen, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und
persönlich Beistand leisten;
6. die Eltern, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und
persönlich Beistand leisten;
7.  die Geschwister, wenn sie der urteilsunfähigen Person regelmässig und
persönlich Beistand leisten.
Vorsicht: Das entspricht u.U. nicht der durch den Arzt
„gefühlten“ Nähebeziehung!
Wenn mehrere vertretungsberech?gte Personen vorhanden sind... §  ... dann darf der gutgläubige Arzt voraussetzen, dass jede im
Einverständnis mit den anderen handelt (Art. 378 Abs. 2 ZGB).
§  Die Aufzählung in Art. 378 Abs. 1 ZGB ist als Kaskade zu verstehen: Nur
wenn keine Personen einer bestimmten Kategorie existieren, sind
Personen der folgenden Kategorie zur Vertretung befugt.
Was passiert, wenn die mehreren (gleichrangigen) Vertreter uneinig sind
und der Arzt nicht gutgläubig ist?
Ø  Anrufung der Erwachsenenschutzbehörde (nach Art. 381 ZGB); bis zu
einem entsprechenden Entscheid ist der Arzt befugt, bei Dringlichkeit
selber zu entscheiden!
Fallbeispiel „Uneinigkeit von Angehörigen“ Der 20-jährige Michael, ein Jus-Student, ist begeisterter Töfffahrer. Er nutzt das
erste warme Frühjahrswochenende für eine rasante Passfahrt. Bei einem Sturz
wird er schwer verletzt. Im Spital ergibt sich folgende Situation:
Der behandelnde Arzt klärt die Angehörigen darüber auf, dass Michael aktuell
im künstlichen Koma liegt, dass er wegen einer Wirbelsäulenfraktur mit einer
sehr hohen Wahrscheinlichkeit Tetraplegiker sein wird, dass er zudem schwere
Hirnschädigungen erlitten hat, deren Folgen nicht konkret abschätzbar sind,
die jedoch mit Sicherheit erhebliche und bleibende Schäden im Denkvermögen
sowie bei der Sprachfindung zur Folge haben werden.
Die Eltern von Michael wollen alle medizinischen Möglichkeiten ausschöpfen.
Michaels langjährige Freundin möchte alle Geräte abstellen und Michael sterben lassen. Die Schwester von Michael berichtet, dieser habe in verschiedenen Gesprächen immer wieder betont, dass ein Leben mit schwerer Behinderung für ihn nicht lebenswert wäre.
•  Wer entscheidet über die Behandlung bzw. den Behandlungsabbruch?
Wie hat der Vertreter zu entscheiden? Bedeutung des „mutmasslichen Willens“ des Pa?enten §  Soweit möglich ist für den Vertreterentscheid auf den mutmasslichen
Willen des Patienten abzustellen, d.h. es ist zu fragen, wie der
Betroffene, wäre er urteilsfähig, entscheiden würde.
§  Der mutmassliche Wille ist aufgrund der Umstände (Wertvorstellungen,
frühere Behandlungsentscheide und Äusserungen, Lebensumstände usw.) zu
erschliessen, wobei glaubwürdige Aussagen nahestehender Personen
(auch nicht vertretungsberechtigter Angehöriger) ein grosses Gewicht haben.
§  Das Abstellen auf den mutmasslichen Willen ermöglicht es u.U., trotz
fehlender Patientenverfügung auf die spezifischen (nicht formgültig
geäusserten) Wünsche des Patienten abzustellen.
§  Nicht massgeblich sind demgegenüber die eigenen Wertungen und
Auffassungen des Vertreters oder des Arztes.
§  Kann der mutmassliche Wille nicht eruiert werden, ist nach den objektiven Interessen des Patienten (d.h. nach dem medizinisch Gebotenen)
zu entscheiden.
Par?zipa?onsrechte Urteilsunfähiger Problematik des „Alles-oder-nichts-Entscheids“ über die
Urteilsfähigkeit:
Ø  Der urteilsunfähige Patient, der bei Bewusstsein und noch (partiell)
äusserungsfähig ist, empfindet den medizinischen Eingriff u.U. als
Verletzung seiner Integrität – und zwar auch dann, wenn der
gesetzliche Vertreter die entsprechende Einwilligung erteilt hat.
Ø  Kein „Zwang“ im Rechtssinn – trotzdem sagt uns das Bauchgefühl,
dass eine „Zwangsbehandlung“ in diesen Sachlagen heikel ist.
Partizipationsrechte als möglicher Lösungsansatz:
Ø  Die Entscheidbefugnis liegt zwar beim Vertreter des urteilsunfähigen
Patienten,
Ø  der urteilsunfähige Patient wird aber soweit möglich in den Behandlungsentscheid einbezogen (Art. 377 Abs. 3 ZGB).
Ø  Gerade bei Lebensendentscheidungen gilt es die Balance zu wahren
zwischen fürsorglicher Fremdbestimmung und Respekt vor den
Patientenwünschen.
Fallbeispiel „Lebensverkürzender Entscheid“ Herr R., Jahrgang 1964, hat im Jahr 2013 einen Arbeitsunfall mit SchädelHirn-Trauma erlitten. In der Folge traten schwere, anhaltende kognitive
Störungen auf. Herr R. ist pflegebedürftig (einschliesslich Grundpflege) und
klar nicht urteilsfähig.
Als Folge des Schädel-Hirn-Traumas kam es zu einer Störung der Zirkulation des Liquor cerebrospinalis. Es wurde daher eine Ableitung von den
Hirnventrikeln in das Bauchfell angelegt, wobei mehrere operative Revisionen der Ableitung erforderlich waren. Kürzlich kam es zu einer Bauchfellentzündung bei bakterienbesiedelter Ableitung.
Herr R. ist verheiratet. Die Ehefrau entscheidet sich nach Aufklärung und
Diskussion der Möglichkeiten (weitere Revision mit unsicherem Ausgang) für
die Entfernung der Ableitung.
•  Ist dieser Entscheid hinzunehmen?
•  Dürfte ein Ethikkomitee oder ein Konzil entgegen dem Wunsch der Ehefrau entscheiden?
•  Wie wäre vorzugehen, wenn der Stellvertreterentscheid nach Auffassung
der Ärzte dem mutmasslichen Patientenwillen widerspricht?
Fallbeispiel „Irra?onaler Stellvertreterentscheid“ Frau Z., Jahrgang 1948, leidet seit 2012 an einem Bronchialkarzinom mit
Hirnmetastasen, das nach Bestrahlung fortschreitet. Standardtherapien waren
zwar zunächst erfolgreich, sind aber nunmehr ausgeschöpft. Frau Z. leidet an
einem schlechten Allgemeinzustand, sie ist pflegebedürftig für alle Aktivitäten.
Sie ist (bei fluktuierender Vigilanz und zeitlicher und örtlicher Desorientierung)
offensichtlich nicht urteilsfähig.
Die Angehörigen (wer?) sprechen sich gegen eine Komforttherapie aus und
wünschen experimentelle Behandlungen und Intensivtherapie.
•  Muss die Stellvertreterentscheidung in dieser Sachlage respektiert werden?
•  Können Angehörige eine medizinisch nicht indizierte Therapie verlangen?
•  Oder umgekehrt: Können Angehörige eine medizinisch klar indizierte
Therapie verweigern (z.B. Blutprodukte bei Zeugen Jehovas)?
•  Wie ist vorzugehen, um Frau Z. ein würdiges Sterben zu ermöglichen?
Vorgehen bei Dringlichkeit (Art. 379 ZGB) „In dringlichen Fällen ergreift die Ärztin oder der Arzt medizinische
Massnahmen nach dem mutmasslichen Willen und den Interessen der
urteilsunfähigen Person.“
§  Bei Dringlichkeit entscheidet somit der Arzt und nicht die an sich vertretungsberechtigten Personen.
§  Dringlichkeit liegt vor, wenn keine Zeit bleibt, um die vertretungsberechtigte Person zu informieren und deren Entscheid einzuholen:
o  Vertretungsberechtigung ist unklar, es gibt keine gesetzlichen Vertreter
oder diese Entscheiden offensichtlich entgegen dem Patienteninteresse
bzw. dem mutmasslichen Willen
o  und aus medizinischen Gründen kann der Entscheid der ESB nicht
abgewartet werden, oder mit dem Aufschub ginge der therapeutische
Nutzen der Intervention ganz oder teilweise verloren.
§  Massgeblich für den Entscheid sind wiederum der mutmassliche Wille
und die Interessen des Patienten, wobei der Arzt in dieser Sachlage wohl
nicht Zeit hat, den mutmasslichen Willen im Einzelnen zu erforschen und
daher das objektiv Gebotene vorkehren wird.
Sonderfall: Pa?entenverfügung § 
Formvorschriften: Schriftlichkeit, Datum, Unterschrift
-  Auch vorgedruckte PV ist gültig; allerdings kann sich in besonderem
Mass fragen, ob der Patient verstanden hat, was er unterschreibt.
§ 
Inhalt: Konkrete Anordnungen betreffend die Behandlung oder Bestimmung
eines Vertreters (ggf. verbunden mit Weisungen).
§ 
Die PV wird erst mit dem Eintritt der Urteilsunfähigkeit wirksam.
§ 
Der PV ist zu entsprechen, solange kein Grund für ein Abweichen vorliegt:
-  Fehlende situations- oder massnahmebezogene Bestimmtheit.
-  Zweifel am freien Willen (z.B. Beeinflussung durch Angehörige).
-  PV entspricht nicht mehr dem aktuellen mutmasslichen Willen (z.B. verändertes medizinisches Umfeld, alte PV und neue Lebenssituation usw.).
§ 
Merke: Jede PV ist auslegungsbedürftig!
-  Bsp.: „Keine Schläuche!“
Fallbeispiel „Nutzlose Pa?entenverfügung“ Frau M., 86-jährig, leidet an Multipler Sklerose sowie an einer Hautkrankheit. In einer Patientenverfügung hat sie vor wenigen Monaten festgehalten, dass sie, wenn sich ihr Gesundheitszustand nun weiter verschlechtern sollte, auch im Notfall keine medizinische Hilfe und unter keinen
Umständen ins Spital gebracht werden wolle, sondern ein solcher medizinischer Notfall eine Gelegenheit wäre für sie, um sterben zu können. Der
Heimarzt und die Pflegenden im Heim können bestätigen, dass diese PV
eine wohlüberlegte Entscheidung von Frau M. war und zu ihr als Person
sowie zu ihrem Gesundheitszustand passt.
Als sich M.‘s Gesundheitszustand eines Nachts ganz plötzlich verschlechtert, ruft die temporär angestellte Nachtwache die Rettungsdienste.
Obschon sich Frau M., in halbwachem Zustand, körperlich zur Wehr setzt
und sich an ihrem Bett festzuhalten versucht, wird sie ins Spital und direkt
auf die IPS gebracht. Die PV wird den Spitalärzten ausgehändigt, trotzdem
beginnt man damit, die Verschiebung der Salzwerte, die zum Zwischenfall
geführt hat, mittels einer Kalium-Infusion zu korrigieren. Nach vier Stunden
geht es der Frau besser.
•  Wie beurteilen Sie diese Situation und das Vorgehen der Rettungskräfte
und Ärzte?
Vielen Dank
für Ihre Aufmerksamkeit
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