JANUAR 2014 Urbane Agrikultur Foto: Gesa Maschkowski Städte essbar machen – Umsetzung in Andernach Urban Gardening in Andernach „Die Eier könnten wir verlosen, so groß ist die Nachfrage“, sagte Marlis Hütgens, Verkäuferin im kleinen Fair-Regio Laden in der essbaren Stadt Andernach. Unter­ dem Motto „Welt trifft Heimat“ werden hier nicht nur Tee, Kaffee und Kakao aus fairem Handel sondern auch regionale Produkte angeboten, zum Beispiel Säfte aus der Region, selbstgemachte Fruchtaufstriche und eben die Eier von den Hühnern, die seit letztem Jahr im Burggraben von Andernach scharren. Zweimal in der Woche wird auch Gemüse von der städtischen Permakulturfläche geliefert. Ansonsten gilt in der Stadt das Motto Selbstbedienung. Auf den Beeten im Burgraben und auf anderen öffentlichen Flächen in der Stadt darf jede Bürgerin und jeder Bürger einfach ernten. Und sie greifen zu: Die Zucchinis werden nicht mehr groß, der Manggold sorgsam geschnitten, am Weinstock tauscht man Rezepte und arbeitet mit Unterstützung der Bürger an einem Zwiebelkochbuch. Die Stadtverwaltung von Andernach hat sich www.ernaehrung-im-fokus.de als erste Behörde in Deutschland das Motto „Essbare Stadt“ auf die Fahne geschrieben. „Wir können nach vier Jahren bereits auf einige Erfahrungen zurückblicken, aber wir sind trotzdem noch ganz am Anfang“, meinte Lutz Kosack, Landespfleger der Stadt Andernach. Das Interesse an dem Thema ist groß. Gut 130 Besucher sind zum ersten „Kongress Essbare Stadt Andernach“ gekommen, um die Möglichkeit der Übertragung solcher Konzepte auf andere Städte und Gemeinden zu diskutieren. Behördenvertreter aus unterschiedlichen Stadt- und Gemeindeämtern sitzen neben braun gebrannten Gartenprofis mit Trekkingschuhen, dazwischen Umweltaktivisten, Wissenschaftler, Unternehmensvertreter und politisch Engagierte. Eine Tomatensorte als Kulturgut In Andernach fing alles an mit dem Jahr der Biodiversität. „Die wenigsten verbinden Biodiversität mit Zier- und Nutz- pflanzen“, sagte Lutz Kosack. „Bei Gemüse haben wir eine starke Generosion. 75 Prozent der genetischen Vielfalt sind praktisch verloren. Dabei ist eine Tomatensorte doch genauso ein Kulturgut wie ein Musikstück oder ein Bild“, meinte er. Die Stadtverwaltung fing im Jahr 2010 an, über 100 Tomatensorten in den Burggraben zu pflanzen, im nächsten Jahr waren es Bohnen, dann Zwiebeln, jetzt ist es der Kohl. Mittlerweile gibt es in Andernach 6000 bis 7000 Quadratmeter Gemüsefläche. An den Straßenrändern, wo wegen der Abgase besser kein Gemüse wachsen sollte, stehen Stauden. „Die Nachfrage nach neuen Gemüsebeeten ist groß, wir können sie im Moment gar nicht bedienen“, stellte Kosack fest. „Aber wir wollen langsam wachsen, jedes Jahr um ein bis zwei Beete.“ In den nächsten Jahren möchte er mit den Bürgern gemeinsam öffentliche Grünanlagen gestalten und mehr Tiere in die Stadt bringen. Außerdem ist die Stadt Betrei- JANUAR 2014 ber des größten öffentlichen Permakulturgartens. Das 14 Hektar große Gelände in Andernach-Eich ist strahlenförmig aufgebaut. In der Mitte liegt die Kräuterspirale, es gibt einen Bauern- und Gemüsegarten, Streuobstwiesen und Flächen, auf denen sich Schweine und Rinder tummeln – alte Nutztierrassen, das versteht sich von selbst. Hier finden nicht nur Langzeitarbeitslose eine sinnvolle Beschäftigung, das Gelände ist ein Lehr- und Versuchsgarten für Groß und Klein. „Wenn sie einmal Kinder bei der Kartoffelernte erleben“, sagte Kosack, „dann brauchen Sie über die Sinnhaftigkeit ihres Berufs nicht mehr nachzudenken“. Öffentlicher Gemüseanbau in ­Städten als Mehrwert „Dieses Projekt kostet die Stadt Andernach keinen Cent mehr, sondern bietet einen großen Mehrwert“, stellte Achim Hütten, Oberbürgermeister von Andernach, fest. Die häufigsten Probleme in öffentlichen Anlagen, Verschmutzung und mutwillige Zerstörung, gibt es in Andernach kaum. „Was man wertschätzt, das wird weniger verschmutzt“, meinte Hütten. „Wir haben praktisch keinen Vandalismus“, sagte auch Lutz Kosack. „Bei der Feigenernte hat jemand mal einen ganzen Feigenbaum mitgenommen, aber das war wohl ein Missverständnis“, scherzte er. Dr. Cassian Schmidt, Professor an der Hochschule Geisenheim und Leiter des Schau- und Sichtungsgarten Hermannshof in Weinheim, wirbt dafür, mehr Stauden im öffentlichen Grün einzusetzen als Alternative zur klassischen „Hundekotablagestelle“ auf grünem Rasen. „Gelbe Blumen beispielsweise symbolisieren die Sonne“, sagte Cassian. Tatsächlich sind Gemüse und Stauden nicht nur dekorativ, sondern durchaus finanziell konkurrenzfähig, verglichen mit klassischen Blumen-Wechselbeeten, die bis zu viermal im Jahr erneuert werden müssen. (Kosten: 58 €/m² gegenüber 9–11 €/m² für Misch­stauden und 15 €/m² für Gemüsepflanzen). der Landwirtschaft – Land, Energie und Phosphor – werden immer knapper, sagte sie. So wird 2050 nach Berechnungen der Vereinten Nationen weltweit nur noch halb so viel Ackerfläche zur Verfügung stehen wie 1970. Urbane Landwirtschaft bietet ein großes Potential für Städte, eigene Ressourcen wie städtische Flächen, organische Abfälle und Regenwasser besser zu nutzten, meinte Arnold. In einem Forschungsprojekt hat die Universität Bonn beispielsweise untersucht, wie Nährstoffe für die landwirtschaftliche Produktion aus Haushaltsabwässern wiederzugewinnen sind. „Die meisten Nährstoffe scheidet der Mensch im Urin aus“, sagte Arnold. Das sind etwa 90 Prozent des verzehrten Stickstoffes und 50 Prozent des Phosphors. Im Mittelpunkt des Verbundprojektes Saniresch stand daher die Frage, wie sich der Wasserverbrauch für Toiletten verringern und das so genannte Gelbwasser umweltverträglich nutzen lässt (www.saniresch. de). Dafür wurde in einem Bürogebäude mit hohem Publikumsverkehr anstelle eines herkömmlichen Abwassersystems ein neuartiges Sanitärsystem, kurz NASS, etabliert. Es ermöglicht die Trennung von Grau-, Braun- und Gelbwasser sowie die Gewinnung von Magnesiumammoniumphosohat (MAP) aus dem Urin. So lassen sich 98 Prozent des Phosphors aus dem Urin rückgewinnen. Feldversuche der Universität Bonn konnten nachweisen, dass Gelbwasser und MAP hygienisch unbedenklich sind und als Dünger in ihrer Wirkung gegenüber konventionellen mineralischen Düngern konkurrenzfähig sind. Eine Verbraucherbefragung ergab eine überwiegend positive Resonanz auf die Verwertung solcher Düngemittel in der Landwirtschaft. Auf dem Weg zur ökuhumanen Stadt „Urban Gardening ist eine Eintrittskarte in eine positive Zukunft“, sagte Heike Boomgarden, die an dem Konzept mitgewirkt hat. „Man braucht vor allem Mut und Kreativität. Was immer du träumst, was du tun kannst, fang damit an!“, sagte Kosack. Am Ende der Tagung bekam jeder Teilnehmer eine Hausrebe und wurde gebeten, diese Rebe zu pflanzen und auf der Internetseite zu berichten, wie sie wächst. Außerdem legt die Stadt einen Hektar Auenwald an, damit war die ganze Konferenz praktisch CO2-neutral. ■ Gesa Maschkowski, Wissenschaftsredakteurin, aid Urbane Landwirtschaft ist nicht nur eine­ schöne Spielerei, sondern ein wichtiger­ Baustein in der Nahrungsversorgung der Zukunft, so Dr. Ute Arnold von der Universität Bonn. Die wichtigsten Ressourcen www.ernaehrung-im-fokus.de Foto: Gesa Maschkowski Rückgewinnung von Nährstoffen aus Abwässern