Praxisletter Praxisletter Praxisletter Praxisletter Praxisletter Praxisletter Thema 126 Orales Piercing: Implikationen für Zähne, Parodont und zahnärztliche Restaurationen Hintergrund Ästhetik ist relativ ! ... und es ist eine eindrückliche Erfahrung für jeden Zahnarzt, dass Patienten mitunter ganz andere Vorstellungen von „schönen Zähnen“ haben als der Behandler. Bei manch jungen Patienten weichen die Vorstellung von Schönheit ganz erheblich von denen des Zahnarztes ab, z.B. beim Thema „Piercing“. Eine medizinisch-begründete ablehnende Haltung gegenüber diesem Phänomen ist zwar verständlich, jedoch nicht ausreichend. So besteht bei vielen Behandlern noch ein erheblicher Informationsbedarf über Folgen und Risiken solcher oraler Piercings, denn nur auf der Basis einer sachgerechten Aufklärung der Patienten kann eine adäquate Betreuung dieser Patientengruppe möglich sein. Statement Obwohl es klinische Realität ist, dass sich vor allem Jugendliche bzw. junge Erwachsene mit einem Piercing in der Praxis vorstellen, sind in der Literatur fast ausschließlich Falldarstellungen oder eher allgemeine Statements zum Thema zu finden. In letzteren werden zumeist die operativen Risiken eines oralen Piercings thematisiert, die den Zahnarzt nur im Falle von postoperativen Komplikationen betreffen. Der Stand des Wissens erschöpft sich also im Wesentlichen in der Darstellung von Komplikationen in Einzelfällen, die sich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – in fünf Kategorien aufteilen lassen: • Operationsrisiken bzw. postoperative Komplikationen: Schwellungen, ausgedehnte Hämatombildungen und – vor allem bei Zungenpiercings – starke Nachblutungen (zusätzlich bei unsterilem Vorgehen: Infektionen, z.B. Hepatitis B/C) • Lokale Komplikationen (Implantationsort): lokale Infektionen, Nervläsionen, Fremdkörpergranulome, Narbenbildung bei Entfernung, etc. • Schäden an (benachbarten) Zähnen: lokale Aussprengungen an Zähnen bzw. Restaurationen, Rissbildungen im Schmelz, Infrakturen, Höckerabscherungen, vollständige Zahnfrakturen (zusätzlich in der Nähe des Piercings: lokaler Verschleiß der Zähne) • Schäden am Parodont von (benachbarten) Zähnen: Behinderung der Mundhygiene, Plaqueanlagerung und Zahnsteinbildung, Impressionen der Mucosa bzw. Gingiva, Rezessionsbildungen, Attachmentverlust mit erhöhten Sondierungstiefen Deutsche Zahnärztliche Zeitschrift 59 (2004) 3 Praxisletter Praxisletter Praxisletter Praxisletter Praxisletter Praxisletter • Sonstige Komplikationen: erhöhte Speichelflussrate, Interferenzen mit der Sprachbildung, dem Schluckakt und der Kaufunktion, mögliche allergische Reaktionen (insbesondere bei Nickel-haltigen Legierungen), abhängig vom Metall: Bildung eines galvanischen Elements. So hilfreich eine solche Auflistung für die Information von betroffenen Patienten ist, wären für den Zahnarzt eher klinisch relevante Parameter interessant (z.B. die Auswirkungen der Größe des Piercings auf das Ausmaß und die Lokalisation der Schäden). In diesem Zusammenhang wurde der Einfluss der Tragedauer des Piercings auf das Auftreten von Zahn- oder Gingivaschäden untersucht. Es zeigte sich, dass bei einer Verweildauer von mehr als 2 Jahren vermehrt Gingivaschäden in der Unterkieferfront (50% der untersuchten Patienten mit Rezessionen oder/und Impressionen) beobachtet wurden. Als Hinweis für einen ursächlichen Zusammenhang mit dem Piercing kann die Tatsache gewertet werden, dass Rezessionen bei einem Lippenpiercing an der vestibulären Gingiva gefunden werden, bei einem Zungenpiercing treten die Schäden an der lingualen Gingiva auf. In einigen Fällen werden darüber hinaus erhöhte Sondierungstiefen und lokale Knochenverluste beschrieben. Bei einer Tragedauer von mehr als 4 Jahren wurden vermehrt Schädigungen an der Zahnhartsubstanz (47% der untersuchten Patienten) und auch an zahnärztlichen Restaurationen beobachtet (cave: Keramiken). Das Spektrum dieser Schäden reicht dabei von kleineren (Schmelz-)Aussprengungen über Rissbildungen bis hin zu Infrakturen oder auch vollständigen Zahnfrakturen. Zudem werden lokalen Verschleißerscheinungen („Abrasionen“) an denjenigen Zähnen beobachtet, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft des Piercings befinden.Obschon es sich um teilweise große Objekte aus Metall in der Mundhöhle handelt, empfinden die Patienten oftmals keine Beeinträchtigung, da weder die Sprachbildung noch die Schluck- oder Kaufunktion subjektiv wesentlich behindert sind. Deshalb werden neben einer ausreichenden Information der Patienten über mögliche Risiken und Langzeitfolgen des Piercings vor allem auch regelmäßige zahnärztliche Kontrollen gefordert. Empfehlung Quellen Piercings sind in vielen Regionen der Welt traditionell verbreitet und finden – speziell bei jüngeren Patienten – auch in Industrienationen zunehmend Verbreitung. Angesichts dieses Phänomens ist es nicht etwa die Aufgabe des Zahnarztes, das ästhetische Empfinden von Patienten zu beurteilen oder zu verändern. Es ist es vielmehr ärztliche Pflicht, sich in die Lage zu versetzen, Patienten über die mit einem oralen Piercing verbundenen Risiken aufklären und kompetent betreuen zu können. Das bedeutet, dass Patienten, die sich im Vorfeld einer solchen Maßnahme informieren wollen, ausführlich und sachlich über mögliche Komplikationen, die Folgen des Piercings für die umgebenden oralen Strukturen und ggf. auch für vorhandene Restaurationen informiert werden sollten. Im Falle eines bereits vorhandenen Piercings sind – über die üblichen routinemäßigen Kontrollen hinaus – engmaschige Nachkontrollen der Zähne und auch des Zahnhalteapparates notwendig, um notwendige Behandlungsmaßnahmen möglichst frühzeitig einleiten zu können. 1. Bethke, G., Reichart, P.A.: Risk of oral piercing. Mund Kiefer Gesichtschir 3, 98 (1999). 2. Brooks, J.K., Hooper, K.A., Reynolds, M.A.: Formation of mucogingival defects associated with intraoral and perioral piercing: case reports. J Am Dent Assoc 134, 837 (2003). 3. Campbell, A., Moore, A., Williams, E., Stephens, J., Tatakis, D.N.: Tongue piercing: impact of time and barbell stem length on lingual gingival recession and tooth chipping. J Periodontol 73, 289 (2002). 4. Cobb, D.S., Denehy, G.E., Vargas, M.A.: Adhesive composite inlays for the restoration of cracked posterior teeth associated with a tongue bar. Pract Periodontics Aesthet Dent 10, 453 (1998). 5. De Moor, R.J., De Witte, A.M., De Bruyne, M.A.: Tongue piercing and associated oral and dental complications. Endod Dent Traumatol 16, 232 (2000). 6. Hardee, P.S., Mallya, L.R., Hutchison, I.L.: Tongue piercing resulting in hypotensive collapse. Br Dent J 24, 657 (2000). 7. Kretchmer, M.C., Moriarty, J.D.: Metal piercing through the tongue and localized loss of attachment: a case report. J Periodontol 72, 831 (2001). 8. Sardella, A., Pedrinazzi, M., Bez, C., Lodi, G., Carrassi, A.: Labial piercing resulting in gingival recession. A case series. J Clin Periodontol 29, 961 (2002). H. Lang, Düsseldorf Deutsche Zahnärztliche Zeitschrift 59 (2004) 3 127