Veränderung von Familie Sitzung des Familienbunds der Katholiken Köln am 09. Januar 2013 „Eine Familie ist weder richtig noch falsch. Sie ist, wie sie ist. Ein lebender Organismus, der manchmal mit sich im reinen, ein anderes Mal in Aufruhr ist.“ Jesper Juul Wir erleben heute die Gleichzeitigkeit zweier Phänomene: Eine ungebrochene Sehnsucht nach dauerhafter Partnerschaft, das Zelebrieren von Hochzeiten, einen Boom von Hochzeitsmessen und auf der anderen Seite hohe, und immer noch steigende Scheidungszahlen und ein Hinauszögern der Hochzeit in ein höheres Lebensalter. 382 047 Ehen wurden 2010 in Deutschland geschlossen. In knapp 2/3 der Fälle war es für beide eine Erstehe (246 052). In 62 010 Fällen waren beide Partner schon mindestens einmal verheiratet, bei 73 985 Ehen einer der beiden. Bei rund 20 % der geschlossenen Ehen gibt es mindestens ein voreheliches Kind. Bei jedem dritten Kind, das 2010 in Deutschland geboren wurde, waren die Eltern nicht miteinander verheiratet. 2010 wurden in Deutschland 187.027 Ehen geschieden. Bei 91 455 dieser Scheidungen waren insgesamt 145.146 Kinder betroffen. Die Trennungen von nicht miteinander verheirateten Eltern sind hierbei nicht erfasst. Sachliche Romanze Als sie einander acht Jahre kannten (und man darf sagen: sie kannten sich gut), kam ihre Liebe plötzlich abhanden. Wie anderen Leuten ein Stock oder Hut. Sie waren traurig, betrugen sich heiter, versuchten Küsse, als ob nichts sei und sahen sich an und wussten nicht weiter. Da weinte sie schließlich. Und er stand dabei. Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken. Er sagte, es wäre schon Viertel nach Vier und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken. Nebenan übte ein Mensch Klavier. Sie gingen ins kleinste Café am Ort und rührten in ihren Tassen. Am Abend saßen sie immer noch dort. Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort und konnten es einfach nicht fassen. Erich Kästner (um 1920) Gertrud Ganser, Köln, den 09.01.2013 Seite 1 Gestiegene Scheidungszahlen spiegeln dabei keineswegs eine grundsätzliche Abwertung von Ehe wider. Menschen gehen überwiegend eine Ehe nicht „unter Vorbehalt“ ein und auch in der Regel nicht leichtfertig auf. Vielmehr veranschaulichen die Zahlen den hohen, vielleicht sogar überhöhten Anspruch an eine gelingende Beziehung. „Die Menschen heiraten um der Liebe willen und lassen sich um der Liebe willen scheiden.“ (Ulrich Beck, 1990) – nämlich weil sie glauben, dass ihnen die Liebe abhanden gekommen ist. Im Unterschied zu früheren Zeiten gehen heute mehr Paare, die glauben, die „Liebe verloren zu haben“, den für sie konsequenten Weg der Trennung. Eine größere wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen und eine geringere gesellschaftliche Ächtung machen diesen Weg gangbarer. Dennoch bleiben Trennung und Scheidung - auch bei der Person, die die Trennung vorantreibt - mit der Frage nach Schuld und Versagen und mit Trauer um den konkreten Partner und die aufgegebenen Lebensziele verbunden. Goldbrunner (Trauer und Beziehung, 1996, S. 94) schreibt: “Aus psychologischer Sicht ist Scheidung vermutlich sogar der schmerzhafteste Abschied von Menschen, die sich entschlossen hatten, gemeinsam eine dauerhafte Existenz aufzubauen.“ Dies gilt unabhängig davon, ob eine Trennung nur hingenommen oder aktiv betrieben wird. Die Erfahrung aus der Begleitung von Menschen in Trennungsprozessen zeigt, dass hinter der Entscheidung zur Trennung – wenn sie als aktiver, verantwortlicher Prozess vollzogen wird – meist positiv konnotierte Motive stehen, wie die Überzeugung nur so dem eigenen Entwurf von Liebe treu bleiben zu können, nur so den Kindern gute Entwicklungsmöglichkeiten bieten zu können, nur so das eigene Potential entwickeln zu können… Eine solche Entscheidung muss nicht gut geheißen werden, sie verdient aber unseren Respekt. Aus der Scheidungsstatistik wissen wir, dass Paare mit Kindern sich seltener scheiden lassen. Die hohen Scheidungszahlen kommen zum Teil daher, dass manche in ihrem Leben mehrere Ehen nacheinander eingehen. Für Paare mit Kindern ist das Scheidungsrisiko in den ersten Jahren nach der Geburt eines Kindes (häufig 1 bis 2 Jahre nach der Geburt des zweiten Kindes) und in der Zeit des Erwachsen Werdens der Kinder am größten – also zu Beginn und am Ende des Familienlebens. Bei „Familien“ – versteht man sie als Lebensgemeinschaft von Eltern bzw. Elternteilen mit ihren minderjährigen Kindern – kann man folgende Formen mit den entsprechenden Häufigkeiten unterscheiden: Ehepaare 71,2 % im Jahre 2011 81,4 % im Jahre 1996 Alleinerziehende 19,7 % 13,8 % Lebensgemeinschaften 9,2 % 4,8 % 17,1 % der minderjährigen Kinder (2 212 000 Kinder) lebten 2011 in einem Alleinerziehendenhaushalt, 8 % in einer Lebensgemeinschaft und 74,9 % in einer Ehepaarfamilie. Bei Alleinerziehenden gibt es unterschiedliche Entstehungshintergründe: 2011 waren 40 % der alleinerziehen Frauen ledig, 16 % verheiratet getrennt lebend, 40 % geschieden und 4,5 % verwitwet; bei den Vätern lauten die entsprechenden Gertrud Ganser, Köln, den 09.01.2013 Seite 2 Zahlen 18,4 %, 24,4 % 45,3 % und 12 %. 90 % der Alleinerziehenden waren 2011 Frauen. Auch wenn die Kinder ihren Lebensmittelpunkt in der Regel bei der Mutter haben, behalten nach Trennung/Scheidung inzwischen die weitaus meisten das gemeinsame Sorgerecht (1994 waren es noch 17 %, heute über 90 %). Hier wirkt sich die 1998 in Kraft getretene Kindschaftsrechtsreform aus, die das Recht des Kindes auf Kontakt zu beiden Elternteilen gestärkt hat und so auch bewusstseinsbildend wirkt. Die Zahl derjenigen Väter, die nach einer Trennung den Kontakt zu ihren Kindern behalten, steigt. Bei nicht miteinander verheirateten Eltern war die gemeinsame Sorge bis zu dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BverfG) vom 21. Juli 2010 (1 BvR420/09) nur mit Zustimmung der Mutter möglich. Das BVerfG hat in seiner Entscheidung den Gesetzgeber aufgefordert, die elterliche Sorge bei nicht verheirateten Eltern im Blick auf das Wohl des Kindes neu zu regeln. Elternschaft ist im Gegensatz zu Partnerschaft nicht aufkündbar. Kinder haben ein Recht auf Kontakt zu beiden Elternteilen und brauchen eine verlässliche Beziehung zu Vater und Mutter. Ein gelingendes gemeinsames Sorgerecht setzt bei Vater und Mutter die Trennung von Paar- und Elternebene voraus. Dies ist gerade in der ersten meist hoch belastenden Zeit nach einer Trennung eine enorme Leistung, die Väter und Mütter hier erbringen. Bei „Nach-Trennungsfamilien“ gibt es große Unterschiede in Bezug auf die Dynamik des Geschehens, die finanzielle Absicherung, die individuelle Bewertung und Verarbeitung der Trennung, die Einbindung in soziale Netzwerke und die gelebte gemeinsame Verantwortung für die Kinder von Vater und Mutter. Die Herausforderungen, die für Kinder aus einer Trennung erwachsen, sind von den je besonderen Bedingungen in der Familie und dem für sie bedeutsamen Umfeld abhängig: von dem, was Kinder vor und während der Trennung erleben, von dem, was sich alles für sie verändert, von dem, wie Freunde und Verwandte reagieren … Natürlich spielt das Verhalten von Vater und Mutter eine entscheidende Rolle. Für Klarheit sorgt, dass Eltern die Verantwortung für die Trennung und für die Gestaltung des Lebens nach der Trennung übernehmen. Häufig fühlen sich Kinder als Verursacher der Trennung und haben Schuldgefühle. Gelingt es Vätern und Müttern, dem Kind zu signalisieren, du darfst uns beide lieb haben, du darfst bei beiden leben, wir werden dich beide nie im Stich lassen, legen sie den Grundstein für die weitere gesunde Entwicklung des Kindes. Wichtig ist hierbei die Erfahrung, dass das Kind nicht glaubt, wählen zu müssen zwischen Vater und Mutter, sondern beide gleichermaßen lieben darf, ohne sich einem Elternteil gegenüber als illoyal zu empfinden. Unerträglich ist es für Kinder zu spüren, dass sie durch die Liebe zum Vater die Mutter kränken und umgekehrt. Trotz alledem bleib das Bild der früheren „vollständigen“ Familie bei Kindern noch lange erhalten und wird nur zögerlich den familiären Bedingungen angepasst. Die Trennung der Eltern ist für Kinder eine krisenhafte Situation und ein schmerzvoller Prozess. Das Zulassen von Trauer und Wut bei den Kindern erleichtert die Verarbeitung und das Wachsen an der Herausforderung. Heute wissen wir auch, dass Kinder – bewusst oder unbewusst – Sorge für ihre Eltern übernehmen, indem sie versuchen zum emotionalen Gleichgewicht der Eltern beizutragen, z. B. durch besonders unauffälliges oder durch störendes VerGertrud Ganser, Köln, den 09.01.2013 Seite 3 halten. Kinder versuchen insbesondere den Elternteil, den sie für den schwächeren, den „Verlierer“, halten, zu unterstützen; denn sie möchten, dass es beiden gut geht. Hier wirkt ein deutliches Signal der Eltern, dass sie die Verantwortung für ihr persönliches Wohlergehen selbst tragen, entlastend auf die Kinder. Trennung oder Scheidung stellt ein Armutsrisiko dar, vor allem für Frauen mit mehreren kleinen Kindern. Gut 40 % der Alleinerziehenden beziehen Leistungen nach dem SGB II (Hartz IV), bei 31 % stellt dies das überwiegende Einkommen (Mütter in Paarfamilien 5,6 %) dar. Nach der Statistik der BA von 2011 waren 28 % der Alleinerziehenden im SGB-II-Bezug auf staatliche Transferleistungen angewiesen, obwohl sie erwerbstätig sind (6,4 % sogar in Vollzeit). 31,2 % der alleinerziehenden Mütter und 16,7 % der alleinerziehenden Väter hatten 2009 ein Familiennettoeinkommen von weniger als 1.100 € (Paarfamilien mit weniger als 1500 € machten 8 % aus). Patchworksituationen nehmen deutlich zu. Da rund 90% der Kinder nach einer Trennung bei ihrer Mutter leben, ist die Konstellation, dass leibliche Mutter, Kind(er) und der Partner der Mutter zusammenleben die häufigste Form. Eventuell kommen am Wochenende die Kinder des Mannes dazu oder ein gemeinsames Kind wird geboren. Viele leben und fühlen sich als „normale VaterMutter-Kind-Familie“ und wundern sich, dass das Zusammenleben nicht funktioniert. Die Unterschiede zur Kernfamilie können nicht ohne Folgen übergangen werden. Dies sind vor allem: Es gab nie eine Paarzeit ohne Kinder; die Geschichte nur einer Person mit den Kindern besteht seit deren Geburt; es gibt mindestens einen leiblichen Elternteil außerhalb der Familie, der seinen Platz braucht unabhängig davon, ob er Kontakt zu seinem Kind hat oder nicht; nur der leibliche Elternteil hat die Erziehungsverantwortung. Auch in Bezug auf die „Vater-Mutter-Kind-Familie“ gab es in den letzten Jahrzehnten große Veränderungen. Durch den Rückgang der Kinderzahl und die Verlängerung der Lebenserwartung hat sich die aktive Familienzeit deutlich verringert. Die Zeit, in der man als Familie zusammenlebt, macht häufig nur noch etwa ¼ der Lebenszeit aus und stellt keinen Zukunftsentwurf für den Rest des Lebens dar. Die von der Arbeitswelt geforderte Mobilität und Flexibilität erschweren es sehr, Familie und Beruf zu vereinbaren. Betrachtet man die Erwerbstätigenquote von Frauen und Männern stellt man fest, dass nach wie vor die Frauen ihre Erwerbstätigkeit aufgeben bzw. reduzieren, sobald ein Kind geboren wird. Von den Müttern mit minderjährigen Kindern sind 2011 40 % nicht erwerbstätig, 42 % in Teilzeit und 18 % in Vollzeit erwerbstätig. Die Vergleichszahlen bei den Vätern lauten 15 %, 4 % und 81 %. Als Gründe für die Teilzeittätigkeit werden von 83 % der Frauen persönliche und familiäre Gründe angegeben. Die Erwerbstätigenquote von Müttern ist in den letzten 15 Jahren um 5 % gestiegen. Trotz der hohen Quote der Vollerwerbstätigkeit von Vätern gibt es eine Entwicklung hin zum aktiven Vatersein. Der Spagat zwischen Beruf und Familie ist für sie in den letzten Jahren nicht leichter geworden. Der Einsatz, den die Väter durch die finanzielle Absicherung für die Familie leisten, wird häufig kaum gesehen. Ebenso schwer ist es für viele Mütter, ihre finanzielle Unabhängigkeit und ihren beruflichen Weg aufzugeben bzw. zu unterbrechen. Hier ist es an der Zeit, neue Modelle zu entwickeln, die es Vater und Mutter ermöglichen Familie und Beruf auf zu ihnen passende Weise zu vereinbaren. Gertrud Ganser, Köln, den 09.01.2013 Seite 4 Auf andere Familienformen wie Adoptiv- und Pflegefamilien kann in diesem Vortrag und Info-Papier aus Zeit-/Platzgründen nicht eingegangen werden. Jedes Kind hat den Wunsch in einer „guten Familie“ aufzuwachsen. Das Gefühl in einer „guten Familie“ zu leben, kann in sehr unterschiedlich gelebten familiären Bezügen entstehen und Bestand haben. Ein Umfeld, das Kindern in dieser Situation eine gesunde Entwicklung zutraut und ihnen bei Veränderungen eine Übergangszeit zugesteht, stützt und ermutigt sie auf ihrem Weg. Die Bedeutung, die einem Ereignis gegeben wird, ist mitentscheidend für seine Wirkung. Offenheit für Väter, Mütter und Kinder, Respekt vor der je gelebten Form von Familie, Achtung vor getroffenen Entscheidungen von Vätern und Müttern, Orte des Austausches und der Unterstützung, Stärkung im Leben als Familie, Mittragen von Schicksalsschlägen und Aufgreifen des Wunsches nach einem gelingenden Leben – das sind Hoffnungen, die mit christlichem Glauben verbunden sind. Wir haben die Chance, im Vertrauen auf einen Gott, der aus Schuld erlöst und Zukunft ermöglicht, Trauer zuzulassen und Perspektiven zu eröffnen. „Für Menschen, die darunter leiden, dass ihr Entwurf einer dauerhaften Partnerschaft nicht geglückt ist, bedeutet dies die tröstliche Botschaft, dass uns Christen die Freiheit geschenkt wurde, versöhnlich mit dem Fragmentarischen in unserem Leben umzugehen, zu Brüchen und Abbrüchen in unserer Biographie zu stehen und auch einer Liebe, die zu Ende ging, ihren Sinn zu lassen.“ (E. Mackscheidt, Systemische Beratung und christlicher Glaube; in: Armin Beuscher u. a., Gewagtes Glück) Ein verantwortliches Leben in Familie – in welcher Form auch immer – erfordert unsere Wertschätzung und Hochachtung. Häufig wird gerade unter schwierigsten Bedingungen das unbedingte Ja zum Kind gesprochen. Gerade auch im Scheitern von Lebensentwürfen wird die Übernahme der Verantwortung für das eigene Leben und für ein gutes Leben der Kinder herausgefordert. Abschied und Trauer, Loslassen und sich neu Einlassen, Schuld und Versöhnung, Erkennen der eigenen Grenzen und die Annahme von Hilfe, Enttäuschung und Sehnsucht sind die Themen in Übergangszeiten, in Übergangszeiten von einer Familienform in eine andere, aber auch von einer Familienphase in die nächste. Gerade in Übergangszeiten, in Grenzsituationen, sind Menschen offen für Fragen nach Sinn, Perspektiven und Hoffnungsgründen. Wir als Christen haben diesen suchenden Menschen viel anzubieten! Eine Familie ist idealerweise ein Mosaik, in dem jedes einzelne Steinchen eine Kostbarkeit ist, die um ihrer selbst willen wichtig ist und die für das Ganze absolut notwendig ist.“ Evan Imber-Black Köln, den 09. Januar 2013 Gertrud Ganser, Köln, den 09.01.2013 Gertrud Ganser Diplompsychologin, Systemische Therapeutin und Supervisorin Referentin für Alleinerziehendenpastoral im Erzbistum Köln Seite 5