Juliane Nagel - Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag

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049. Sitzung des 6. Sächsischen Landtages, 2.02.2017
Rede von MdL Juliane Nagel zum Antrag der Fraktion DIE LINKE in Drs 6/8128
„Dringende humanitäre Initiative aus Sachsen – Solidarische Verteilung und Selbstverpflichtung Sachsens bei der Umverteilung Geflüchteter aus Aufnahmelagern in
Italien und Griechenland“
Auszug aus dem Stenografen-Protokoll
Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Drei Menschen starben in der vergangenen Woche in Moria auf Lesbos. Im Hotspot-Camp
auf Samos gab es zahlreiche Suizidversuche; seit Dienstag sind Geflüchtete dort in Hungerstreik getreten. Insgesamt sitzen auf den Ägäis-Inseln derzeit 15 000 Menschen fest.
Die Hotspots sind damit doppelt überbelegt. Zahlreiche Menschen - wir können draußen
sehen, wie das Wetter ist - harren in der Kälte aus.
So viele Menschen, wie derzeit allein auf den griechischen Inseln festsitzen - auf dem
Festland ist es noch einmal ein Vielfaches davon -, so viele sind etwa im vergangenen
Jahr in Sachsen angekommen, knapp 15.000. Dies ist ein Bruchteil im Vergleich zum Vorjahr, und diese Zahl lässt vor allem konservative Kräfte jubeln. Die Maßnahmen der Abschottung wie die Schließung der Balkanroute und der fragwürdige EU-Türkei-Deal werden gefeiert und als funktionierende Mechanismen idealisiert. Doch wir können ganz deutlich sehen: Diese Politik kostet Menschen leben.
Die Gründe, die Menschen zur Flucht zwingen, sind in den letzten beiden Jahren nicht
weniger geworden, im Gegenteil. Die Zahl der weltweit Flüchtenden steigt immer weiter
an, und es ist bekannt, die am wenigsten entwickelten Staaten dieser Welt nehmen die mit
Abstand größte Zahl an Flüchtlingen auf.
Der UN-Flüchtlingskommissar macht immer wieder deutlich, dass Europa endlich mehr tun
muss, nicht nur bei der Unterstützung der Primäraufnahmeländer, sondern durch größere
Aufnahmekontingente. Aber die reiche EU schattet sich weiter ab. Eine verschärfte Variante der gescheiterten Dublin-Verordnung wird derzeit verhandelt. Sogenannte Migrationspartnerschaften mit zweifelhaften Staatschefs sind in der Pipeline, und die Grenzen werden weiter hochgerüstet.
5.022 Menschen sind im Jahr 2016 allein bei der Überfahrt über das Mittelmeer ums Leben gekommen. Es braucht - und das steht fest - eine humanitäre Wende, sichere Wege,
um in Europa Schutz zu finden, und innerhalb der EU solidarische Verteilungsmechanismen.
(Beifall bei den LINKEN und der Abg. Petra Zais, GRÜNE)
Wir sind uns als LINKE durchaus bewusst, dass Angela Merkel im Jahr 2015 Maßstäbe für
eine gemeinsame europäische Asylpolitik setzen wollte, als sie die Grenzen nicht schloss.
Wir wissen aber auch zu gut, dass dieser Ansatz lange begraben ist. Innenpolitisch jagt
eine Asylrechtsverschärfung die andere, und mit dem EU-Türkei-Deal werden Geflüchtete
in ein Land zurückgeführt, das ein rigoroses Demokratieabbauprogramm vorantreibt und
die Todesstrafe wieder einführen will. Der Deal - wenn man ihn unkritisch betrachtet -
funktioniert nicht einmal. Gerade einmal 800 Menschen sind seit dem Abschluss des
Deals in die Türkei zurückgeschoben worden, davon mehr als die Hälfte in den ersten
zwei Monaten der Laufzeit dieses Deals.
Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir die Sächsische Staatsregierung einerseits auffordern, weiter auf eine europäische Lösung und eine gemeinsame europäische Migrationsund Asylpolitik zu drängen, die sich den Menschenrechten und der Humanität verpflichtet
sieht. Wir knüpfen ganz bewusst an den Antrag der Koalition an, der hier im September
2015 eingebracht und diskutiert wurde, und wollen Sie beim Wort nehmen. So wurde die
Staatsregierung seinerzeit aufgefordert, sich auf allen Ebenen dafür einzusetzen, dass
humanitäre Hilfe für Menschen in Not geleistet werden muss.
Wenden wir jetzt den Blick auf Griechenland, auf Italien oder derzeit auch Serbien. Das ist
dieser Tage medial groß gespiegelt. Dann sehen wir genau diesen Handlungsbedarf, der
durch ein fehlendes Umsteuern in der EU-Migrations- und Asylpolitik, durch falsche Deals
und Nichthandeln zustande gekommen ist. Zehntausende Geflüchtete sitzen im Süden
und Südosten Europas fest. Waren die Bedingungen in den provisorischen Lagern seit
jeher schlecht - es fehlte am Zugang zum Nötigsten, die hygienischen Bedingungen waren
unterirdisch -, hat der Winter die Situation in eine neue humanitäre Katastrophe verwandelt. Darauf weisen NGOs wie Ärzte ohne Grenzen usw. usf. hin.
Wir müssen uns bei all dem vergegenwärtigen, dass sich das alles in einer der reichsten
Regionen der Welt abspielt. Die Schuld allein den Aufnahmestaaten Griechenland, Italien
usw. zuzuschieben, reicht dabei nicht aus. Der griechische Politiker Giorgos Chondros
sagte vor kurzem sehr treffend in einem Interview im Deutschlandfunk: „Diese wirklich
sehr katastrophale Lage bringt eigentlich die europäische Flüchtlingspolitik wieder auf die
Tagesordnung“. Er verweist dabei auch auf die Nichteinhaltung von minimalen Verpflichtungen bei der Umverteilung von Menschen aus Griechenland und Italien auf andere EUStaaten. Hier liegt ein weiteres, wenn nicht das Kernanliegen des vorliegenden Antrages.
Noch einmal zur Erinnerung: Auf dem EU-Gipfel im September 2015 kam es zwar nicht
zur Vereinbarung eines regulären Verteilungsmechanismus von Geflüchteten innerhalb
der EU, wie es manche Kräfte dort wollten, immerhin setzten aber die EU-Minister ein Relocation-Programm durch. Innerhalb von zwei Jahren sollen demnach 160.000 Geflüchtete
aus Griechenland und Italien und durch einen Nachbeschluss auch aus der Türkei auf die
Mitgliedsstaaten verteilt werden. Die Bundesrepublik, die im Rahmen dieses Aufnahmeprogramms etwas mehr als 27.000 Geflüchtete aufnehmen soll, hat bis Ende Januar lediglich 1.831 Personen aufgenommen. EU-weit sind es etwa 11.000. Seit September 2016
stellt die Bundesregierung zwar nominell monatlich 500 Plätze bereit, aber selbst unter
diesen Voraussetzungen, selbst wenn diese Plätze wirklich mit Menschen aufgefüllt werden würden, was nicht getan wird, würde es immer noch mehr als vier Jahre dauern, bis
die Aufnahme der zugesagten Zahl durch die Bundesrepublik vollzogen wäre.
Gerade vor dem Hintergrund der in den letzten beiden Jahren aufgebauten Kapazitäten in
der Erstaufnahme und auch bei den kommunalen Einrichtungen wäre es für uns in Sachsen ein Leichtes, ein Sonderkontingent an Geflüchteten aufzunehmen, ein Kontingent, das
sich im Rahmen dieses sowieso vereinbarten Kontingentes bewegt. Rechnet man die Gesamtzahl der Relocation-Plätze nach dem Königsteiner Schlüssel auf Sachsen herunter,
ergäbe dies eine Gesamtzahl von 1.350 Geflüchteten. Sagen Sie nicht, dass der Freistaat
nicht in der Lage wäre, diese Menschen aufzunehmen.
7.500 Erstaufnahmeplätze wurden zum Jahreswechsel „vom Netz“ genommen. Meine
Kleine Anfrage zur Auslastung der kommunalen Unterkünfte hat im September letzten
Jahres ergeben, dass von 21.000 Plätzen gerade einmal 14.000 belegt waren. Das ist nur
eine Momentaufnahme. Wie die Situation jetzt ist, können bestimmt alle aus ihren Landkreisen und Herkunftsstädten selbst einschätzen. In Leipzig zum Beispiel wächst der
Leerstand.
Sehr geehrte Damen und Herren! Der Auftrag, den wir mit unserem Antrag an die Staatsregierung richten wollen, ist nichts Revolutionäres oder irgendwie Verrücktes. Wir drängen
auf nichts anderes als die fristgemäße Erfüllung einer Selbstverpflichtung zum Wohle der
Menschen, um die es dabei geht und die in den europäischen Mittelmeeranrainerstaaten
vor sich hinvegetieren. Gleichsam machen wir mit unserem Antrag einen Ansatz stark, der
prägend für das Europa der Zukunft sein muss: das Agieren aus den Regionen heraus.
(Unruhe im Saal)
Wie bereits gestern in der Debatte um das Sächsische Flüchtlingsaufnahmegesetz in
Bezug auf die landesgesetzliche Implementierung der Normen der EU-Aufnahmerichtlinie
in Landesrecht vorgeschlagen, (Glocke des Präsidenten)
wollen wir auch hier - und ich komme gleich zum Ende - unsere eigene Verantwortung als
Bundesland deutlich machen und zum Handeln kommen. Vergleichbares ist in zahlreichen
Städten, nicht nur in der Bundesrepublik, auch europaweit zu bemerken. Städte und Bundesländer machen sich dafür stark. Europaweit geben große Städte wie Athen, Barcelona
oder auch Leipzig ein Signal, dass sie bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen. Auf der anderen Seite plädieren sie auch für ein grundsätzliches Umsteuern in der Flüchtlingspolitik.
Schließen wir uns diesem Ruf an, der schon durch Europa hallt. Setzen Sie heute mit der
Zustimmung zu unserem Antrag ein Zeichen für Menschenrechte und Humanität in ganz
Europa.
Vielen Dank.
(Beifall bei den LINKEN)
Schlusswort
Frau Präsidentin!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Vielen Dank für die Debatte. Nur noch ein paar kurze Worte. Man könnte jetzt auf alle
Einwände mit langen Ausführungen reagieren.
Ich habe in meinem Redebeitrag nicht behauptet, dass Deutschland keine große Verantwortung übernommen hätte, Herr Ulbig. Man muss aber konstatieren, dass die Zahl von
Geflüchteten im letzten Jahr im Vergleich zum Vorjahr rapide gesunken ist. Das hat auch
etwas mit Abschottungsmaßnahmen zu tun. Das habe ich konstatiert.
Weiterhin habe ich dafür plädiert, dass - wir kennen die Staaten, die sich konsequent der
Aufnahme von Geflüchteten verweigern - Deutschland nicht aufhört, für eine solidarische
Verteilung, also eine Verteilung, die der wirtschaftlichen Stärke und der Einwohnerzahl
angemessen ist, weiterhin zu werben. Das möchten wir mit dem Antrag noch einmal unterstreichen. Es geht überhaupt nicht darum, dass Deutschland alle Flüchtlinge aufnimmt.
Diesbezüglich möchte ich zu Zahlenspielen kommen. Kollege Ursu hat „Eurostat" zitiert.
Es kann viel aus Zahlen gelesen werden. Wenn man die absoluten Zahlen nimmt, dann
hat Deutschland die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Wenn man das aber zum Beispiel
in Relationen zur Einwohnerzahl setzt, dann ergibt sich für das Jahr 2015, dem Jahr, in
dem wir hier fast 900.000 Menschen aufgenommen haben, ein ganz anderes Bild. Da
rutscht Deutschland wieder auf Platz 5, weil andere Staaten, die wesentlich kleiner sind,
mehr Menschen aufgenommen haben. Aus meiner Sicht sind dabei Ungarn und Schweden weit vorn.
Um das abschließend zu unterstreichen: Wir wollen Energie reinbringen. Wir wollen, dass
dieses Relocationsprogramm - - Anderthalb Jahre sind bereits verstrichen, seit das Relocationsprogramm vereinbart wurde. Es soll nur noch ein halbes Jahr laufen.
Wir wollen, dass endlich diese Zahlen auch nur annähernd erreicht werden, die vereinbart
worden sind. Ich kann sie noch einmal nennen: Nicht einmal 2.000 Menschen sind in
Deutschland angekommen. Es ist alles schön und gut, dass auch soundsoviele schon in
Sachsen angekommen sind - aber Deutschland hat sich verpflichtet, mehr als 27.000
Menschen aufzunehmen. Da sind 2.000 Menschen ein Bruchteil. Wenn man es sehr genau nimmt, bleibt nur noch ein halbes Jahr, um 25.000 Menschen aufzunehmen. Ich bezweifle, dass die Bundesrepublik das aus eigener Kraft oder mit eigenem Willen bewerkstelligen wird.
Ein letztes Wort noch zur Verantwortung der Ebenen. Natürlich hat der Freistaat Sachsen
eine Verantwortung und ist ein Player in der europäischen Asylpolitik. Das wollen wir mit
unserem Antrag unterstreichen.
Ich bitte Sie um Zustimmung.
(Beifall bei den LINKEN und den GRÜNEN)
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