Telemedizin Sie können Ihren Arzt langsam hochfahren Ein Klick noch bis zum Durchbruch? Die Telemedizin ist im Wechselbad zwischen Digitalrausch und -angst. Der Minister macht Dampf. Und die Angst vor Ärztemangel und Versorgungslücken erzeugt einen Fortschritt „von unten“. 17.09.2015, von JOACHIM MÜLLER-JUNG © Plainpicture/Getty/Montage F.A.S. Hausbesuche: Günter Pfitzmann und Anita Kupsch haben ihre Patienten in der Fernsehserie „Praxis Bülowbogen“ noch per Telefon oder persönlich beraten und versorgt – heute geht das auch übers Internet. Viel verändert sich, nichts wird mehr sein, wie es war, nur an einem klammern sich alle fest: am Vertrauen der Patienten. Wer es mit der Telemedizin ernst meint, und das sind mittlerweile viele im Gesundheitssystem (auch wenn die meisten nach mehr als einem Jahrzehnt selbst kaum telemedizinische Erfahrungen mit Patienten haben), der lässt früher oder später diesen Hinweis einfließen: bloß nicht das Vertrauen verspielen. Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe, der einen „Turbo“ mit dem E-Health-Gesetz gezündet hat, wie gelegentlich geschrieben wird, hat seine ÄrzteSommerfahrt durchs Land quasi der Digitalisierung des fortschrittslahmen deutschen Gesundheitswesens gewidmet. „Wer blockiert, zahlt.“ Dieser zentrale Satz Gröhes (siehe F.A.Z. vom 13. Januar) gibt den Ärzten, Kassen, Verbänden und Firmen zwar die politische Richtung vor. Aber psychologisch trifft er, wenn man die befürchtete Vertrauenskrise ernst nimmt, am Kern vorbei. Denn ob die Bürger Vertrauen in eine Medizin gewinnen können, die von oben herunter eine digitale Umformung aufgezwungen bekommen hat und hinter der womöglich nicht einmal der eigene Arzt - die Vertrauensperson schlechthin - steht, lässt sich nach den Erfahrungen mit der IT-Odyssee im weiten Gesundheitsland, vor allem aber mit dem bisherigen erbärmlichen Abschneiden der elektronischen Gesundheitskarte, leicht verneinen. In einer vom Bundesforschungsministerium für den „Zukunftsmonitor - Gesundheit neu denken“ repräsentativen Emnid-Umfrage liest sich das so: Telemedizin? „Damit verbinde ich eher Risiken“ - sagen 52 Prozent. Telepflege? „Davon habe ich noch nie gehört“ - sagen 72 Prozent. Aufklärungslücken und Akzeptanzhürden könnte man das nennen. Tatsächlich wird beides immer wieder zuerst genannt, wenn nach Gründen für die zähe Weiterentwicklung der „Gesundheitsrevolution“ gesucht wird. „Revolution“- für nichts weniger als dies will der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, Gerd Hasenfuß, kämpfen. Wie Gröhe spricht er gerne der Telemedizin eine „Toppriorität“ zu. Offenbar bekommt die Digitalisierung allmählich für alle höchste Priorität, vielleicht weil alles andere in Zeiten selbstfahrender Autos mittelalterlich daherkäme, ganz sicher aber, weil allmählich offen zutage tritt, dass sich Probleme wie Ärztemangel auf dem Land und Versorgungslücken nicht von alleine lösen. Von oben also kommen die Parolen. © F.A.S. Telemedizin wird Alltag in Deutschland. Reine Ferndiagnosen sind aber (noch) verboten. Von unten wird gehandelt. Das ist entscheidend - und neu. Vor allem die Ärzte, die sich lange mit Datenschutzbedenken nicht zuletzt auch zum Anwalt der Patienten machen wollten, sehen inzwischen die sogenannte „digitale Transformation“ als Chance und packen an. Thomas Aßmann aus Lindlar etwa, Landarzt, Internist und Notfallmediziner, hat zusammen mit dem Deutschen Hausärzteverband und dem Telemedizin-Dienstleister Vitaphone vier große Kassen drei gesetzliche und eine private Krankenkasse - für ein Gemeinschaftsprojekt interessiert, das die Bezeichnung „TeleArzt“ bekommen hat. Im Oktober startet Aßmann zusammen mit seinen beiden angestellten Versorgungsassistentinnen, geschulte medizinische Fachkräfte, den TelemedizinService im Bergischen Land. Eine Keimzelle. Bis Mitte 2016 sollen es Hunderte, vielleicht Tausende Ärzte in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Bayern sein. Kein Pilotprojekt soll es sein, keine Insellösung mehr wie alles bisherige also. Doch wer würde heute darauf wetten, dass so ein „flächendeckendes Projekt von unten“ am Ende auch Patienten wie Ärzte flächendeckend überzeugt? Aßmanns Argument: „Weil Ärzte nicht fürs Autofahren bezahlt werden sollten, sondern fürs Behandeln.“ Um die Patienten in seinem Zuständigkeitsgebiet rund um Lindlar zu erreichen, ist er unter Umständen eine Stunde unterwegs. Oft auch für medizinische Lappalien. Angst vor einer „ferngesteuerten“ Medizin? Als Telearzt wird sich seine Rolle als Hausarzt, die seiner Versorgungsassistenten („Verahs“) und die des Patienten ändern - wobei man bei diesem speziellen Projekt auf die Angst der Patienten vor einer virtuellen, ferngesteuerten Medizin konkret reagiert hat. Chronisch Kranke, auch die vielen betagten Menschen, werden für Routineuntersuchungen öfter von den Assistentinnen und nicht vom Arzt besucht. In einem Rucksack hat die „Verah“ alle Geräte mit dabei, die sie zur Erfassung von Vitaldaten benötigt: 3-Kanal-EKG, Pulsoximeter, Blutdruck- und Zuckermessgerät, Spirometer, Waage, Computer und einiges mehr. So kann sie dem Arzt die Daten übermitteln, und der spricht per Videoübertragung mit Assistentin und Patient über die weitere Behandlung. Die digitalen Informationen, auch solche Vitaldaten, die Patienten unter Umständen am Handgelenk per Selbstvermessung erfassen, laufen über ein „Servicecenter“ beim Dienstleister Vitaphone, der die telemedizinische Datenübertragung sicherstellt und nach dem Willen Aßmanns die Chance liefert, frühzeitig zu alarmieren - oder eben Rettungseinsätze zu verhindern. „Wenn jede Hausarzt-Versorgungsassistentin im Land auch nur einen Rettungseinsatz im Monat überflüssig macht, könnten wir theoretisch mehr als achtzig Millionen Euro sparen im Jahr.“ Siebentausend Krankenpfleger im Land sind mittlerweile zu „Verahs“ ausgebildet, tausend Euro kostet jeder einzelne Rettungseinsatz. © Bosch In einem telemedizinischen Service-Zentrum besprechen Arzt und Assistentin den Verlauf der Messwerte eines Patienten. Inzwischen gibt es viele Modelle wie den TeleArzt, die Versorgungsassistentinnen mobil einsetzen. Das ist allerdings Theorie, und von „zu viel Theorie in der deutschen E-HealthGalaxie“ hält Aßmann eigentlich nichts. „Die Telemedizin war lange überfrachtet damit.“ An die Praxistauglichkeit seines konkreten Konzepts glaubt er deshalb umso mehr. Wie wohl auch der Berufsverband der Deutschen Dermatologen, der sich vehement „mehr Telemedizin wünscht“. In einem neuen Positionspapier heißt es: „Bei korrekter Auswahl durch den behandelnden Dermatologen könnten viele Patientenkontakte ohne Qualitätsverlust im Rahmen einer Videokonsultation erbracht werden.“ Beim Telearztbesuch könnten also gleich auch dermatologische Anliegen geklärt werden, „warum nicht“, meint Aßmann. Ausgeschlossen ist derzeit per Gesetz die ausschließliche Fernbehandlung durch den Facharzt, also auch schon die Erstbehandlung mit Ferndiagnose. Trotzdem: 1,5 Millionen Patienten mit chronischen Wunden, 800 000 mit Nesselfieber, zwei Millionen Neurodermitis-Patienten und ebenso viele mit Schuppenflechte und anderen Hautleiden zeigten, so der Hautarztverband, dass telemedizinischer „Behandlungsbedarf“ bestehe. Datenschutz spielt Hauptrolle Die grassierenden Vorbehalte beim Datenschutz, die in Umfragen, aber auch in politischen Reden immer wieder auftauchen, hält Landarzt Aßmann wie seine Partner für gelöst. „Mit der TeleArzt-Betreuung bekommen die Patienten ihren Arzt in der Tasche, nicht Google“, sagt der kaufmännische Leiter von Vitaphone, Admir Kulin, der mit seinen Kollegen seit anderthalb Jahrzehnten an kommerziellen, streng zertifizierten Telemedizin-Lösungen feilt. Dass mit der Vertrauensoffensive „von unten“ alle Bedenken von Patienten ausgeräumt wären, etwa die Auslieferung von Gesundheitsdaten und damit auch ein Stück weit die Preisgabe der eigenen Persönlichkeit, würde keiner der Akteure behaupten. Auch Gerd Hasenfuß nicht, der im Frühjahr die 24 000 Mitglieder seines Internistenverbandes auf die frischen Konzepte seiner „Taskforce Telemedizin“ einschwören will und die Digitalisierung zum Leitmotiv des Jahreskongresses macht. „Mit Telemedizin können wir zwar nicht das Problem lösen, dass uns künftig massiv Arbeitskapazitäten ausfallen, aber wir müssen verhindern, dass sich die Dinge auf einer Laienebene verselbständigen.“ Gemeint ist die hilflose Suche nach medizinischer Kompetenz im Netz. Die Internisten sind alarmiert von einer im „British Medical Journal“ veröffentlichten Studie: 23 Gesundheitsportale im Internet wurden auf ihre Zuverlässigkeit getestet, wenn es um Ferndiagnosen geht: Resultat: Acht der anonymen „Online-Experten“ gaben nach Eingabe der Symptome eine Diagnose an, vier ausschließlich Behandlungsempfehlungen, und elf gaben beides an. Nur in einem Drittel aller Fälle wurden allerdings die richtigen Diagnosen gestellt. Mit anderen Worten: Sich allein auf ferndiagnostische Hilfsmittel zu verlassen, könnte böse enden. Quelle: F.A.Z.