nm098_Hohenstein 89..105

Werbung
b
Allgemeine Prinzipien der Notfallmedizin
89
Kritische Ereignisse in der Notfallmedizin
Christian Hohenstein, Thomas Fleischmann, Dorothea Hempel
89
89
91
Einleitung
Fehler in der Medizin
Critical Incident Reporting
Critical Incident Reporting
in der Medizin
Website CIRS‑Notfallmedizin
91
92
Erkenntnisse aus der Website
CIRS‑Notfallmedizin
Vermeidung von Zwischenfällen –
unsere Vorschläge
Risikomanagement
in der Notfallmedizin
93
95
99
Dies führte zu dem Vergleich, der inzwischen traurige
Einleitung
Berühmtheit erlangte: Dies entspräche der Anzahl an
Passagieren, die bei einem Jumbo-Jet-Absturz ihr Leben
Fehler in der Medizin gehören zu den 10 häufigsten
lassen, dies aber an jedem Tag des Jahres. Der Aufschrei,
Todesursachen und führen zudem zu einem enormen
würde jeden Tag ein Jumbo-Jet in den USA abstürzen,
finanziellen Mehraufwand.
und die Konsequenzen, die dies für die Luftfahrtindustrie hätte, lassen sich kaum vorstellen. Dieser Vergleich
Dennoch ist die Beschäftigung mit Fehlern eine ver-
hat jedoch einen Haken: Man kann sich zwar ent-
gleichsweise neue Entwicklung in der Medizin.
scheiden, kein Flugzeug zu besteigen, aber gesund zu
Insbesondere die systematische Analyse kritischer
bleiben, nicht krank zu werden und das Gesundheits-
Ereignisse und daraus folgende Risiko-Management-
system nie in Anspruch zu nehmen, entzieht sich in
Verfahren können im Gesundheitswesen nicht auf eine
der Regel der eigenen Entscheidung.
lange Tradition zurückblicken. Noch vor 2 Generationen wäre es ungewöhnlich gewesen, einen Behand-
Das Wissen um Fehler in der Medizin hat seither
lungsfehler ausführlich zu diskutieren, während in-
erheblich zugenommen. Widerlegt wurden diese und
zwischen frei zugängliche Fehlermeldeportale sowie
ähnliche Zahlen über das Ausmaß ihres Auftretens
öffentliche oder zumindest fachöffentliche Fehler-
nicht.
diskussionen an Verbreitung erheblich zugenommen
Aber inzwischen weiß man sehr viel mehr, in welchen
haben.
Bereichen der Medizin Fehler geschehen, wie häufig sie
Ein Meilenstein in dieser Entwicklung war der Bericht
ungefähr auftreten, welchen Folgen sie in etwa haben
„To Err is Human: Building a Safer Health Care System“
sowie – und dies sind vielleicht die wertvollsten Er-
des US‑amerikanischen Institute of Medicine, der 1999
kenntnisse – welche Faktoren das Entstehen von Feh-
erschien und großes Aufsehen erregte [1]. Der Report
lern begünstigen und welche ihr Auftreten verhindern.
kommt aufgrund einer großen und soliden Menge an
Daten zu dem Ergebnis, dass jedes Jahr zwischen
44 000 und 98 000 US‑Bürger infolge medizinischer
Fehler zu Tode kommen.
Notfallmedizin up2date 6
⎢ 2011 ⎢ DOI: http://dx.doi.org/10.1055/s-0030-1271041 ⎢ VNR 2760512011060003006
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
Übersicht
b
90
Kritische Ereignisse in der Notfallmedizin
Fehler in der Medizin
Es gibt einige wichtige Erkenntnisse, welche sich nicht
intuitiv erschließen lassen, sondern eine nüchterne
Analyse erfordern.
■
Bei Behandlungsfehlern gibt es meist 2 Opfer: Zum
einen den geschädigten Patienten, und zum zweiten
den behandelnden Arzt. Viele Ärzte, die erleben
mussten, dass durch Handlungen von ihnen ein
Mensch zu Schaden kam, leiden lange und schwer
daran. Darüber wird selten gesprochen. Besonders
groß kann der seelische Schaden der Behandelnden
sein, wenn das „name-blame-shame“- oder Sünden-
Abb. 1 Beispiel für Fehler auf der Systemebene: Zahlendreher –
Blutzuckermessgeräte sollten eindeutiger mit „oben“ und „unten“
gekennzeichnet sein. (Solange das nicht so ist, daran denken: Richtig
herum halten!)
bock-Spiel gespielt wird. War in früheren Ärzte-
■
Nur sehr selten führt ein einziger Faktor oder ein
einem moralisch bedenklichen Ausmaß festzustel-
einziges Fehlverhalten zur Realisierung eines Fehlers.
len, so ist ein Ausgrenzen und Stigmatisieren eines
Sehr oft handelt es sich hingegen um das gemein-
beschuldigten Arztes inzwischen recht verbreitet.
same Auftreten mehrerer Fehler begünstigender
Faktoren und das gleichzeitige Versagen von Schutz-
Die Ursache eines Fehlers ist selten allein auf das
systemen. Hierin liegt gleichzeitig eine große Chan-
Versagen einer einzelnen Person zurückzuführen.
ce: In aller Regel treten nämlich einzelne fehler-
Wesentlich häufiger sind es verantwortungsvolle
begünstigende Faktoren und/oder das Versagen
Menschen, die in einer besonderen Situation eine
einzelner Schutzsysteme bereits auf, bevor es zur
Handlung durchführen, von der sie unter den gegebe-
Verwirklichung des Fehlers kommt. Dies sind die so-
nen Umständen annehmen, dass sie richtig ist, oder
genannten „Gerade-noch-gut-gegangen-Ereignisse“
eine Handlung unterlassen, die sie in dieser Situation
oder Critical Incidents, also Ereignisse, welche zu
für nicht notwendig erachten. Analysiert man den
einem psychischen oder physischen Schaden des Pa-
gesamten Handlungsablauf, der zum Schaden eines
tienten hätten führen können. Werden sie beachtet
Patienten geführt hat, genau, dann stellt sich sehr oft
und analysiert, dann besteht eine große Chance, das
heraus, dass hinter dem Handeln einer Person in Wirk-
Auftreten des Fehlers in der Zukunft zu verhindern.
lichkeit ein Planungs- oder Organisationsfehler steht.
Dies kann etwa sein, dass für eine vorhersehbare kriti-
Ein Critical Incident beschreibt ein Ereignis,
sche Situation kein „Plan B“ oder kein Support zur Ver-
welches zu einem psychischen oder physischen
fügung stand, oder dass Ärzte mit Aufgaben beauftragt
Schaden des Patienten hätte führen können.
wurden, für die sie nicht ausreichend ausgebildet und
vorbereitet waren.
Der Notfallmedizin kommt im Risikomanagement eine
Ein Grundsatz bei der Beschäftigung mit Fehlern in der
besondere Rolle zu. Dass die Arbeit mit kritisch kran-
Medizin ist daher, sich sowohl bei der Analyse als auch
ken oder verletzten Patienten, mit oft hoher Krank-
bei der Prävention von Fehlern von der Einzelperson zu
heitsdynamik, unter Zeit- und Entscheidungsdruck, zu
lösen und sich auf die Systemebene zu begeben
ungünstigen Zeiten und manchmal in ungünstigen
(Abb. 1).
Umgebungen, besonders fehleranfällig ist, bedarf kaum
einer Erläuterung. Trotzdem liegen bisher nur wenige
Ein Grundsatz bei der Beschäftigung mit Fehlern in
valide Daten über das Auftreten kritischer Ereignisse in
der Medizin ist daher, sich sowohl bei der Analyse
dieser besonderen ärztlichen Tätigkeit vor. Eine Mög-
als auch bei der Prävention von Fehlern sich von der
lichkeit, Einblicke in das Auftreten von Fehlern unter
Einzelperson zu lösen und sich auf die Systemebene
den Bedingungen der Notfallmedizin zu erhalten, stellt
zu begeben.
das Critical Incident Reporting System (CIRS) dar.
Notfallmedizin up2date 6
⎢ 2011
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
generationen manchmal ein Zusammenhalten bis zu
b
Allgemeine Prinzipien der Notfallmedizin
Critical Incident Reporting
91
Parallelen zwischen Piloten und Ärzten
■
hoher Selektionsdruck bei Ausbildungsbeginn
Die Methode des Critical Incident Reportings (CIRS)
■
hoher Ausbildungsstandard
wurde erstmals 1945 von Flanagan beschrieben [2].
■
hohe Verantwortung
Während des Zweiten Weltkrieges fielen Zwischenfälle
■
hoch spezialisierte Arbeitsbereiche
im Flugverkehr auf, über die allerdings niemand be-
■
Führungsposition innerhalb der Arbeitsgruppen
richtete – man schwieg. Man schwieg deshalb, weil die
■
ungünstige Arbeitszeiten bei hoher Arbeitsbelastung
Ursachen häufig „menschliches Versagen“ waren und
■
anspruchsvolle geistige Tätigkeit
dies möglicherweise zu rechtlichen oder zwischen-
■
schnelle Bedrohung von Menschenleben bei nachlässiger Arbeitsweise
menschlichen Konsequenzen geführt hätte. Daraus
■
hoher Technisierungsgrad
entstand die Idee, mithilfe eines anonymen Melde-
■
rasante und kontinuierliche technische Weiterentwicklung
systems Informationen über die Entstehung von Zwi-
■
hoher Weiterbildungsbedarf während des Berufslebens
schenfällen zu erhalten, die man sonst nicht erhalten
Die mithilfe dieses anonymen Meldesystems gewon-
Medizin verbreitet und bekannt. Das ist auch heut-
nenen Informationen waren überwältigend – nachdem
zutage noch so, auch wenn wir zunehmend beginnen,
klar war, dass eine rechtliche Konsequenz wegen ano-
über Fehler zu sprechen – tendenziell leben wir immer
nymer Meldung ebenso ausfiel wie ein öffentliches
noch in einer Blame-Culture mit einer gedachten Null-
Belächeln von Kollegen über die eigene „Dummheit“,
Fehler-Mentalität [5].
trauten sich Kampfpiloten, über ihre Fehler und Probleme zu sprechen.
So lange das so ist, braucht man ein CIRS, wenn man
nüchtern und sachlich über Zwischenfälle und System-
Cockpit-Ausstattungen wurden verändert, weil unter-
veränderungen nachdenken möchte. CIRS ist der Be-
schiedliche Piloten über gleiche Fehler oder Beinahe-
ginn, überhaupt über Zwischenfälle und Fehler nach-
fehler berichteten, die zu kritischen Zwischenfällen
zudenken – in der Medizin ist diese Methode erst seit
(Critical Incidents), teilweise mit und teilweise ohne
wenigen Jahren im Kommen. So stammen die ersten
Schäden, führten. Durch Meldung Tausender Critical
größeren Publikationen aus den 1970er- und 1980er-
Incidents erkannte die US Air Force die Schwachpunkte
Jahren [6 –10].
in ihrem Ausbildungssystem und entwickelte hierauf
basierende Anforderungsprofile zukünftiger Piloten,
In den 1990er-Jahren begannen zunehmend Anästhe-
neue Ausbildungsziele, aber auch neue Dienstanwei-
sisten und Intensivmediziner, über CIRS zu publizieren
sungen für schon tätige Piloten.
und trugen wesentlich zur Weiterentwicklung bei
[11 –17]. In den letzten Jahren erkannten erstmalig
Im Verlauf der Jahrzehnte übernahmen viele Bereiche
auch chirurgische Fächer [18 –20], die Pädiatrie
der Industrie das CIRS, die zivile Luftfahrt und auch die
[21 –24] sowie die Psychiatrie [25] die Vorteile eines
NASA, die über mehrere Hunderttausend Berichte ver-
anonymen Meldesystems. Seit 2007 empfiehlt das Ak-
fügt [3]. Auch die US Navy nutzt diese Technik zur Feh-
tionsbündnis Patientensicherheit die Einführung von
leraufarbeitung von Tauchunfällen [4].
CIRS im Krankenhaus [26].
Aber auch das Critical Incident Reporting System selbst
Critical Incident Reporting
in der Medizin
hat sich weiterentwickelt. Verbesserungen im Aufbau,
in der Publizität, in der Datenanalyse, der Einfachheit
und der Rückmeldung an die Mitarbeiter sind wesentliche Bestandteile der Entwicklungen der vergangenen
Das Medizinstudium ist weiterhin sehr begehrt unter
Jahre und haben die aktive Beteiligung für die Mit-
Abiturienten – wer in der Schule fast perfekt funk-
arbeiter attraktiver werden lassen (Tab. 1).
tioniert, der hat Aussicht auf einen Studienplatz. Wer
es gewohnt ist, perfekt zu funktionieren, der tut sich
schwer, Fehler einzugestehen oder darüber zu sprechen. Da redet man doch lieber über Fehler und
Dummheiten, die andere begehen. Dies ist in der
Notfallmedizin up2date 6
⎢ 2011
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
würde.
b
92
Kritische Ereignisse in der Notfallmedizin
niemand zu beachten. Bis zum heutigen Tage gibt es
Tabelle 1
nur wenige Publikationen über CIRS in der Notfall-
Charakteristika eines Critical Incident Reporting Systems (CIRS)
Stärken von CIRS
Mögliche Probleme und Grenzen
von CIRS
medizin [27 –31].
Uns interessiert, welche anonymen Meldungen aus
einem medizinischen Bereich eingehen könnten, der
Anonymität (Straffreiheit,
keine Blamage)
nur bewusst erlebte Ereignisse werden
erfasst
Freiwilligkeit
unsachgemäße Angaben denkbar
(durch Plausibilitätskontrollen allerdings
nur bedingt möglich)
gut geeignet für seltene Ereignisse
strukturierte Analyse und Aufdeckung
von Systemschwächen durch Sammlung
von Ereignismeldungen
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
grenzüberschreitend einsetzbar
Feedback an Mitarbeiter und andere
Ableitung von Leitlinien und Algorithmen
chen Erkrankungen teilweise unerfahrene Mitarbeiter
in kürzester Zeit brisante Entscheidungen treffen
müssen.
Hierzu richteten wir eine Website ein, die sich nicht
verleitet zum Eingeben seltener Ereignisse, einfache aber häufige Vorkommnisse werden tendenziell weniger häufig
gemeldet
keine sichere statistische Aussage über
Häufigkeiten von Ereignissen in einem
System möglich
von den allgemein üblichen Websites unterscheidet.
Sie ist unter der Adresse www.cirs-notfallmedizin.de
erreichbar (Abb. 2).
Neben allgemeinen Informationen über CIRS ist es dort
ohne Passwortschutz möglich, über Zwischenfälle
anonym zu berichten. Die Berichte lädt einer der Auto-
typische Ereigniskombinationen, die
zum Patientenschaden führen, nicht
unbedingt ableitbar
ren einmal monatlich aus der Datenbank herunter, so
werden die IP‑Adressen gelöscht. Nach weiterer Anonymisierung offline konzentriert sich das Autorenteam
auf die berichteten Zwischenfälle, kommentiert diese
und stellt diese kommentiert wieder den Lesern auf der
Website zur Verfügung.
Website CIRS‑Notfallmedizin
Wertvoll sind hier sowohl Beiträge über Zwischenfälle
mit Patientenschäden als auch solche, die Beinahefeh-
Es ist bekannt, dass ein CIRS in der Lage ist, System-
ler beschreiben – diese werden irgendwo und irgend-
schwächen aufzudecken, die ohne Anonymität nicht
wann in einer vergleichbaren Situation zu einem ech-
aufgedeckt würden. Wir, die Autoren, hatten im Jahre
ten Fehler führen, der meist ein kritisches Ereignis
2005 die Vision, eine CIRS‑Seite für die präklinische
darstellt, manchmal mit und manchmal ohne Schaden
Notfallmedizin zu entwickeln. Während CIRS zu dem
für den Patienten. Die Einstellung, dass Zwischenfälle,
Zeitpunkt in der Anästhesie, dem medizinischen Fach
die zu Patientenschäden geführt haben, nicht in der
mit dem wahrscheinlich höchsten Sicherheitsstandard
Auswertung berücksichtigt werden sollten, teilen wir
überhaupt, schon florierte, schien die Notfallmedizin
nicht. Man kann aus diesen Zwischenfällen ebenso viel
Abb. 2 Website www.cirs-notfallmedizin.de
Notfallmedizin up2date 6
⎢ 2011
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
Meldung einfach und schnell
über Internetmaske durchzuführen
dadurch gekennzeichnet ist, dass bei lebensbedrohli-
b
Allgemeine Prinzipien der Notfallmedizin
lernen, wie aus Zwischenfällen ohne Patientenschaden,
Im Folgenden werden wir versuchen, ein paar all-
vielleicht sogar noch mehr.
gemeingültige Grundsätze darzustellen, um das Ver-
Es ist nicht möglich, dass die Autoren das System än-
verbessern. Die gemeldeten Zwischenfälle waren in
dern, denn die Website erhält ihre Einträge nicht nur
den Augen der Reporter in der Mehrzahl aller Fälle
aus ganz Deutschland, sondern auch aus der Schweiz
durch einfache Mittel vermeidbar. Insofern lohnt es
und Österreich, was teilweise am Sprachstil erkennbar
sich, in den kommenden Abschnitt etwas (Lese-)Zeit zu
ist. Wir können lediglich dem einzelnen Leser eine
investieren.
93
ständnis der Fehlerentstehung und ‑vermeidung zu
wertvolle Lektüre bieten und gleichzeitig Führungs-
kräften im Rettungsdienst Hinweise geben, worauf im
Voraussetzung, die Entstehung von Zwischenfällen zu
Rahmen des Risikomanagements geachtet werden
verstehen, ist die Tatsache, dass in fast allen Fällen
sollte.
seltene Kombinationen ungünstiger Umstände vorlagen – nicht Kombinationen seltener Umstände.
In vielen E‑Mail-Kontakten hat sich gezeigt, dass ärztliche und nicht ärztliche Leiter von Rettungsdiensten
In fast allen Fällen lagen seltene Kombinationen
viele Vorschläge der Website im Rettungssystem um-
ungünstiger Umstände vor – nicht Kombinationen
zusetzen versuchen. Mehrere Rettungsdienste haben
seltener Umstände.
haben die Erkenntnisse viele Mitarbeiter, auch Füh-
Es muss Einem klar sein – bevor man sich überhaupt
rungskräfte, des Rettungsdienstes erreicht und zu
mit der Fehlerentstehung und ‑vermeidung beschäfti-
Änderungen geführt, auch wenn dies nicht quantitativ
gen kann, dass dies verschiedene Implikationen hat:
erfasst werden kann.
Erstens ist der einzelne Gesamteinsatz mit einem
Desaster eine seltene, vielleicht einzigartige Situation.
Die Einträge beschreiben zu einem Großteil Einsatz-
Wir reden somit über Dinge, die sehr selten im Ge-
situationen, in denen ein Patient in Lebensgefahr
samtkomplex auftreten – und wir möchten Situationen
schwebte oder zu schweben drohte (NACA 4 und
vermeiden, die insgesamt selten auftreten werden, die
höher), häufig kam der Patient in der beschriebenen
aber vehementen Impact auf den Krankheitsverlauf
Situation zu Schaden. Wir deuten dies als Zeichen des
haben können. Das Denken ist wie bei einer Versiche-
insgesamt noch sehr schlechten Risikomanagements in
rung: Die Wahrscheinlichkeit, dass das Abgesicherte
der Notfallmedizin. In der Anästhesie passieren wenige
eintritt, ist gering – dennoch ist eine Vorsorge häufig
Zwischenfälle, was auch in den Berichten deutlich
sinnvoll oder notwendig.
wird. So beschreibt ein großer Teil der Berichte in der
Anästhesie meist keine Zwischenfälle, sondern Bei-
Durch die fast unendliche Kombinationsmöglichkeit
nahezwischenfälle. In der Notfallmedizin ist das noch
ungünstiger Umstände, die sich verketten können, sind
anders – Zwischenfälle mit dramatischer Konsequenz
bestimmte Situationen gar nicht zu erahnen. Es gibt
scheinen an der Tagesordnung zu sein. Deshalb, so un-
nichts, was es nicht geben könnte, und manchmal sind
sere Interpretation, auch der hohe Anteil entsprechen-
die beschriebenen Desaster so selten, dass eine Prä-
der Berichte.
ventionsarbeit hier vergeudete Energie scheint. Dennoch gibt es Schlüsselprobleme und Schwachstellen im
System – wann und wie diese zuschlagen werden, weiß
Erkenntnisse aus der Website
CIRS‑Notfallmedizin
man im Voraus nicht. Sicher ist nur, wenn man eine
Zum Zeitpunkt der Publikation enthält die Website
Verkettung von Zufällen aber doch entstehen kann –
www.cirs-notfallmedizin.de knapp 800 Einträge, in
ihre volle Schwäche zur Entfaltung bringt und dann in
denen Zwischenfälle teilweise sehr ausführlich be-
Kombination mit anderen Umständen zur Katastrophe
schrieben sind. Mit der inzwischen jahrelangen Erfah-
führt. Für diese Schlüsselprobleme kann man einen
rung und Aufarbeitung der einzelnen Fälle lassen sich
Blick entwickeln.
Schwachstelle zum Beispiel mithilfe eines CIRS erkannt
hat, dass diese irgendwann in einer grotesken Situation, die es „eigentlich“ nie geben dürfte – die durch eine
wiederkehrende Muster erkennen. Die Zwischenfälle
sind häufig unterschiedlich – das zugrunde liegende
Problem ist aber in vielen Fällen ähnlich.
Notfallmedizin up2date 6
⎢ 2011
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
zu Vorträgen und Fortbildungen eingeladen – insofern
b
94
Kritische Ereignisse in der Notfallmedizin
Anhand der unseres Erachtens wichtigsten Beispiele
Häufig wird daraus ein sogenanntes Fischgräten-
möchten wir gleichzeitig 3 Strategien erläutern, wie
diagramm entwickelt, in welches man alle Faktoren,
man Zwischenfälle zu 100% vermeiden kann oder,
die zu dem Ereignis beigetragen haben, einfügt. Das
wenn dies nicht möglich ist, ihre Auftretenswahr-
unerwünschte Ereignis stellt das Rückgrat da, die Ein-
scheinlichkeit zumindest reduzieren kann.
flüsse werden als Fischgräten angefügt. Dabei müssen
Root Cause Analysis –
Die wirklichen Ursachen erkennen
Bevor man eine Bewältigungsstrategie entwickelt,
■
patientenbezogene Faktoren,
■
Kommunikation,
■
Ausstattung,
■
Organisation und
■
Sicherheitsmechanismen
berücksichtigt werden.
muss man jegliche Einflüsse und Faktoren kennen, die
zur Entstehung eines Zwischenfalls beitragen. Wie be-
Nachdem man die zugrunde liegenden Faktoren mit-
reits erläutert, liegt einem kritischen Ereignis in der
hilfe der RCA identifiziert hat, kann man Strategien zu
Regel nicht ein einzelner Faktor, sondern eine Vielzahl
ihrer Vermeidung entwickeln. Will man vermeiden,
von Einflüssen zugrunde. Die Root Cause Analysis (RCA)
dass es überhaupt zu kritischen Ereignissen oder Feh-
ist ein Prozess, der zum Ziel hat, die wirkliche Ursache
lern kommt, kann man sich zum Beispiel die Failure
bzw. die wirklichen Ursachen des Ereignisses (Root)
Mode and Effect Analysis zunutze machen.
Methoden.
Eine weit verbreitete Methode ist die 5-W‑Methode.
FMEA – Verringerung der
Fehlerauftretenswahrscheinlichkeit
Fünfmal nacheinander wird die Frage gestellt, warum
es zu dem Ereignis gekommen ist. Warum kam es zu
Failure Mode and Effect Analysis (FMEA) ist eine Ana-
dem Fehler bzw. welche Einflüsse haben dazu bei-
lysemethode, die zu einer Prävention von Zwischen-
getragen? Warum kam es zu diesen negativen Einflüs-
fällen führen soll, bevor diese überhaupt entstehen
sen? Warum und unter welchen Umständen konnten
können. Bei der Analyse potenzieller Fehlerquellen
diese Einflüsse entstehen? Und so weiter. So hofft man,
wird hierbei nach einem mehrschrittigen Algorithmus
zu den wahren Ursachen eines Zwischenfalls durch-
vorgegangen: Ein multidisziplinäres Team identifiziert
dringen zu können.
und beschreibt mögliche Fehler und Fehlerquellen.
Diese werden nach Schweregrad der Folgen, Häufigkeit
und Entdeckungswahrscheinlichkeit priorisiert.
Hat ein potenzieller Fehler beispielsweise den Tod eines
Benennen möglicher Fehler
Patienten bzw. irreversible Funktionsverluste zur Folge,
wird er als katastrophal eingestuft. Ein Zwischenfall,
Beschreibung der Fehlerquelle:
Wodurch entsteht das Problem?
der zu keinerlei Schädigung des Patienten führt, wird
als sehr gering eingestuft. Ebenso nimmt man eine
Einstufung bezüglich der Häufigkeit und der Ent-
Auftretenswahrscheinlichkeit: Wie häufig
tritt das Problem auf?
Schweregrad:
Welche Auswirkungen
hat der Fehler?
Entdeckungswahrscheinlichkeit
deckungswahrscheinlichkeit vor. Je folgenreicher ein
Fehler ist, je häufiger er auftritt und je schlechter man
ihn erkennt – desto gefährlicher ist er.
Nach Identifikation der gefährlichsten Fehlerquellen
Bewertung des Risikos
versucht man nun, Strategien für eine Fehlervermeidung zu erarbeiten und umzusetzen (Abb. 3).
Welche Maßnahmen kann man ergreifen?
Wie lässt sich der Fehler in Zukunft verhindern?
Mündet diese Strategie in einer Veränderung, die zu
100 % diesen vermeidet, dann endet die FMEA im Poka-
Welche Veränderungen wurden vorgenommen?
Abb. 3 Ablauf Failure Mode and Effect Analysis (FMEA).
Notfallmedizin up2date 6
⎢ 2011
Yoke-System.
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
zu erkennen. Dazu gibt es wiederum verschiedene
b
Allgemeine Prinzipien der Notfallmedizin
Poka Yoke – 100%ige Fehlervermeidung
95
Kasuistik 1: Beispiele von Poka Yoke
im Arbeitsalltag
und ist heutzutage aus der Qualitätssicherung der In-
Tanken
dustrie nicht mehr wegzudenken. Dr. Shigeo Shingo,
Beim Betanken des PKW kam es immer wieder vor, dass ein bestimmter
ein Ingenieur bei Toyota, stellte im Rahmen seiner
Arbeitsschritt vergessen wurde: das Wiederaufsetzen des Tankdeckels, der
Qualitätssicherung fest, dass Menschen nicht fehlerfrei
auf dem Dach des PKW vergessen wurde. Mit einer einfachen Methode kann
arbeiten können. Menschliche Fehler können mit einer
man diesen menschlichen Fehler zu 100% vermeiden – der Tankdeckel ist
gewissen statistischen Sicherheit sogar vorausgesagt
heutzutage am Tank mit einer Plastikschnalle fixiert.
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
werden. Auch „dumme Fehler“ (Poka) passieren Men-
schen immer wieder. Diese lassen sich vermeiden
Stecker
(Yoke), wenn durch technische Änderungen bestimmte
Beim Anschließen technischer Geräte würden Menschen immer wieder ver-
Fehler gar nicht mehr auftreten können. Poka-Yoke-
sehentlich Stecker in die falschen Steckdosen stecken – daher entwickelte
Beispiele in unserem Arbeitsalltag gibt es viele (eines
die Industrie bei Steckern das Schlüssel-Schloss-Prinzip: Bestimmte Stecker
finden Sie in der Infobox).
passen nur in bestimmte Adapter.
Häufig lassen sich aber nur Veränderungen erarbeiten,
Fernsehen
die lediglich die Auftretenswahrscheinlichkeit von
In einigen Luxus-PKW kann der Fahrer am Monitor fernsehen. Es wird immer
Fehlern verringern – dann läuft der Prozess weiter
wieder Autofahrer geben, die auch während der Fahrt den Fernseher laufen
unter dem Begriff FMEA.
lassen, weil gerade („zufällig“) ein interessantes Programm läuft. Und es
würde hier bei einer gewissen Zahl fernsehender Autofahrer eine („zufällige“)
Um beim Autofahrer zu bleiben: Es wird immer Auto-
Situation auftreten, in der wegen einer kleinen Unaufmerksamkeit durch
fahrer geben, die sich ungern anschnallen. Die gesetz-
Ablenkung ein Unfall verursacht würde. Poka Yoke verhindert diese Unfälle:
liche Anschnallpflicht hat die Zahl der Nicht-Ange-
Beim Einschalten des Motors schaltet sich der Fernseher automatisch ab.
schnallten zwar vermindert – zu 100% sicher ist diese
Methode aber nicht. Die Autoindustrie verwendet nun
laute Pieptöne bei Nichtanlegen des Gurtes, die den
Fahrer mehr stören sollen als es der Anschnallvorgang
tut. Das erhöht die Anschnallhäufigkeit – den PKW
fahren kann man trotzdem. Eine Poka-Yoke-Methode
Vermeidung von Zwischenfällen –
unsere Vorschläge
wäre es, wenn der Motor ohne Anschnallvorgang nicht
anspringen würde.
Wie kann man die beiden Methoden nun auf die Not-
Einhalten standardisierter und evidenzbasierter Abläufe bei Anamneseerhebung,
Untersuchung und Therapie
fallmedizin anwenden und mit der CIRS‑Datenbank
verknüpfen? Nach Durchsicht der gesammelten Fälle
Bei Anamnese, Untersuchung und Therapie standardi-
(erster Schritt FMEA) stellen wir nun die unserer
sierte und evidenzbasierte Abläufe einhalten – ist das
Meinung nach wichtigsten Fehlermuster vor (zweiter
nicht so selbstverständlich, dass man darauf nicht extra
Schritt FMEA) und versuchen, Vorschläge zur Vermei-
eingehen muss? Nein! Gerade bei erfahrenen Ärzten
dung dieser Zwischenfälle zu geben (dritter Schritt
oder bei sehr eindeutigen Diagnosen ist mit fatalen
FMEA).
Rückschaufehlern (Biases) zu rechnen. Diese muss man
kennen, die Risikosituation erkennen und bestimmte
kognitive Techniken anwenden – dann verlieren sie
ihre Gefahr.
Ein bekannter COPD‑Patient Gold IV alarmiert wegen
Atemnot den Rettungsdienst. Bei Eintreffen sieht man
einen dyspnoeischen Patienten mit hoher Atemfrequenz. Der Patient ist tachykard, Heimsauerstoff läuft.
Wer denkt da nicht an eine exazerbierte COPD, Prednisolon, Salbutamol-Inhalation, etc.?
Notfallmedizin up2date 6
⎢ 2011
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
Das Poka-Yoke-Prinzip stammt aus den 1960er-Jahren
b
96
Kritische Ereignisse in der Notfallmedizin
suchung zum Übersehen einer brisanten Diagnose
Kasuistik 2: Fallstrick Anamnese
führt. In der Notfallmedizin muss man sich losgelöst
Eine Patientin mit einer psychiatrischen Vorgeschichte wohnt in einem
von vielen Informationen auf das Hauptsymptom kon-
Jugendwohnheim, sie ist Mutter einer kleinen Tochter. Nach Aussage der
zentrieren, sowie nüchtern und sachlich eine symp-
Betreuer ist sie insgesamt mit der Situation überfordert. Der Notarzt wird
tomorientierte Untersuchung durchführen.
alarmiert unter der Diagnose „Hyperventilation“.
Stellen Sie sich die Situation so vor, wie wir sie alle kennen. Sie kommen in
dem Heim in das Zimmer, die psychiatrisch vorbekannte Patientin liegt hyperventilierend und agitiert am Boden, sie ist völlig unkooperativ. Beruhigungs-
versuche scheitern – der Notarzt appliziert Midazolam. Die Patienten ist nun
sediert, fällt aber immer wieder durch Hyperventilation auf und ist weiterhin
kontaktierbar, aber nicht kooperativ. Man schlägt den Weg in die Psychiatrie
ein.
vielen Informationen auf das Hauptsymptom konzentrieren, sowie nüchtern und sachlich eine
symptomorientierte Untersuchung durchführen.
Wir trauen uns sogar zu sagen, dass das Erheben von
Risikofaktoren in einer Notfallsituation wenig sinnvolle
Information bietet und von den unwahrscheinlicheren
Fazit: Jetzt lassen Sie die ablenkenden Informationen einmal weg! Sie haben
Diagnosen, die nicht weniger gefährlich sein können,
eine Patientin mit einer Bewusstseinsstörung vor sich. Diese Patientin sollte
ablenkt. Die Notfallmedizin muss sich nicht auf die
man symptomorientiert untersuchen.
wahrscheinlichen, sondern auf die möglichen gefähr-
reflexe deutlich gesteigert waren und die Patientin am rechten oberen
Sprunggelenk einen erschöpflichen Klonus hatte. Hier lag ein Problem im
Bereich des ersten Neurons vor. Hätte man die Temperatur gemessen, so
wäre eine leichte Temperaturerhöhung aufgefallen. In der Klinik stellte sich
schließlich heraus, dass die Patientin eine Enzephalitis hatte, und sie wurde
mit Verzögerung auf die Neurologie verlegt.
lichen Diagnosen konzentrieren.
Die Notfallmedizin muss sich nicht auf die
wahrscheinlichen, sondern auf die möglichen
gefährlichen Diagnosen konzentrieren.
Thoraxschmerz ist Thoraxschmerz, Atemnot ist Atemnot, Bewusstseinsstörung ist Bewusstseinsstörung, und
so weiter. Begleitinformationen aus dem Umfeld können den Notarzt zu einer scheinbar sicheren Diagnose
führen, das differenzialdiagnostische Denken und die
körperliche Untersuchung hören zu früh auf. Gewisse
Das ist in den meisten Fällen auch richtig – aber beim
Standardwerte sollten immer dokumentiert werden.
Risikomanagement geht es darum, seltene und gefähr-
Dazu gehören der Blutzucker, die Temperatur und die
liche Dinge zu vermeiden. Und wenn man die Einträge
Vitalparameter.
in der CIRS‑Datenbank ansieht, dann scheint die vor-
eilige Diagnosestellung gerade von erfahrenen Ärzten
Gewisse Standardwerte sollten immer dokumen-
ein Problem darzustellen. In der Literatur spricht man
tiert werden. Dazu gehören Blutzucker, Tempera-
von „Hindsight-Bias“ – die Diagnose drängt sich ja
tur und Vitalparameter.
geradezu auf!
Dies ist alles in ganz kurzer Zeit ermittelbar. Bei vielen
Schrumpft man die notwendigen Informationen für
Berichten waren es diese banalen Dinge, die zu schwe-
den Notfallmediziner aber auf das Wesentliche zusam-
ren Zwischenfällen führten. Gerade wer sich besonders
men und lässt die ablenkenden Informationen geistig
sicher ist, kann dumme Überraschungen erleben.
weg, so bleibt ein Patient mit akuter Atemnot. Und
Stichprobenartige Kontrollen von Notarztprotokollen
dann kommen einem wieder ganz andere Differenzial-
durch den ärztlichen Leiter Rettungsdienst und Schu-
diagnosen in den Kopf – wie möchte man sonst einen
lungen über die Biases helfen, dass diese Art von Feh-
Pneumothorax bei einer geplatzten Bulla erkennen,
lern nicht so häufig auftreten.
wie eine Lungenembolie bei einem in der Mobilität
eingeschränkten Patienten, wie das Non-STEMI‑Koro-
narsyndrom oder gar den STEMI bei Patienten mit entsprechenden Komorbiditäten, oder eine Linksherz-
Medikamentenverwechslungen und
Dosierungsverwechslungen vermeiden
insuffizienz mit Asthma cardiale?
Die Medikamentengabe im Notarztdienst ist erstens
In vielen Beispielen drängt sich die Diagnose so sehr
häufig, zweitens gibt es eine größere Anzahl möglicher
auf, dass ein Auslassen der standardisierten Unter-
Medikamente und Lösungsmittel und drittens sind
Notfallmedizin up2date 6
⎢ 2011
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
Hätte der Notarzt das getan, dann wäre aufgefallen, dass die Muskeleigen-
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
In der Notfallmedizin muss man sich losgelöst von
b
Allgemeine Prinzipien der Notfallmedizin
97
viele Medikamente sehr wirksam auf bestimmte Kör-
perfunktionen, insbesondere bei Patienten, die gerade
in Lebensgefahr schweben und wenig Toleranzleistung
haben. Eine Verwechslung von Medikamenten ist da-
her grundsätzlich nicht unwahrscheinlich (Abb. 4) und
häufig mit massiven Problemen gekoppelt. Deshalb
sind gewisse Grundsätze bei der Gabe von Medikamenten zu beachten.
Eine Verwechslung von Medikamenten ist grundsätzlich nicht unwahrscheinlich und zieht häufig
massive Probleme nach sich.
Je mehr Arbeitsschritte zur Vollendung eines Prozesses
notwendig sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit ungewollter Zwischenfälle.
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
sungsmitteln aufgezogen und verdünnt werden müs-
Abb. 4 Das Muskelrelaxans Pantolax® mit der einzigen Indikation bei narkotisierten Patienten
wird neben anderen Medikamenten mit ähnlicher Ampullenform ohne besondere Kennzeichnung gelagert. Hierzu gab es bei www.cirs-notfallmedizin.de mehrfache Fallmeldungen.
sen, so lange bleibt das Risiko bestehen, dass hier Fehler
passieren. Und das ist eine von vornherein gesicherte
statistische Größe.
Hier lässt sich ganz einfach Poka Yoke anwenden:
Fertigspritzen mit 1 mg/10 ml für die Reanimation
lassen diese Fehlermöglichkeit unmöglich werden.
Je mehr unterschiedliche Wege zum Erreichen des Zieles möglich sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit ungewollter Zwischenfälle. Sind auf einem Ret-
tungswagen verschiedene Medikamentendosierungen
Kasuistik 3: Dosierungsverwechslung
bei Medikamenten
Ein Notarzt fordert während einer länger dauernden Reanimation 3-mal Adrenalin an. Und bekommt Folgendes angereicht: Beim ersten Mal 1 mg/10 ml,
die zweite Spritze enthält 3 mg/10 ml und die letzte 10 mg/10 ml. Der anreichende Rettungsassistent meinte natürlich alles gut und dachte sich auch
etwas dabei – doch führt eine solche Variation von Verdünnungen irgend-
wann bei irgendeinem Patienten zu einem Schaden durch falsche Dosierungsapplikation.
vorrätig (zum Beispiel Midazolam 5 mg/5 ml und Mi-
dazolam 15 mg/3 ml oder Ketamin 5 mg/ml und Ketamin 25 mg/ml), so ist es statistisch vorhersagbar, dass
es zu Dosierungsverwechslungen kommen wird. Und
das passiert irgendwann in einer Situation, in der man
diese Verwechslung überhaupt nicht gebrauchen kann.
Auch diese Gefahr kann man zu 100 % eliminieren:
Gleiche Medikamente in unterschiedlichen Dosierungen dürfen nicht vorgehalten werden (Abb. 5).
Gleiche Medikamente in unterschiedlichen
Dosierungen dürfen nicht vorgehalten werden.
Obwohl jeder weiß, dass Spritzen beschriftet sein sollten – unter Zeitdruck und Hektik geschieht es immer
wieder, dass darauf verzichtet wird. Gerade unter Zeitdruck und Hektik ist es besonders wichtig, dass diese
beschriftet sind. Dies kann man sicherstellen, indem
man Spritzen verwendet, die von vornherein beschrif-
tet sind (bei Adrenalin oder Heparin ist das im Rahmen
einer Fertigspritze manchmal so), oder indem man
Medikamente verwendet, die zumindest einen abzieh-
Abb. 5 Drei verschiedene Dosierungen von Ketamin – das führt irgendwann zwangsläufig zu
einem schweren Dosierungsfehler im Rahmen von nicht ganz verhinderbaren Ampullenverwechslungen. Würde nur eine Dosierung von Ketamin vorgehalten, so wäre zumindest diese
Verwechslungsgefahr nicht mehr gegeben.
Notfallmedizin up2date 6
⎢ 2011
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
So lange es notwendig ist, dass Medikamente mit Lö-
b
98
Kritische Ereignisse in der Notfallmedizin
baren Aufkleber zur Etikettierung auf der Ampulle
haben. Das eliminiert zwar nicht den Fehler, reduziert
aber die Auftretenswahrscheinlichkeit.
Spritzen sollten beschriftet sein. Das kann sichergestellt werden, indem fertig beschriftete Spritzen
verwendet werden.
Selbst bei richtig etikettierten Spritzen kommt es zu
falschen Applikationen – weil sich Medikamentennamen ähneln, Etiketten ähneln, der Arzt mit den
Gedanken woanders ist, etc.
So wie in der Fliegerei ein Doppelcheck zwischen Pilot
und Kopilot völlig normal erscheint, so ist auch in der
Notfallmedizin ein Doppelcheck sinnvoll. Der Rettungsassistent zeigt nach dem Aufziehen nochmals die
Ampulle, der Notarzt prüft gegen oder umgekehrt.
ihn für unfähiger als sich selbst hält, sondern weil es
eine Notwendigkeit zur Fehlervermeidung darstellt.
Doppelcheck: Der Rettungsassistent zeigt nach
dem Aufziehen nochmals die Ampulle, der Notarzt
prüft gegen oder umgekehrt.
Medikamente sollten in die Blutbahn des Patienten injiziert werden. Bei voll aufgedrehter und nicht optimal
laufender Infusion fließen die Medikamente dem physikalischen Prinzip des geringeren Widerstands nach in
den Infusionsschlauch, der einen größeren Durchmesser hat als der venöse Zugang. Man kann den Infusionsschlauch manuell abklemmen (häufigste Methode),
Abb. 6 a und b a Ohne Rückschlagventil ist man gezwungen, den
Infusionsschlauch proximal des Zugangs manuell abzuklemmen.
Das wird häufig vergessen, mit der Folge einer häufigen Applikation
der Medikamente in den Infusionsschlauch statt in die Vene des
Patienten. b Die Verwendung eines Rückschlagventils verhindert die
Möglichkeit einer retrograden Medikamentengabe zu 100 %.
aber das kann vergessen werden und ist fehleranfällig.
Man kann am Ende des Infusionsschlauchs ein Rückschlagventil einsetzen, welches die Injektion in den Infusionsschlauch verhindert – auch das kann vergessen
werden. Zu 100 % verhindert wird der Fehler, wenn nur
noch Infusionssysteme mit integriertem Rückschlagventil verwendet werden (Abb. 6 a und b).
Applikation falscher Medikamente und
Dosierung vermeiden
Die ausschließliche Verwendung von Infusionssystemen mit integriertem Rückschlagventil verhin-
■
Fertigspritzen mit fixen Verdünnungen
dert, dass injizierte Medikamente in den Infusions-
■
Ein Medikament nicht in unterschiedlichen Dosierungen vorhalten
schlauch laufen statt in den venösen Zugang des
■
Fertig beschriftete Spritzen verwenden
Patienten.
■
Abziehbare Aufkleber zur Etikettierung auf der Ampulle
■
Doppelcheck des Medikaments und der Dosis durch 2 Personen
■
Nur Infusionssysteme mit Rückschlagventil verwenden
Notfallmedizin up2date 6
⎢ 2011
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
Nicht, weil der eine dem anderen nicht vertraut oder
b
Allgemeine Prinzipien der Notfallmedizin
Mangelnde Kommunikation
99
Kasuistik 4: Kommunikation zwischen
Rettungsteam und Klinik
Über Kommunikation gibt es viele Bücher und andere
Abhandlungen; sie ist ein unerschöpfliches Thema. Im
Die Rettungsleitstelle meldet beim diensthabenden Oberarzt der Notaufnah-
Rahmen von Notarzteinsätzen fallen in unserer Daten-
me eine Patientin mit akutem Hinterwandinfarkt an. Der Oberarzt informiert
bank 2 Kommunikationsprobleme auf.
das Team der Notaufnahme sowie den Interventionsdienst. Wenige Minuten
später erhält der Oberarzt einen Anruf von einem diensthabenden Notarzt,
Erstens innerhalb des Teams, weil zu wenig miteinan-
der eine junge Frau mit akutem Hebungsinfarkt ankündigt. Es wird davon
der gesprochen und Gedanken nicht zwischen den
ausgegangen, dass es sich um dieselbe Patientin handelt. Dies hat zur Folge,
Teammitgliedern wiederholt und diskutiert werden.
dass zeitgleich 2 Patienten mit akutem Myokardinfarkt in der Notaufnahme
Verheerend ist, wenn Rettungsassistenten Fehlhand-
ankommen.
lungen bei Notärzten bemerken, dies aber aufgrund
von Antipathie nicht kommunizieren – manchmal auch
aus Angst, verbal angegriffen zu werden. Dies liegt
teilweise auch daran, dass Notärzte sensibel darauf
reagieren, wenn jemand mit geringerer Qualifikation
Identifizieren
Entscheidungen hinterfragt. In einem Team ist dies
aber sehr wichtig und in der Fliegerei ist dies längst
Das zweite Problem ist, dass Notärzte häufig nicht selber den Kontakt zum diensthabenden Arzt der Klinik
Überwachen
Analysieren
aufnehmen. Dadurch kann es zu prekären Situationen
bei der Übergabe in der Zielklinik kommen. Es gibt viele Berichte in der Datenbank, die dieses Problem
adressieren.
Bewältigen
Wenn eine Voranmeldung in der Klinik notwendig ist,
dann ist ein Arzt-Arzt-Gespräch eine Conditio sine
qua non!
Abb. 7 Risikoschleife
Wenn eine Voranmeldung in der Klinik notwendig
ist, dann immer als Arzt-Arzt-Gespräch!
eignisse und Zwischenfälle auf. Letztlich bedarf es einer
Das Atemwegsmanagement spielt eine so wichtige
Sammlung und Auflistung der realen und bedrohlichen
Rolle, dass ein eigener Artikel in einer der nächsten
Risiken. Techniken zur Risikoerkennung können ein-
Ausgaben der Notfallmedizin up2date dies beleuchten
fache Literaturrecherche sein, eine FMEA (Failure Mode
wird.
and Effect Analysis, siehe oben) oder eben ein CIRS.
Risikomanagement
in der Notfallmedizin
Risikomanagement
Risikomanagement ist ein Prozess, der aus einem Regelkreis mit 4 Schritten besteht (Abb. 7).
Identifizieren. Um Risiken minimieren zu können,
muss man sie erst einmal erfassen. Einige Risiken sind
einfach zu erkennen und liegen auf der Hand. Andere
sind versteckt und fallen erst durch unerwünschte Er-
Analysieren. Der nächste Schritt ist die Analyse der
erfassten Risiken. Einige treten mit hoher Wahrscheinlichkeit und häufig auf. Andere dagegen selten, können
aber vielleicht einen wesentlich größeren Schaden
nach sich ziehen. Geschultes Personal muss die aufgelisteten Risiken standardisiert bewerten, um eine
Rangfolge zu erheben, welche Risiken besonders wichtig sind zu vermeiden. Eine standardisierte und wahrscheinlich die beste Bewertungsmöglichkeit ist die
FMEA (Abb. 8).
Bewältigen. In einem dritten Schritt müssen nun
Bewältigungsstrategien entwickelt werden. Maßnahmen müssen ergriffen werden, um das Auftreten von
Notfallmedizin up2date 6
⎢ 2011
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
nicht so ein Problem wie in der Medizin.
b
100
Kritische Ereignisse in der Notfallmedizin
Die Bewertung und Priorisierung von Risiken, essenzielle Schritte im Risikomanagement, haben nichts mit
extrem
hohes
Risiko
hohes
Risiko
einem CIRS zu tun. Somit kann ein Risikomanagement
mit einem Fehlermanagement auch ohne CIRS möglich
und effektiv sein. Umgekehrt kann ein CIRS allein ohne
Fehlermanagement oder Risikomanagement zwar ein-
Auftretensschwere
geführt werden, ist allerdings dann wertlos, da es nicht
zu einer Analyse, geschweige denn zu Änderungen im
System führen kann.
Ein CIRS ohne Risikomanagement ist wertlos,
da es nicht zu Veränderungen im System führt.
hohes
Risiko
niedriges
Risiko
CIRS‑Notfallmedizin –
wie sieht die Zukunft aus?
Auftretenshäufigkeit
mit über 800 Reports inzwischen sehr viele Erfahrungen über kritische Ereignisse in der präklinischen Not-
Abb. 8 Risikoanalyse mittels FMEA. Ein extrem gefährlicher Fehler ist durch einen schwerwiegenden Ausgang sowie ein häufiges Auftreten gekennzeichnet.
fallmedizin vor. Viele kritische Faktoren sind nun gut
bekannt. Dies ist noch anders im Bereich der klinischen
Notfallmedizin der Notaufnahmen. Dort sind noch
nicht so viele Reports eingegangen, dass wir von einem
Überblick über die kritischen Ereignisse in der Notauf-
Zwischenfällen zu vermeiden oder zumindest zu
nahme sprechen können. Dies dürfte daran liegen, dass
verringern.
dieser Teil der Website erst vor Kurzem eingerichtet
wurde.
Überwachen. Schließlich stellt sich die Frage, ob die
eingeleiteten Maßnahmen auch ihren Zweck erfüllen –
das ist der letzte Schritt im Risikomanagement, die
Überwachung. Es kann passieren, dass eine Vermeidungsstrategie implementiert wurde, diese aber nicht
greift – aus welchen Gründen auch immer. Eine Risikoüberwachung kann wiederum mithilfe verschiedener Techniken wie CIRS, Fallbesprechungen, Kummerkasten, aber auch über statistische Analysen erfolgen.
Nach den nunmehr über mehrere Jahre und in vielen
Bereichen der Medizin gesammelten Erfahrung mit
CIRS zeichnet sich jetzt ein recht klares Bild über Möglichkeiten und Grenzen dieses Verfahrens ab:
■
Es ist ein gutes System zur Erkennung kritischer Ereignisse und kann die Aufmerksamkeit auf Faktoren
und Abläufe lenken, um die es sich zu kümmern
lohnt. Es ist aber eher ein Verfahren zur Risikoerkennung und für sich alleine noch kein Risikomanagement. CIRS, dem kein Handeln folgt, beinhaltet die
Die Rolle eines Critical Incident Reporting
Systems beim Risikomanagement
Gefahr der Enttäuschung und infolgedessen der
Abwendung vom Risikomanagement.
■
CIRS stößt an eine weitere Grenze, wenn eine kriti-
Eine CIRS‑Website allein ist kein Risikomanagement,
sche Zahl von Reports erreicht wird. Ab dann führen
sondern lediglich eine Meldeseite für Zwischenfälle.
weitere Meldungen kaum mehr zu einem Erkennt-
CIRS kann im Rahmen vom Risikomanagement Risiken
niszuwachs, da die kritischen Bereiche inzwischen
bereits hinlänglich erkannt sind.
identifizieren. Außerdem kann CIRS ein durchgeführtes
Fehlermanagement monitoren – manchmal gibt es Än-
■
Eine weitere Grenze wiegt schwer: Mittlerweile sind
derungen im System mit gut gemeinter Absicht, aber
die Risiko begünstigenden Faktoren in vielen Berei-
das Fehlermanagement ist letztlich nicht effektiv. Hier
chen der Medizin gut bekannt. Dies könnte bedeuten,
kann CIRS ebenfalls Aufschlüsse geben. Somit ist es also
dass CIRS als Risikoerkennungssystem seinen Höhe-
ein möglicher Bestandteil des ersten und des letzten
punkt bereits überschritten hat. An vielen Stellen,
Schrittes im allgemeinen Risikomanagement.
auch wo es neu eingerichtet wird, bestätigt CIRS
inzwischen nur noch, was bereits bekannt ist. Dann
Notfallmedizin up2date 6
⎢ 2011
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
In der Datenbank www.cirs-notfallmedizin.de liegen
b
Allgemeine Prinzipien der Notfallmedizin
kann es zwar noch ein Instrument zu Sensibilisie-
101
Kernaussagen
rung der Mitarbeiter für das Vorhandensein von
Risiken sein, trägt aber inhaltlich nicht mehr zum
Fehler in der Medizin
Erkenntnisgewinn bei.
■
Medizin und im Speziellen die Notfallmedizin sind fehleranfällig. Behandlungsfehler gehören zu den häufigsten Todesursachen bei Patienten.
Aus der Perspektive eines umfassenden Risikomanage-
■
sind in den meisten Fällen im System begründet und nicht das Verschulden
ments verfestigt sich mehr und mehr der Eindruck,
einer einzelnen Person.
dass in der Medizin und insbesondere in ihren Hochrisikobereichen die Phase der Risikoerkennung abge-
■
Eine Vielzahl von Faktoren und das Versagen von Schutzmechanismen
führen zum Auftreten eines Fehlers.
löst werden könnte durch eine weitere Phase: die der
Risikobewältigung. Ein ausgesprochen wertvolles und
Sowohl Arzt als auch Patient sind Opfer von Behandlungsfehlern. Diese
■
Bevor es zu einem manifesten Fehler kommt, treten häufig Beinahezwi-
ein in der Medizin noch recht junges Instrument zur
schenfälle, sogenannte Critical Incidents, auf, die zu einer Schädigung des
Risikobewältigung ist CRM, Crew Resource Manage-
Patienten hätten führen können.
ment. Mit seinen 4 Elementen, Regulierung der Ar-
beitsbelastung, Situationsbewusstsein und Entschei-
Critical Incident Reporting
dungsfindung, Verbesserung der Kommunikation und
■
nym, freiwillig, schnell und strukturiert über Zwischenfälle zu berichten.
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
■
Mithilfe der Root Cause Analysis (RCA) versucht man, die dem Ereignis zu-
nischen Notfallmedizin als außerordentlich nützlich
grunde liegenden Faktoren zu identifizieren. Im Rahmen der Failure Mode
erweisen.
and Effect Analysis (FMEA) lassen sich Fehler analysieren und ihre Auftretenswahrscheinlichkeit verringern. Wenn ein Schutzmechanismus das
Auftreten eines Fehlers zu 100% verhindert, spricht man vom Poka-Yoke-
So könnte es sein, dass dort, wo bisher CIRS war, CRM
Prinzip.
werden wird.
■
Aus der Datenbank www.cirs-nofallmedizin.de lassen sich wiederkehrende
Fehlermuster ableiten und Vermeidungsvorschläge ableiten. Diese umfassen
– einen strukturierten Ablauf bei Anamnese, Untersuchung und Therapie,
– regelhafte Doppelkontrolle vor Medikamentenapplikation sowie
– eine verbesserte und standardisierte Kommunikation zwischen allen
Mitgliedern der Rettungskette.
Risikomanagement
■
Das allgemeine Risikomanagement umfasst die 4 Schritte:
– Identifikation,
– Analyse,
– Bewältigung und
– Überwachung.
Zur Umsetzung eines jeden Prozessschrittes stehen verschiedene
Vorgehensweisen wie CIRS, FMEA, RCA, statistische Analysen etc. zur
Verfügung.
■
CIRS ist ein wichtiger Bestandteil der Risikoidentifizierung und des Risikomonitorings. Jedoch ist ein sinnvolles Risikomanagement nicht allein
mithilfe eines CIRS durchzuführen.
Notfallmedizin up2date 6
⎢ 2011
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
schließlich Förderung von Führung und Teamarbeit,
könnte es sich gerade in der präklinischen und kli-
Critical Incident Reporting Systeme (CIRS) bieten eine Möglichkeit, ano-
b
102
Kritische Ereignisse in der Notfallmedizin
Über die Autoren
Dorothea Hempel
Jahrgang 1987. Cand. med. PJ‑Studentin
Christian Hohenstein
an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
und wissenschaftliche Mitarbeiterin in
Jahrgang 1971. Dr. med. Facharzt für
Allgemeinmedizin und Anästhesiologie
der Zentralen Notaufnahme des Universitätsklinikums Jena. Sie betreut die
mit der Zusatzbezeichnung Notfall-
Website www.cirs-notfallmedizin.de.
medizin und der Zusatzqualifikation
In Kürze tritt sie ihr Research Fellowship
Risk Management. Seit 2005 Leiter der
von ihm gegründeten Website www.
am Department of Emergency Medicine
der Harvard University in Boston an.
cirs-notfallmedizin.de. Oberarzt an der
Zentralen Notaufnahme am Univer-
sitätsklinikum Jena.
Korrespondenzadresse
Dr. Christian Hohenstein
Universitätsklinikum Jena
Thomas Fleischmann
Zentrale Notaufnahme
07747 Jena
Allgemeinmedizin mit den Zusatz-
bezeichnungen Notfallmedizin, Kli-
Telefon: 0 96 41/9 32 20 67
Fax: 0 96 41/9 32 20 22
nische Notfallmedizin (Schweiz) und
E-Mail: [email protected]
Ärztliches Qualitätsmanagement. Associate Fellow des britischen College of
Emergency Medicine. Zusatzqualifika-
tionen Risk Management und Betriebs-
wirtschaft im Krankenhaus. Er leitet als Chefarzt die Interdisziplinäre Notaufnahme des Klinikums Frankfurt Höchst.
Notfallmedizin up2date 6
⎢ 2011
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
Erlanger Allee 101
Jahrgang 1956. Dr. med. Facharzt für
b
Allgemeine Prinzipien der Notfallmedizin
Literatur
103
18 Missbach-Kroll A, Nussbaumer P et al. Critical incident reporting
system. Erste Erfahrungen in der Chirurgie. Chirurg 2005; 76:
868 –875
Safer Health System. Washington DC: National Academy Press;
1999
2 Flanagan JC. The critical incident technique. Psychol Bull 1954; 51:
327 –358
3 http://asrs.arc.nasa.gov/main.htm; Stand 05. 02. 2011
4 OʼConnor P, OʼDea A et al. A methodology for identifying human
error in U.S. Navy diving accidents. Hum Factors 2007; 49:
214 –226
5 Leape LL. Error in medicine. JAMA 1994; 272: 1851 –1857
6 Cooper JB, Newbower RS et al. Preventable anesthesia mishaps:
a study of human factors. Anesthesiol 1978; 49: 399 –406
7 Cooper JB, Newbower RS et al. An analysis of major errors and
equipment failures in anesthesia management: considerations for
prevention and detection. Anesthesiol 1984; 60: 34 –42
8 Allnutt MF. Human factors in accidents. Br J Anaesth 1987; 59:
856 –864
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
9 Williamson J. Critical incident reporting in anaesthesia. Anaesth
Int Care 1988; 16: 101 –103
10 Wright B. Disasters: Critical incidents. Nurs Times 1989; 85:
34 –36
11 Runciman WB, Sellen A et al. The Australian Incident Monitoring
Study. Errors, incidents and accidents in anaesthetic practice.
Anaesth Int Care 1993; 21: 506 –519
12 Chopra V, Bovill JG et al. Reported significant observations during
anaesthesia: a prospective analysis over an 18-month period. Br
J Anaesth 1992; 68: 13 –17
13 Hart GK, Baldwin I et al. Adverse incident reporting in intensive
care. Anaesth Int Care 1994; 22: 556 –561
14 Short TG, OʼRegan A et al. Improvements in anaesthetic care re-
sulting from a critical incident reporting programme. Anaesthesia
1996; 51: 615 –621
15 Staender S, Davies J et al. The anaesthesia critical incident report-
ing system: an experience based database. Int J Med Inform 1997;
Medizin. Gynakol Geburtshilfl Rundsch 2005; 45: 147 –160
20 Kelly SP, Astbury NJ. Patient safety in cataract surgery. Eye 2005;
20: 275 –283
21 Moss SJ, Embleton ND et al. Towards safer neonatal transfer: the
importance of critical incident review. Arch Dis Child 2005; 90:
729 –732
22 Frey B, Argent A. Safe paediatric intensive care. Part 2: workplace
organisation, critical incident monitoring and guidelines. Int Care
Med 2004; 30: 1292 –1297
23 Cote J, Notterman DA et al. Adverse sedation events in pediatrics:
a critical incident analysis of contributing factors. Pediatrics 2000;
105: 805 –814
24 Simpson JH, Lynch R et al. Reducing medication errors in the neonatal intensive care unit. Arch Dis Child Fetal Neonatal Ed 2004;
89: F480 –482
25 Wright M, Parker G. Incident monitoring in psychiatry. J Qual Clin
Pract 1998; 18: 249 –261
26 www.aktionsbuendnis-patientensicherheit.de/apsside/07-07-25CIRS-Handlungsempfehlung.pdf; Stand 17. 03. 2011
27 Hohenstein C, Rupp P et al. Critical incidents during prehospital
cardiopulmonary resuscitation: what are the problems nobody
wants to talk about? Eur J Emerg Med 2011; 18: 38-40
28 Hohenstein C, Fleischmann T. Patientensicherheit im Hochrisikobereich – ein Critical Incident Reporting System in der präklinischen Notfallmedizin. Notarzt 2007; 23: 1 –6
29 Kram R. Critical incident reporting system in emergency medicine. Curr Opin Anaesthesiol 2008; 21: 240-204
30 Stella J, Davis A et al. Introduction of a prehospital critical incident
monitoring system-pilot project results. Prehosp Disaster Med
2008; 23: 154 –160
31 Tighe CM, Woloshynowych M et al. Incident reporting in one UK
accident and emergency department. Accid Emerg Nurs 2006;
14: 27 –37
47: 87 –90
16 Buckley TA, Short G et al. Critical incident reporting in the intensive care unit. Anaesthesia 1997; 52: 403 –409
17 Beckmann U, West LF et al. The Australian Incident Monitoring
Study in Intensive Care: AIMS‑ICU. The development and evalua-
tion of an incident reporting system in intensive care. Anaesth Int
Care 1996; 24: 314 –319
Notfallmedizin up2date 6
⎢ 2011
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
1 Kohn LT, Corrigan JM, Donaldson MS. To err is human. Building a
19 Haller U, Welti S et al. Von der Schuldfrage zur Fehlerkultur in der
b
104
Kritische Ereignisse in der Notfallmedizin
CME‑Fragen
1
Welche der folgenden Antworten
A
Fehler in der Medizin sind selten.
ist richtig?
B
Notfallmedizin ist risikoarm, da die Patientenkontaktzeit sehr kurz ist.
C
Dadurch, dass Ärzte in der Regel offen über ihre Fehler kommunizieren, hat sich zwischenzeitlich
eine brauchbare Lernkultur in der Medizin entwickelt.
D
Durch die meist hervorragende Abiturnote als Zugangsvoraussetzung zum Medizinstudium sind
Fehler in der Medizin sind kostspielig und viele Patienten erleiden hierdurch dauerhaften Schaden.
Welche Aussage zum Critical
A
Critical Incident Reporting kann nur erfolgreich sein, wenn die Teilnahme obligat ist.
Incident Reporting ist falsch?
B
Mithilfe eines CIRS kann man sichere Aussagen über die Häufigkeit von Zwischenfällen machen.
C
Seltene Ereignisse werden mit einem CIRS gut erfasst.
D
CIRS kann nicht zur Risikoüberwachung eingesetzt werden.
E
CIRS kann zur Risikobewältigung eingesetzt werden.
A
Wenn Patienten zu Schaden kommen, dann meist aufgrund eines menschlichen Fehlers und der
2
3
Welche Aussage zur
Fehlerentstehung ist richtig?
Fehlhandlung einer einzelnen Person.
B
Passiert einem Arzt ein ausgesprochen dummer Fehler (zum Beispiel Flüchtigkeitsfehler), so ist es
unwahrscheinlich, dass dieser einem anderen Arzt auch passiert.
C
Banale Fehler, die normalerweise vom System kompensiert werden, sind typischerweise die
Fehler, die in einer Kombination von ungünstigen Umständen zu einer Katastrophe beitragen.
D
Technische Fehler sind im Gesundheitssystem die häufigsten.
E
Fehler können in ihrer Entstehung meist nicht erahnt werden.
Welche Aussage zum Critical
A
Critical Incident Reporting bedeutet Risikomanagement.
Incident Reporting trifft zu?
B
Critical Incident Reporting verfolgt rechtlich und anonym Verursacher schwerer Zwischenfälle.
C
Critical Incident Reporting ist ohne Risikomanagement nicht möglich.
D
Critical Incident Reporting ist ohne Risikomanagement nicht sinnvoll.
E
Critical Incident Reporting zielt in der Medizin vornehmlich auf Zwischenfälle mit Patienten-
4
schaden ab.
5
Welche Aussage zur
A
Poka Yoke verhindert das Auftreten von Fehlern zu knapp 96%.
Fehlerprävention trifft nicht zu?
B
Die FMEA verhindert das Auftreten von Zwischenfällen nicht zu 100 %, sondern führt nur zu einer
Reduktion der Auftretenswahrscheinlichkeit.
C
Zur FMEA gehört das Erarbeiten von Fehlerbewältigungsstrategien.
D
Poka Yoke stammt aus Japan.
E
Poka Yoke kann ein Teil von FMEA sein.
CME
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
Fehler in der Medizin auf ein Minimum reduziert.
E
b
2/2011 | Notfallmedizin up2date
CME‑Fragen
105
Kritische Ereignisse in der Notfallmedizin
6
Welche Aussage zur Fehler-
A
vermeidung in der Notfallmedizin
ist richtig?
Diagnosen, die sich aufgrund einer Gesamtkonstellation aufdrängen, müssen nicht überdacht
werden.
B
Vitalwerte müssen bei eindeutigen Diagnosen nicht notwendigerweise erhoben werden.
C
Eine Standarduntersuchung ist bei eindeutigen Diagnosen zeitraubend und meist nicht
notwendig.
D
Diagnosen, die sich aufgrund einer Gesamtkonstellation aufdrängen, können von wichtigen
Differenzialdiagnosen ablenken.
E
Die Blutzuckermessung ist nur bei offensichtlichen Differenzialdiagnosen sinnvoll.
Welche Aussage zur Differenzial-
A
In der Notfallmedizin sollte man sich auf die wahrscheinlichsten Diagnosen beschränken.
diagnostik in der Notfallmedizin
B
Die Medikamentenanamnese ist im Notfall nicht von Bedeutung.
trifft zu?
C
Der Blutzucker sollte nur bei bekanntem Diabetes oder Koma bestimmt werden.
D
„Hindsight bias“ ist ein typischer Anfängerfehler.
E
In der Notfallmedizin sollte man sich auf die gefährlichsten Differenzialdiagnosen konzentrieren.
Welche Aussage zu Fehlern
A
Im Notfall kann auf das Beschriften von Spritzen verzichtet werden.
bei der Medikamentenapplikation
B
Eine doppelte Kontrolle vor oraler Medikamentengabe ist meist nicht nötig.
ist richtig?
C
Fertigspritzen können Fehler bei der Verdünnung von Medikamenten erfolgreich vermeiden.
D
Es gibt keine Möglichkeit, das Auftreten von Dosierungsfehlern zu verringern.
E
Die Verwendung von Rückschlagventilen ist im Allgemeinen nicht zu empfehlen.
Welche Aussage zu Kommunikation
A
Rettungsassistenten sollten einen Notarzt niemals auf eine mögliche Fehlhandlung hinweisen.
in der Notfallmedizin trifft zu?
B
Wenn eine Vorankündigung in der Klinik notwendig ist, sollte ein Arzt-zu-Arzt-Gespräch erfolgen.
C
Ein offenes Besprechen der Vorgehensweise ist in einer Notfallsituation nicht sinnvoll.
D
Eine Voranmeldung in der Zielklinik sorgt nur für Verwirrung.
E
Eine Vorankündigung in der Klinik sollte immer vom Rettungsassistenten übernommen werden.
Welche Aussage zum
A
CIRS ist Bestandteil aller 4 Schritte im Risikomanagement.
Risikomanagement ist richtig?
B
Risikomanagement ist ohne ein Reporting System nicht möglich.
C
Root Cause Analysis dient der Fehlerüberwachung.
D
Die Risikoanalyse sollte individuell und nicht standardisiert erfolgen.
E
Eine Möglichkeit der Fehleridentifizierung ist Incident Reporting.
8
9
10
CME
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
Sonderdruck für private Zwecke des Autors
7
Herunterladen