NeuöZürcörZäitung INTERNATIONAL Samstag/Sonntag, 10./11.Juni 2006 Nr. 132 9 Wem gehört eigentlich der Nordpol? Völkerrechtliche Überlegungen zur Rohstoffsituation einer Arktis ohne Eis Von Josef Girshovich* Die Möglichkeit, dass das nördliche Polareis bald schmelzen könnte, wirft eine Reihe von Rechtsfragen auf. Denn die fünf Anrainerstaaten des Polarmeeres würden versuchen, den Öl- und Gasreichtum auszubeuten – mit sehr unterschiedlichen Rechtsauffassungen. Vorausgesetzt, der Klimawandel geht auch in Zukunft seinen gewohnten Gang, so wird die Erwärmung des nördlichen Polarkreises nicht nur andauern, sondern sich sogar beschleunigen. Das arktische Eis wird schmelzen und die Industrie schliesslich uneingeschränkten Zugriff auf die riesigen Erdöl- und Gasfelder am arktischen Meeresgrund erhalten. Im Nordpolarmeer wird ein Viertel der weltweiten Erdölvorkommen vermutet. Bedenkt man zudem, dass die Arktis spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges politisch stabil ist, was sich von den übrigen Ölexport-Gebieten der Welt weniger behaupten lässt, dann leuchtet ein, wie wichtig die Erschliessung dieser abgelegenen Ressourcen sein wird. Die Lizenzen werden schon vergeben Indes ist weiterhin unklar, welche Staaten sich an der Förderung von arktischem Öl werden beteiligen dürfen und welche nicht. Sicher scheint nur, dass man die Mitglieder des «Arktisklubs», bestehend aus den fünf Anrainern Russland, Kanada, USA (via Alaska), Dänemark (via Grönland) und Norwegen, zu jenen Privilegierten zählen darf, die bereits heute Erdöllizenzen für Festlandsockel-Bohrungen in Küstennähe vergeben. Ob aber darüber hinaus auch andere Länder wie Deutschland oder Japan Zugang zu den Ölfeldern im noch herrenlosen Herzstück der Arktis erhalten werden, bleibt äusserst fraglich. In Europa und den USA ist man der Meinung, die Arktis sei völkerrechtlich als konventionelles Meeresgebiet zu betrachten. Folglich wäre das arktische Becken nach Abzug von Küstenmeeren, Anschlusszonen, Basislinien, Festlandsockeln und ausschliesslichen Wirtschaftszonen dem Rechtsstatus hoher See zu unterwerfen. Im Gegensatz dazu betrachten die zwei grössten Arktis-Anrainer, Russland und Kanada, das Nordpolarmeer als ein Gebiet sui generis und beanspruchen so drei Viertel der Arktis für sich – entweder als Staatsgebiet oder unter Geltendmachung ausschliesslicher Nutzungsrechte. Russlands Standpunkt blickt auf eine lange Arktis-Tradition zurück. Bereits ein 1911 erlassenes Dekret hatte den an die Arktis grenzenden Gouvernements des Zarenreiches das Recht eingeräumt, als Alternative zur Niedrigwasserlinie auch auf die äussere Kante des mit dem Festland verbundenen Schelf-Eises zurückzugreifen. Faktisch ermöglichte dieser Erlass dem Zarenreich, staatliche Gebietshoheit auf Meereis auszudehnen. In ähnlicher Weise hat auch Kanada rechtliche Modelle entwickelt, wonach in Analogie zum Antarktisvertrag Souveränität über arktisches Eis beansprucht werden sollte. Die «Ice is land»-Doktrin hat sich zwar nie durchsetzen können, ist aber durchaus nachvollziehbar. Schon der Amerikaner Robert E. Peary, der 1907 als Erster den Nordpol erreichte, hielt den festen Eisboden unter seinen Füssen für ein beanspruchbares «mehr als nur gefrorenes Wasser». Attraktives Sektorenprinzip Überlegungen zur Besiedelung der Arktis blieben gedankliche Spielereien. Praktische Bedeutung erlangten hingegen Fragen zum Gerichtsstand. 1970 hatte ein Amerikaner einen anderen Amerikaner auf einem vom kanadischen Festland abgebrochenen Eisschelf ermordet, woraufhin sowohl die kanadische als auch die amerikanische Staatsanwaltschaft Ermittlungen aufnahm. Kanada duldete letztlich die Überführung des Täters in die USA, so dass nie geklärt werden konnte, welches und ob überhaupt nationales Strafrecht auf dem Eis gelten könne. So amüsant Fragen dieser Art auch sein mögen, alle Versuche, das Eis der Arktis staatlicher Souveränität zu unterstellen, werden spätestens dann obsolet geworden sein, wenn es am Nordpol kein Eis mehr gibt. Um den arktischen Ozean am Seerecht vorbei aufzuteilen, muss man daher nicht zu «Ice is land», sondern zum Sektorenprinzip greifen. Nach diesem Modell werden vom westlichsten bis zum östlichsten Küstenpunkt des jeweiligen Arktis-Anrainers Grenzlinien zum Nordpol gezogen. In den so entstehenden dreieckigen Sektoren sollen alle Gebiete unter die Souveränität des Küstenstaates fallen. 1916 und 1924 erklärten das zaristische beziehungsweise das sowjetische Aussenministerium alle Inseln nördlich von Sibirien zu russischem Territorium. 1926 wurde dieser Claim auf alle Gebiete innerhalb des russischen Sektors ausgeweitet. In den Folgejahren stützte die UdSSR ihre Souveränitätsansprüche auf nahezu die Hälfte der Arktis, Festland und Meeresgebiete inbegriffen, auf dieses Dekret. Heute gilt vor allem Kanada als Verfechter der Sektorentheorie. * Der Autor doktoriert in deutscher Literatur und studiert zudem Jus in Tübingen. MARTIN JAKOBSSON / AP Drei amerikanische Forschungsschiffe in unmittelbarer Nähe zum Nordpol. sockel-Kommission (CLCS) die exklusiven NutNach dem Zweiten Weltkrieg wandte sich die die kleine Insel Hans, die zwischen Ellesmere zungsrechte für ein Gebiet über 200 Seemeilen Sowjetunion im Gegensatz zu Kanada vom SekIsland und Grönland in der Kennedy-Strasse, hinaus bis an den Nordpol für sich beanspruchen. torenprinzip ab und argumentiert seither immer 1000 km südlich des Nordpols, liegt. Hans selbst Möglicherweise würde Dänemark sogar noch in mehr seerechtlich. Das heisst aber keinesfalls, ist ein karger Fels von 1,3 km Grösse. Aufgrund den russischen Sektor hineingreifen können. dass Russland seine sektoralen Ansprüche auf des dänisch-kanadischen GrenzziehungsvertraDamit aber nicht genug. Auch Kanada hat ein das Meer in der Arktis aufgegeben hat. Im ges von 1973 verfügt die Insel nicht einmal über arktisches Vermessungsprogramm ins Leben geGegenteil: Karasee, Laptewsee, Ostsibirische See ein eigenes Küstenmeer. Dennoch flog im Somrufen, das untersuchen soll, ob nicht auch Ellesund Tschuktschensee sollten Teile des russischen mer 1984 der dänische Grönlandminister Höyem mere Island mit dem Lomonossow-Rücken verAquatoriums bilden. Dementsprechend verlangnach Hans und bekräftigte Dänemarks Souveräbunden ist. te Moskau ab 1967 für die Befahrung der Nordnitätsansprüche. In den letzten vier Sommern hat passage zwischen Archangelsk und Wladiwostok Dänemark – zur anfänglichen Verwunderung Und die Nicht-Anrainer? eine Nutzungsgebühr – ein Beleg dafür, dass die Kanadas und der restlichen Welt – seine SouveräRoute nicht durch Russlands Küstenmeer, sonnitätsansprüche durch militärische Präsenz verEinerseits könnten also Kanada und Dänemark dern durch seine inneren Gewässer führt, da für stärkt. Den Höhepunkt erreichte der Streit im in Russland einen gemeinsamen arktischen Gegdie zivile Durchfahrt des Küstenmeers keine beSommer 2005, als Kanada auf das dänische Manöner finden, was aber die Abkehr Kanadas vom sonderen Nutzungsgebühren verlangt werden ver hin ebenfalls Hunderte von Soldaten, mehSektorenprinzip voraussetzen würde. Andererdürfen. Die USA haben immer wieder versucht, rere Helikopter, eine Fregatte sowie einen Eisseits aber könnten Kanada und Russland, wie seit die Ansprüche Kanadas und Russlands auf deren brecher nach Hans entsandte. Zu Zugeständnisje stillschweigend vereinbart, weiter auf der geoTeile der Arktis in Frage zu stellen. sen ist bis jetzt keiner der beiden Staaten bereit. graphischen Einteilung der Arktis in Sektoren beSpäter trat die UdSSR in Verhandlungen mit Kanada stützt seinen Anspruch auf das Sektostehen, was vor allem dann in Betracht zu ziehen Norwegen und den USA hinsichtlich des gerenprinzip. Würde Kanada die Insel aufgeben, wäre, wenn Dänemark mit seinen Untersuchunnauen, mitunter von den Sektorlinien abweichenkönnte das als Präzedenzfall gegen die grundsätzgen Erfolg haben sollte. Und an dieser Stelle den maritimen Grenzverlaufs in der Barentsliche Anwendbarkeit des Sektorenprinzips gekommen schliesslich die USA ins Spiel. bzw. Beringsee. 1990 wurde schliesslich von halbdeutet werden. Dänemark wird sich letztlich auf Einer Aufteilung der Arktis nach dem Sektooffizieller Seite sogar zugegeben, dass Teile der die Ureinwohner Grönlands berufen können. renprinzip standen die Vereinigten Staaten vor Nordpassage auf hoher See lägen. Diese AufweiDenn während die kanadischen Inuit nie auch nur allem deshalb stets kritisch gegenüber, weil das chung der früheren Linie überrascht jedoch in die Nähe der Insel kamen, gehörte Hans, oder Kuchenstück Alaskas das kleinste der fünf Anraikaum. Schliesslich dachte zu Zeiten der PereTartupaluk, wie sie eigentlich heisst, zu den Jagdner ist. Das Nordpolarmeer als hohe See garanstroika noch niemand daran, wie bald schon die revieren der westgrönländischen Inughuit. tierte eine für die USA günstigere Ausgangslage Eisschmelze das enorme Rohstoff-Potenzial des Grund für das gestiegene Interesse Dänein einem eher militär- als energiepolitisch orienNordpolarmeers freilegen würde. marks an Hans ist aber keineswegs die Sicherung tierten transarktischen Schlagabtausch. DäneUnter Putin kam es dann zu einer Wende in von Jagdgründen. Vielmehr beruht Dänemarks marks Versuch, über Hans bis an den Nordpol zu der russischen Arktis-Politik. Und diese war radiAnspruch auf energiepolitischen Überlegungen. greifen, ändert jedoch die Lage Washingtons drakal. Russland mag die Arktis heute zwar nicht Hans liegt nämlich nicht auf den tektonischen matisch. Auf einmal ist das Sektorenprinzip weitmehr als innere Gewässer beanspruchen, hat aber Platten Grönlands oder von Ellesmere Island, aus vorteilhafter, als wenn die Arktis über Festzugleich auch die noch von Jelzin in Auftrag gesondern ist mit grosser Wahrscheinlichkeit mit landsockel aufgeteilt würde, zumal Alaskas eigegebenen Gesetzesprojekte zum russischen Festdem 2000 km langen Lomonossow-Rücken verner Kontinentalschelf nach Norden hin nicht der landsockel, zur Nordpassage und zu den bilaterabunden. Falls Dänemark bis 2013 der Nachweis Rede wert ist. Was aber sind die Voraussetzunlen Grenzverläufen in der Arktis verworfen. hierfür gelingt, könnte es vor der Uno-Festlandgen, dass auch andere Länder auf das Öl zugreiRusslands Claim ist dadurch noch fen können? Zum einen dürfte grösser geworden. Er erstreckt das Nordpolarmeer nicht unter sich heute auf die Exklusiv-Nutrussischer und kanadischer FeMoskau UKRAINE zungsrechte innerhalb des gesamderführung nach dem SektorenRUSSLAND ten russischen Sektors, womit prinzip aufgeteilt werden. Zum dem Zugriff anderer Staaten auf anderen dürfte für die Arktis die dort liegenden Ölvorkommen aber auch kein seerechtliches ReMurmansk ein Riegel geschoben würde. gime sui generis erarbeitet werFINNLAND POLEN BARENTSSEE Dass die Arktis ein Meer sui den. Im Gegenteil: Die GrenzFRANZSCHWEDEN Kopenhagen generis mit besonderer kulturelziehung hätte strikt nach den JOSEPHSPITZBERGEN ler, historischer und wirtschaftNormen des SeerechtsübereinBerlin NORWEGEN LAND licher Bedeutung für Russland kommens zu erfolgen. Dänemark DÄNEMARK darstelle, wiederholt Putin nicht müsste also den SouveränitätsNORDPOL SSE nur gerne selbst, er hat es auch streit mit Kanada für sich entA R T INGS seiner Partei auf die Stirn gescheiden, zugleich aber mit seiBER London schrieben. Im November 2005 hat nem nutzungsrechtlichen Claim INSEL HANS ISLAND «Einiges Russland» ihr Wahrzeiauf den Lomonossow-Rücken Dublin GRÖNLAND chen geändert. Als Symbol der scheitern. Sollten dann die USA USA neuen Nordorientierung ziert (ALASKA) bei ihrer traditionsreichen Vernun anstelle eines Braunbären bundenheit mit dem Prinzip der Thule ein Eisbär das Parteiwappen. Freiheit der Meere bleiben, stünNuuk de einer Erschliessung des arktiATLANTISCHER OZEAN Streit um eine winzige Insel schen Öls durch Nicht-Anrainer nichts mehr im Wege – ausgeAber auch auf der anderen Seite nommen das Eis. Denn was man der Arktis hat es in den letzten bei alledem natürlich nicht verJahren eine brisante Entwicklung KANADA HUDSON 0 Kilometer 1000 gessen darf: Die Arktis muss gegeben. Seit Jahrzehnten streiNZZ BAYnoch schmelzen. ten Kanada und Dänemark um