wiener mischung

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REPUBLIK
WIENER
MISCHUNG
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Benzodiazepine sind der tödlichste Stoff der österreichischen­
Drogenszene. Nun soll eine Verordnung helfen. Das Problem:
Die Dealer­sind meistens Ärzte.
Te x t : Thom a s Tr e s c h e r
Fo t o gr a f i e: C s a ba Gyönö s
M i ta r be i t : Thom a s D or e r
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datum 12/2012
Euro für zehn Tabletten,
mehr darf es nicht kosten.
„Wenn einer 20 will, sag ihm,
er soll sie sich in den Arsch schieben“, rät
der Mann im schwarzen Trainingsanzug mit den zurückgegelten Haaren. Er
steht bei der Badner-Bahn-Endstation
Karlsplatz schräg gegenüber der Wiener Oper an einem Geländer, alle paar
Minuten rattert die Straßenbahn vorbei.
Seit die U-Bahn-Passage am Karlsplatz
umgebaut wird, treffen sich hier all jene,
die brauchen oder haben. Gerade noch
hat sich beim Kebabstand ein Polizist
mit einem Döner versorgt, keine fünf
Minuten später schleichen verwahrlost
wirkende Gestalten herum, die meisten
sind auf der Suche nach Somnubene,
Rohypnol, Praxiten, Anxiolit oder kurz:
Benzos. Sie sind teuer wie nie zuvor, der
Preis am Schwarzmarkt explodiert gerade. Ein Mann sitzt auf seiner Gehhilfe,
er sieht aus wie Mitte 60, hat kaum mehr
Zähne und eine braune Kappe am Kopf.
„Wartet ihr schon lang? Ich brauch auch
welche, ich hab nur mehr Substi. Wo
sind’s denn heut, die Arschlöcher?“
Diesmal hat er Pech. Bevor ein Dealer
auftaucht, kehrt die Polizei zurück. Eine
Routineangelegenheit. Die Beamten
scherzen mit den Süchtigen, als sie wieder einmal ihre Personalien aufnehmen
und sie bitten zu gehen. Sie zu durchsuchen ersparen sie sich.
Heroin, Crack und Ecstasy kennt jeder, Benzodiazepine sind in der Öffentlichkeit nahezu unbekannt. Dabei sind
sie das größte Problem, mit dem Suchtmediziner und Drogenpolitik zu kämpfen haben. Der tödlichste Stoff, den es zu
kaufen gibt. Und die meisten Süchtigen
bekommen ihn nicht auf der Straße,
sondern von ihren Ärzten verschrieben.
177 Menschen wurden im Jahr 2011
nach einer Überdosis obduziert, bei 138
von ihnen wiesen die Pathologen psychoaktive Medikamente nach, überwiedatum 12/201215
gend Benzodiazepine. Heroin lediglich
in sieben Fällen. Da in Österreich immer seltener obduziert wird, dürfte die
Dunkelziffer höher liegen. Fakt ist: Der
„goldene Schuss“ wurde längst abgelöst
von einem Cocktail an Substanzen, deren Kombination meist zu einem HerzKreislauf-Versagen führt. Die gleichzeitige Abhängigkeit von Opiaten, Alkohol
und Benzodiazepinen ist ein österreichisches Problem – „Wiener Mischung“
wurde sie getauft.
B
enzo-Süchtige sind leicht zu erkennen. Wer in Wien regelmäßig mit
der U-Bahn fährt, kennt ihren Anblick:
blaue Lippen, orientierungslos, geistesabwesend, kaum zurechnungsfähig.
Sie wandeln umher wie Zombies. „Bei
einer hohen Dosis an Benzodiazepinen ist die Gesprächsfähigkeit eingeschränkt, Gedächtnisstörungen treten
auf, die Menschen sind sehr ungeduldig“, sagt Margit Putre. Sie leitet den
Bereich „Beratung, Betreuung, Wohnen und Versorgung“ beim Jedmayer,
der Nachfolgeeinrichtung der Drogenberatungsstelle Ganslwirt. Hier können
Spritzen getauscht werden und Patienten sich beraten lassen, auch eine Notschlafstelle mit 26 Betten gibt es. Putre
steht im Tageszentrum der Einrichtung;
hier verbringen jene ihren Tag, die ganz
unten angekommen sind. Zwei Zivildiener geben Essen und Getränke aus,
aufgeteilt in Raucher und Nichtraucher
sitzen hier bis zu 240 Menschen pro Tag
und überbrücken ihren Alltag in einer
Café-artigen Atmosphäre. „Sehr verbreitet“ sei der Benzodiazepin-Konsum
unter den Gästen, sagt Putre, meist
als Beimittel zu anderen Substanzen.
Sie deutet mit einem Nicken auf einen
Mann, der reglos an einem Tisch sitzt,
den Kopf auf der Tischplatte – „Benzodiazepine“. Benzo-Konsumenten würden nicht viel wahrnehmen, sagt Putre,
„die sind in ihrer Welt“. Selbst halten sie
sich aber für absolut fit: „Sie sind nicht
mehr in der Lage, sich aufrecht zu halten, aber das, was sie verfolgen, verfolgen sie mit einer ungeheuren Akribie.“
Wie viele Menschen süchtig nach
Benzodiazepinen sind, lässt sich nicht
sagen. Wie viele Benzodiazepine verschrieben werden, auch nicht. Laut dem
Drogenbericht 2012 sind in Österreich
zwischen 30.000 und 37.000 Menschen
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abhängig von Opiaten wie Heroin; viele davon – quasi nebenbei – auch von
anderen Substanzen wie Benzodiazepinen. Knapp 17.000 von ihnen befinden
sich in Substitutionstherapie, erhalten
ihre Opiate also aus der Apotheke. Vor
allem unter Substitutspatienten war
laut dem Bericht „in den letzten Jahren
ein Anstieg des Missbrauchs von Benzodiazepinen“ zu beobachten. Doch
nur die wenigsten von ihnen besorgen
sich ihren Stoff auf der Straße, denn er
ist in jeder Apotheke zu haben und wird
von nahezu allen Ärzten verschrieben;
meistens zusätzlich zum Substitutions-
mittel. Wie verzweifelt jene sind, die
sich am Schwarzmarkt eindecken müssen, zeigt die Gewinnspanne der Dealer: In der Apotheke kostet ein Streifen
Somnubene mit zehn Tabletten 1,50
Euro, ein Zehntel des Straßenpreises.
Nun sollen die Verschreibungen durch
Ärzte strenger kontrolliert werden.
„Tatsache ist, dass diese Medikamente bei Personen mit Opiatproblem
zu häufig verschrieben wurden und
dass die Kombination Opiate und Benzodiazepine zu oft vorkommt und zu
großen Schwierigkeiten führt“, sagt
Johanna Schopper, Nationale Drogenkoordinatorin im Gesundheitsministerium. Im Mai hat das Ministerium
neue Leitlinien veröffentlicht, die Ärzte
zu einem strengeren Umgang mit Benzodiazepinen aufrufen – verpflichtend
sind sie nicht. Das Problem könnten
sie dennoch lindern: Viele Ärzte sind
überfordert, weil Suchtkranke zu ihnen
kommen, die bereits von hohen Dosen
Benzodiazepinen abhängig sind. Weil
Suchtkranke auf „Doktor-Shopping“
gehen, also mehrere Ärzte abklappern,
um von ihnen kleinere, unbedenkliche
Benzo-Dosen zu bekommen. Und weil
Suchtkranke Rezepte fälschen. 95 Prozent der Rezeptfälschungen in Wien
betreffen Benzodiazepine.
„Der Umgang mit mehrfach substanzabhängigen Patienten ist schwierig. Wo es Grauzonen gibt oder Unklarheiten, wie mit den Patienten
umzugehen ist, versuchen wir den
Ärzten Hilfestellungen zu geben“, sagt
Schopper. Flankiert werden die Maßnahmen von einer Verordnung: Somnubene und Rohypnol, die unter Suchtkranken beliebtesten Benzodiazepine,
dürfen ab 15. Dezember nur noch mit
einer Suchtgiftvignette abgegeben werden, so wie bisher schon Opiate. Sie
wirken unmittelbar und geben einen
schnellen Kick – „schnell anflutend“
nennen das Mediziner. Die Novelle soll
Fälschungen erschweren und die Abgabe kon­t rollierbar machen.
Aber was sind Benzodiazepine eigentlich und warum haben sie Suchtkranke für sich entdeckt? Zunächst einmal sind sie einfach Beruhigungsmittel.
Sie kamen in den Sechzigerjahren auf
den Markt und wurden sofort zum Hit.
Und zwar als Valium, das gerne Hausfrauen verschrieben wurde, um sie gut
datum 12/2012
Margit Putre deutet mit einem Nicken auf einen
Mann, der reglos an einem Tisch sitzt, den Kopf
auf der Tischplatte – „Benzodiazepine“.
über den Tag zu bringen, und in der
Folge als Song der Rolling Stones, die
dem Medikament 1966 seinen Spitznamen „Mother’s Little Helper“ verpassten. Schon damals stand es im Verdacht,
nicht immer ordnungsgemäß eingenommen zu werden: „And though she’s
not really ill / There’s a little yellow pill
/ She goes running for the shelter / Of
her mother’s little helper“. Rohypnol, ein
anderes, noch stärkeres Medikament aus
der Benzo-Gruppe, machte als „DateRape-Drug“ zweifelhafte Karriere: Männer mischten es Frauen ins Getränk, um
sie betäubt und willenlos zu machen.
Die Frauen konnten sich später an nichts
mehr erinnern. Seither ist den stärksten
Benzodia­
zepinen ein Farbstoff beigemischt, um Missbrauch sofort sichtbar
zu machen: Werden sie in einem Getränk aufgelöst, verändert sich die Farbe – und weil Süchtige sie lutschen statt
schlucken, um die Wirkung zu erhöhen, verfärbt sich bei ihnen der gesamte Mundraum blau. Die Mittel können
innerhalb weniger Wochen körperlich
süchtig machen, geistig noch schneller.
Und genau das ist das Problem von
Shird-Dieter Schindler. Er nimmt sei-
nen Motorradhelm ab, legt seine rote
Aktentasche auf den Schreibtisch und
brummt sein Leid mit einer sonoren,
tiefen Stimme in seinen Vollbart.
N
icht Heroin oder Kokain, sondern
Benzodiazepine bestimmen den
Alltag des Primars der Suchtstation
im Wiener Otto-Wagner-Spital, das
im Volksmund vor allem als Baumgartner Höhe bekannt ist. Er sitzt in
einem senfgelb ausgemalten Raum des
Pavillons W, wo die Drogenambulanz
untergebracht ist; an der Wand hängen
Bilder, die Süchtige im Rahmen ihrer
Therapie gemalt haben. Rund 300 Patienten pro Jahr werden hier am Rand
der Stadt aufgenommen, wo man lange Fußmärsche zurücklegen kann und
Rehe über den Weg hüpfen.
„Bei rund 50 Prozent unserer Patienten ist eine instabile BenzodiazepinAbhängigkeit trotz Substitution der
Aufnahmegrund“, sagt Schindler. Insgesamt konsumieren etwa 70 Prozent
der Patienten seiner Station Benzodia­
zepine. Dabei seien sie „grundsätzlich keine schlechten Medikamente“.
Schindler vergleicht ihre Wirkung mit
einem Lautstärkeregler: „Man kann
das Unwohlsein zwar leiser machen,
aber nicht abdrehen. Wenn die Musik
grauslich ist, spielt sie trotzdem, nur
leiser, und sie stört weniger. Aber sie
spielt weiter. Das unterscheidet Benzodiazepine von Antidepressiva. Da
hört die Musik auf, wenn sie wirken.“
Sobald die Patienten ihre Benzos absetzen, plärrt die Musik wieder in voller
Lautstärke – und es ist nie eine schöne
Melodie. Eigentlich sollten Benzodiazepine eingesetzt werden, bis andere
Medikamente greifen. „Aber da kommt
die Wirkung vielleicht erst nach drei
Wochen. Viele unserer Patienten haben
wenig Verständnis dafür, Substanzen
zu nehmen, die nicht sofort ein gutes
Gefühl erzeugen, und setzen sie daher
nach kurzer Zeit wieder ab.“ Sind sie
dann erst einmal abhängig von Benzodiazepinen, kommen sie kaum mehr
davon los. Den Entzug würden die
Patienten als besonders unangenehm
empfinden, sagt Schindler – schlimmer
als bei Heroin, sagen viele.
A. ist einer von denen, die auf Benzos reingekippt sind und nicht mehr
davon loskommen. „Bei mir ist das
datum 12/201217
Für A. sind Drogentote
keine abstrakten
Zahlen, die mal höher
und mal niedriger sind,
sondern Freunde, die
ihn für immer verlassen
haben. „Es sind echt
schon genug gestorben.“
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Heroin nicht gefahren, dann habe ich
irgendwann Benzos probiert. Vor allem in Verbindung mit anderen Dingen
fährt das besonders“, sagt er. Er möchte
seine Geschichte erzählen, weil er will,
dass endlich jemand schreibt, was Benzos anrichten. Für ihn sind Drogentote
keine abstrakten Zahlen, die mal höher
und mal niedriger sind, sondern Freunde, die ihn für immer verlassen haben. Und eine Warnung an ihn selbst.
„Es sind echt schon genug gestorben“,
sagt er in einem kleinen Kaffeehaus in
Wien-Favoriten, in dem sonst fast nur
Pensionisten sitzen.
Fünf Tabletten Somnubene nimmt
er pro Tag, die ärztliche Höchstdosis
sind zwei. Damit ist er noch einer, der
seine Sucht halbwegs unter Kontrolle hat. Andere nehmen 20 oder mehr,
manche von ihnen jeden Tag. Das
hinterlässt Spuren. „Ich habe mir meine Zähne komplett zerstört, aber das
Schlimmste ist die Vergesslichkeit“, sagt
A. Wer ihm zuhört, merkt, wie sehr er
versucht, das Leben wieder unter Kontrolle zu bekommen, und wie schwer
es ihm fällt, die Steine wegzuräumen,
die ihm das Leben vor die Füße wirft.
Wenn es zu viel wird, braucht er mehr
Stoff, um seinen Alltag zu ertragen.
„Gebe ich zu, da habe ich dann was genommen“, sagt er ein paar Mal, als sei er
Rechenschaft schuldig. Zweimal hat er
einen Entzug versucht, zweimal wurde
er rückfällig. Aber beim zweiten Entzug
„hat sich im Kopf etwas getan“. Er versucht nun selbst, seine Benzo-Dosis zu
reduzieren, ganz langsam. Morgens nur
zwei Tabletten statt drei, der Sonntag ist
überhaupt Benzo-freier Tag.
WIENER
ZEITUNG
A
ber eigentlich geht es ihm gar nicht
um sich selbst und seine Probleme.
Es geht ihm um jene, die ihn und seine
Freunde ausnutzen. Denn die wahren
Dealer im Benzo-Handel, sagt er, sind
meist Ärzte. „Beim Schwarzen kriegst
du nur Heroin und Kokain, keine Benzos.“ Einige Ärzte würden Suchtkranken abstrus hohe Dosen an Benzodiazepinen verschreiben, aber nicht ohne
Gegenleistung: Er berichtet von einem
Arzt in seiner kleinen niederösterreichischen Heimatstadt, der von seinen
süchtigen Patienten 70 Euro pro Rezept
kassierte, um ihnen als Gegenleistung
so viele Benzos zu verschreiben wie gedatum 12/2012
datum 12/201219
wünscht. Erzählt davon, dass fast jeder
Suchtkranke in Wien seinen persönlichen Arzt habe, der ihm die gewünschte
Ration verschreibt – und dass der Name
des Arztes ihr größtes Geheimnis ist.
A. ist krank, er hat ein Suchtproblem, und vermutlich ist seine Wahrnehmung verzerrt. Er ist nicht die beste
Quelle, wenn es darum geht, Ärzten zu
unterstellen, dass sie Suchtkranke ausnutzen, um sich zu bereichern. Andrea
Vlasek dagegen ist kein Junkie, sondern
Präsidentin der Wiener Apothekerkammer. Sie reibt Daumen, Zeige- und
Mittelfinger aneinander, als wolle sie
nicht aussprechen, dass sie einigen Ärzten genau dasselbe vorwirft: mit Suchtkranken Geld zu verdienen.
I
ch kann es sicher nicht beweisen,
und man möge mich nicht dafür
gerichtlich zur Verantwortung ziehen,
aber ein Privatrezept bei einem Arzt,
der so etwas verschreibt, kostet etwas“,
sagt sie. Während ein über die Kran-
Stoff brauchte. Wie konnte eine solche
Situation entstehen? „Man hat wahrscheinlich zu lange die Augen davor
verschlossen“, sagt Vlasek.
In den USA wurde Rohypnol bereits 1996 dem Heroin gleichgestellt,
während Österreich ein Jahr zuvor in
einem Bericht des UNO-Suchtgiftkontrollrats als „Supermarkt für Benzodiazepine“ kritisiert wurde. Margit
Putre von der Betreuungsstation Jedmayer kennt das Problem, „seitdem ich
mit Süchtigen arbeite, also seit Anfang
der Neunziger“. Erst 1997 ratifizierte
Österreich eine UNO-Konvention zur
besseren Kontrolle psychotroper Substanzen – zu denen Benzodiazepine gehören – aus dem Jahr 1971; die Wiener
Mischung aber gibt es bis heute.
Dass Österreich nichts getan hat,
will Norbert Jachimowicz, der Substitutionsreferent der Ärztekammer, trotzdem nicht hören: „Das Problem wurde
kontrovers diskutiert. Es gab auch in der
Wissenschaft zwei Standpunkte: Es gibt
Fischer wiederholt noch einmal, was sie seit Jahren
predigt: „Es gibt keine Notwendigkeit, Benzos an
Substitutionspatienten zu verschreiben.“
kenkasse verschriebenes Rezept abgegeben wird und letztlich auch bei der
jeweiligen Krankenkasse landet, bleibt
ein Privatrezept beim Apotheker. Bei
Privatrezepten unterliegen Ärzte keiner
Kontrolle. „Wenn man das auf Kassenrezept exzessiv verschreibt, würde es
der Krankenkasse auffallen. Dann hätte der betreffende Arzt vielleicht einen
Erklärungsbedarf. Deshalb wandert es
auf die Privatrezepte ab“, sagt Vlasek.
Die Apotheken leiden seit Jahren
unter den exzessiven BenzodiazepinVerschreibungen einiger Ärzte. Hinter
vorgehaltener Hand erzählt ein Apotheker davon, dass er abends vor seiner
Wiener Apotheke regelmäßig mit dem
Besen leere Somnubene-Packungen
wegkehren musste, weil sie die Patienten gleich vor der Apotheke eingenommen hatten. Eine andere Apothekerin berichtet von einem Süchtigen,
der während eines Nachtdienstes fast
durch ein kleines Fenster in die Apotheke geklettert wäre, weil er seinen
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jene, die sagen, die Leute schlucken das,
wir müssen ihnen helfen und es kontrolliert verschreiben. Und die anderen,
die sagen, Benzodiazepine interessieren
uns nicht, das verschreiben wir nicht.
Aber das ist auch eine unbefriedigende
Lösung.“ Mit der Novelle der Suchtgiftverordnung, die Verschreibungen
kontrollierbar macht und missbräuchliche Verschreibungen abstellen sollte,
ist er aber auch nicht restlos zufrieden.
Er möchte seinen Kollegen in der Ärzteschaft überhaupt die Möglichkeit
nehmen, Somnubene und Rohypnol
zu verschreiben: „Mein Fernziel ist es,
diese Substanzen vom Markt zu nehmen“, sagt Jachimowicz. „Das ist eine
Substanz, die wir in der medizinischen
Behandlung nicht unbedingt brauchen.“
An der Frage, wie es überhaupt zum
Problem des massenhaften Benzodiazepin-Missbrauchs unter Suchtkranken
kam, scheiden sich die Geister bei den
Experten. Es ist eine Henne-oder-EiFrage: War die Benzo-Abhängigkeit zu-
erst da oder ist sie durch Fehlverschreibungen der substituierenden Ärzte
entstanden? Sind also Benzodiazepine
ein Problem, das sich die Ärzte selbst
geschaffen haben? „Es gibt ganz wenige Erkrankungen, die es rechtfertigen,
dass man Benzodiazepine längerfristig
verschreibt“, sagt Gabriele Fischer. Die
Suchtmedizinerin und Psychiaterin
sitzt an einem vollgeräumten Besprechungstisch in ihrem Büro im Wiener
Allgemeinen Krankenhaus und wiederholt noch einmal, was sie seit Jahren
predigt: „Es gibt keine Notwendigkeit,
Benzodiazepine an Substitutionspatienten zu verschreiben.“
Laut einer Studie aus dem Jahr 2008
nehmen trotzdem 60 bis 90 Prozent der
Substitutionspatienten
irgendwann
auch Benzodiazepine. Fast alle bekommen sie von einem Arzt. Fischer spricht
von „Fehlverschreibungen in einem
gigantischen Ausmaß“. Und „weil diese Patienten eine Suchtstörung haben,
kommt es zu einer Dosissteigerung und
Missbrauch“. Die Süchtigen, so ihre
These, werden von ihren Ärzten von
einem Medikament abhängig gemacht,
das sie eigentlich gar nicht nehmen sollten. Eine Theorie, die auch Shird-Dieter Schindler vom Otto-Wagner-Spital
stützt: „Unsere Zahlen zeigen, dass die
Substitution und der BenzodiazepinKonsum oft in einer relativen zeitlichen
Nähe beginnen.“ Sprich: Ein massiver
Benzo-Konsum stellt sich erst mit der
Substitutionstherapie ein. Und die Substitution ist nicht das einzige Problem:
„Es werden Benzodiazepine auch im
Alkoholentzug eingesetzt. Wenn der jedoch nicht klappt, ist die Wahrscheinlichkeit relativ häufig, nachher zwei
Abhängigkeiten zu haben.“
Wie auch immer das Problem
entstanden ist, man wird lernen müssen, damit umzugehen. Während bei
der Substitutionstherapie das Ziel ist,
Suchtkranke auf einem bestimmten
Niveau zu stabilisieren, heißt es bei
Benzos: weg davon, und zwar komplett.
„Benzodiazepine sind viel schädlicher
als Opiate. Die Leute bauen massiv
geistig ab. Das sind irreversible Schäden“, sagt Norbert Jachimowicz. Die
Chance, von Benzodia­
z epinen loszukommen, liegt bei 15 bis höchstens 20
Prozent. Für die meisten Süchtigen ist
es daher längst zu spät.
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STADT WIEN
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