Kinder mit belastenden Erfahrungen verstehen, begleiten, stärken. Dr. phil. Maria Teresa Diez Grieser Fachpsychologin für Psychotherapie FSP Marie Meierhofer Institut für das Kind www.mmi.ch Basel, 30. September 2014 Was hilft den Fachpersonen? Selbstreflexion „Du musst nicht immer wissen, was zu tun ist, aber du könntest bemerken, was du schon tust.“ Entwicklungspsychologisches Wissen Wissen um Belastungen/Traumata sowie Schutzprozesse Handlungsmöglichkeiten Grundlagen Kindliche Entwicklung ist „ein Geflecht von Entwicklungslinien“ (Tyson und Tyson, 1997). Die kognitive, die affektive, die psychosexuelle und die soziale Entwicklung beeinflussen sich gegenseitig. Jenseits dieser verschiedenen Entwicklungsstränge ist die Beziehung mit anderen Menschen das zentrale übergeordnete Thema der kindlichen Entwicklung. Diez 2014 Biopsychosocial ecological system (Sameroff, 2010) Geopolitische Ebene Gesellschaft Familie Eltern Schule Child Kind Child GG C Peers Intelligenz Psychische Gesundheit Soziale Kompetenz Biologie Diez 2014 Transactional relations (Sameroff, 2010) Äussere Regulation Selbst-Regulation Entwicklung Diez 2014 Grundlagen Die kindliche Entwicklung wird durch positive und negative Wirkungsmechanismen gesteuert. Es gibt schützende Faktoren und Risiken. Diez 2014 Risikoerhöhende Bedingungen Risikomildernde Bedingungen Diez 2014 Risikofaktorenkonzept Risikofaktoren werden als krankheitsbegünstigende, risikoerhöhende und entwicklungshemmende Merkmale definiert, von denen potentiell eine Gefährdung der gesunden Entwicklung des Kindes ausgeht (Holtmann & Schmidt, 2004). Nicht jeder Risikofaktor stellt „automatisch“ eine Entwicklungsgefährdung dar. Schwerwiegend ist die Häufung von Belastungen (u.a. Petermann et al., 2004). Diez 2014 Risikoerhöhende Bedingungen Kindbezogen (primäre Vulnerabilität) Phasen erhöhter Vulnerabilität Umgebungsbezogen (Risikofaktor) Sekundäre Vulnerabilität Belastungen Diez 2014 Schutzfaktorenkonzept Schutzfaktoren werden als Merkmale beschrieben, die das Auftreten einer psychischen Störung oder einer unangepassten Entwicklung verhindern oder abmildern sowie die Wahrscheinlichkeit einer positiven Entwicklung erhöhen (Rutter, 1990). Schutzfaktoren dürfen nicht als das Gegenteil oder als das Fehlen von Risiken verstanden werden. Diez 2014 Risikoerhöhende Bedingungen Kindbezogen (primäre Vulnerabilität) Phasen erhöhter Vulnerabilität Risikomildernde Bedingungen Umgebungsbezogen (Risikofaktor) Kindbezogen Sekundäre Vulnerabilität Resilienz Belastungen Umgebungsbezogen (Schutzfaktor) Kompetenz Ressourcen Diez 2014 Entwicklungsförderliche Bedingungen Schutzfaktoren: Kindbezogen • Günstige biologische Faktoren für Impulskontrolle, Handlungsplanung, Emotionsregulation bei Stress • Personale Kompetenzen: Selbstregulation (+), Motivation, Lernen, Kommunikationsfähigkeit • Soziale Kompetenzen (+++) • Aktives, positives Temperament (++) • Intelligenz (+) • Problemlösefähigkeiten / aktives Bewältigungsverhalten (+++) • Selbstwirksamkeit (+++) Diez 2014 Elterliche und familiale Schutzfaktoren • Mindestens eine stabile Bezugsperson, die Vertrauen und Autonomie fördert. (+++) • Zugewandtes, anregendes Erziehungsklima mit festen und klaren Verhaltensregeln („autoritativ“ +++) • Zusammenhalt, Stabilität und konstruktive Kommunikation in der Familie (+++) • Positive Geschwisterbeziehungen (++) • Hohes Bildungsniveau der Eltern • Qualität der Beziehung der Eltern (++) • Hoher sozioökonomischer Status der Eltern • Unterstützendes familiäres Netzwerk (Verwandtschaft, Freunde) – (+++) Diez 2014 Schutzfaktoren im weiteren sozialen Feld • Kompetente und fürsorgliche Erwachsene ausserhalb der Familie (Erzieherinnen, Lehrerinnen, Nachbarn) - (+++) • Kontakte zu Gleichaltrigen (+) • Qualität der Angebote der Familienbildung, Erziehungsberatungsstellen, Frühförderstellen (+++) • Gute Arbeits- und Beschäftigungsmöglichkeiten • Vorhandensein prosozialer Rollenmodelle, Normen und Werte in der Gesellschaft Diez 2014 Zusammenspiel zwischen risikomildernden und risikoerhöhenden Bedingungen (Petermann et al., 2004) Risikoerhöhende Bedingungen Kindbezogen (primäre Vulnerabilität) Phasen erhöhter Vulnerabilität Risikomildernde Bedingungen Umgebungsbezogen (Risikofaktor) Kindbezogen Sekundäre Vulnerabilität Umgebungsbezogen (Schutzfaktor) Resilienz Belastungen Kompetenz Ressourcen Bilanz: Belastungen vs. Ressourcen Diez 2014 Entwicklungsförderliche Bedingungen Traumatische Erlebnisse Risikoerhöhende Bedingungen Kindbezogen (primäre Vulnerabilität) Phasen erhöhter Vulnerabilität Umgebungsbezogen (Risikofaktor) Risikomildernde Bedingungen Traumatische Erlebnisse Sekundäre Vulnerabilität Kindbezogen Resilienz Umgebungsbezogen (Schutzfaktor) Kompetenz Ressourcen Belastungen Bilanz: Belastungen vs. Ressourcen Anpassung vs. Fehlanpassung Diez 2014 Entwicklungsförderliche Bedingungen Definitionen Trauma „Ein psychisches Trauma ist ein Ereignis, bei dem die Fähigkeit einer Person, ein minimales Gefühl von Sicherheit und Integration zu entwickeln, zerstört wird oder verloren geht und das überwältigende Angst und Hilflosigkeit zur Folge hat“. (Streeck-Fischer 2009, S. 2) Diez 2014 Traumata im Kindesalter Grundsätzlich muss bei Traumata im Kindesalter Folgendes berücksichtigt werden: Stand der kognitiven, affektiven, psychosexuellen und sozialen Entwicklung nebst angeborenen/ erworbenen somatischen Faktoren Art und Intensität des Traumas Wechselwirkung zwischen Belastung und Schutzfaktoren Diez 2014 Folgen von Trauma Erste Reaktionen auf ein Trauma können unmittelbar nach dem Ereignis auftreten, können aber auch bis zu mehreren Wochen, Monate und sogar Jahre später beginnen. Erhöhte Herzfrequenz Erhöhter Blutdruck Neuronale Veränderungen durch ständige Stimulation des Nervensystems Diez 2014 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) • Wiedererleben: Von Ängsten begleitetes unfreiwilliges Wiedererinnern des traumatischen Ereignisses (Bilder, Albträumen, Flashbacks). • Vermeidung/emotionale Taubheit: Vermeiden von Auslösern (Dinge, Situationen), die an das Trauma erinnern, allgemeiner Rückzug, Interesselosigkeit • Übererregung: Schlafstörungen, Schreckhaftigkeit, erhöhte Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen Diez 2014 Einteilung der Traumata Zeitaspekt • Typ I Trauma (plötzliches Trauma) • Typ II Trauma (erstreckt sich über einen längeren Zeitraum) Art des Traumas • Man-made - von anderen Menschen verursacht • Unfälle, Naturkatastrophen, Kriege • Lebensgefährliche Krankheiten • Verlust eines Angehörigen, subjektive Bedrohungen Diez 2014 Traumatypen nach Terr Typ – I - Trauma Einzelnes, unerwartetes, traumatisches Erlebnis von kurzer Dauer. z.B. Verkehrsunfälle, Opfer/ Zeuge von Gewalttaten, Naturkatastrophen. Öffentlich, benennbar Symptome: Meist klare Wiedererinnerungen, Vollbild der PTBS, Hauptemotion = Angst Eher gute Behandlungsprognose Diez 2014 Typ I Trauma Typ I oder Schocktrauma wird detailliert erinnert, abgesehen von Wahrnehmungsverzerrungen, die durch die akute Traumareaktion bedingt sind. Kinder finden oft magische Erklärungen für das Geschehen solange sie aufgrund ihrer kognitiven Entwicklung noch nicht imstande sind, die oft komplexen Zusammenhänge zu durchschauen und den Einfluss des Zufalls zu berücksichtigen. Folge sind Schuldzuschreibungen oft an die eigene Person. Diez 2014 Traumata im Kindesalter Nicht alle Betroffenen eines traumatischen Ereignisses erkranken davon psychisch. Risikogruppe Selbstheiler Wechselgruppe Diez 2014 Zu den Gruppen Selbstheiler: überstehen die traumatische Erfahrung ohne klinische Folgen. Behandlung: Aufklärung und vorbeugende Interventionen mit Selbsthilfeinformationen Wechselgruppe: Heilungsverlauf abhängig von der sozialen Unterstützung: Gute Unterstützung: Selbstheiler Schwache Unterstützung: Risikogruppe Behandlung: Psychotraumatologische Fachberatung wichtig. Diez 2014 Traumatypen nach Terr Typ II-Trauma Serie miteinander verknüpfter Ereignisse oder lang andauernde, sich wiederholende traumatische Erlebnisse. Körperliche sexuelle Misshandlungen in der Kindheit, zwischenmenschliche Gewalterfahrungen, Vernachlässigung etc.. Nicht öffentlich; Geheimnis Symptome: Nur diffuse Wiedererinnerungen, starke Dissoziationstendenz, Bindungsstörungen, komplexe PTBS Sekundäremotionen (z.B. Scham, Ekel) Schwerer zu behandeln Diez 2014 Die komplexe posttraumatische Belastungsstörung (Typ II nach Terr) Häufig durch vielfache Traumatisierungen durch nahe Bezugspersonen (z.B. Misshandlungen) Traumawirkungen • Störungen in der Regulation von Affekten und Impulsen • Störungen der Wahrnehmung oder des Bewusstseins (Dissoziation, Depersonalisation) • Störungen der Selbstwahrnehmung • Störungen in der Beziehung zu anderen Menschen • Somatisierung • Veränderung von Lebenseinstellungen Diez 2014 spezifisch bei traumatisierten Vorschulkindern • Übererregung, Überwachsamkeit, Hyperaktivität, • Angst gegenüber Reizen, die der traumatischen Situation ähneln, • Erhöhte Erregung/Angst, wenn von primärer Bezugsperson getrennt, • Verlust oder verminderte Fähigkeit, emotionale Zustände selber zu regulieren, • Verlust erworbener (kommunikativer) Fähigkeiten • Spielen vermindert/beeinträchtigt, posttraumatisches Spiel • Erhöhtes Bedürfnis nach Kontrolle Diez 2014 Posttraumatisches Spiel (PTP) • Charakteristika (Terr, 1983): Repetitiv, angetrieben, ernsthaft/grimmig. • Es fehlt die Freude, Spontaneität und Dynamik des nicht traumatischen kindlichen Spiels. • Im posttraumatischen Spiel wiederholt das Kind spezifische Aspekte des erlebten Traumas auf zwanghafte und ritualisierte Art und Weise. • Während des posttraumatischen Spiels wird das Kind häufig von Angst und anderen negativen Gefühlen überflutet (Myers et al., 2011). Diez 2014 Traumata und Eltern/Kind-Beziehung • Ungelöste traumatische Erfahrungen der Eltern haben einen starken Einfluss auf die kindliche Entwicklung (u.a. Papousek, 2006). • Kinder können durch ihre Verhaltensweisen traumatische Erfahrungen und die dazugehörigen Affekte bei ihren Eltern wachrufen (u.a. Brisch, 2013). Es können so Teufelskreise entstehen, die sich als Cotraumatische Prozesse verfestigen können (Pleyer, 2004). Unterstützung, Beratung bzw. Behandlung der Eltern sehr wichtig. Diez 2014 Handlungsebenen im pädagogischen Alltag 1. Verhalten des Kindes beobachten, Auslöser „Trigger“ herausfinden und notieren, eigene Gefühle dazu beobachten und notieren. 2. Verstehen – Hypothesen über das Verhalten des Kindes bilden, andere Gründe für das Verhalten in Betracht ziehen, eigene Wahrnehmung überprüfen und sich Unterstützung holen z.B. Fachgespräch in einer Beratungsstelle gemeinsam zu einer Einschätzung kommen und Handlungsschritte planen. 3. Handeln: pädagogische Unterstützung des Kindes. Das Begreifen der Symptome im Zusammenhang mit der Entwicklungsgeschichte des Kindes. Diez 2014 Folgerungen für den Umgang mit den Kindern Allgemeine Aspekte Sicherheit herstellen! Festhalten an normalen (Tages-)Abläufen. Vermeidung von unnötigen Trennungen von wichtigen Bezugspersonen. Geschützte Räume für das Kind sind nötig (z.B. Krippe), wo es in seiner Spielfreude, Körper-, Selbst- und Fremdwahrnehmung unterstützt wird. Begleitung der Mutter/Eltern-Kind-Beziehung. Evtl. Behandlung des Kindes. Diez 2014 Folgerungen für den Umgang mit den Kindern im professionellen Setting Kontrolle, soweit wie möglich, dem Kind übergeben (schützende Begleitung, „sichere Orte“). Toleranz für Regressionen und „bizarre“ Verhaltensweisen. Vermeidung des Wiedererlebens des Traumas (posttraumatisches Spiel, Re-Inszenierungen). Eigene Gefühle reflektieren und einbeziehen. Stärken von Fähigkeiten und Kompetenzen. Selbstregulation unterstützen. Diez 2014 Erfahrungen werden lebenslang überarbeitet und durch nachfolgende Erfahrungen modifiziert (Erdheim, 1993). Diez 2014