www.bern.kriso.ch [email protected] Gesundheits-­‐ und Fürsorgedirektion des Kanton Bern Herrn Regierungsrat Dr. P. Perrenoud Rathausgasse 1 3011 Bern Bern, Juli 2015 Stellungnahme zu der Vernehmlassung zur Änderung des Gesetzes über die öffentliche Sozialhilfe Sehr geehrter Herr Regierungsrat Sehr geehrte Damen und Herren Die KRISO ist eine unabhängige und offene Plattform für kritische Soziale Arbeit. Wir fördern ein kritisches Berufsverständnis durch Diskussionen, Austausch und Aktionen. Wir sind eine Gruppe von Studierenden und Berufstätigen der Sozialen Arbeit und anderen Disziplinen, welche aus einer gesellschaftlichen und politischen Perspektive heraus handeln. Als Tätige im Bereich der Sozialhilfe sehen wir uns verpflichtet, unsere Erfahrungen aus dem Berufsalltag sowie unsere Erkenntnisse aus den fachlichen Diskussionen innerhalb der KRISO in Form dieser Vernehmlassungsantwort wiederzugeben. Grundsätzliche Kritikpunkte Die Frage, weshalb es in einem reichen Land wie der Schweiz Menschen gibt, die unter dem Existenzminimum leben und deshalb auf Unterstützung angewiesen sind, wird mit dem Fokus des Gesetzgebers auf strengere Rahmenbedingungen für die einzelnen Betroffenen völlig außer Acht gelassen. Wo bleibt die gesellschaftliche Verantwortung? Weil eine übergeordnete Strategie zur Armutsbekämpfung fehlt, wird nicht die Armut bekämpft sondern die Armutsbetroffenen. Scheinargument Kosten: Der starke Fokus auf die Eigenverantwortung des Individuums kann langfristig kaum zu einer Kostenreduktion führen. Im Gegenteil. Armutsbetroffene -­‐ 1 -­‐ erfüllen die Anforderungen des Arbeitsmarktes oft nicht mehr. Durch Kürzungen werden diese Menschen doppelt bestraft, ohne dass ihnen eine reale Alternative zur Sozialhilfe eröffnet wird. Wenn das Geld für die Teilhabe am sozialen Leben nicht mehr ausreicht, nehmen chronische Krankheiten, psychische Probleme, Verschuldung und Kriminalität zu. Dies führt zu Mehrkosten in anderen Bereichen. Abkehr von Solidarität und Gleichbehandlung: Das neue Gesetz will innerhalb der Sozialhilfe spezifische Personengruppen definieren und diese unterschiedlich behandeln können. Dies erinnert stark an die Zustände im Mittelalter, als zwischen würdigen und unwürdigen Armen unterschieden wurde. Sind wir über die Jahrhunderte wirklich nicht weiter gekommen? Bei der Diskussion um Eigenverantwortung und Hilfe zur Selbsthilfe geht vergessen, dass die Ursachen von Armut nicht beim Individuum liegen sondern strukturelle Gründe haben. Diese müssen gemeinsam gelöst werden und können nicht dem Einzelnen aufgebürdet werden. Hinzu kommt, dass viele Armutsbetroffene mit ihrer Situation schlicht überfordert und auf Hilfe angewiesen sind. Wir müssen anerkennen, dass eine steigende Anzahl Menschen den Anforderungen der Leistungsgesellschaft nicht mehr gewachsen ist. Für eine gesellschaftliche Perspektive Im vorliegenden Gesetzesentwurf sind in erster Linie Verschärfungen vorgesehen. Dies hängt mit den beschlossenen Sparmaßnahmen zusammen, welche nun umgesetzt werden müssen. In der Diskussion zu den dem Gesetze zugrunde liegenden Motionen wird das selbstverantwortliche Individuum ins Zentrum gestellt. Durch den Fokus aufs Individuum kommen weder die gesellschaftliche Verantwortung für Integration oder Reintegration noch die strukturellen Rahmenbedingungen zur Sprache. Der Sozialhilfebezug wird somit nicht als ein gesellschaftliches, sondern als ein individuelles Versagen aufgefasst. Wir stehen heute Entwicklungen gegenüber, welche dazu führen, dass immer mehr Menschen von der Sozialhilfe abhängig werden; Veränderungen in Sozialversicherungen (IV, ALV), immer weniger Arbeitsplätze für Personen mit wenig beruflichen Qualifikationen, Löhne welche für eine Familie nicht ausreichen (Working-­‐Poor), Zunahme von Scheidungen und Alleinerziehenden, etc. Sozialhilfe hat sich längst von einer kurzfristigen Überbrückung von Notlagen zur materiellen Lebensgrundlage „ökonomisch überflüssigen“ Menschen gewandelt. Damit eine wahrhaftige Diskussion über das selbstverantwortliche Individuum geführt werden könnte, müssten aber zuerst Rahmenbedingungen geschaffen werden, welche, trotz den vielfältigen Mechanismen sozialer Ungleichheit1, eine tatsächliche Chancengleichheit ermöglichen allen voran die Bildung. Dies ist heute aber noch nicht der Fall. Im Gegenteil. Aus diesem Grund plädieren wir als KRISO für eine gesellschaftliche Perspektive welche die Probleme im Gesamtkontext betrachtet. 1 Ausführungen hierzu vgl. Bourdieu, P. (1987). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag. -­‐ 2 -­‐ Gegen die Angriffe und Kürzungen im Sozialbereich Wie die Präambel unserer Bundesverfassung besagt, misst sich die Stärke des Volkes am Wohle der Schwachen. Von diesem Grundsatz kommen wir als Gesellschaft aber immer mehr ab. Die Sozialhilfe wird von Jahr zu Jahr restriktiver ausgestaltet. In den Revisionen 2005, 2006 und 2011 wurde nicht nur der Grundbedarf gekürzt sondern auch die Sanktions-­‐ und Anreizsysteme verstärkt. Dahinter steht die Annahme des Gesetzgebers, dass der Mensch nur mit finanziellen Anreizen zu dem von ihm gewünschten Verhalten oder Zustand geführt werden kann. Die Annahmen dieser Bestrebungen stammen aus der „Workfare“ – Ideologie, wie sie Kurt Wyss2 beschrieben hat. „Workfare“ meint das arbeitsmarktpolitische Konzept des Aktivierenden Sozialstaats, welcher für sämtliche Leistungen eine Gegenleistung einfordert. Die sozialhilfebeziehenden Menschen werden dabei durch die Behörden nach ihrer Arbeitsmarktfähigkeit eingestuft. Um zusätzlich finanziellen Anreiz zu schaffen werden die sogenannten Integrationsaktivitäten finanziell belohnt. Falls jedoch eine von der Behörde als arbeitsfähig eingestufte sozialhilfebeziehende Person eine für sie „zumutbare“ Integrationsleistung nicht erbringt, kann ihr der Grundbedarf gekürzt werden. Liniger3 zeigt in seiner Bachelor-­‐Arbeit auf, dass die Integration in den Arbeitsmarkt durch die Workfare-­‐Politik kaum gelingt. Vielmehr wird dadurch aber die Illusion aufrechterhalten, dass eine Integration möglich ist, wenn sich die Betroffenen nur genügend anstrengen würden. Bedürftigkeit wird so einmal mehr zum selbstverschuldeten Scheitern, strukturelle Ursachen bleiben unbeachtet. Die Politik nimmt sich mit der Bewirtschaftung dieser Ideologie aus der Verantwortung. Weiter unterliegt dem Sanktions-­‐ und Anreizsystem ein vereinfachtes Menschenbild. Der Mensch funktioniert demnach wie die Ratten aus den Tierversuchen der Verhaltenspsychologie4, welche von den Stromstößen zu einem anderen Verhalten motiviert werden. Dieses Menschenbild ist in den Sozialwissenschaften mittlerweile aber überwunden und wiederlegt. Anhand von psychologischen und soziologischen Theorien5 konnte gezeigt werden, dass es nebst monetären Anreizen vielfältige und gewichtigere Faktoren für das menschliche Handeln gibt. Aus fachlicher Sicht bedeutend sind hier vor allem Sinnstiftung und Loyalität. Sinn meint intrinsische Motivation, also in den eigenen Handlungen einen Sinn zu sehen. Loyalität meint die selbstgewählte Verpflichtung gegenüber einer Gemeinschaft, also das Gefühl irgendwo dazuzugehören und der Wille, etwas für diese Gemeinschaft zu leisten. Diese Faktoren werden durch finanzielle Anreize und Sanktionen nur bedingt beeinflusst oder können gar negativ beeinflusst werden. 2 Wyss, K. (2013). Sozialstaatliche Repression im Dienst des globalisierten Kapitalismus. Zürich: edition 8. 3 Liniger, G. (2015). Reproduktion der Arbeitskraft durch Workfare. Bern: Edition Soziothek. 4 Vgl. hierzu Universität Duisburg-­‐Essen (n.d.). Operante Konditionierung nach Skinner. Abgerufen von https://www.uni-­‐due.de/edit/lp/behavior/skinner.htm 5 Hierzu gibt es in sowohl in der Psychologie wie auch in der Soziologie vielfältige Motivationstheorien. Vgl. hierzu bspw. die Anomietheorie bei Merton (Merton, R.K. (1949a). Social Theory and Social Structure. New York: The Free Press). -­‐ 3 -­‐ Unterstützung von Menschen in prekären Lebenslagen Wir fordern eine sozial integrierende Unterstützung für Menschen in prekären Lebenslagen, ohne Zwangsmassnahmen und Stigmatisierung. Unserer Meinung nach soll die Sozialhilfe dazu da sein, dass sich Armutsbetroffene gestützt auf einer gesicherten Grundversorgung in ihrer schwierigen Lebenslage genügend abgesichert wissen, um sich neu zu orientieren und eine Verbesserung ihrer Situation in Angriff nehmen können. Ressourcen dafür sind, angesichts der Gewinne der Unternehmen, genügend da. Die „leeren Kassen“ der Gemeinden, Kantone und des Bundes sind politisch gewollt. Sie sind Ausdruck der neoliberalen Ideologie und Wirtschaftspolitik, welche sämtliche Bereiche menschlichen Lebens privatisieren will und der Verwertungs-­‐ und Marktlogik zu unterwerfen versucht. Die KRISO Bern lehnt die Revision des Sozialhilfegesetzes vollumfänglich ab. Vielmehr fordern wir, dass die strukturellen Ursachen von Armut angegangen werden. Ein erster wichtiger Schritt hierfür würde die Schaffung eines nationalen Sozialhilferahmengesetzes mit entsprechenden Wirkungszielen darstellen. Weiter fordern wir unabhängige, niederschwellige Fachstellen für Sozialhilfe. Wir sehen, unter anderem in Folge des sozialpolitischen Drucks, die Menschen-­‐ und Grundrechte von Sozialhilfebeziehenden vermehrt in Frage gestellt. Die Berichte der Ombudsstelle der Stadt Bern zeigen, dass es zu Fehlentscheiden durch Sozialhilfeorgane kommen kann.6 Das sozialhilferechtliche Beschwerdeverfahren weist einige Hürden und Benachteiligungen auf.7 Obwohl ein guter Rechtsschutz für Sozialhilfebeziehende besonders nötig wäre, ist das Beratungsangebot hier aber ungenügend.8 Wir danken Ihnen für die Kenntnisnahme und Berücksichtigung unserer Argumente. Freundliche Grüsse KRISO Bern 6 Flückiger, Mario. (2010). Tätigkeitsbericht 2009 an den Stadtrat [PDF]. Abgerufen von http://www.bern.ch/stadtverwaltung/ombudsmann/taetigkeitsberichte Flückiger, Mario. (2011). Tätigkeitsbericht 2010 an den Stadtrat [PDF]. Abgerufen von http://www.bern.ch/stadtverwaltung/ombudsmann/taetigkeitsberichte Flückiger, Mario. (2013). Tätigkeitsbericht 2012 an den Stadtrat [PDF]. Abgerufen von http://www.bern.ch/stadtverwaltung/ombudsmann/taetigkeitsberichte 7 Heusser, Pierre. (2009). Rechtsschutz: Für die Schwächsten zu schwach. Plädoyer, 1/09, 34-­‐42. Heusser, Pierre. (2010). Sozialhilfe zu viele Hürden für die Schwächsten. Pro Mente Sana Aktuell, 3/10, 17-­‐19. 8 Müller, Sophie & Wüthrich, Andrea (2014). Benachteiligungen im System der Sozialhilfe. Verlag Edition Soziothek. Abgerufen von http://www.soziothek.ch/benachteiligungen-­‐im-­‐system-­‐der-­‐sozialhilfe -­‐ 4 -­‐