10.2. Der Familie kann man nicht entrinnen, aber

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10.2. Der Familie kann man nicht entrinnen, aber man kann sie neu erfinden.
Harald Welzer zeigt, wie sich Ereignisse in der Erinnerung von Familien verändern
Familie ist von zentraler Bedeutung für unser Selbstverständnis und für das, was wir erinnern.
Harald Welzer hat am Freitag mit seinem Vortrag über „Familiengedächtnisse“ die zweite
Psychotherapiewoche abgeschlossen. Er ist Soziologie und Politologie, 2002 hat er unter dem Titel
„Opa war kein Nazi“ Gesprächsprotokolle herausgegeben, die für Diskussionen sorgten. Denn sie
zeigen, dass das Familiengedächtnis unzuverlässig ist. Das, was weitergegeben und erinnert wird,
verändert sich von Generation zu Generation. Dahinter steht keine böse Absicht. Es scheint
vielmehr einem grundlegenden Bedürfnis zu entsprechen, Ereignisse so zu erzählen, dass man mit
ihnen leben kann.
Allen Individualisierungstendenzen zum Trotz ist die Familie von großer Wichtigkeit. Man bat
Teilnehmer einer soziologischen Untersuchung, auf einer Lebenslinie Geschehnisse einzutragen, die
für sie bedeutsam waren. Aufgeführt wurde der Tod der Oma, der Kauf eines Hauses, die Geburt
des ersten Kindes – das war offenbar wichtiger als die Stationen der beruflichen Laufbahn.
Menschen sind auf Interaktionen angelegt und angewiesen. Harald Welzer: „Menschen kommen nur
im Plural vor, sie sind nur innerhalb von Beziehungen denkbar.“ Er fragte: Warum ist das Gehirn
des Menschen so groß? Warum denken Menschen so viel, anstatt Vernünftiges zu tun wie andere
Lebewesen auch? Und antwortete: Weil wir soziale Wesen sind, die auf funktionierende
Interaktionen angewiesen sind. Wir wissen, wer sich wie verhält und aus welchen Gründen. Unser
soziales Gedächtnis ist hoch differenziert, und weil die Gruppe entscheidend ist für unser
Überleben, sind wir in der Lage, die Sichtweise anderer Menschen zu verstehen.
Unser Gehirn ist also auf Kooperation eingestellt. Wir sind heute zwar der Meinung, dass die
meisten unserer Handlungen von individuellen Entscheidungen getragen sind, aber wenn man
genau hinschaut, so Welzer, dann geschieht wenig unabhängig vom sozialen Kontext, in dem wir
uns bewegen. Wir wollen mit unseren Handlungen nicht gern aus dem Rahmen fallen. Ein Zeichen
dafür sei die Wichtigkeit von Statussymbolen. Auch wenn niemand etwas davon hat, wenn einer mit
einem Geländewagen durch die Stadt fährt, ist es doch bedeutsam für das Bild, das er anderen von
sich vermitteln will.
Die Familie ist die Gruppe, in die wir hineingeboren werden und in der wir aufwachsen. Hier wird
erzählt, interpretiert, bewertet. Die Vorstellungen, die wir vom Zweiten Weltkrieg haben, werden
von Eltern und Großeltern vermittelt, und erst später ergänzt durch das, was wir im
Geschichtsunterricht hören und durch die Medien erfahren.
Mitglieder einer Familie wurden unabhängig voneinander befragt zu Ereignissen des Zweiten
Weltkriegs. Eine alte Bäuerin erzählte, dass sie aufgefordert worden sei, ehemalige KZ-Häftlinge
auf dem Hof aufzunehmen, sich aber geschickt aus der Affäre gezogen habe, indem sie Juden sagte,
sie habe bereits Russen aufgenommen, und Russen, dass sie Juden untergebracht habe. Ihr Sohn
erzählte, dass seine Mutter einen Flüchtling unter Einsatz ihres Lebens in einem Fass versteckt
habe. Der Flüchtling sei nicht entdeckt worden, weil sie einen Topf mit heißer Suppe auf das Fass
gestellt habe. Auch die Enkelin erzählte nur davon, dass die Oma jemanden gerettet habe. Welzer:
„Die Unschärfe ist notwendig und funktional – jede Generation gibt das in das Familiengedächtnis
rein, was sie braucht.“ Und so wird eine Oma erfunden, mit der man leben kann, und ein Opa, der
zwar Soldat, aber auch Widerstandskämpfer war. Welzer flapsig: „Das ist okay, dass die Enkel die
Großeltern umdesignen. Historiker finden das doof, aber wen stört das?“
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