Zur Entwicklung der Psychogenese

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Originalarbeit
Zur Entwicklung der Psychogenese-Konzepte
n
H. Böker
Zentrum für Depressions- und Angstbehandlung, Klinik für Affektive Erkrankungen und Allgemeinpsychiatrie Zürich Ost,
Psychiatrische Universitätsklinik
Summary
Böker H. [The development of psychogenesis concepts.] Schweiz Arch Neurol Psychiatr 2006;157:
203–11.
This overview focuses on the development of
modern psychogenesis concepts and their theoretical background and origin.The psychogenetical
concepts and their association with unconscious
conflicts in the 19th century are presented in a historical review. Freud developed a systematic psychopathology of conflicts, which continued with
the emergence of psychoanalytical theories. Psychodynamics as a theory of intrapsychic processes
aims at understanding the role of unconscious conflicts in the development of psychic disorders (and
the psychopathology of everyday life). The sedimented life history of early childhood was believed
to be an important factor in understanding the
origin of mental illness.The intrapsychic dimension
of conflict was increasingly enlarged to include
the interpersonal dimension (internalised object
relationships). Ego- and self-psychology led to
the conceptualisation of structural ego-disturbances and of the dynamic link between structural
deficit and conflict. This finally gave way to the
concept of multidimensional diagnostics. In view of
the variety and complexity of individual processes
and symptoms, and the belief that individual cases
cannot simply be categorised, earlier assumptions
that symptoms result from specific conflicts were
rejected. Nevertheless, it seemed clinically practicable to adopt ideal types of constellations. In
the context of a three-dimensional model for psychic disorders, symptoms may be related to the
actual conflict, the structure of personality and
the processing mode of defence and compensation. A further subject-oriented theory of psychic
disorders was developed in the framework of
anthropologic psychiatry, addressing the connection between how the illness is subjectively expeKorrespondenz:
PD Dr. med. Heinz Böker
Psychiatrische Universitätsklinik
Lenggstrasse 31
CH-8032 Zürich
e-mail: [email protected]
203
rienced and how the illness is actually diagnosed.
Similar models relating to the development of
the vulnerability concept emerged later, and further concepts derived from system theoretical
approaches centring around the idea of “homoeostasis” were presented. Another development was
the family therapeutic model, which considered the
patient’s family environment and relationships.
This dimension plays a significant role in the
formation of binding constellations and was one
of the key factors in the discussions concerning
different models for psychic disorders. Moving
away from introspection, in the context of behaviourism, a laboratory paradigm was developed,
explaining the brain as a “black box”. This was
finally superseded by the turn towards cognitivism.
The past ten years have seen a greater focus on
affective processes in the context of experience.
The latest developments concerning binding
theory, affect theory and neuroscience and their
role in the creation of today’s multidimensional
psychogenesis models are discussed. Psychosis as
the result of the combination of circular somatic
and psychic processes in the brain, and depression
as the result of such combined processes in the
drive-mood system are just two examples of the
attempts to explain the complex interactions
involved. However, integrating neurobiological
findings – albeit a worthwhile and important challenge – should not be the primary focus of attention, neglecting prolific clinical tradition. Moreover, methodological limitations should also be
considered.
Keywords: psychogenesis; psychodynamics;
binding theory; affect; neuroplasticity; “embedded
brain”
Einleitung
Die Aufgabe Ätiologie-spezifischer Krankheitskonzepte in den modernen psychiatrischen Klassifikationssystemen und die beeindruckende Entwicklung der Neurowissenschaften trugen dazu
bei, dass psychogenetische Konzeptionen seelischer Krankheit in den vergangenen Jahrzehn-
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Konflikt als pathogenetisches Element
in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts
entgegenwirkende romantische Verklärung und
Mystifizierung der dunklen, geheimnisvollen, unbewussten Seite der Seele erlebte in der Philosophie und Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts einen späten Höhepunkt (vgl. [3]).
Das Thema Konflikt in der vorpsychoanalytischen Ära (in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts)
wird im folgenden skizzenhaft beleuchtet (vgl. [4]):
Pinel (1745–1826) und Esquirol (1772–1840)
[5] kannten die Pathogenität des Kampfes zwischen den Leidenschaften (der Triebe) und den
Grundsätzen der Religion, Moral und Erziehung.
Heinroth (1793–1843) übersetzte und kommentierte Esquirols Kapitel zur Ätiologie der
Seelenstörungen (1827) und hob die wechselseitigen psycho-physischen Abhängigkeiten dieses
konflikthaften Geschehens in seiner Bedeutung für
die Entwicklung von Seelenstörungen hervor.
Ideler (1795–1860) entwickelte eine differenzierte psychodynamische Psychologie und Psychiatrie. Idelers Konzeptualisierungen sind auch aus
heutiger Perspektive beeindruckend aktuell. So
geht er von einem «Antagonismus der Gemutstriebe» ([6], S. 534), von «zwiespältigem Gemutszustand» ([6], S. 515) und von «logischen Widersprüchen des Bewusstseins» ([6], S. 518) aus. Auch
im zweiten Teil seines Werkes setzt sich Ideler [7]
mit dem «inneren Zwiespalt im Gemut», dem
«Kampf der unterdruckten Triebe gegen den vorherrschenden Trieb» ([7], S.213) und dem «Widerstreit der Gefühle» ([7], S. 215) auseinander.
Carus (1789–1869) war ein Repräsentant der
Romantik: Er deutete alles Lebendige als Manifestation der göttlichen Idee und war der idealistischen Tradition von Plato bis Schelling verpflichtet. Das spätere topische Modell der Psychoanalyse
vorwegnehmend, unterschied Carus ein absolutes
Unbewusstes von einem relativen Unbewussten,
das temporär wieder Bewusstseinsfähiges bezeichnete. Alles bewusste Seelenleben bilde sich aus
dem Unbewussten allmählich hervor ([8], S. 81).
Hagen (1814–1888) deutete «fixe Ideen»
(gemeint sind relativ stabile Wahnbildungen) als
aus «unbewusstem Act» der Erklärung, Deutung
stammend, welcher Akt zum Beispiel unerträgliche
Angst erträglicher macht, «eine Lücke füllt» ([9],
S. 57).
Meyer (1827–1900)1 entwickelte modern anmutende Thesen zur Entstehung von Geisteskrankheiten. Die Stimmung stelle die zentrale
Kategorie des Seelenlebens dar (vgl. [11]).
Freuds Psychologie des Konflikts war wie viele
andere Konzepte der Psychoanalyse zeitgeschichtlich vorbereitet. Die dem einseitigen Rationalismus des späten 18. und des 19. Jahrhunderts
1 Dank gilt Dr. med. H. Kayser (Zürich) für seine ergänzenden Anmerkungen zum Werk von Ludwig Meyer. Meyer
hatte insbesondere auch eine nachhaltige Bedeutung im
Zusammenhang mit der «no restraint»-Bewegung [10].
ten zunehmend in den Hintergrund traten. Auf
den ersten Blick mutet es nun paradox an,
dass gerade auch die Erkenntnisse neurowissenschaftlicher Forschung zur Neuroplastizität des
Gehirns zu einem erneuten Interesse an psychogenetischen Konzepten beigetragen haben. Diese
– scheinbare – Paradoxie regt zu einer Auseinandersetzung mit der historischen Entwicklung
der Psychogenese-Konzepte an. Der folgende Beitrag vermittelt einen historischen Überblick und
geht insbesondere auf die aktuellen Entwicklungen
(in der Bindungstheorie, Affekttheorie und den
Neurowissenschaften) ein. Wesentliches Ziel ist
es, den theoretischen Bezugsrahmen aufzuzeigen,
innerhalb dessen moderne Psychogenese-Konzepte entwickelt werden können.
Die Spannbreite des Themas erfordert mehrfache Einschränkungen: Dieser Überblick schliesst
die Entwicklung der Psychogenese-Konzepte im
19. und 20. Jahrhundert ein. Die für die Entwicklung der Krankheitskonzepte der Psychiatrie massgeblichen Auseinandersetzungen um die LeibSeele-Problematik können an dieser Stelle nicht
diskutiert werden (vgl. [1]).
Der Giessener Psychiater R. Sommer [2] definierte den Begriff «psychogen» als:
– in der Psyche selbst begründet;
– psychische Störungen, die nicht Folge einer
Körpererkrankung sind, sondern in der Eigengesetzlichkeit des Seelischen begründet sind
und auf nichts anderes als Seelisches zurückgeführt werden können;
– mit aktuellen oder früheren Erlebnissen zusammenhängend («erlebnisbedingt», «lebensgeschichtlichbedingt»).
In vielfacher Hinsicht ersetzt «psychogen» den
älteren Begriff «hysterisch». Psychogenie, das
heisst die Entstehung seelischer Erkrankungen
oder abnormaler seelischer Zustände durch seelische Ursachen (Erlebnisse), wurde für ein sehr
breites Spektrum seelischer Erkrankungen postuliert (psychogene Störungen): Amnesie, Anfälle,
«Ausfallserscheinungen», Bewusstseinstrübung,
Blindheit, Dämmerzustand, Depression, Halluzinationen, Lähmung, «Masseninduktion», psychotische Episoden, Schiefhals, Sehstörungen, «Tod»
und Torticollis.
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Bei James (1842–1910) findet sich das Thema
des Konfliktes im Zusammenhang mit der Erörterung unterschiedlicher Selbstzustände im Kapitel
«The consciousness of self» ([12], S. 291f.). Er
unterscheidet beim «experiental self» (me) ein
«bodily self» (Körper und materieller Besitz), ein
«social self» (soziale Bezüge) und ein «spiritual
self» (subjektives, religiös-spirituelles Bewusstsein).
Griesinger (1817–1868) beschrieb den «traurigen Zwiespalt im Bewusstsein», den «heftigen
inneren Kampf», der «ein[en] Riss in das Ich»
entstehen lassen könne ([13], S. 170). Er verband
die pathogene Konfliktträchtigkeit mit den «psychischen Ursachen der Geisteskrankheiten».
Janet (1859–1947) entwickelte seine psychodynamischen Konzepte unter nachhaltig wirksamen Begriffen wie Psychasthenie, Hysterie, idées
fixes, dissocation, automatismes psychologiques. In
Janets Sicht war die psychasthenische Persönlichkeit disponiert, unter den Belastungen des Lebens
in unbewusste Mechanismen zu verfallen (psychologischer Automatismus).
E. Bleuler (1857–1939) setzte sich mit dem
Konflikt verschiedener Strebungen im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zum Negativismus und der Ambivalenz Schizophrener auseinander (vgl. [14]).
Die systematische Psychopathologie
des Konfliktes
Das Konzept des Unbewussten, des unbewussten
Konfliktes und die Triebtheorie sind die Grundpfeiler des psychoanalytischen Verständnisses der
psychischen Wirklichkeit des Menschen. Sie gehören zusammen, bedingen einander und sind lediglich zwei verschiedene Gesichtspunkte, unter denen
die Psychoanalyse psychische Wirklichkeit betrachtet und untersucht. Zusammen bilden sie eine Theorie der frühesten und drängendsten Wünsche, der
Phantasien und Konflikte des Menschen, wie sie
sich vor allem in seiner Sexualität und Aggression
und seinem Streben nach Selbstbehauptung ausdrücken (vgl. [3]).
Freuds nüchterner Begriff des Unbewussten,
der einen konkreten Sachverhalt in einem wissenschaftlichen Konzept fasste, trug zu einer Entmystifizierung der romantischen Verklärung des
Unbewussten durch die damalige Philosophie und
Literatur bei. Zu Recht unterstreicht Müller-Pozzi
[3]: «Nicht dass, sondern wie Freud vom Unbewussten zu sprechen begonnen hat, hat alle Welt
herausgefordert. Dass er das Unbewusste aus dem
Bereich unverbindlicher schöngeistiger Spekula-
205
tion und literarischer Deskription herausholte, es
konkretisierte, konfliktualisierte und zum Gegenstand eines psychologisch-wissenschaftlichen Diskurses machte, trug ihm die Kritik und Ablehnung
der Dichter und Philosophen einerseits, der Ärzte
und Psychologen andererseits ein» (S. 55).
Die systematisierte Psycho(patho)logie des
Konfliktes von Freud [15], «menschliches Verhalten unter dem Gesichtspunkt des Konflikts
betrachtet», charakterisiert das wissenschaftsgeschichtliche Paradigma der Psychoanalyse: «Wir
wollen die Erscheinungen nicht bloss beschreiben
und klassifizieren, sondern sie als Anzeichen eines
Kräftespiels in der Seele begreifen» ([15], S. 62).
Zur Entwicklung psychoanalytischer Modelle
Das ursprüngliche Modell Freuds bestand in der
Traumatheorie der Neurose. Nach dieser Theorie
resultiert die Neurose aus der Unfähigkeit, mit
einem überwältigenden Affekt, der in einer
traumatischen Situation entstanden ist, fertig zu
werden. Gelingt eine affektive Abreaktion und
weitere Verarbeitung eines solchen, in einer spezifischen Situation entstandenen akuten Affektes
nicht, so bleibe dem Individuum keine andere
Wahl, als diesen Affekt und die damit assoziierten
Gedanken und Erinnerungen zu verdrängen. In
der weiteren Entwicklung des Individuums reaktivieren Assoziationen, die verdrängte Elemente
erwecken, zugleich auch den nicht abreagierten
Affekt, so dass erneute und stärkere Verdrängungen erforderlich werden: «Das psychische Trauma
respektive die Erinnerung an dasselbe, wirkt nach
Art eines Fremdkörpers, welcher noch lange Zeit
nach seinem Eindringen als gegenwärtig wirkendes
Agens gelten muss …» ([16], S. 87).
Die Traumatheorie der Neurose wurde in der
weiteren Entwicklung der Psychoanalyse nicht
aufgegeben, sondern modifiziert und schliesslich
auch mit dem «strukturellen Modell» (Ich, Es,
Über-Ich) erfasst (vgl. [17], S. 78f.). In diesem
Zusammenhang geht es nicht so sehr um das
einzelne, akute Trauma und dessen Verarbeitung,
sondern insbesondere um die Konzeptualisierung
sequentieller, chronischer Traumatisierungen im
Sinne existentieller Verunsicherungen und/oder
gravierender Frustrationen von vitalen Grundbedürfnissen (z.B. wiederholter Frustrationen des
Kontaktbedürfnisses, der Autonomiebestrebungen
oder einer konstanten, Sicherheit und Wärme vermittelnden Beziehung). Vor diesem Hintergrund
bleibt auch die Verknüpfung von Trauma und
Konflikt weiterhin bestehen, das heisst, die angstvolle, schmerzliche Erfahrung hinterlässt eine
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vermehrte Angstreaktionsbereitschaft, die ihrerseits eine schnelle Mobilisierung von Abwehrmechanismen zur Folge hat. Dieser Bewältigungsprozess blockiert im weiteren Verlauf das bewusste
Erleben und trägt letztlich auch zu einer Verfestigung des Konfliktes bei.
Das Konfliktmodell der Psychoanalyse setzt
ein intaktes Ich voraus, das über alle wesentlichen
Ich-Funktionen verfügt, die allenfalls konfliktbedingt in bestimmten Bereichen vorübergehend
eingeschränkt sein können und nach Lösung
des Konfliktes wieder zur Verfügung stehen. Ausgangspunkt des Konfliktmodells ist die auslösende
Situation, eine Versuchungs- oder Versagungssituation, durch die der Betreffende in einen
aktuellen inneren Konflikt gerät, der Angst auslöst.
Der aktuelle Konflikt knüpft an einem ungelösten
infantilen Konflikt an, der aktualisiert wird, so dass
die gegenwärtige Situation unbewusst genauso
erlebt wird, wie die frühere, lang zurückliegende.
Beim Versuch, die angstauslösende konfliktuöse
Situation zu lösen, tritt eine Ich-Regression ein,
die zur Mobilisierung infantiler Abwehr- und
Bewältigungsmechanismen beiträgt. Im gleichen
Zuge kommt es ebenfalls zu einer Objekt-Regression, das heisst, die wesentlichen Bezugspersonen
werden verzerrt oder im Hintergrund des infantilen Konfliktes wahrgenommen. Die Betreffenden
betrachten die Situation mit dem Verstand des
Erwachsenen, sie fühlen aber mit der Seele des
Kindes. Im Falle der neurotischen Symptombildung misslingt dieser Bewältigungsversuch, das
neurotische Symptom entwickelt sich als Folge
eines unzureichenden Kompromisses zwischen
andrängenden Wünschen und verinnerlichten
Normen bzw. Verboten sowie den Ansprüchen
der Realität.
Struktureller Mangel und Selbstpathologie
Die klinische Realität legt eine grundsätzliche
Zweiteilung zwischen den klassischen «Psychoneurosen» (z.B. Phobien) und den Auffälligkeiten
des Erlebens und Verhaltens nahe, die Kohut [18]
unter dem Sammelbegriff der «Selbstpathologie»
zusammengefasst hat. Während bei den Psychoneurosen der Konflikt und dessen neurotische
Verarbeitung im Vordergrund stehen, ist der Grad
und die Art der Selbststörung (Ich-Schwäche), der
mangelhaften Entwicklung des Selbstsystems
und der labilen Selbstwertregulation massgebend. Der Bereich der Selbstpathologie umfasst
die narzisstischen Störungen im engeren Sinne,
die Borderline-Persönlichkeitsorganisation und
die Psychosen. Der strukturelle Mangel bzw. die
206
Ich-Schwäche werden als Folge von Konflikten
aus frühen Entwicklungsstufen aufgefasst. Diese
tragen zu einer Verzerrung und einem Stillstand
der Entwicklung des Selbst bei. Sie sind nicht
mit Hilfe des Dreiinstanzenmodells (Es, Ich, ÜberIch) zu konzeptualisieren. Die frühen pathologischen Konflikte und ihre Folgen sind in der Regel
schwerwiegender, weil sie die Struktur und Konsistenz des Selbst nachhaltig beeinflussen.
Die objektbeziehungstheoretischen Modelle
[19–21] versuchen psychische Störungen nicht
mehr auf der Grundlage des Trieb-Abwehr-Paradigmas zu erfassen, sondern beziehen sie in einer
Mehr-Personen-Perspektive auf die Schicksale
der Bezogenheit des Menschen. Konflikte werden
als Folge der Verinnerlichung von frühen Beziehungserfahrungen aufgefasst. Die nachhaltige
Bedeutung dieser Erfahrungen, die das Selbst in
den Beziehungen zu seinen wichtigsten Bezugspersonen sammelt, wurde von der Selbst-Psychologie [18] weiter spezifiziert. Das Versagen der
primären Bezugsperson, der es nicht gelingt, die für
das Selbst des Kindes essentiellen Bedürfnisse
nach der Beziehung zu einem «Selbstobjekt» zu
befriedigen, und die Enttäuschung der Idealisierungswünsche des Kindes und seines Bedürfnisses,
an der Ruhe und Sicherheit seiner idealisierten
Eltern teilzuhaben, tragen entscheidend zur
Entwicklung der Störungen der narzisstischen
Homöostase und der damit verknüpften seelischen
Erkrankungen (z.B. Depressionen) bei.
Zusammenfassend hat die Psychoanalyse verschiedene Modelle entwickelt, um die Psychogenese der Symptome zu verstehen. In der ursprünglichen triebtheoretischen Sichtweise wurden Konflikte als Folgen von Reifungsprozessen
(im Zusammenhang mit der Triebnatur des Menschen) aufgefasst und als Ursachen hysterischer,
phobischer und zwanghafter Störungen («funktioneller Ich-Störungen») angesehen. Die Ichpsychologische Perspektive der Psychoanalyse
fokussierte auf die Erforschung von Ich-Funktionen und eine präzise Ich-strukturelle Diagnostik
struktureller Ich-Störungen (Synonym: frühe IchStörung, präödipale Störung) und die Einschätzung des Niveaus der Ich-Organisation [22–24].
Entwicklungsmässige Defizite in der Entwicklung
der Ich-Funktionen wurden als Ursachen präpsychotischer/psychotischer, psychosomatischer
und Borderline-Störungen angesehen.
Nachdem erkannt worden war, dass die Annahme der Konfliktspezifität psychischer Störungen, das heisst einer spezifischen Kombination
von Psychogenese, Konfliktart, Abwehrmechanismus und Symptomen, vielfach nicht aufrecht
zu erhalten war [25], wurde eine mehrdimensio-
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nale Diagnostik angestrebt. Auch angesichts der
Vielfalt individueller Entwicklungsprozesse und
Symptombildungen und der Einsicht, dass sich der
Einzelfall letztendlich jeglicher Kategorisierung
entzieht, schien es aus Gründen klinischer Praktikabilität dennoch bedeutsam, idealtypische Konstellationen zu beschreiben. Vor diesem Hintergrund schlug Mentzos [17] ein «dreidimensionales
Modell seelischer Störungen» (Konflikt, Struktur,
Modus der Verarbeitung) vor.
Der anthropologische Krankheitsbegriff
Anthropologische Krankheitsmodelle gehen in
erster Linie von der Frage aus, inwieweit Erkrankungen nicht beliebige – lediglich als Fakten
hinzunehmende und in ihren Bedingungsmechanismen aufzuschlüsselnde – Vorkommnisse darstellen, sondern inwieweit sie sich vielmehr aus
dem Wesen des gesunden Lebens heraus verstehen
lassen [26]. So ging Wyss [27] von der Diskrepanz
aus, die nicht selten zwischen Befund und Befinden
zu beobachten ist. Der «anthropologisch erweiterte Krankheitsbegriff» zielte darauf, «subjektives
Krankheitserleben und nachgewiesene Krankheit
in ein adäquates Verhältnis zueinander zu setzen»
[27]. Unterschiedliche «Fliessgleichgewichte» [28,
29] erweisen sich als störbar und in unterschiedlicher Weise als Disposition zu den bekannten
Krankheitsformen. In der Fokussierung auf die
Dysregulation von Prozessen, deren Gleichgewicht
von vitaler Bedeutung ist, verweist der Begriff
«Störung» auf Vorgänge, die sich am Rande der
Dekompensation bewegen. Psychische «Krankheit» verweist überdies auf Störungen im Austausch mit der Umwelt (auf somatischer und
psychosozialer Ebene). Vergleichbare Modelle
wurden im weiteren Verlauf im Zusammenhang
mit der Entwicklung des Vulnerabilitätskonzepts
von Zubin und Spring [30] und weiteren systemtheoretischen Konzepten [31] vorgeschlagen, bei
denen die Idee eines «Fliessgleichgewichtes» [28]
aufgegriffen wurde.
Das familientherapeutische Krankheitsmodell
und das Modell interpersonaler Abwehr
Das familiäre und partnerschaftliche Umfeld des
Erkrankten wurde durch das familientherapeutische Krankheitsmodell ins Auge gefasst. Nicht
mehr der einzelne Patient wurde als krank angesehen, sondern die Familie [32–35] und/oder die
Konstellation der Partnerschaft [36]. Die paarund familiendynamische Dimension repräsentiert
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einen bedeutsamen Teilaspekt im Geflecht der
Bedingungskonstellationen und trug zu einer
Dynamisierung des Krankheitsbegriffes (zugunsten von Störungsmodellen) bei.
Das Lern- und Verhaltensmodell
Innerhalb des Behaviorismus wurde die Psychologie als Naturwissenschaft aufgefasst, die auf einer
«objektiven Methode», in Abgrenzung zur Introspektion, beruhte und auf die Heranziehung innerpsychischer Vorgänge zur Erklärung von Verhalten
verzichtete [37]. Alles Verhalten wurde in Reiz
und Reaktion zerlegt (Stimulus-Response); als
Reiz wurde jede Veränderung in der äusseren
Umwelt oder im Inneren des Individuums aufgefasst, die auf physiologischen Vorgängen beruht;
als Reaktion fasste der sogenannte «molekulare»
Behaviorismus jegliche Aktivität auf. Das Interesse
konzentriert sich ausschliesslich auf Prozesse, die
sich zwischen Organismus und Umwelt abspielen.
Dabei wird der Organismus als «Black Box» betrachtet.
Skinner [38] lenkte das Forschungsinteresse
von Reiz-Reaktions-Ketten im Sinne der S-RPsychologie weg hin zum operanten Verhalten.
Im Mittelpunkt des Interesses stand nicht mehr
das respondant-genannte Verhalten auf der Basis
der klassischen Konditionierung, sondern das
operante Verhalten, mit dem es einem Organismus
gelingt, seine Umwelt zu beeinflussen und zu verändern. Ein besonderes Interesse galt der Analyse
jener Verstärker, von denen Verhalten nach radikal-behavioristischer Auffassung abhängt.
Die kognitive Wende
Die Kritik des Behaviorismus zielte insbesondere
auf die vollständige Vernachlässigung der nichtnaturwissenschaftlichen Einflüsse auf das Verhalten (sozialer Strukturen, Kultur, Tradition) und
die fehlende Übertragbarkeit der Ergebnisse von
Laborstudien (mit weitreichender Kontrolle aller
Einflussfaktoren auf das Verhalten) auf Menschen.
Erkenntnisse aus der Ätiologie unterstrichen den
grossen Erklärungswert der Vererbung für gegenwärtiges Verhalten.
Der in den 1960er und 1970er Jahren aufkommende Kognitivismus betrachtete innerpsychische
Vorgänge als Informationsverarbeitungsprozesse,
mit denen sich Vorgänge wie Auffassung, Lernen,
Planen, Einsicht und Entscheidungen erklären
lassen. Eine besonders wichtige Rolle spielen in
den kognitiven Entwicklungstheorien Lernpro-
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zesse als Austauschvorgänge mit der Umwelt
(vgl. [39]).
Die kognitive Wende trug schliesslich dazu bei,
dass der Behaviorismus (S-R-Theorien) durch den
Ansatz der Informationsverarbeitung verdrängt
wurde (kognitivistische Theorien). Sie wurde unter
anderem durch die Entwicklung der Informationstheorie, Untersuchungen zur künstlichen Intelligenz, die formale Linguistik (Chomski) und kognitive Handlungstheorien ausgelöst.
Bindungstheorie
Die Bindungstheorie betrachtet das Bedürfnis des
Menschen nach Bindung an andere als eine biopsychische Motivation. Die Qualität früher Bindungsbeziehungen und realer Erfahrungen mit
Bezugspersonen bildet dabei die Bausteine der
repräsentationalen Welt. In der Sichtweise der
Bindungstheorie sind Entwicklungsschicksale
als Resultate der Befriedigung bzw. Frustration
basaler Bindungsbedürfnisse aufzufassen, psychische Störungen als Folgen der Störungen des
Bindungssystems. Bowlby [40] definierte die
Bindungstheorie als Methode, «… die Neigung
des Menschen, intensive affektive Bindungen an
bestimmte andere Personen zu entwickeln, zu
konzeptualisieren und die durch ungewollte
Trennung und Verlust ausgelösten zahlreichen
Formen, in denen sich emotionaler Kummer und
Persönlichkeitsstörungen einschliesslich Angst,
Wut, Depression und emotionale Distanziertheit
manifestieren, zu erklären» (S. 201). Die Grundannahmen der Bindungstheorie [41, 42] berücksichtigen ein Veränderungspotential, das lebenslang für schädliche oder günstige Einflüsse offen
bleibe [43].
Die Bindungsforschung hat unter anderem
Folgeerscheinungen von Traumatisierungen beschrieben, die häufig mit einem desorganisierten
Bindungsmuster, einer erhöhten Neigung zu Dissoziationen [44] und mit der späteren Entwicklung
depressiver Erkrankungen einhergehen [45]. Voraussetzungen der Entwicklung einer sicheren
Beziehung im Zusammenhang mit der interpersonalen, affektiven Feinabstimmung wurden von
Stern [46, 47] beschrieben. Stern rückte den «Gegenwartsmoment» (now moment) in das Zentrum
der Psychotherapie und machte ihn zur Grundlage
therapeutischer Veränderungsprozesse.
Neuere Studien fokussieren auf die Transmission von Psychopathologie, die psychosoziale Entwicklung von Kindern und Anpassungsprozesse
[48].
208
Affekttheorie und Emotionsforschung
Affekte lassen sich als Teil einer komplexen
Gruppe von dynamischen Prozessen auffassen,
die allesamt im Dienste der Anpassung stehen. Sie
sind die zentrale Schnittstelle neurobiologischer
und psychosozialer Dimensionen und haben insbesondere eine kommunikative Funktion. So lässt
sich die Entwicklung der Fähigkeit, Gefühle wahrzunehmen, zu kommunizieren und zu regulieren,
als entscheidender Vorgang der Entwicklung in
der frühen Kindheit auffassen (vgl. [49]). Es konnte
gezeigt werden, dass nonverbale emotionale Austauschvorgänge in Form intuitiv wahrgenommener
affektiver Kommunikationen persistieren.
Die Emotionsforschung spielt in der Entwicklungspsychopathologie und in der klinischen
Forschung eine zunehmend wichtige Rolle (vgl.
[50–52]). Inzwischen liegt eine Vielzahl von Studien hinsichtlich teilweise interaktionell erzeugter
risikoträchtiger Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster bei der Entwicklung depressiver Erkrankungen und später schizophren Erkrankter vor (Übersicht in [53]). Die Arbeitsgruppe um Krause [54]
konnte mit Hilfe des Mimikparadigmas das gestörte emotionale Wechselspiel zwischen schizophrenen und gesunden Kommunikationspartnern
zeigen und die Bedeutung auch äusserst kurzer und
scheinbar belangloser mimischer Schlüsselreize für
die Dialogsteuerung erläutern.
In emotionspsychologischer beziehungsweise
affekttheoretischer Perspektive wurde vorgeschlagen, psychische Störungen im Kontext mangelnder Reziprozität, gescheiterter Intentionalität und mangelnder Kontingenzerfahrungen zu
konzeptualisieren (vgl. [55]).
Neuroplastizität, Gedächtnis und Phantasie
Vielfältige Ergebnisse der Entwicklungsneurobiologie weisen darauf hin, dass das Gehirn ein
selbstorganisierendes System darstellt und dass
die Selbstorganisation des heranreifenden Gehirns
im Kontext einer Beziehung zu einem anderen
Selbst, «einem anderen Gehirn», erfolgt ([56],
S. 60). Angesichts der nachhaltigen Bedeutung
affektiver Austauschprozesse kann von der «sozialen Konstruktion des menschlichen Gehirns»
[49, 56, 57] («embedded brain» [58]) gesprochen
werden. In dieser Modellvorstellung werden
psychologische und biologische Sichtweisen zusammengeführt; die Organisation der Gehirnsysteme wird als Resultat einer Interaktion zwischen genetisch kodierten Programmen für die
Bildung von Strukturen und von Verbindungen
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zwischen Strukturen und Umwelteinflüssen betrachtet.
Neuroplastizität beruht dementsprechend auf
neuronalen Reorganisationsvorgängen, die in
Abhängigkeit von den zu verarbeitenden Signalen
sowie den internen Funktionszuständen vonstatten
gehen. Es werden ständig neue neuronale Verbindungen geknüpft, um Eingangssignale besser
verarbeiten zu können («neuronal sprouting»).
«Erfahrungsabhängige Reifung» [59] geht einher mit der Entwicklung komplexer Affektregulierungsfähigkeiten und einer allmählichen Verlagerung von der äusseren auf die innere Regulation,
d.h. Emotion wird zu Beginn durch andere reguliert, im Laufe der frühen Entwicklung erlangt aber
die Selbstregulierung eine zunehmend grössere
Bedeutung.
Die Rekonstruktion der wahrgenommenen
Realität mit Hilfe von Modellen, die in Gedächtnissystemen gespeichert wird («die erinnerte
Gegenwart» [60]) hat Implikationen für die Psychotherapie. Sie ermöglicht es, sich der verinnerlichten Modelle bewusst zu werden, die die
Lebenserfahrungen beherrschen und die Gegenwart wie die Vergangenheit erscheinen lassen
[61].
Das «Wiedererleben» persönlicher Erlebnisse
([62], S. 40) wird durch das episodische Gedächtnis
ermöglicht. Gerade auch im Hinblick auf die
psychische Organisation und Verarbeitung traumatischer Erfahrungen ist hervorzuheben, dass
«unbewusste episodische Erinnerungen» nicht als
Erfahrungen existieren, solange sie nicht durch
das gegenwärtige Selbst reaktiviert werden. Die
Wiederherstellung der Repräsentationsfunktion
(u.a. durch Containing), die Überwindung der
Dissoziation (durch Reintegration der nicht repräsentierbaren Affekte in die Objektbeziehungen)
und die Entwicklung von Symbolisierungsfähigkeit
und Phantasie sind dementsprechend wesentliche
Ziele der Traumaverarbeitung.
in der Genese psychischer Störungen (und der
Psychopathologie des Alltagslebens) zielt. Die
sedimentierte Lebensgeschichte der frühen Kindheit wurde als dispositioneller Hintergrund seelischen Krankseins aufgefasst.
Im weiteren Verlauf der Entwicklung psychoanalytischer Theorien wurde die intrapsychische
Dimension durch den Einbezug der interpersonalen Dimension (internalisierter Objektbeziehungen) erweitert. Ich-Psychologie und SelbstPsychologie ermöglichten insbesondere auch die
Konzeptualisierung struktureller Ich-Störungen
und der Zusammenhänge zwischen strukturellem
Defizit und Konflikt.
In deutlicher Abkehr von der Introspektion
wurde im Rahmen des Behaviorismus ein Laborparadigma entwickelt, innerhalb dessen das Gehirn als «Black Box» aufgefasst wurde. Vor diesem
Hintergrund hat die «kognitive Wende» innerhalb
des Kognitivismus eine besondere Bedeutung
hinsichtlich der erneuten Hinwendung zu erlebnishaften Zusammenhängen. Aktuelle Entwicklungen in der Bindungstheorie, der Affekttheorie
und den Neurowissenschaften ermöglichen die
Entwicklung multimodaler Perspektiven. Dementsprechend basiert die Aktualität psychogenetischer Konzepte auf einem mehrdimensionalen
Zugang. Pragmatische Annäherungen an die Komplexität solcher Wechselwirkungszusammenhänge
stellen zum Beispiel das Modell der Psychose als
Psychosomatose des Gehirns [63] und der Depression als Psychosomatose der Antriebs-Stimmungssysteme [64–66] dar. Der Versuch der Integration
unter anderem neurobiologischer Erkenntnisse
sollte dabei jedoch nicht zur Aufgabe einer reichen
klinischen Tradition führen. Erinnert sei schliesslich auch an methodische Limitierungen und das
diesbezügliche Diktum aus der Autobiographie
Jaspers ([67], S. 13): «Wer etwas über die Psyche
sagt, der muss wissen, was man weiss, wie man es
weiss und was man nicht weiss.»
Ausblick
Literatur
Im historischen Rückblick wird deutlich, dass psychogenetische Konzepte bereits vor Freud in der
Psychiatrie des 19. Jahrhunderts mit der Annahme
eines unbewussten Geschehens verknüpft waren.
Eine systematische Psychopathologie des unbewussten Konfliktes wurde schliesslich von Freud
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