Wie Europas Regierungen die Kriterien umgehen

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Wie Europas Regierungen die Kriterien umgehen
Dass der Maastrichter Vertrag ein abenteuerliches Risiko darstellte, war von Anfang an
absehbar. Jetzt ist er auch noch zum Ärgernis geworden, zu einer permanenten Beleidigung
der Intelligenz der Bürger. Hier eine unvollständige Liste der Tricks, mit denen gearbeitet
wird, damit im Stichjahr 1997 der schöne Schein gewahrt wird und der Euro pünktlich zum 1.
Januar 1999 eingeführt werden kann. Die Beispiele sind größtenteils einer
Verfassungsbeschwerde mit Antrag auf Einstweilige Anordnung entnommen, die der
ehemalige Münchner Chefredakteur Klaus Peter Heim am 14. April 1997 in Karlsruhe eingereicht hat:
■ Um das Defizit in die Nähe von 3% zu drücken, erhebt Italien eine einmalige Sondersteuer,
die sogenannte Eurotax. Sie soll in den Jahren nach 1997 zu 60% wieder zurückgezahlt
werden.
■ In Italien wird das Inkasso bei Verbrauchssteuern vorgezogen, damit diese noch 1997 in
den Haushalt eingehen.
■ Bei noch anhängigen Steuer-Streitverfahren sollen die italienischen Finanzämter
Entgegenkommen zeigen, damit diese Steuern - wenn auch niedriger - noch im Referenzjahr 1997 eingehen.
■ Manipuliert wird in Italien auch am Verbraucherpreisindex, denn eine niedrige Inflation ist
ein weiteres Maastricht-Kriterium. Nachdem Rom die Zigarettensteuer erhöht hatte, wurden die Tabakwaren aus dem Warenkorb, mit dem die Inflation gemessen wird,
herausgenommen. Umgekehrt wurde das Gewicht der Produktgruppe Gesundheit im
Warenkorb von 2% auf 5,5% erhöht, weil diese Produktgruppe in den letzten Jahren
langsamer teurer wurde als der Durchschnitt.
■ In Frankreich überwies die öffentlich-rechtliche Sparkasse Caisse des Depots 18 Milliarden
Francs an den Staat - angeblich dafür, dass der Staat im Insolvenzfall die Haftung
übernimmt.
■ In Belgien soll, so wurde gemeldet, die staatliche Lotterie für sieben Jahre im Voraus ihre
absehbaren Gewinne an den Staat überweisen.
■ Ebenfalls in Belgien soll die staatliche Sparkassenholding einen zehnstelligen Vorschuss
an den Fiskus zahlen - im Vorgriff auf eine geplante Privatisierung.
■ Einen genialen Trick ließ sich der belgische Finanzminister Philippe Maystadt zum
Jahreswechsel 1996/97 einfallen. Die juristisch unabhängigen Sozialfonds sowie einige
Staatsunternehmen überwiesen per 31.12.1996 Milliardenbeträge an den Staat und buchten
sie drei Tage später, Anfang Januar 1997, auf ihre Konten zurück. Damit ließ sich die
belgische Staatsschuld zum Stichtag 31.12.1996 optisch herunterdrücken.
■ Die Schulden von spanischen Staatsbetrieben sind Staatsschulden. Was tun? Die Schulden
werden im entscheidenden Jahr 1997 vom staatlichen Schuldenstand abgezogen mit dem
Argument, dass diese Betriebe in den kommenden vier Jahren ohnehin privatisiert werden
sollen.
■ Ebenfalls in Spanien müssen die Unternehmen Steuerzahlungen auf 1997 vorziehen.
■ Und wäre es nicht wunderbar, wenn der Staat mehr Zero-Coupon-Bonds ausgäbe? Die
haben nämlich den Vorteil, dass der Staat die Zinsen darauf nicht jetzt, sondern erst am
Ende der Laufzeit zahlen muss. Das entlastet den Haushalt für eine Zeitlang enorm. Genau
dieser Methode bediente sich Italien 1997 - mit dem Segen von Eurostat.
Sozial- und Wirtschaftsgeschichte / Th. Kaiser
■ Alles undenkbar in Deutschland? Keineswegs, seitdem Theo Waigel Ende Mai 1997 die
Bundesbank zwingen wollte, ihre Goldreserven höher zu bewerten, eine Zwischenbilanz zu
erstellen und einen Teil des Buchgewinns noch 1997 an die Bundesregierung
auszuschütten.
(…)
Wer nun glaubt, dass mit den hier beschriebenen Buchungstricks alle denkbaren
Möglichkeiten ausgeschöpft seien, irrt sich. Das Beste kommt erst noch. Schuldenquoten
errechnen sich nämlich aus zwei variablen Größen: den Neu- und Altschulden und dem
Sozialprodukt. Warum nur an der einen Variablen drehen? Schulden kann man auch dadurch
kleiner aussehen lassen, dass man das Sozialprodukt mit einem Federstrich wachsen lässt. Es
ist eben alles relativ.
Das klingt abenteuerlich, aber gehen Sie bitte nicht davon aus, unsere Finanzjongleure
würden vor diesem ultimativen Entschuldungstrick zurückschrecken. Als der Maastrichter
Vertrag unterzeichnet wurde, ließen die listigen Vertreter der irischen Regierung eine
aufschlussreiche Bemerkung fallen:
Falls wir das Haushaltsdefizit nicht verringern können, lassen wir eben das
Bruttosozialprodukt steigen.
Den Trick hat Italien bereits in den achtziger Jahren vorgemacht. Rom setzte das
Sozialprodukt um 17°/o herauf, und schon war Italiens Wirtschaft größer als die
Großbritanniens. Das war für Italiens Stolz nicht unwichtig.
Die Begründung lautete: Wir müssen, um unsere Wirtschaftsleistung richtig zu messen,
auch den Umfang der illegalen Schattenwirtschaft berücksichtigen. Dass diese in Italien 17%
ausmacht, ist durchaus glaubhaft. Es ist sogar untertrieben. Nur: den Schulden ist damit nicht
beizukommen, weil Mafia und Schwarzarbeiter keine Steuern (außer den indirekten) zahlen.
Mit einem solchen Kniff ließe sich auch die deutsche Schuldenbilanz verschönern. Aus
dem Bonner Finanzministerium ist zu hören, dass jede Erhöhung des Sozialproduktes um 1%
ungefähr für eine einprozentige Reduzierung der Schuldenquote gut wäre - falls gleichzeitig
keine neuen Schulden gemacht werden.
Eurostat, das statistische Amt der EG-Kommission, arbeitet bereits an entsprechenden
Plänen. Man schätzt dort, dass die belgischen, griechischen und portugiesischen
Volkswirtschaften dank illegaler Wirtschaftsaktivitäten um 20% größer sind als bisher
ausgewiesen.
Sobald dieser erfreuliche Umstand von Eurostat in die Statistiken eingearbeitet wurde,
können Belgien, Portugal und Griechenland mit besseren Schuldenquoten glänzen. Dann
reicht es sogar möglicherweise für den Euro-Beitritt der Griechen.
Was den Südeuropäern recht ist, kann den Softies im deutschen Finanzministerium nur
billig sein. Kalkuliert nur die Schattenwirtschaft einschließlich Umsatz des organisierten
Verbrechens auf 10%, setzt das Sozialprodukt einfach herauf, und, hey presto: niemand ist
reicher geworden, aber alle haben weniger Schulden, wenigstens prozentual.
Bruno Bandulet: Was wird aus unserem Geld S.80ff.
Sozial- und Wirtschaftsgeschichte / Th. Kaiser
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