Pht – Lehrgang „Ethik in Schule und Bildung I“ – 2012-14 LV Recht und (Jugend-)Strafe Betreute Studienanteile Dr. Christoph Thoma - Lehrgangskoordinator 11.12.2013 pht-Lehrgang ‚Ethik in Schule und Bildung I‘ – 2012-14 Inhaltsverzeichnis I. MMMAG. NINA HÄRTING: JUGENDGERICHTSBARKEIT .................................................................................. 3 1 Abgrenzung - Positionsbestimmung ........................................................................................................................... 3 1.1 Randgebiete ................................................................................................................................................................................ 3 1.1.1 Rechtsphilosophie .......................................................................................................................................................... 3 1.1.2 Rechtsgeschichte ............................................................................................................................................................ 3 1.1.2.1 Germanische Zeit (ca. 100 v. Chr. – 500 n. Chr.): Die Zeit des Gewohnheitsrechts ................................................. 3 1.1.2.2 Fränkische Zeit (ca. 500-888): Beginn von Rechtsetzung und Rechtsaufzeichnung- ................................................ 4 1.1.2.3 Mittelalter (888-ca. 1500): Die Zeit der Rechtszersplitterung ................................................................................... 4 1.1.2.4 Neuzeit (ca. 1500-ca. 1800): Die Zeit der Rezeption ................................................................................................ 5 1.1.2.5 Neueste Zeit (ab ca. 1800): Die Zeit der Rechtseinheit ............................................................................................. 5 1.2 Abgrenzungen: Strafrecht – Zivilrecht –Öffentliches Recht – Verwaltungsrecht ....................................................................... 6 1.2.1 Zivilrecht ......................................................................................................................................................................... 6 1.2.2 Öffentliches Recht .......................................................................................................................................................... 6 1.2.3 Arbeitsrecht .................................................................................................................................................................... 6 1.2.4 Strafrecht ........................................................................................................................................................................ 6 1.3 Abgrenzung: Strafrecht – Verwaltungsrecht............................................................................................................................... 6 1.4 Was ist Recht? ............................................................................................................................................................................ 7 2 3 Aufbau des Gerichtssystems (kurzer Überblick) ........................................................................................................ 8 Strafrecht .................................................................................................................................................................... 9 3.1 3.2 3.3 Geschichte des Strafrechts in Österreich .................................................................................................................................... 9 Ziele und Zwecke ....................................................................................................................................................................... 9 Grundprinzipien ....................................................................................................................................................................... 10 3.3.1 Inhaltliche Prinzipien .................................................................................................................................................... 10 3.3.2 Verfahrensprinzipien .................................................................................................................................................... 10 3.4 Ablauf Strafverfahren ............................................................................................................................................................... 10 3.5 Besonderheiten Jugendgerichtsgesetz (JGG) ............................................................................................................................ 11 3.5.1 Existenzbegründung für ein eigenes JGG ...................................................................................................................... 11 3.5.2 Aufgaben und Grenzen des JGG ................................................................................................................................... 11 3.5.3 Definition: ‚Jugendliche‘ ............................................................................................................................................... 12 3.5.4 Besondere Sanktionen im Jugendstrafrecht ................................................................................................................. 12 3.5.4.1 § 4 JGG................................................................................................................................................................... 12 3.5.4.2 § 6 JGG................................................................................................................................................................... 13 3.5.4.3 Diversion ................................................................................................................................................................ 13 3.5.4.4 Weitere Möglichkeiten ........................................................................................................................................... 14 3.5.4.5 Bewährungshilfe ..................................................................................................................................................... 15 3.5.4.6 Praktische Probleme ............................................................................................................................................... 15 4 Strafe / Sanktion ....................................................................................................................................................... 16 4.1 4.2 II. Definition: ‚Strafe‘ ................................................................................................................................................................... 16 Zweck von Strafe – Straftheorien ............................................................................................................................................. 16 4.2.1 Die absolute Straftheorie der Gerechtigkeit ................................................................................................................. 17 4.2.1.1 Vorteile ................................................................................................................................................................... 17 4.2.1.2 Nachteile ................................................................................................................................................................. 17 4.2.2 Relative Straftheorien ................................................................................................................................................... 18 4.2.2.1 Generalprävention................................................................................................................................................... 18 4.2.2.2 Spezialprävention ................................................................................................................................................... 19 KOMPETENZWEGE ZUR INDIVIDUELLEN ODER GEMEINSCHAFTLICHEN BEARBEITUNG ................................. 20 5 6 7 Fragen/Aufgaben zur Ertragssicherung .................................................................................................................... 20 Fragen/Aufgaben Ertragserweiterung ....................................................................................................................... 20 Literatur .................................................................................................................................................................... 21 Dr. Christoph Thoma - LV Betreute Studienanteile: Recht und (Jugend-)Strafe Seite 2 von 21 pht-Lehrgang ‚Ethik in Schule und Bildung I‘ – 2012-14 I. MMMAG. NINA HÄRTING: JUGENDGERICHTSBARKEIT – überarbeitet von Dr. Christoph Thoma – 1 Abgrenzung - Positionsbestimmung 1.1 Randgebiete 1.1.1 Rechtsphilosophie Zentrale Themen der Rechtsphilosophie sind: Der Begriff des Rechts Die Bedeutung des Rechts für die Gesellschaft Die inhaltliche Kritik des Rechts (die Auffindung des „richtigen Rechts“) Die Verbindlichkeit bzw. Geltung von Rechtsnormen Bedingungen verbindlicher bzw. geltender Rechtsnormen Folgen verbindlicher oder nichtverbindlicher Rechtsnormen Richtungen der Rechtsphilosophie: Naturrecht (John Locke, Rousseau – Wesen des Menschen, Legitimation der staatlichen Gewalt) Rechtspositivismus Rechtsrealismus 1.1.2 Rechtsgeschichte 1.1.2.1 Germanische Zeit (ca. 100 v. Chr. – 500 n. Chr.): Die Zeit des Gewohnheitsrechts Die frühe Zeit kannte keine bewusste Rechtsetzung oder Gesetzgebung. Das Recht war nicht planmäßig gemacht oder angeordnet. Es war als allgemein anerkannte Rechtsanschauung unhinterfragt in Kraft, die Rechtsetzung trat in den gelebten Ordnungen zutage. Das Recht war ein ungeschriebenes Gewohnheitsrecht, das erst im gerichtlichen Urteil kundgetan wurde. Die Richtpunkte des Rechts waren Treue und Ehre: Der Treulose war ehrlos und der Ehrlose war rechtlos. Die Germanen begriffen die Welt als geschlossenes Ordnungsgefüge, in dem derjenige Recht hatte, der im Recht war. Um dieses im Streitfall festzustellen, suchte man den Urteilsspruch unverfügbarer Mächte. Das Recht war also nicht durch die Vernunft legitimiert bzw. installiert, es entsprang archaischer Religiosität und magisch-zauberischen Vorstellungen. So etwa beschwor im Eid der Eidesleistende z.B. das Feuer, ihn zu vernichten, sollte er die Unwahrheit sagen. Wurde er nun tatsächlich nicht vom Feuer vernichtet (wenn also der Fluch nicht auf ihn zurückkam), war er im Recht. Ein wichtiges Mittel zur Rechtsfindung war auch der Zweikampf. Hier zeigte der Sieg, wer im Recht war. Dr. Christoph Thoma - LV Betreute Studienanteile: Recht und (Jugend-)Strafe Seite 3 von 21 pht-Lehrgang ‚Ethik in Schule und Bildung I‘ – 2012-14 In gewichtigen Angelegenheiten wurde Gericht in der Volksversammlung, dem Volksding (angelsächsisch: thing), gehalten. 1.1.2.2 Fränkische Zeit (ca. 500-888): Beginn von Rechtsetzung und RechtsaufzeichnungIn der Fränkischen Zeit traten die Germanen als staatsbildende Völkerschaften in die Weltpolitik ein. Die Rechtsüberzeugung war nun nicht mehr alleinige Rechtsquelle. Es kam zur Rechtsetzung und zu Rechtsaufzeichnungen, und zwar in lateinischer Sprache. Neben das Volks- oder Stammesrecht, die ‚leges barbarorum‘ (ein Spottname aus späterer Zeit, zu Deutsch: ‚Gesetze der Fremden‘, ‚Gesetze der Ungebildeten‘), trat das Königsrecht. Dessen Sammlungen bezeichnet man wegen ihrer Einteilung in ‚Capitula‘ als ‚Kapitularien‘. Die ‚leges barbarorum‘ und die ‚Kapitularien‘ zählen zu den ältesten Aufzeichnungen deutschen Rechts. Archaisch-religiöse und magisch-zauberische Vorstellungen bestimmten auch in der fränkischen Zeit das Recht. Doch wurden die Erscheinungen archaischer Religiosität allmählich von christlichen Symbolen und Ritualhandlungen überlagert. So wurde der Eid nicht mehr auf Waffen, Eidring, Haselstab oder in einer Schwurstätte geleistet, sondern auf den Reliquienbehälter eines Heiligen oder auf das Evangelium abgelegt. Mit dem aufkommenden Christentum vertraute man darauf, dass die Wahrheit selbst die Kraft hat, sich durchzusetzen, weil die Ordnung der Welt als gottgewollt galt und daher als gerecht und richtig vorausgesetzt wurde. Vor allem Feuer und Wasser hielt man für geeignet, das richtige Urteil zu weisen. Die Gottesurteile entstanden. Diese Urteile liefen nach einem durch religiös-kirchliche und obrigkeitliche Gewalt genau festgelegten Ritual ab. Sie wurden zum Beispiel herbeigeführt durch Kesselfang oder Eisenprobe oder Pflugscharengang. Dafür musste der Beweispflichtige eine Sache aus einem Kessel mit siedendem Öl oder Wasser holen oder ein glühendes Eisenstück mit bloßer Hand tragen oder neun glühende Pflugscharen barfuß überschreiten. Blieben Hand und Fuß unverletzt oder verheilten die Wunden schnell, war der geforderte Unschuldsbeweis erbracht. 1.1.2.3 Mittelalter (888-ca. 1500): Die Zeit der Rechtszersplitterung Das wesentlichste Merkmal des mittelalterlichen Rechts ist die Rechtszersplitterung: Es entstanden Rechte für einzelne Gebiete, für bestimmte Klassen und für besondere Rechtsverhältnisse (Landrecht, Stadtrecht, Lehensrecht, Dienstrecht, Hofrecht ect). Die alten Stammesrechte verloren allmählich ihre Geltung. Doch fanden viele ihrer Inhalte in den neuen Rechten ihre Fortsetzung. Hauptziel der mittelalterlichen Landfrieden war ein Zurückdrängen des Fehderechts. Wer einen Rechtsgrund hatte und sich stark genug fühlte, verzichtete damals oft auf den Prozess vor Gericht und griff zum Mittel der Fehde. Diese bereits im germanischen Recht verankerte Privatrache zielte auf die Abwehr von Unrecht und auf die Rechtswahrung im Wege der Selbsthilfe. Gegen ihren Missbrauch wurde immer wieder das Mittel des Landfriedens eingesetzt. Der Sachsenspiegel ist ein privates Rechtsbuch, in dem das sächsische Land- und Lehensrecht umfassend dargestellt wird. In seinem landrechtlichen Teil finden sich sowohl Privat-, Strafals auch Verfahrens- und Staatsrecht. Schon bald fand der Sachsenspiegel Eingang in den Dr. Christoph Thoma - LV Betreute Studienanteile: Recht und (Jugend-)Strafe Seite 4 von 21 pht-Lehrgang ‚Ethik in Schule und Bildung I‘ – 2012-14 Gerichtsgebrauch. Es erlangte die Bedeutung eines Gesetzes und behielt sie in Teilen Deutschlands bis 1900. Einige Handschriften des Sachsenspiegels wurden später mit farbigen Zeichnungen ausgestattet. Die Rechtsentscheidungen wurden auch im Mittelalter noch von Urteilsfindern, also von Laien getroffen. Sie stellten auf Befragen kraft ihres sozialen Ansehens verbindlich fest, was Rechtens war. Einen Juristenstand mit besonderem Fachwissen gab es nicht. Den Mittelpunkt des Rechtsbegriffs bildeten nach wie vor die Treue und die Ehre. Geurteilt wurde stark gefühlsbetont. Man erachtete das Recht als Werk Gottes und die Rechtsordnung als Teil der göttlichen Weltordnung. Als neues Ermittlungsverfahren kam die Folter auf. Ihr Einsatz führte im 13. und 14. Jahrhundert zum Niedergang der Gottesurteile. Hierzu hat auch das vierte Laterankonzil von 1215 beigetragen, auf dem die Praxis der Gottesurteile von der Kirche missbilligt worden war. 1.1.2.4 Neuzeit (ca. 1500-ca. 1800): Die Zeit der Rezeption Als ‚Rezeption‘ wird die allmähliche ‚Übernahme römischen Rechts in Deutschland‘ bezeichnet. Ihre Anfänge reichen zurück in das 12. Jahrhundert, verstärkten sich im ausgehenden Mittelalter und erreichten zu Beginn der Neuzeit ihren Höhepunkt. Das ‚kirchlich gesetzte‘ bzw. ‚kanonische‘ Recht begünstigte diese Entwicklung. Denn dieses Recht, das bereits in fränkischer Zeit über die geistlichen Gerichte im deutschen Rechtskreis wirkte, stand in engem Zusammenhang mit dem römischen Recht. Dennoch, das römische Recht konnte sich auch in Deutschland nicht überall durchsetzen. So etwa in Sachsen, wo die mittelalterlichen Rechtsbücher eine hinreichende Grundlage für die Rechtsanwendung geschaffen hatten. Auch einzelne Rechtsbereiche, wie das Bauernrecht und das Handelsrecht behielten ihre deutschrechtlichen Regelungen. Mit Ende der Neuzeit Anfang des 19. Jahrhunderts waren die positiven und negativen Folgen für das deutsche Recht und die Beziehung der Menschen zu ihm evident: Die Übernahme des römischen Rechts in Deutschland und das durch sie ausgelöste Eindringen der Wissenschaft in das deutsche Recht brachten einen gewaltigen Fortschritt. Dieser war jedoch untrennbar verbunden mit der Entfremdung zwischen Volk und Recht. Alle späteren Bemühungen um klare, allgemeinverständliche Gesetze konnten daran nichts ändern. Das aus dem Gefühl geschöpfte Recht, das für jedermann da gewesen war, war endgültig verloren. 1.1.2.5 Neueste Zeit (ab ca. 1800): Die Zeit der Rechtseinheit Erst jetzt, mit dem 19. Jahrhundert, begann die zusammenfassende Regelung großer Rechtsgebiete. Für Österreich sehr bedeutend sind das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch (ABGB; 1811) und der Code Civile (1807–1815). Dr. Christoph Thoma - LV Betreute Studienanteile: Recht und (Jugend-)Strafe Seite 5 von 21 pht-Lehrgang ‚Ethik in Schule und Bildung I‘ – 2012-14 1.2 Abgrenzungen: Strafrecht – Zivilrecht –Öffentliches Recht – Verwaltungsrecht 1.2.1 Zivilrecht Rechtsstreitigkeiten zwischen zwei Parteien auf gleicher Ebene, kann grundsätzlich durch Vereinbarung der Parteien auch abgeändert werden (mit Ausnahmen) Verträge, Schadenersatz/Haftung bei Unfällen, Familienrecht (Scheidung, Obsorge, Erbrecht – teilweise Besonderheiten, Baumängel, Unterlassungsklagen, Besitzstörung,...) wichtigstes Gesetz: ABGB, zahlreiche Nebengesetze (Ehegesetz, Eisenbahnenteignungsgesetz, Kleingartengesetz, Liegenschaftsbewertungsgesetz, Todeserklärungsgesetz,…) Sonderbereich Konsumentenschutz: Der Konsument steht als schwächerer Partner einer Übermacht des Unternehmers gegenüber, daher muss er besonders geschützt werden. Aus diesem Grund gibt es zahlreiche Gesetze zum Schutz des Konsumenten. Teilweise werden diese Gesetze auch von den entsprechenden Organen der EU beschlossen und in Österreich ins Konsumentenschutzgesetz (KSCHG) aufgenommen, weil sie dorthin passen (Fernabsatzrichtlinie, Kreditbestimmungen...) 1.2.2 Öffentliches Recht Rechtsstreitigkeiten zwischen übergeordnetem Subjekt und untergeordnetem Subjekt, also zwischen dem Einzelnen und dem Staat, öffentliches Recht kann durch Vereinbarung von Parteien nicht abgeändert werden Verwaltungsrecht – Bescheide, Verfassungsrecht – Eingriff in Grundrechte Dienstverhältnis der Beamten 1.2.3 Arbeitsrecht Zwischen Zivilrecht und öffentlichem Recht angesiedelt: Eigentlich Privatrecht weil Vertrag, aber Arbeitgeber in stärkerer Position, daher viele Schutzgesetze 1.2.4 Strafrecht Sonderstellung, der Staat stellt ein bestimmtes Verhalten unter Strafe, die Rechtssubjekte sind also nicht gleichgeordnet, daher gehört das Strafrecht eher zum öffentlichen Recht 1.3 Abgrenzung: Strafrecht – Verwaltungsrecht Verwaltungsrecht: Strafzettel von BH, Ruhestörung, Jugendschutzgesetz, Fahren ohne Führerschein, alkoholisiert Autofahren, Erregung öffentlichen Ärgernisses, Fahren ohne Helm, Fahrerflucht (ohne verletzte Personen), Anzeigen nach Veranstaltungsgesetz, Feuerpolizeigesetz,... Strafrecht: Körperverletzung, Sachbeschädigung, Beleidigung, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Diebstahl, Vergewaltigung, Mord, teilweise sind in Verwaltungsgesetzen Strafbestimmungen (zB. Lebensmittelgesetz), teilweise auch in anderen Gesetzen (zB. Aktiengesetz) Dr. Christoph Thoma - LV Betreute Studienanteile: Recht und (Jugend-)Strafe Seite 6 von 21 pht-Lehrgang ‚Ethik in Schule und Bildung I‘ – 2012-14 1.4 Was ist Recht? Das Recht ist ein geistiges Erzeugnis menschlicher Gemeinschaften. Es ist nicht etwa von Anfang an vorgegeben, sondern Resultat menschlichen Tuns. Deshalb ist es auch von Land zu Land verschieden und ändert sich mit der Zeit. ‚Recht‘ kann daher definiert werden als ‚eine große Zahl von Vorschriften, die zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Rechtsgemeinschaft gelten.‘ Jedes Volk, jeder Gliedstaat, jede örtliche Gemeinschaft ist durch eine eigene soziale Lebensordnung gekennzeichnet. Die soziale Lebensordnung regelt die Beziehungen der Menschen innerhalb der Gemeinschaft zueinander und gewährt eine gewisse Abgeschlossenheit nach außen gegenüber anderen Gemeinschaften dar. Das Recht ist nur ein Bestandteil der sozialen Lebensordnung. Andere Bestandteile sind: Bräuche und Sitten: Sie führen zu bestimmten gleichmäßigen Verhaltensweisen und gesellschaftlichen Spielregeln innerhalb einer Gemeinschaft. Diese gelebte Ordnung stellt sich automatisch ein und wird zumeist ganz von selbst befolgt. ‚Bräuche‘ sind ‚eingespielte Formen des Umgangs miteinander‘, „an die man sich hält“, z.B. Volksbräuche und Ortsbräuche, Berufsgewohnheiten und Handelsbräuche (z.B. derjenige, der in ein Zimmer tritt, grüßt, Geschenke zu Weihnachten) ‚Sitte‘ entwickelt sich im Umgang der Menschen miteinander und bestimmt ihr Verhalten. Entstehungsgrund ist aber nicht bloß das, was allgemein üblich ist, sondern die Forderung zu sittlich gutem Handeln. Redlichkeit in den mitmenschlichen Beziehungen (zB. Hilfsbereitschaft gegenüber Alten und Kranken) Religion: In einem säkularen Staat besteht der wesentliche Unterschied zwischen Brauch, Sitte und Recht einerseits und Religion andererseits in Betreff der jeweiligen verhaltensregulierenden Funktion darin, dass die religiös aufgegebenen Pflichten begründet werden durch ein der explizit säkularen Vernunft nicht vollständig subsumierbares Referenzobjekt (‚Gott‘, ‚Göttliches‘ etc.) Brauch, Sitte und Religion regeln das Verhalten der Menschen in der Gemeinschaft. Auch das Recht beeinflusst den Umgang der Menschen miteinander. Es enthält Forderungen an die Menschen für ihr Verhalten zueinander. Es ist eine objektive Ordnung, die sagt, was gilt. Von den übrigen Ordnungen unterscheidet sich das Recht vor allem durch seine Erzwingbarkeit (aufgrund der Gewalt des Staates). Die Ordnungssysteme überschneiden sich mitunter, so etwa in den ‚Zehn Geboten‘ oder im Gebot der Hilfeleistung. Letzteres kann auch strafrechtlich relevant werden, z.B. nach einem Unfall der Sachverhalt der ‚unterlassenen Hilfeleistung‘. Ebenso gibt es Überschneidungen zwischen den Rechtsbereichen (arbeitsrechtliche Vorschriften zum Schutz von Behinderten, Kranken, Schwangeren; familienrechtliche Bestimmungen über Pflichten der Eltern; im Vertragsrecht z.B. Bestimmungen zu sittenwidrigen Verträge oder Klauseln). Dr. Christoph Thoma - LV Betreute Studienanteile: Recht und (Jugend-)Strafe Seite 7 von 21 pht-Lehrgang ‚Ethik in Schule und Bildung I‘ – 2012-14 Aufgabe des Rechts ist es, das Zusammenleben der Menschen zu schützen und zu ordnen. Es soll das friedliche Miteinander der Menschen gewährleisten. Gelingt dieses, so ist das Recht Garant menschlicher Freiheit. Das Recht bringt Ordnung in das Gemeinschaftsleben und es fördert das Gemeinwohl in mannigfacher Weise. Die Aufgaben des Rechts und der Rechtsordnung lassen sich in folgende vier Gruppen einteilen: (1) Sicherung des Friedens (Verbot des Faustrechts, vorgegebene Mittel zur Konfliktlösung (2) Schutz der Freiheit (Freiheit des einzelnen endet dort, wo Freiheit der anderen beeinträchtigt wird. Erst indem die Rechtsordnung die Freiheit jedes einzelnen begrenzt, schafft sie größtmögliche Freiheit für alle.) (3) Ordnung des Gemeinwesens, (4) Förderung des Gemeinwohls. Die ursprünglichste Aufgabe des Rechts ist es, gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen den Menschen zu vermeiden. 2 Aufbau des Gerichtssystems (kurzer Überblick) Neben Gesetzgebung (Legislative: Parlament, Landtage) und Verwaltung (Exekutive: Bund, Länder, Gemeinden) ist die dritte Säule des Rechtsstaates in Österreich die Gerichtsbarkeit (Judikative). Gerichtsbarkeit ist in Österreich Bundeskompetenz. Zur Justiz gehören die Gerichte, die Staatsanwaltschaften und die Justizanstalten. Die Verwaltung der Justiz (Personal, Gehalt, Organisation) untersteht dem Bundesministerium für Justiz, ansonsten ist die Justiz von der Verwaltung aber in allen Instanzen getrennt, d.h. das BMJ darf den Gerichten keine Anweisungen geben, wie sie zu entscheiden haben. Ausnahme: Das BMJ darf den Staatsanwaltschaften Weisungen geben (geschieht selten). Polizeibehörden unterstehen dem Bundesministerium für Inneres. GERICHTE: Gerichte sind staatliche Institutionen zur Entscheidung über alle Ansprüche und Streitigkeiten und über Anklagen. Es gibt Bezirksgerichte, Landesgerichte und Oberlandesgerichte und den Obersten Gerichtshof. Die Bezirksgerichte entscheiden immer in erster Instanz; die Landesgerichte teilweise in erster Instanz, teilweise über Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Bezirksgerichte; die Oberlandesgerichte über Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Landesgerichte. Der Oberste Gerichtshof entscheidet in besonderen Fällen (in Zivilsachen bei grundlegenden Rechtsfragen, in Strafsachen über Rechtsmittel gegen Urteil der Schöffen- und Geschworenengerichte). GERICHTSHÖFE DES ÖFFENTLICHEN RECHTS: Verfassungsgerichtshof, Verwaltungsgerichtshof, UVS- neu: Verwaltungsgerichte (ab 1.1.2014 in den Ländern) STAATSANWALTSCHAFTEN, OBERSTAATSANWALTSCHAFTEN (in Österreich: Vier Oberstaatsanwaltschaften, denen unterstellt sind die Staatsanwaltschaften). Sie sind besondere, von den Gerichten getrennte Organe der Gerichtsbarkeit, die das Ermittlungsverfahren in Strafsachen leiten und über Anklage oder Einstellung von Verfahren entscheiden. Dr. Christoph Thoma - LV Betreute Studienanteile: Recht und (Jugend-)Strafe Seite 8 von 21 pht-Lehrgang ‚Ethik in Schule und Bildung I‘ – 2012-14 3 Strafrecht 3.1 Geschichte des Strafrechts in Österreich ursprünglich Blutrache und Fehde 1499 eingeführt von Erzherzog Maximilian ‚Maximilianische Halsgerichtsordnung‘ (=Tiroler Malefizordnung) seit 1532 ‚Constitutio Criminalis Carolina‘ von Karl V. (galt in Österreich und Deutschland, partikuläres Strafrecht blieb aber in Kraft) 1768 Maria-Theresia ‚Constitutio Criminalis Theresiana‘ (1. einheitliches Gesetz für materielles Strafrecht und Strafprozessrecht) 1787 Josef II ‚Josefinisches Gesestbuch‘ (Todesstrafe fast abgeschafft) 1803 Strafgesetz (erste Kodifizierung, Todesstrafe wieder eingeführt) viele Novellen große Novelle erst 1974 – ‚Strafgesetzbuch 1975‘ seither diverse Novellen, derzeit Überarbeitung, große Novelle geplant, vor allem Änderungen bei Strafhöhe (Verhältnis Strafen für Vermögensdelikte zu jenen für Delikte gegen Leib und Leben, „Gewerbsmäßigkeit“, Problematik Jugendliche in U-Haft) 3.2 Ziele und Zwecke Gewisse Verhaltensweisen sind in Gesellschaft verpönt. Werden sie dennoch gesetzt, erfolgt eine Sanktion. Welche Verhaltensweisen wie geahndet werden, unterliegt gesellschaftlichem Wandel. Das Strafrecht ist das schärfste Steuerungsinstrument des Staates, weil hiermit in der Regel am härtesten in die Privatsphäre eingegriffen wird Deshalb darf dieses Mittel aus rechtsstaatlichen Gründen (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) nur als letztes Mittel, als ultima ratio, eingesetzt werden. Ausprägungen dieses Prinzips sind, dass Handlungen, die eine Straftat vorbereiten, grundsätzlich noch nicht unter Strafe gestellt werden und die Strafbarkeit erst - bei schweren Delikten mit Tatbeginn einsetzt. Das Ausspionieren einer günstigen Gelegenheit, zum Beispiel für einen Diebstahl, ist noch nicht strafbar, weil viele schon mal solche verwerflichen Gedanken haben, von der Realisierung aber doch zurückschrecken. Die Bestrafung solch einer bösen Absicht wäre möglich nur im Rahmen eines Gesinnungsstrafrechts. Erst wenn der Tatplan konkret umgesetzt wird, beginnt die Strafbarkeit. Daher deckt Strafrecht auch nicht alle „Regelverstöße“ ab, zB Verstöße gegen Normen im Sport, Zivilrecht, Verwaltungsübertretungen Dr. Christoph Thoma - LV Betreute Studienanteile: Recht und (Jugend-)Strafe Seite 9 von 21 pht-Lehrgang ‚Ethik in Schule und Bildung I‘ – 2012-14 3.3 Grundprinzipien 3.3.1 Inhaltliche Prinzipien Das materielle Strafrecht bestimmt strafbare Handlungen und deren Merkmale Das formelle Strafrecht regelt den Verfahrensablauf Keine Strafe ohne Schuld: wer nicht schuldhaft handelt, weil er sich nicht anders verhalten hätte können, kann nicht bestraft werden. So etwa gelten Erwachsene in Österreich als schuldfähig. Diese Vermutung ist jedoch widerlegbar, nämlich z.B. durch entsprechende psychiatrische Gutachten. Von Unmündigen (unter 14jährige) gilt in Österreich die Schuldunfähigkeitsvermutung. Diese ist nicht widerlegbar. Im Zweifel für den Angeklagten (in dubio pro reo), damit verbunden: Unschuldsvermutung (heute: Vorverurteilung durch Medien) Keine Strafe ohne Gesetz (nulla poena sine lege - nur strafbar wenn ausdrücklich vom Gesetz geregelt) 3.3.2 Verfahrensprinzipien Fair Trial (Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK, vor allem Art. 6) Öffentlichkeit, Mündlichkeit und Unmittelbarkeit (direkter Kontakt des Gerichtes mit Parteien, Kontrolle der Gerichtsbarkeit durch die Allgemeinheit, Verhinderung von Willkürlichkeit) Geschworene: Die schwersten Delikte und politische Delikte sollen von „der Bevölkerung“ beurteilt, eine Mitwirkung des Volkes an der Rechtsprechung also garantiert werden. Grundsatz der freien Beweiswürdigung (Richter bewerten alle Beweisergebnisse nach ihrer Überzeugung, keine Vorgaben, wann welche Aussage wie viel zählt) Amtswegige Erforschung der Wahrheit (Richter muss von sich aus alle Beweise aufnehmen, die der Wahrheitsfindung dienen, nicht wie zB in USA, dass nur die Beweise aufgenommen werden, die von Staatsanwalt und Verteidiger beantragt werden) 3.4 Ablauf Strafverfahren Straftat Anzeige bei Polizei / Polizei aus Eigenem / Anzeige bei Staatsanwaltschaft Ermittlungen durch Polizei Bericht an Staatsanwaltschaft Beurteilung – Einstellung/Anklage/Alternative Maßnahmen Gerichtsverhandlung – Urteil – Strafe Alternative Maßnahmen (DIVERSION) Dr. Christoph Thoma - LV Betreute Studienanteile: Recht und (Jugend-)Strafe Seite 10 von 21 pht-Lehrgang ‚Ethik in Schule und Bildung I‘ – 2012-14 3.5 Besonderheiten Jugendgerichtsgesetz (JGG) 3.5.1 Existenzbegründung für ein eigenes JGG Im Laufe der Zeit entstand in zivilisierten Gesellschaften die Überzeugung, dass sehr junge Straftäter, die zwar grundsätzlich schon bestraft werden können, dennoch nicht gleich behandelt werden sollen wie erwachsene Straftäter. Dies ergab sich aus der grundsätzlichen Überlegung, dass Jugendliche in ihrer „Sturm und Drang“-Zeit eher einmal die Regeln des Gesetzes übertreten und Straftaten begehen bzw. in ihrer autonomen Verhaltenskontrolle noch eingeschränkt sind. Von ihnen müsse daher eine ‚eingeschränkte Zurechnungsfähigkeit‘ angenommen werden. Jugendliche lernen noch, sich normgerecht zu verhalten. Verstöße passieren leichter als bei Erwachsenen. Gleichzeitig gesteht man Jugendlichen eine erhöhte Fähigkeit zu, sich noch zu ändern, sodass zahlreiche Bestimmungen darauf abzielen, den straffällig gewordenen Jugendlichen wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Häufig sind Konflikte mit dem Strafgesetz nur eine vorübergehende Phase. Das Jugendstrafrecht ist damit eine Übergangsregelung zwischen Strafunmündigkeit und voller strafrechtlicher Verantwortlichkeit. Aus diesem Grund sind die Strafen für Jugendliche weniger streng als für Erwachsene, eine Haft soll grundsätzlich und soll soweit möglich vermieden werden. Im Vordergrund steht die Resozialisierung. Eine strafrechtliche Sanktion auf Verfehlungen Jugendlicher soll immer nur „ultima ratio“ sein. Sonderbestimmungen für Jugendliche gibt es in Österreich seit 1.1.1929 (Jugendgerichtsgesetz 1928). Bereits im Strafgesetz von 1852 war allerdings geregelt, dass Kinder vor dem 10. Lebensjahr bloß „der häuslichen Züchtigung“ überlassen werden. Es gab schon damals auch Sonderbestimmungen für Personen zwischen 10 und 14 Jahren. In anderen Gesetzen und anderen Ländern fanden sich auch schon früher gewisse Sonderbestimmungen. 3.5.2 Aufgaben und Grenzen des JGG Das JGG dient in erster Linie dem Ziel, Jugendlichen deutlich zu machen, dass strafbares Verhalten gesellschaftlich nicht toleriert wird. Gleichzeitig soll der Jugendliche auch vor der Stigmatisierung geschützt werden, die mit jeder Verurteilung einher geht. Aus diesem Grund wird versucht, Verurteilungen zu vermeiden, solange dies möglich ist. Auch die Beschränkung der Auskunft aus dem Strafregister (‚Leumundszeugnis‘) dient diesem Zweck. Gewisse Verurteilungen scheinen gar nicht auf. Die Öffentlichkeit kann von Verhandlungen leichter ausgeschlossen werden, wenn dies dem Schutz des Jugendlichen (auch des Täters!) dient. So will man auch eine Stigmatisierung über die Medien vermeiden. Die Spezialprävention steht im Vordergrund, es geht darum, den jugendlichen Täter selbst von der Begehung weiterer Straftaten abzuhalten. Das Ziel, auch andere Jugendliche von strafbaren Handlungen abzuhalten, tritt in den Hintergrund. Erziehungsberechtigte sind stärker eingebunden, sie haben z.B. auch gegen die Willen des Jugendlichen die Möglichkeit, ein Rechtsmittel zu dessen Gunsten zu erheben. Die Bestimmungen des Jugendstrafrechtes dienen also auch dem Schutz des Jugendlichen. Dr. Christoph Thoma - LV Betreute Studienanteile: Recht und (Jugend-)Strafe Seite 11 von 21 pht-Lehrgang ‚Ethik in Schule und Bildung I‘ – 2012-14 In Österreich wurde der Erziehungsgedanke aus dem Jugendstrafrecht weitgehend zurückgedrängt, anders als beispielsweise in der Schweiz, wo der Richter oder Staatsanwalt auch Erziehungsmaßnahmen wie eine Heimunterbringung usw. anordnen kann. Dafür ist in Österreich ausschließlich die Jugendwohlfahrt bzw. allenfalls noch das Pflegschaftsgericht zuständig. Auch für die Behandlung von nicht strafmündigen Personen (unter 14 Jahren) sind nicht die Staatsanwaltschaft oder das Gericht, sondern ist die Jugendwohlfahrt zuständig. Auch eine Entziehung der Obsorge und ähnliche Maßnahmen fallen nicht in die Kompetenz der Staatsanwaltschaften und Strafgerichte. Von diesen können im Wesentlichen lediglich die bekannten Sanktionen Geldstrafe oder Freiheitsstrafe angewendet werden. Die Unterbringung eines jugendlichen Straftäters in einer geschlossenen Anstalt ist nur unter den auch für Erwachsene geltenden Voraussetzungen (aufgehobene Zurechnungsfähigkeit, Gefährlichkeit) zulässig und kommt selten vor. 3.5.3 Definition: ‚Jugendliche‘ Jugendlich sind im strafrechtlichen Sinne Personen, die das 14., nicht aber das 18. Lebensjahr vollendet haben. Das Ende des ‚Jugendalters‘ fiel nicht immer mit dem Beginn der ‚Volljährigkeit‘ zusammen. So etwa ist in Österreich die Volljährigkeit erst seit dem 1.7.2001 mit 18 statt (zuvor) mit 19 Lebensjahren erreicht. Personen unter 14 Jahren sind ‚Unmündige‘. Unmündige sind in Österreich nicht strafbar. Es gilt die unwiderlegbare gesetzliche Vermutung, dass sie nicht in der Lage sind, sich schuldhaft zu verhalten. Dies kann im Einzelfall natürlich zu problematischen Fällen führen, in denen ein noch nicht 14-jähriger vielfach Straftaten begeht, im Wissen, dass er nicht bestraft werden kann. Dies ist allerdings im Sinne der Rechtssicherheit in Kauf zu nehmen. In der Schweiz ist diese Grenze beispielsweise viel niedriger (11 Jahre), weil dem Jugendrichter oder Jugendstaatsanwalt eben auch erzieherische Kompetenzen zukommen und er damit auch auf Delinquenz von sehr jungen Tätern angemessen reagieren kann. Die Strafmündigkeitsgrenze wurde schon im Jahr 1928 mit 14 Jahren festgelegt (Vollendung der Schulpflicht, Eintritt in neue Lebensphase, Geschlechtsreife). Für „junge Erwachsene“ zwischen 18 und 21 Jahren gelten besondere Bestimmungen, etwa entfällt bei den Strafdrohungen die Untergrenze. 3.5.4 Besondere Sanktionen im Jugendstrafrecht 3.5.4.1 § 4 JGG In § 4 Abs. 1 JGG ist geregelt, dass Unmündige nicht strafbar sind. Wenn ein Verfahren also nach § 4 Abs. 1 JGG eingestellt wurde, wurde es eingestellt, weil der Täter zum Tatzeitpunkt noch nicht 14 Jahre alt war. In § 4 Abs. 2 sind zwei Fälle geregelt. Zum einen wird geregelt, dass Jugendliche, die strafbare Handlungen begehen, dann nicht strafbar sind, wenn sie aus bestimmten Gründen noch nicht reif genug sind, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln (= verzögerte Reife im strafrechtlichen Sinne, eine Art ‚Unzurechnungsfähigkeit‘, muss allerdings mit geeigneten Beweisen nachgewiesen werden). Dies meint nicht nur, dass Jugendliche nicht altersgemäß reif wären, sondern dass sie überhaupt nicht reif sind. So kann man bei eiDr. Christoph Thoma - LV Betreute Studienanteile: Recht und (Jugend-)Strafe Seite 12 von 21 pht-Lehrgang ‚Ethik in Schule und Bildung I‘ – 2012-14 nem Delikt wie Diebstahl davon ausgehen, dass schon Kinder im Volksschulalter wissen, dass man anderen Menschen Dinge nicht wegnehmen darf, sprich, dass sie in der Lage sind, das Unrecht solcher Taten einzusehen und sich entsprechend zu verhalten. Ein Beschuldigter müsste dann schon die geistige Reife eines Kleinkindes haben, um hier aufgrund verzögerter Reife straffrei zu sein. Im Einzelfall sind zu dieser Frage Gutachten von Sachverständigen erforderlich. Zum anderen geht der Gesetzgeber davon aus, dass Personen zwischen 14 und 16 Jahren nicht bestraft werden müssen, wenn es sich um leichtere Formen der Kriminalität handelt und weitere Maßnahmen nicht erforderlich erscheinen (zB ein bislang unauffälliger 14-jähriger begeht einen Ladendiebstahlt, wird ohnehin im Beisein der Eltern von der Polizei vernommen und hat den Schaden bezahlt,...). Die Bestimmung im 2. Satz des § 4 Abs. 2 JGG regelt, dass ein solches Verhalten gar nicht strafbar ist (Strafauschließungsgrund). 3.5.4.2 § 6 JGG § 6 JGG sieht vor, dass unter bestimmten Voraussetzungen jugendliche Straftäter nicht weiter verfolgt werden, nämlich ebenfalls bei leichten Formen der Kriminalität und wenn weitere Maßnahmen nicht erforderlich erscheinen. Zusätzlich kann, wenn dies für erforderlich erachtet wird, das zuständige Pflegschaftsgericht ersucht werden, den Beschuldigten über das Unrecht seiner Tat und über die Folgen und möglichen Konsequenzen für ihn zu belehren. Diese Belehrungen können, je nachdem, wie sie gemacht werden, sinnvoll und zweckmäßig sein. § 6 JGG wird zB angewendet bei 17-jährigen, die einen Ladendiebstahl begehen, bei Jugendlichen, die ihre Ausweise fälschen um in Lokale oder auf Veranstaltungen eingelassen zu werden ect. Auch in Fällen, in denen die Konsequenzen der Tat für den Jugendlichen ohnehin schon Strafe genug sind, kann unter Umständen § 6 JGG angewendet werden (hohe Schadensgutmachung wurde geleistet, der Jugendliche hat selbst auch erheblichen Schaden erlitten ect.). Ein Sachverhalt, der unter § 6 JGG fällt, ist zwar grundsätzlich strafbar, der Jugendliche braucht aber im Einzelfall nicht bestraft werden. 3.5.4.3 Diversion Bei Jugendlichen wird verstärkt von den verschiedenen Möglichkeiten der diversionellen Erledigung Gebrauch gemacht, wobei nicht alle Möglichkeiten gleich sinnvoll sind. Geldbußen sind in den meisten Fällen nicht angemessen, weil sie häufig von den Eltern bezahlt werden und der Jugendliche keine Konsequenzen verspürt. Nachdem von der Diversion vor allem in den Fällen Gebrauch gemacht wird, in denen der Jugendliche „etwas spüren“ soll, sprich lernen soll, dass seine Taten Konsequenzen haben, eignen sich besonders gemeinnützige Leistungen. Hier muss der Jugendliche in seiner Freizeit unentgeltlich arbeiten. Der zusätzliche Vorteil ist, dass Jugendliche, die sich sonst schwer tun, sich an Vereinbarungen und Regeln zu halten, dies lernen können und sie ein wenig „Arbeitsluft“ schnuppern. Zu den erfolgreichsten Fällen zählen jene, in denen man später erfährt, dass der Jugendliche beispielsweise eine Ausbildung in der Einrichtung angefangen hat, in der er die gemeinnützigen Leistungen erbrachte. Arbeitslose Jugendliche erhalten eine gewisse Tagesstruktur und allenfalls auch ein gutes Arbeitszeugnis. Ebenfalls geeignet für Jugendliche sind der Tatausgleich (vor allem bei Aggressionsdelikten), da ihnen die Konsequenzen ihrer Taten aus der Sicht der Opfer vor Augen geführt werden. Dr. Christoph Thoma - LV Betreute Studienanteile: Recht und (Jugend-)Strafe Seite 13 von 21 pht-Lehrgang ‚Ethik in Schule und Bildung I‘ – 2012-14 Zudem erlernen sie Strategien im Umgang mit derartigen Konflikten. Geeignet ist auch die ‚Probezeit‘, allerdings nur im Zusammenhang mit Bewährungshilfe, da auch hiermit eine Aufarbeitung der Delinquenz verbunden ist. Eine Diversion kann entweder vor dem Beginn eines Gerichtsverfahrens oder aber, im Falle einer Anklageerhebung, während des Gerichtsverfahrens, dann aber nur vom Gericht durchgeführt werden. Letztes z.B. dann, wenn zuvor seitens des Angeklagten keine Bereitschaft festgestellt werden konnten, mitzuarbeiten, oder wenn es zwischenzeitlich zu einer Schadensgutmachung kam. 3.5.4.4 Weitere Möglichkeiten Neben der im Falle eines Schuldspruches zu verhängenden Geld- oder Freiheitsstrafe sieht das JGG zwei weitere Möglichkeiten vor: den (i) Schuldspruch ohne Strafe und den (ii) Schuldspruch unter Vorbehalt der Strafe. (ad i) Beim Schuldspruch ohne Strafe kommt das Gericht zwar zum Ergebnis, dass der Beschuldigte die Tat begangen hat und zu verurteilen ist, befindet allerdings, dass im Einzelfall die Verhängung einer Strafe nicht erforderlich ist, um den Jugendlichen in Zukunft von der Begehung strafbarer Handlungen abzuhalten. Diese Variante ist nur selten sinnvoll, da in der Regel bereits zuvor vom Staatsanwalt geprüft worden ist, ob nicht eine Diversion zweckmäßig wäre – eine Prüfung, die im Falle einer nachfolgenden Anklageerhebung ja ergeben hat, dass eine Verurteilung angeraten ist. Lediglich in Fällen, in denen eine diversionelle Erledigung nicht (mehr) möglich ist, z.B. bei einem Todesfall, wäre eine Anwendung sinnvoll. (ad ii) Ein Schuldspruch unter Vorbehalt der Strafe bedeutet, dass zwar ein Schuldspruch gefällt, aber (noch) keine Strafe verhängt wird, sondern diese für die Dauer einer Probezeit von in der Regel drei Jahren vorbehalten wird. Begeht der Jugendliche in dieser Zeit eine weitere Straftat, kann die Strafe für die alte und die neue Tat gemeinsam festgesetzt werden. Auch hier gelten obige Ausführungen, eine Anwendung ist selten. Beide Bestimmungen stammen noch aus der Zeit vor der Einführung der Diversion, sodass ihrer Anwendung weitgehend der Boden entzogen ist. Problematisch ist weiters, dass in der Regel eine Anklageerhebung erst dann erfolgt, wenn bereits einmal eine Diversion durchgeführt wurde, sodass der Jugendliche bereits einmal eine Reaktion auf sein strafbares Verhalten verspürt hat, die ihn nicht von der Begehung weiterer Straftaten abgehalten hat. Wenn er jetzt im Fall einer Verurteilung erneut keine Reaktion verspürte, verfehlte dies erfahrungsgemäß zumeist seine Wirkung. Jugendrichter und -staatsanwälte berichten, dass Jugendliche derartige Verurteilungen, ebenso wie solche zu gänzlich bedingten Strafen, nicht verstehen und nicht als Verurteilungen wahrnehmen. Sie geben auf Frage meist an, es sei „eh nichts passiert“. Konkret befragt über Vorstrafen gab ein Jugendlicher an, er habe keine. Über Vorhalt der Strafregisterauskunft, in welche sehr wohl eine Verurteilung aufschien, gab er an „ja aber damals ist ja nichts passiert“. Irgendeine Reaktion der Strafverfolgungsbehörden sollte in Fällen, in denen angeklagt und verurteilt wird, erfolgen. Dr. Christoph Thoma - LV Betreute Studienanteile: Recht und (Jugend-)Strafe Seite 14 von 21 pht-Lehrgang ‚Ethik in Schule und Bildung I‘ – 2012-14 3.5.4.5 Bewährungshilfe Bewährungshilfe ist bei Jugendlichen immer dann anzuordnen, wenn diese in Untersuchungshaft sind (‚vorläufige Bewährungshilfe‘) und wenn sie bedingt entlassen werden. Zweckmäßig wäre eine Anordnung der Bewährungshilfe auch bei der Mehrheit der bedingten Strafen (wird in der Praxis großteils gemacht) und im manchen Fällen auch bereits im Ermittlungsverfahren, nämlich dann, wenn keine Haft verhängt wird. In solchen Fällen ist die Anordnung der Bewährungshilfe durch die Staatsanwaltschaft allerdings vom Gesetz (noch?) nicht vorgesehen. Die Person des Bewährungshelfers wird in Österreich vom Verein NEUSTART bestimmt, der es auch übernimmt, mit dem Beschuldigten die notwendigen Gespräche zu führen und Vereinbarungen zu treffen. Theoretisch wäre auch Bewährungshilfe durch andere Personen möglich. 3.5.4.6 Praktische Probleme Bereits angesprochen wurde, das Problem, auf das Fehlverhalten Jugendlicher zu spät zu reagieren, so dass diese viel zu lange das Gefühl haben, es passierte nichts. Teilweise gibt es bei Verurteilungen relativ lange bedingte Haftstrafen und Geldstrafen und dann plötzlich doch Untersuchungshaft und eine unbedingte Haftstrafe samt Widerruf der zuvor bedingt verhängten Strafen – der Jugendliche ist dann möglicherweise relativ lang inhaftiert, was natürlich Vor- und Nachteile hat. Ein weiteres Problem stellt die Behandlung unmündiger Straftäter dar, da hier die Staatsanwaltschaft keine Handhabe und sie keinerlei Recht hat auf Informationen durch die Jugendwohlfahrt. Wir sehen, dass 12 oder 13-jährige unzählige Straftaten begehen, können die Verfahren aber nur unter Verständigung der Jugendwohlfahrt einstellen. Was von dieser Seite dann veranlasst wird, sehen wir nicht. Jugendliche in Haft sind nie eine besonders gute Lösung, leider gibt es in einigen (in Tirol wenigen) Fällen keine andere Möglichkeit mehr, den Jugendlichen aus der Spirale der Kriminalität herauszuholen. Unterbringungsmöglichkeiten für Jugendliche sind generell rar. Die Staatsanwaltschaft und das Gericht haben nur begrenzte Möglichkeiten, sich ein Bild über die Lebenssituation des Jugendlichen zu machen. Hier helfen unter Umständen Erhebungen der Jugendwohlfahrt oder von NEUSTART. Es ist aber von der Motivation des Einzelnen abhängig, wie verwertbar solche Erhebungen sind. Natürlich hängt es auch vom Staatsanwalt und vom Richter ab, ob und inwiefern Informationen zum Umfeld des Jugendlichen eingeholt werden. Gewisse Arten jugendlicher Delinquenz, auf die die Staatsanwaltschaft nur begrenzt einwirken kann, sind quantitativ zunehmend, etwa ‚Sexting‘ und Handyraub. Generell ist es nach Auffassung der Jugendstaatsanwälte nicht so, dass die Kriminalität bei Jugendlichen allgemein zunähme, sprich, dass die Jugend immer schlimmer werden würde. Jedoch nimmt die Brutalität bei Körperverletzungsdelikten deutlich zu, vermutlich deshalb, weil die Hemmschwelle gesunken ist. So galt es früher als ein Zeichen von Schwäche, auf einen am Boden Liegenden noch einzutreten, heute kommt das häufig vor. In einer Gesellschaft, in der propa- Dr. Christoph Thoma - LV Betreute Studienanteile: Recht und (Jugend-)Strafe Seite 15 von 21 pht-Lehrgang ‚Ethik in Schule und Bildung I‘ – 2012-14 giert wird, dass sich jeder selbst der Nächste ist (‚Ich-AG‘) und man sich sowieso von anderen (auch von „denen da oben“) nichts gefallen lassen muss, ist es nachvollziehbar, dass Jugendlichen Werte wie Mitgefühl oder Zivilcourage langsam abhandenkommen. Beispiele sind: völliges Unverständnis von einigen Schülern in einer Klasse auf die Aufforderung, offensichtlich schwer betrunkenen oder sonst beeinträchtigten Personen zu helfen Liegenlassen von betrunkenen Freunden/Freundinnen, damit diese wieder nüchtern werden, während man selbst weiter feiert Ausgesprochen unangemessene Reaktion im Verhältnis zur Exekutivgewalt (Polizei) 4 Strafe / Sanktion 4.1 Definition: ‚Strafe‘ „Die Strafe ist ein Übel, das einer Person, (dem ‚Täter‘), für ihr eigenes, vergangenes, tatbestandsmäßiges, rechtswidriges und schuldhaftes Handeln (Tun oder Unterlassen) von der Gesellschaft auferlegt wird und mit dem ein sozialethischer Tadel als Unwerturteil gegenüber dieser Person verbunden ist“. Der Begriff der ‚Strafe‘ ist damit zu unterscheiden vom Begriff der ‚Maßregel‘, der ‚Besserung‘ und der ‚Sicherung‘, deren zwei entscheidenden Begriffsmerkmale lediglich die ‚tatbestandsmäßige Tat‘ und die ‚rechtswidrige Tat‘ sind. 4.2 Zweck von Strafe – Straftheorien Dr. Christoph Thoma - LV Betreute Studienanteile: Recht und (Jugend-)Strafe Seite 16 von 21 pht-Lehrgang ‚Ethik in Schule und Bildung I‘ – 2012-14 4.2.1 Die absolute Straftheorie der Gerechtigkeit „Strafe um des Strafens willen“ Absolute Straftheorien zielen den Schuldausgleich und die Wiederherstellung der Gerechtigkeit an. Die absoluten Theorien verfolgt keinen sozial nützlichen Zweck und sind deshalb von gesellschaftlichen Auswirkungen der Strafe losgelöst (lat.: absolutus = losgelöst). Sie beziehen ihre Legitimation einzig aus einem metaphysischen1 Prinzip von Gerechtigkeit. Strafe ist Vergeltung oder Sühne. Diese Theorie möchte das durch die Handlung des Täters geschaffene Unrecht durch die Strafe aufwiegen, um die verletzte Rechtsordnung auf diese Weise wiederherzustellen. Sie dient dem Schuldausgleich und stellt auf diese Weise die Gerechtigkeit wieder her. Bekannte Vertreter dieser Theorie sind Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, wobei Kant das Talionsprinzip vertrat, wonach die Strafe der Tat entsprechen muss (Auge um Auge), während Hegel lediglich eine Wertgleichheit von Strafe und Tat fordert und eine Restaurierung des Rechts durch eine ‚Negation der Negation‘ verlangt. 4.2.1.1 Vorteile Der Vorteil einer an der absoluten Straftheorie orientierten Rechtsprechung ist, dass sich die Höhe der Strafe nach der begangenen Tat richtet, frei nach dem Prinzip „Auge um Auge“ (‚Talionsprinzip‘). Dies kann richterliche Willkür, wie etwa die Statuierung eines Exempels, verhindern und wirkt somit auch freiheitsbewahrend. Bei Tatschuldausgleich kann nunmehr auch das Ausmaß der persönlichen Schuld mitberücksichtigt werden. 4.2.1.2 Nachteile Die absolute Straftheorie folgt einem und realisiert einen metaphysischen2 Gerechtigkeitsbegriff, der natürlich rechtfertigungspflichtig und kritisierbar ist. Sie steht dem entgegen, dass säkulare Staaten die Legitimation ihrer Gewalt von den (freien) Bürgern und nicht von Gott oder von einem über wesensmetaphysische Argumente eingeführten obersten Prinzip ableiten. Die absolute Straftheorie hat Auswirkungen, die nicht dem Interesse des Einzelnen entsprechen: Die absolute Straftheorie fordert auch dann eine Strafe, wenn diese gesellschaftlich nicht notwendig ist. So vertrat etwa Kant die Ansicht, dass – auch wenn der Staat und die Gesellschaft sich auflösten – noch „der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden [muss], damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf diese Bestrafung nicht gedrungen hat“. Die Verfolgung der Vergeltungstheorie kann in der Praxis zu sozial unerwünschten Folgen führen, wie etwa Sozialisationsschäden, die oft Ursache für die Verübung von Verbrechen sind. Die Gesellschaft würde somit vor Verbrechen unter Umständen nicht stärker, sondern eventuell sogar weniger geschützt. Das Schuldprinzip beruht auf der Prämisse einer in naturwissenschaftlicher oder in Anm. C.T.: ‚metaphysisches‘ Prinzip hier von Härting nicht als terminus technicus philosophischer Wissenschaftlichkeit verwendet, sondern im allgemeinen Sinne eines ‚philosophisch gerechtfertigten‘ Prinzips. 2 Anm. C.T.: ‚metaphysischer‘ Gerechtigkeitsbegriff von Härting nicht als terminus technicus philosophischer Wissenschaftlichkeit verwendet, sondern im allgemeinen Sinne eines ‚philosophisch gerechtfertigten‘ Gerechtigkeitsbegriff. 1 Dr. Christoph Thoma - LV Betreute Studienanteile: Recht und (Jugend-)Strafe Seite 17 von 21 pht-Lehrgang ‚Ethik in Schule und Bildung I‘ – 2012-14 anderer positiv-empirischer Wissenschaftlichkeit nicht beweisbaren Willensfreiheit des Menschen.3 Mit der Behauptung, der Täter hätte willentlich anders handeln können, begründet es schwerste Sanktionen. Auch folgt aus dem Prinzip der Eigenverantwortung nicht die staatliche Zwangsstrafe, sondern die freiwillige Übernahme einer Buße. 4.2.2 Relative Straftheorien „Strafe, damit keine weiteren Taten geschehen“ Die relative Straftheorie (lat.: relatus = bezogen auf) ist präventiv orientiert und dient der Verhinderung künftiger Straftaten. Sie unterteilt sich in die Generalprävention und die Spezial- bzw. Individualprävention. 4.2.2.1 Generalprävention Die Generalprävention zielt auf den Schutz der Allgemeinheit und nimmt damit die Interessen der Gesellschaft wahr. Hierzu nutzt sie die Sozialwissenschaften als Referenz- und Legitimationsquellen ihrer Entscheidungen. Zu unterscheiden ist eine ‚positive‘ von einer ‚negativen‘ Generalprävention: positiv: Die positive Generalprävention soll das Vertrauen der Gesellschaft in die Rechtsordnung stärken. Dabei lassen sich drei unterschiedliche, ineinander übergehende Ziele und Wirkungen differenzieren: (1) die Einübung der Rechtstreue als Lerneffekt (2) der Vertrauenseffekt, der sich ergibt, wenn der Bürger sieht, dass das Recht sich durchsetzt (3) der Befriedigungseffekt, der sich einstellt, wenn sich das allgemeine Rechtsbewusstsein auf Grund der Sanktion beruhigt und den Konflikt mit dem Täter als erledigt ansieht. Kritik: Das Schuldprinzip, teils als Ausdruck der Menschenwürde verstanden, verbietet es, einen Täter mit schuldunangemessenen Strafen zu belegen, nur um Abschreckungseffekte bei der Bevölkerung zu erzielen. negativ: Die negative Generalprävention soll die Gesellschaft von der Begehung einer Tat abschrecken, indem deutlich gemacht wird, welche Strafen drohen. Kritik: Das Abstellen auf generalpräventive Zwecke hat zwar den Vorteil, dass andere Menschen in der Tat von der Begehung von Unrecht abgehalten werden können, allerdings darf nicht übersehen werden, dass viele Straftaten trotz der dem Täter bekannten Strafandrohung aus einem spontanen Entschluss heraus und ohne vernünftige Abwägung hinsichtlich der Folgen begangen werden. Auch noch so hohe Strafandrohungen führen nicht dazu, dass künftig keine Straftaten mehr begangen werden. 3 Amm. C.T.: Siehe hierzu die Ausführungen in den Unterlagen zu den LVen des Moduls 2 – Anthropologie und Freiheit. Dr. Christoph Thoma - LV Betreute Studienanteile: Recht und (Jugend-)Strafe Seite 18 von 21 pht-Lehrgang ‚Ethik in Schule und Bildung I‘ – 2012-14 4.2.2.2 Spezialprävention Die Spezialprävention zielt auf die Reduktion der vom Täter ausgehenden Gefährdungen. Hierzu nutzt sie die empirisch-kriminologische Wissenschaftlichkeit als Referenz- und Legitimationsquellen ihrer Entscheidungen. Auch hier ist eine ‚positive‘ von einer ‚negativen‘ Spezialprävention zu unterscheiden: positiv: Die positive Spezialprävention soll zur Besserung des Täters und seiner Resozialisierung führen. Positive Sanktionen sind z. B. Lob, Belohnung, Auszeichnung. Kritik: Was ist mit völlig resozialisierten Tätern und mit Tätern, die sich nicht resozialisieren lassen? negativ: Die negative Spezialprävention möchte die Allgemeinheit vor dem Täter schützen und den Täter durch Strafe davon abbringen, nochmals eine Tat zu begehen. Negative Sanktionen können z. B. sein: Tadel, Anzeige, Schmerzensgeld, Sicherungsverwahrung. Kritik: Besteht keine Begrenzung des Strafmaßes, so ist es fraglich, inwieweit der Staat einen Täter über dessen (abgesessene) Strafe hinaus festhalten darf (Sicherungsverwahrung). Strittig beantwortet wird die Frage danach, welche Zwecke die Strafe hauptsächlich verfolgen soll. Dabei bleibt die Tat als solche der Ausgangspunkt des Strafens. Zugleich findet die Strafe ihre Begrenzung in der Tat, im Umfang der Verletzungen/Schädigungen und in der subjektiven Tatschuld, da nur die Strafe, die der Schuld angemessen ist (schuldangemessene Strafe), gerecht ist. Ausschlaggebend für die Höhe der Strafe ist die Schuld des Täters. Trifft den Täter keine Schuld, kann er nicht bestraft werden. Zweck der Strafe im österreichischen Strafrecht ist die General- und Spezialprävention, der Vergeltungsgedanke ist weitgehend zurückgedrängt. Die im Einzelfall verhängte Strafe darf also nicht höher sein, als notwendig, um den Täter und die Allgemeinheit von der Begehung solcher Taten abzuhalten. Nachdem zahlreiche Forschungen das Ergebnis bringen, dass strengere Strafe kein Garant dafür sind, zukünftige Täter abzuhalten, kann der Zweck tatsächlich in Frage gestellt werden (Bsp. USA – Todesstrafe – Wirkung?). „Strafe ist dem Wesen nach Sühne, dient aber vor allem general- und spezialpräventiven Gründen.“ Der Vorrang der Spezialprävention ist meist anerkannt. Heutzutage sollte erster Zweck des Strafens die „positive Generalprävention“ sein. Dr. Christoph Thoma - LV Betreute Studienanteile: Recht und (Jugend-)Strafe Seite 19 von 21 pht-Lehrgang ‚Ethik in Schule und Bildung I‘ – 2012-14 II. KOMPETENZWEGE ZUR INDIVIDUELLEN ODER GEMEINSCHAFTLICHEN BEARBEITUNG 5 Fragen/Aufgaben zur Ertragssicherung (1) Nennen Sie die fünf wichtigsten Etappen der Rechtsgeschichte und deren jeweiligen spezifischen Merkmale. (2) Nennen Sie die Hauptmerkmale des Zivilrechts, des Öffentlichen Rechts, des Arbeitsrechts und des Strafrechts. Wer sind die jeweiligen Rechtssubjekte? (3) Erklären Sie den Aufbau des österreichischen Gerichtssystems. (4) Nennen und erklären Sie die Grundprinzipien des Strafrechts. (5) Nennen und erklären Sie die besonderen Sanktionen der Jugendgerichtsbarkeit. (6) Im Bereich der Strafzwecke werden voneinander unterschieden die absolute Straftheorie und die relative Straftheorie. Was ist der dem Strafen jeweils vorgegebene Zweck? Was folgt daraus für die Tätigkeit des Strafens? 6 Fragen/Aufgaben Ertragserweiterung (1) Können Sie Erfahrungen aus Ihrem beruflichen Umfeld anführen, die dafür sprechen, eine eigens den Jugendlichen vorbehaltene Gerichtsbarkeit installiert zu haben? (2) Härting formuliert einen positivistischen Rechtsbegriff.4 Was spricht für, was gegen den Rechtspositivismus? (3) Jede der zwei vorgestellten Straftheorien setzt einen spezifischen Zweck des Strafens voraus. Zwecke sind handlungsleitend, bedürfen also der ethischen Rechtfertigung. Formulieren Sie in Verwendung ethischer Termini mögliche Argumente zugunsten jeder der zwei angeführten Zwecke. Welchen Argumenten stimmen Sie zu? Begründen sie Ihre Entscheidung in Anbringung handlungstheoretischer und ethischer Terminologie. (4) Nur für besonders Interessierte: Als eine von den vier Aufgaben des Rechts und der Rechtsordnung nennt Härting den Schutz der Freiheit. Eine Prämisse ihres entsprechenden Arguments lautet, dass die Freiheit des einzelnen dort ende, wo die Freiheit der anderen beeinträchtigt wird. Ist diese Behauptung wahr? a. Welcher Freiheitsbegriff wird hier von Härting implizit angeführt? 4 S.o., 1.4 Was ist Recht?, S. 6. Dr. Christoph Thoma - LV Betreute Studienanteile: Recht und (Jugend-)Strafe Seite 20 von 21 pht-Lehrgang ‚Ethik in Schule und Bildung I‘ – 2012-14 b. Kennen sie einen Freiheitsbegriff, demnach die Freiheit bei der Freiheit des anderen nicht endet, sondern letztere vielmehr die Möglichkeitsbedingung von (eigener) Freiheit ist? c. Was kann widerspruchsfrei Gehalt von Freiheit sein (ohne also die als Freiheit ergehende Öffnungsbewegung zu negieren)? 7 Literatur Hoerster, Norbert: Was ist Recht? Grundfragen der Rechtsphilosophie, München (Beck) 2013. Kirste, Stephan: Einführung in die Rechtsphilosophie, Darmstadt (WBG) 2010. Nolte, Paul: Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart, München (Beck) 2012. Dr. Christoph Thoma - LV Betreute Studienanteile: Recht und (Jugend-)Strafe Seite 21 von 21