Selbstkonzept und Selbstwert

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Selbstkonzept und Selbstwert fördern die Selbstständigkeit. Wie Eltern dazu
beitragen können
Dirk Kranz
Selbstkonzept und Selbstwert
Der Begriff des "Selbst" und damit gebildete Begriffe wie "Selbstkonzept" und "Selbstwert"
gehören heute (wieder) zum psychologischen Grundwortschatz, wenngleich Vertreter anderer
Sozialwissenschaften dem verwandten Begriff "Identität" den Vorzug geben. Historische
Verwurzelungen und fruchtbare Forschungsaktivitäten der letzten 30 Jahre begründen die
Beliebtheit der Selbst-Konstrukte in der Psychologie (vgl. Filipp, 2000; Greve, 2000). Dies
gilt in besonderem Maß für die Kinderpsychologie, für die Fragen der Identitätsentwicklung
zentral sind.
Wenn wir von Selbstkonzept sprechen; geht es um das Wissen über uns selbst, das man auch
als mental repräsentiertes Selbstbild beschreiben kann (z.B. Kihlstrom & Klein, 1994). Aus
identitätspsychologischer Perspektive können hier allerdings nur solche
Selbstrepräsentationen gemeint sein, die strengeren Kriterien genügen, nämlich (vgl.
Brandtstädter & Greve, 1994):



soziale Diskriminanz ("was mich von anderen unterscheidet"),
zeitliche Stabilität ("was mich auf Dauer auszeichnet") und
biographische Bedeutsamkeit ("was für mein Leben wichtig ist").
Während die Selbsttheorie von Williams James (1890) den Blick auf kognitive Prozesse der
Selbstentwicklung gelenkt hat, kommt den symbolischen Interaktionisten das Verdienst zu,
auf die soziale Bedingtheit der Identität aufmerksam gemacht zu haben. Am deutlichsten wird
dies wohl durch Charles Cooleys (1902) Metapher der Spiegelbild-Identität ("Looking-GlassSelf") zum Ausdruck gebracht: An uns gerichtete Meinungen und Erwartungen wirken wie
ein sozialer Spiegel; durch ihn gewinnen und verinnerlichen wir ein Bild unseres Selbst.
Bemerkenswerterweise hat Cooley bereits - ganz im Sinne moderner
Sozialisationsvorstellungen - betont, dass sich das Individuum im Laufe der Entwicklung
zunehmend kritisch mit sozialen Einflüssen bzw. Beeinflussungsversuchen auseinandersetzt.
Solche Überlegungen deuten auf die wertende Komponente des Selbst hin: Wir entwickeln
nicht nur eine Vorstellung darüber, wer wir sind; wir entwickeln darüber hinaus auch eine
Vorstellung darüber, wer wir sein sollen bzw. sein wollen. Erfahrungen der Diskrepanz
zwischen erwartetem und gewünschtem Selbst machen deutlich, dass unser Selbst nicht
zuletzt durch eine affektive Haltung zu uns selbst gekennzeichnet wird; es geht um das
Selbstwertgefühl, oder kurz: den Selbstwert, der für unser Wohlbefinden und unsere
Lebensgestaltung von zentraler Bedeutung ist (z.B. Higgins, 1989; Leary & Baumeister,
2000). Selbstkonzept wie Selbstwert werden hier als unverzichtbare Merkmale personaler
Identität verstanden.
Damit wurden – angeregt durch Pioniere der sozialwissenschaftlichen Selbstforschung – zwei
Fragen aufgeworfen, die als Leitfaden dienen sollen, wenn wir nachfolgend die
Entwicklungslinie (klein-)kindlicher Selbstbildung skizzieren:
1. Was sind die kognitiven Voraussetzungen für die Entwicklung eines Selbstkonzeptes
in den ersten Lebensjahren?
2. Welche sozialen Kontexte sind einer positiven Selbstwertentwicklung förderlich?
Wie entwickelt sich ein Selbstkonzept?
Weder Selbstkonzept noch Selbstwert sind angeboren, sondern sie entwickeln sich über die
gesamte Lebensspanne hinweg. Die Ausbildung eines Selbstkonzeptes setzt voraus, dass sich
das Ich von seiner sozialen und physischen Umwelt abgrenzt. Bereits Neugeborene sind –
wohl aufgrund biologischer Anlage – dazu fähig, mit ihren Bezugspersonen zu interagieren.
Diese frühen Interaktionen kreisen noch ausschließlich um körperliche Bedürfnisse des
Säuglings, einschließlich des Bedürfnisses nach Schutz und Nähe (vgl. Ainsworth, 1973). Aus
zunächst unverbundenen Erfahrungen extrahieren Säuglinge zunehmend Regelmäßigkeiten,
die sich auf begrenzte und emotional gehaltvolle Wahrnehmungsfelder beziehen (nach Case,
1991), so etwa auf das Gesicht der Mutter oder ritualisierte Verhaltensweisen, wie
Nahrungsaufnahme oder Schlafenlegen. Schon früh in der menschlichen Entwicklung kommt
es also zu generalisierten Repräsentationen von Objekten (sog. mentale Schemata) und
Verhaltensweisen (sog. mentale Skripte). Die Schema- und Skriptausbildung vollzieht sich
freilich in einer Umwelt, in der Regelmäßigkeiten für das Kleinkind "inszeniert" werden, um
seine geistige und soziale Entwicklung zu fördern (z.B. gleiche Umgebung, immer
wiederkehrende Verhaltensabläufe). Man sagt, von der kleinkindlichen Umwelt gehe ein
starker Aufforderungsgehalt zu transaktionalem Verhalten aus (vgl. das Konzept der
"affordances" nach Gibson, 1979; hierzu auch Neisser, 1991).
Die Selbstkonzeptentwicklung, d.h. der Aufbau von identitätsrelevantem Wissen, vollzieht
sich in den ersten intimen Sozialbeziehungen. Der Gesichtsausdruck der Bezugsperson stellt
sicherlich die wichtigste selbstbezügliche Informationsquelle in der vorsprachlichen
Entwicklungsperiode dar. Säuglinge beherrschen diesen Kommunikationskanal früh, was sich
daran zeigt, dass sie bereits in den ersten Wochen den Gesichtsausdruck ihrer Bezugspersonen
imitieren können. Eine frühe Studie, die dies belegt, stammt von Andrew Meltzoff und Keith
Moore (1977). Sie konfrontierten zwei Wochen alte Säuglinge mit vier unterschiedlichen
Gesichtsausdrücken und zeichneten die Reaktionen der Kleinkinder per Videokamera auf. Die
Aufnahmen wurden unabhängigen Beurteilern zur Klassifikation vorgelegt: Die kleinen
Probanden konnten den Gesichtsausdruck der Modelle zuverlässig erkennen und
wiedergeben. Identifikation und Imitation fremden Verhaltens gelten im Rückgriff auf
Cooleys Spiegelbild-Metapher (1902) als wegweisend für die Ausbildung eines
Selbstkonzeptes.
Säuglinge nehmen einerseits früh Gemeinsamkeiten zwischen ihrem Verhalten und dem ihrer
Bezugspersonen wahr bzw. stellen diese her; andererseits erfahren sie zunehmend auch die
Verschiedenheit von ihnen: Nach wenigen Monaten reagieren sie in einer bis dahin
ungewöhnlich abwehrenden Weise auf eine räumliche Trennung von ihren Bezugspersonen.
Diese Trennungserfahrung gilt wiederum als Voraussetzung, die Bindung zwischen Säugling
und Bezugsperson aufzubauen und zu intensivieren. Kleinkinder lernen, dass ihre
Bezugspersonen eigenständig, aber doch mit ihnen verbunden sind. So kann langfristig wieder
Trennungstoleranz gesichert werden (vgl. Ainsworth, 1973). Erik Erikson (1979) benennt vor
diesem Hintergrund die zentrale Identitätsthematik des Kleinkindalters als "Vertrauen vs.
Misstrauen".
Aversive Trennungserfahrung und sich anschließende Trennungstoleranz gelten als Auftakt
für die Entwicklung einer Theorie des Geistes ("theory of mind"); es geht um die Erkenntnis
des Kleinkindes, dass es und seine Bezugspersonen nicht nur physisch, sondern auch
psychisch getrennte Wesen sind, die trotzdem eine stabile und sichere Beziehung haben
können. So gelingt es Kleinkindern gegen Ende des ersten Lebensjahres, ihre
Aufmerksamkeit auf die Zeigebewegung ihrer Bezugspersonen zu richten und sich bei
Bewegungsende rückzuversichern, dass das Demonstrationsobjekt (z.B. ein bestimmtes
Spielzeug in der Zimmerecke) gemeinsam visuell erreicht wurde. Im Zusammenspiel von
Geben und Nehmen zeigt sich erstmalig die Fähigkeit, mit einer anderen Person
Handlungsabsichten zu teilen (vgl. Case, 1991). In Unsicherheits- oder Gefahrensituationen
nimmt das Kleinkind Kontakt zur Bezugsperson auf, um mit ihr Affekt und Verhalten
abzustimmen ("social referencing" nach Campos & Barrett, 1988).
Interessanterweise sind Gesichts- und Körperschema von Bezugspersonen bereits ausgebildet,
bevor ein eigenes Körperschema entwickelt wird (vgl. auch Pipp, 1993). Michael Lewis und
Jeanne Brooks-Gunn (1979) beobachteten die Reaktion von Kleinkindern beim Betrachten
des eigenen Spiegelbildes. Zuvor wurde den kleinen Probanden ein roter Farbtupfer auf die
Nase gepinselt. Vor dem 9. Lebensmonat waren keine auffälligen Reaktionen gegenüber dem
eigenen Spiegelbild erkennbar; das Kleinkind betrachtete sich im Spiegel, wie es ansonsten
andere Kinder wahrnahm. In den nachfolgenden Lebensmonaten nahm die Fixationsdauer des
eigenen Spiegelbildes kontinuierlich zu, aber erst zwischen dem 18. und 24. Lebensmonat
deuteten die meisten Kleinkinder mit ihren Händen auf den Farbtupfer hin und machten somit
auf dessen Fremdheit aufmerksam.
Die oben beschriebene Differenzierung zwischen Selbst und Umwelt ermöglicht auch die
Entwicklung von Handlungskompetenzen: So verursachen Kleinkinder sich wiederholende
Effekte am eigenen Körper (z.B. Arme gezielt heben und senken) und in der Umwelt (z.B.
eine Rassel immer wieder fallen lassen). Die erlebte Urheberschaft löst in ihnen sichtbar
Freude aus und regt sie dazu an, ihr Verhaltensrepertoire weiter zu verbessern und
auszubauen. Eltern greifen diese kindliche "Funktionslust" (K. Bühler, 1918) im Spiel auf und
fördern damit wiederum die Selbstregulation und Selbstständigkeit ihrer Kinder. Derart
hergestellte Verhaltens-Effekt-Kopplungen sind von wesentlicher Bedeutung für die
Ausbildung einer Selbstrepräsentation der eigenen Fähigkeiten. Jerome Kagan (1981) ließ
Kleinkinder unterschiedlichen Alters beobachten, wie Erwachsene bestimmte Effekte mittels
unterschiedlicher Spielzeuge herstellten (sog. Modelllernen). Nach jeder Beobachtungseinheit
wurde den Kleinkindern das Spielzeug mit der Aufforderung überlassen, den vorgeführten
Effekt nachzuahmen. Kinder im Alter von ungefähr zwei Jahren imitierten einfache
Handlungsabläufe, zeigten bei schwierigen jedoch aversive Reaktionen (Weinen, Abwehr
u.ä.). Sie hatten offensichtlich eine Vorstellung über das eigene (in diesem Fall noch
unzureichende) Können entwickelt.
Dass sich Repräsentationen des eigenen Körpers und der eigenen Fähigkeiten im Übergang
vom zweiten zum dritten Lebensjahr ausbilden, ist kein Zufall. In dieser Periode entwickelt
sich die Sprache, mit der eine abstrakte Repräsentation des Selbst erst möglich wird. Kinder
erlernen Personal- und Possessivpronomina sowie den eigenen Namen. Sie benennen sich,
wenn sie etwa auf früher Eigenständigkeit beharren (z.B. "Ich mache das!") und geben sich
selbst Handlungsanweisungen (sog. Selbstinstruktionen) oder kommentieren das eigene
Verhalten und nehmen dabei eine Außenperspektive ein. Sie bilden frühe Identitätsanker,
wenn sie sich mit bestimmten Objekten, z.B. ihrem Lieblingsspielzeug, identifizieren ("Meine
Puppe!"). Einfache diskriminative Kontraste werden in das erwachende Selbstkonzept
integriert (z.B. Junge vs. Mädchen, Kind vs. Erwachsener). Im Alter zwischen 3 und 5 Jahren
antworten Kinder auf die offene Frage "Wer bist Du?" mit einer Reihe von kategoriellen
Identifikationen (vgl. Damon & Hart, 1992): Sie beschreiben sich über physische (z.B. "Ich
habe blaue Augen"), soziale (z.B. "Mein Papa ist ...") oder Aktivitätsattribute ("Ich spiele
gerne Fußball"). Dieses Kategoriale Selbst ist anfänglich auf konkrete Selbstattribute
beschränkt.
Mit dem Spracherwerb eng verknüpft ist die Ausbildung eines autobiographischen
Gedächtnisses (vgl. Fivush, 2001): Erinnerungen an einzelne frühere Erlebnisse werden
immer mehr in eine zusammenhängende Lebensgeschichte integriert. Diese Geschichte wird
zunächst - stellvertretend - von den Bezugspersonen des Kindes entworfen und vermittelt.
Zunehmend stärker beteiligen sich die Kinder aktiv an autobiographischen Erinnerungen. Dies
ermöglicht ihnen, identitätsrelevante Regelmäßigkeiten aus einer oberflächlichen
Erzählstruktur zu extrahieren: Hierzu gehören Vergegenwärtigungen eigener
Verhaltensmuster (z.B. Situationen, die immer wieder aufgesucht oder gemieden werden) und
sozialer Beziehungen (z.B. feste Umgangsformen mit bestimmten Personen).
Vor dem Hintergrund beschränkter Arbeitsgedächtniskapazitäten sind die Attribute, die das
Objekt-Selbst der frühen Kindheit bestimmen, noch recht unverbunden. Erst im mittleren
Kindesalter werden selbstbezogene Attribute bereichsübergreifend verwendet (z.B. schnell
sein im Laufen, Klettern und Hüpfen). Aber auch in diesem Entwicklungsabschnitt erweisen
sich die Attribute noch als eindimensional: Sie werden als Gegensätze verstanden und
dementsprechend für die eigene Person entweder vollständig angenommen oder abgelehnt
(vgl. Harter, 1998). Dieses Schwarz-Weiß-Muster wird erst im Zusammenhang sozialer
Vergleiche durchbrochen ("Wie stehe ich im Vergleich mit ... da?"). Der (Vor-) Schulbesuch,
der langfristige und altersgleiche Interaktionen sichert, forciert Vergleichsprozesse mit
Altersgenossen. Er fördert den Aufbau von Verhaltensstandards, die sich vor allem auf
physische und intellektuelle Bereiche beziehen. Die Selbstattribute werden zunehmend
mehrdimensional: Kinder erfahren nun, dass sie etwa im Rechnen Schwächen aufweisen, aber
Lesen und Schreiben gut beherrschen. Insgesamt sind es also zunehmend psychologische und
mehrdimensionale Attribute, die das Selbstkonzept der späten Kindheit charakterisieren.
Wie fördere ich das Selbstwertgefühl meines Kindes?
Unter dem Selbstwert versteht man ein globales und stabiles Gefühl der Wertschätzung der
eigenen Person. Dieses Konstrukt setzt geistige Fähigkeiten voraus, die erst ab der mittleren
Kindheit ausgebildet werden und eng an sprachliche und repräsentationale Kompetenzen
gekoppelt sind: die Fähigkeit zur Abstraktion von bereichsspezifischen Selbstbewertungen
und eine gewisse Beständigkeit des aktuellen ("So bin ich.") wie normativen Selbstbildes ("So
will/soll ich sein.").
Das kindliche Selbstwertgefühl hat Vorläufer, die in der frühen Eltern-Kind-Interaktion
verortet sind. Von zentraler Bedeutung ist der elterliche Erziehungsstil. Stanley Coopersmith
(1967) hat elterliches Erziehungsverhalten beschrieben, das sich im Hinblick auf die Kinder
als selbstwertförderlich erwiesen hat: Eltern, deren Söhne einen hohen Selbstwert aufwiesen,
zeichneten sich durch einen sog. demokratischen Erziehungsstil aus; d.h. sie setzten hohe
Anforderungen und zeigten klare Kontrolle, gaben ihren Kindern aber auch stets
Unterstützung bei Schwierigkeiten. Ihre Beziehung zum Kind gründete insgesamt auf einer
wohlwollenden Grundhaltung. Im Rahmen der Bindungstheorie betont Mary Ainsworth
(1973), dass ein sicherer Bindungsstil das kindliche Selbstwertgefühl entscheidend fördert:
Die Eltern geben verlässlichen Schutz und bieten gleichzeitig Unterstützung, die Umwelt zu
erkunden und selbständig zu werden. Diana Baumrind (1996) beschreibt
selbstwertzuträgliches Erziehungsverhalten als autoritativ (nicht zu verwechseln mit
autoritär). Damit meint sie einen Erziehungsstil, der sich durch klare Regeln und
Anforderungen an das Kind, aber auch ein hohes Maß an Zutrauen und Unterstützung
kennzeichnet.
Diese und andere Erziehungsstilanalysen lassen zwei Basisfaktoren der Erziehung erkennen:
Responsivität und Anforderung (vgl. Baumrind, 1996). Als Responsivität bezeichnet man die
Abstimmung von kindlichen Bedürfnissen und elterlichen Reaktionen. Es geht also darum,
wie einfühlsam und unterstützend Eltern auf ihre Kinder eingehen. Unter Anforderung ist der
elterliche Anspruch an leistungsbezogenes wie moralisches Verhalten ihrer Kinder gemeint.
Es geht insbesondere um Regeln, die klar übermittelt werden und auf die eine
situationsangemessene und verlässliche (d.h. unter gleichen Umständen auch gleiche)
elterliche Reaktion erfolgt (z.B. Aufmerksamkeit, Lob, Kritik). Immer wieder wird betont,
dass Eltern ihre Erziehungsstrategien an situationale Randbedingungen und besonders den
kognitiven Entwicklungsstand ihrer Kinder anpassen sollen; im Bereich der
Selbstständigkeitserziehung ist von "dosierten Diskrepanzen" die Rede: Die Anforderungen
sollten den aktuellen Fähigkeiten des Kindes immer "eine Spur voraus" sein und damit den
größtmöglichen Ansporn darstellen. Responsivität und Anforderung können als günstige
Voraussetzung für eine positive kindliche Selbstwertentwicklung gelten.
Die Selbstwertentwicklung wird entscheidend vorangetrieben, wenn sich der soziale
Bewegungsradius des Kindes vom familiären Kontext auf Gleichaltrige ("peers") ausdehnt
und soziale Vergleiche angestellt werden (vgl. Frey & Ruble, 1985). In der frühen Kindheit
gilt das Selbstkonzept der Kinder noch als unrealistisch positiv. Das wird darauf
zurückgeführt, dass Kinder in diesem Entwicklungsabschnitt nur unzureichend zwischen
Tatsachen und Wünschen unterscheiden können, d.h. die Grenzen zwischen "sein sollen" und
"sein wollen" sind noch sehr unscharf (vgl. Wellman & Woolley, 1990). Zudem gründet das
frühe Selbstkonzept wesentlich auf zeitlichen Vergleichen ("Wie stehe ich heute im Vergleich
zu früher da?"), die aufgrund der rasanten Lernfortschritte in der Kindheit häufig äußerst
positiv ausfallen. Schließlich sind auch die elterlichen Bewertungen ihrer Kinder insgesamt
sehr wohlwollend (überspitzt: "Unser Kind ist das Schönste und Schlaueste überhaupt!"). Erst
der direkte Vergleich mit Altersgenossen führt zu einem realistischeren kindlichen Selbstbild,
da auch Schwächen und Unterlegenheiten offensichtlich werden. Desweiteren bieten
Kontakte zu Gleichaltrigen nun die Gelegenheit, das in der Familie entwickelte
Selbstwertgefühl in den erweiterten sozialen Kontexten zu bestätigen bzw. zu revidieren.
Zunehmend werden die Dimensionen reichhaltiger, aus denen sich der Selbstwert speist:
Schulische Kompetenzen, körperliche Fähigkeiten, physisches Aussehen und nicht zuletzt die
Beliebtheit bei den Gleichaltrigen werden immer wichtigere Quellen des Selbstwertgefühls
(vgl. Harter, 1998).
In der mittleren Kindheit lösen Freundschaften mit Gleichaltrigen die noch von den Eltern
organisierten Spielgemeinschaften ab. Von wesentlicher Bedeutung für die
Selbstwertschätzung in dieser Entwicklungsphase sind exklusive Freundschaften (der beste
Freund, die beste Freundin) sowie die Zugehörigkeit zu und die soziale Akzeptanz von
größeren Sozialverbänden (Kindergartengruppe und vor allem Schulklasse). Einsamkeit,
Nichtbeachtung oder gar Ablehnung hingegen sind in hohem Maße selbstwertabträglich und
erhöhen das Risiko weiterer Entwicklungsprobleme (vgl. Schaffer, 1996). Beziehungen zu
Gleichaltrigen sind zudem ein wichtiges Erfahrungsfeld für die selbstständige Gestaltung
sozialer Beziehungen.
Das Selbstwertgefühl ist eng mit selbstregulativem Verhalten und Kontrollerleben verwoben.
Es geht hierbei um das eigenverantwortliche Ausführen bestimmter Aufträge oder eigener
Ideen. Eltern und Erzieher haben in diesem Zusammenhang die Aufgabe, dem Kind
geschützte Tätigkeitsfelder anzubieten bzw. zuzuweisen, Handlungsressourcen zur Verfügung
zu stellen und nötige Kompetenzen zu vermitteln. Die Angebote und Ansprüche sollten die
kindlichen Möglichkeiten weder drastisch unter- noch überfordern, sondern einerseits Erfolge
sicherstellen und andererseits neue Herausforderungen beinhalten. Sind die Ziele in der
frühen Kindheit noch von außen vorgegeben, so werden sie zunehmend und in konstruktiver
Weise selbstgesetzt. Kinder lernen darüber hinaus, zwischen Fern- und Nahzielen und
zwischen wichtigen und weniger wichtigen Zielen zu unterscheiden. In den kindlichen Zielen
drückt sich zunehmend kindliche Eigenständigkeit und Lebensgestaltung aus (vgl.
Brandtstädter, 2001, vgl. auch das Konzept der "self-guides" nach Higgins, 1989). Die
Identifikation des Kindes mit bestimmten Zielen wird besonders deutlich, wenn Widerstände
oder Hindernisse eigene Handlungspläne durchkreuzen und selbstwertverteidigende
Reaktionen erkennbar werden (z.B. vermehrte Anstrengung oder aggressives Verhalten). In
der späten Kindheit werden – gerade im Falle der Selbstwertbedrohung – zunehmend auch
symbolische Identitätsindikatoren erworben, etwa eine bestimmte Art des Spielzeugs oder der
Kleidung (vgl. das Konzept der "Symbolischen Selbstergänzung" nach Wicklund &
Gollwitzer, 1982). Im Geflecht von Selbst, Handeln und Umwelt ist es nicht zuletzt die
Ausdifferenzierung von emotionalen Reaktionen (z.B. Ärger, Enttäuschung, Erleichterung,
Stolz), die auf den erwachenden Selbstwert aufmerksam macht.
Zusammenfassung
Unter dem Selbstkonzept wird die mentale Repräsentation der eigenen Person oder das
Selbstbild verstanden. Von dieser beschreibenden Komponente wird der Selbstwert
unterschieden: die Wertschätzung der eigenen Person und damit verbundenes Wohlbefinden.
Die Entwicklung des Selbstkonzeptes kann als soziale Konstruktion beschrieben werden, die
durch die Selbst-Umwelt-Differenzierung und das Bedürfnis nach Interaktion mit
Bezugspersonen ermöglicht wird. Frühe Elemente des Selbstkonzeptes sind Repräsentationen
der eigenen Sozialbeziehungen, des eigenen Körpers und der eigenen Fähigkeiten. Es besteht
ein enger Zusammenhang zwischen dem Verstehen anderer Menschen und dem
Selbstverständnis; die Selbstkonzeptentwicklung ist eng an die Fähigkeit des
Perspektivenwechsels gebunden. Der Spracherwerb und die Rede über die eigene Person und
Lebensgeschichte gestatten erst abstraktere - z.B. vergangenheits- und zukunftsbezogene
sowie mehrdimensionale - Selbstrepräsentationen.
Die Sprache ermöglicht bzw. vereinfacht die Vermittlung und Internalisierung von Normen,
die die Bezugspunkte des Selbstwertes bilden. Ein positiver Selbstwert entwickelt sich
insbesondere bei Kindern, die in sicheren elterlichen Bindungen und - ab der mittleren
Kindheit - in Gleichaltrigen-Kontexten aufwachsen, die durch gegenseitige Akzeptanz und
Sympathie geprägt sind. Entscheidend ist ferner das Erleben persönlicher
Handlungskompetenzen zur Verwirklichung oder Verteidigung von frühen
selbstwertrelevanten Aufgaben oder Projekten und damit verbundene positive Gefühle.
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