Die Angst

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Die Angst
Auszüge aus dem Buch von:
Dr. med. Egon Fabian, Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapeutische
Medizin, Psychoanalytiker und Lehranalytiker und Chefarzt der DynamischPsychiatrischen Klinik Menterschwaige in München, „ANATOMIE DER ANGST.
Ängste annehmen und an ihnen wachsen.“ Mit einem Vorwort von Raymond
Battegay. Klett-Cotta, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-608-94796-0, Euro 22,95.
Die in immer schnellerem Tempo, quasi exponentiell zunehmende Veränderung um
uns hat psychologische Folgen. Sie berührt den Alltag, die menschlichen
Beziehungen, die Erziehung, soziale Probleme, Wirtschaft und Politik, die
Wissenschaft, die Medizin und nicht zuletzt auch die Psychotherapie.
Die psychotherapeutische Arbeit zeigt, dass der Einfluss der globalen Probleme
potenziert wird durch den Zerfall traditioneller familiärer Strukturen und des
Gruppenzusammenhalts, mit dem Ergebnis einer wachsenden Isolation des
Individuums.
S. 17
Raymond Battegay, Schweizer Psychiater und Psychoanalytiker meint dazu:
„Die Angst hat die Menschen zu allen Zeiten beschäftigt. Sie scheint aber noch nie
so dominant wie heute gewesen zu sein. Der moderne Mensch, obschon er kaum
einen Ort findet, an dem er für sich selbst sein kann, fühlt sich zutiefst vereinsamt.
Allein steht er oft seinen Lebensaufgaben gegenüber. Angst bemächtigt sich deshalb
seiner.“
S. 18
Angst ist als existenzielle Angst ein Urgefühl menschlichen Daseins. Es wird nie ein
Leben ohne Angst geben. Die Menschen unterscheiden sich weniger dadurch, ob sie
Angst haben; sie unterscheiden sich in der Art, wie sie gelernt haben, die Angst
auszudrücken. Und sie unterscheiden sich wesentlich in der Art, wie sie mit der
Angst umgehen, mit anderen Worten in ihrer Art, die eigene Angst vor der Angst
zuzulassen oder abzuwehren, zu verdrängen oder zu konfrontieren.
S. 21
Krankhafte (pathologische) Angst ist eine Angst, die verdrängt, abgewehrt wird, nicht
bewusst ist; sie drückt sich durch andere Gefühle (z.B. Aggression) oder nimmt
überhand und verhindert durch ihre Ausmasse ein bewusstes, geniessendes Leben
in Beziehung zu anderen Menschen und Gruppen.
Die Angststörung ist immer Teil eines Prozesses, indem Depression,
Zwangssymptome, Aggression und Selbstaggression, irrationale Schuldgefühle,
Scham, Misstrauen, Abgrenzungsprobleme, Abhängigkeit, Unentschlossenheit,
Kontaktstörungen, Gruppenängste u.a. das Bild ergänzen.
1
Angst liegt jeder psychischen, psychiatrischen und psychosomatischen Störung in
unterschiedlichem Ausmass zu Grunde.
S. 34
Vier Untergruppen von Angststörungen
Die Generalisierte Angststörung wird als eine über längere Zeit anhaltende Angst
beschrieben, die oft ohne bestimmten Grund auftritt und deshalb der Umgebung als
„unrealistisch“ oder „übertrieben“ erscheint. Sie kann von körperlichen Beschwerden
wie Unruhe, Schweissausbrüchen, Bauchschmerzen, Herzklopfen, Zittern oder
Übelkeit begleitet sein.
S. 35
Mit Panikstörung bezeichnet man eine anfallsartige, meist ohne erkennbaren Grund
sehr heftig auftretende – oder sich allmählich steigernde – Angst, die unerträglich
wird und mit Todesfurcht oder der Befürchtung, „verrückt“ zu werden, verbunden sein
kann. Im Grunde ist Panik nichts anderes als eine nicht mehr kontrollierbare
Steigerung der Angst, eine Angstspirale.
S.36
Phobien werden durch mehr oder weniger „irrationale“ Situationen (offene Plätze,
Höhen, Menschenansammlungen etc - Agoraphobie) spezifische Lebewesen (Tiere)
oder Naturereignisse (Dunkelheit, Donner) ausgelöst. Ihre Intensität kann von
leichtem Unbehagen bis zu panikartigen Attacken variieren; das Objekt der Panik
wird konsequent gemieden.
S. 36/37
Als Soziale Phobie bezeichnet man eine Angst (eigentlich Furcht) vor sozialen
Situationen, in denen man Menschenmengen oder bestimmten Aufgaben und
Leistungen ausgesetzt ist, die mit der Möglichkeit eines Versagens drohen. Die
Erwartung einer solchen Situation reicht aus, um den darunter Leidenden in grosse
Angst zu versetzen.
S. 38/39
Angst – Begleiter des Menschen
Oft versteckt sich der Mensch vor seiner schicksalsbedingten Angst, versucht also,
der Angst vor der Angst lebenslang auszuweichen. Dann fehlt ihm nicht nur die
menschliche Tiefe, sondern auch die geistige Kraft und die Fähigkeit, mit den
Mitmenschen in echten Kontakt zu treten. Meist tritt dann Wut, manchmal auch Hass,
an die Stelle der Angst. S. 43
Der schottische Psychoanalytiker Fairbairn schreibt: „Die früheste und
ursprüngliche Form der Angst, die das Kind erlebt, ist die Trennungsangst.“
Nach Günter Ammon, deutscher Psychoanalytiker, „erfährt das Kind die
Ablehnung durch die Mutter als eine existenzielle Verlassensangst und
Vernichtungsdrohung“; später erweiterte er dieses Verständis der Genese der
2
S. 44
Angststörung auf die gesamte Primärgruppe (Familienmitglieder und Freunde), in der
die Mutter für das Kind die zentralste, aber nicht die einzig wichtige Person ist. Die
bewusste und unbewusste Dynamik der Primärgruppe um das Kind und die Mutter ist
von zentraler Bedeutung für die Entwicklung, die späteren Identifikationen und die
verinnerlichten Beziehungen – d.h. für die gesamte psychische Struktur des Kindes.
Je mehr Urvertrauen das kleine Kind verinnerlicht, desto weniger leidet es später
unter Trennungs- und Verlassenheitsangst.
S. 45
Die Eltern bzw. die Familie verstehen die Angst nicht, weil ihre eigene Angst in der
Kindheit nicht verstanden oder sogar aktiv unterdrückt wurde; sie wiederholen ihre
eigene Erfahrung mit der Angst, so wie sie auch ihre Erfahrungen mit Aggression und
Gewalt wiederholen. Sie gehen der Angst des Kindes aus dem Weg, weil sie die
eigene Angst nicht spüren wollen: Man kann oft von einer transgenerationalen
Verkettung der Angst sprechen.
S.46
Urangst ist aber immer primär körperlich – oder sie ist an der Grenze von Seele und
Körper angesiedelt.
Der Körper drückt aber nicht nur Angst aus, er „speichert“ sie auch, er „erinnert sich“
sogar an seine frühesten, in der vorsprachlichen Zeit gemachten Erfahrungen. S. 47
Ammon definiert konstruktive Angst als eine gespürte, dem zwischenmenschlichen
Kontakt dienliche Form der Angst. „Sie macht den Menschen offen für andere (und)
lässt ihn Hilfe annehmen.“ Sie stellt die „wichtigsten Regulationsprinzipien des Ichs
(…) und Gefühlsbefindlichkeit des Menschen“ dar. „Die konstruktive Angst macht
den Menschen zum Menschen.“
Demgegenüber ist die Angst destruktiv, wenn sie zwischenmenschlichen Kontakt
verhindert, indem sie „Vermeidungsverhalten (bewirkt), insbesondere Vermeidung
neuer Erfahrungen und Beziehungen.“
Als einer von wenigen Autoren betont Ammon die Bedeutung der defizitären Angst
für den Aufbau der Persönlichkeit und die zwischenmenschlichen Kontakte des
Individuums. Die defizitäre, nicht gespürte Angst (spürbar aber für die Umgebung)
wird definiert als „eine Abwehr der Angst, als eine Flucht vor der Angst, was ein
Ausweichen vor einer Auseinandersetzung mit sich selbst, mit der eigenen Identität
bedeutet.“ Generelles Vermeidungsverhalten, Starrheit, Zwang und der Totstellreflex
des Depressiven zeigen, wie ohne Angst keine Entwicklung entstehen kann.
S. 79
3
Die vielen Gesichter der Angst. Variationen auf ein Thema
Panik
Jede Angst kann unter bestimmten Bedingungen zur Panik werden: dann zum
Beispiel, wenn keine Hilfe, keine Rettung in Sicht ist.
Oft zeigt sich Panikstörung bei Menschen, die dazu neigen, keine Angst zu spüren.
Die Übergänge zwischen der so genannten Generalisierten Angststörung und der
Panikstörung sind bezüglich der frei flottierenden Angst fliessend.
S. 111
Ihre enorme Intensität ist durch die Tatsache mitbedingt, dass ein von Panik
ergriffener Mensch jeglichen Kontakt zu den anderen verliert und sich vollkommen
allein mit der übermächtigen Bedrohung konfrontiert fühlt. Er ist kaum oder nicht
mehr erreichbar, nicht mehr „ansprechbar“. Demnach kann man Panik als eine
gesteigerte Angst begreifen, bei der das Element der Einsamkeit extreme Ausmasse
annimmt; hier potenzieren sich Angst und Einsamkeit am extremsten.
S.112
Angst zu versagen
Sie bedeutet nichts anderes als die Angst, die Liebe und Bedeutung für die
Hauptperson nicht zu verdienen oder zu verlieren. Die anhaltende Angst, dieser
Liebe nicht „würdig“, nicht gut genug für sie zu sein, kann die Persönlichkeit eines
Menschen nachhaltig verformen und die ihr innewohnende Angst ins Unbewusste
verdrängen und in Hass umkehren. Arno Gruen, deutsch-schweizerischer
Schriftsteller, Psychologe und Psychoanalytiker sieht in der Angst vor der Angst,
die oft auf andere projiziert wird, einen Motor unserer Kultur.
Aber die Angst, die Liebe (der Eltern, der Primärgruppe und anderer wichtiger
Personen) nicht zu verdienen, ihrer nicht „würdig“ zu sein, bedeutet in sich eine tiefe
Verlassenheit und psychische Misshandlung, denn ein Kind, das seine Liebe
„verdienen“ muss, ist ein bereits verlassenes, in seiner Angst und seinem Kindsein
nicht empathisch wahrgenommenes Wesen. Solchen Kindern ist früh „beigebracht“
worden, dass sie nicht um ihrer selbst willen geliebt wurden und dass sie um ihre
Liebe kämpfen müssen bzw. diese jederzeit leicht verlieren, wenn sie die
„Spielregeln“ nicht einhalten. Das Ausgeliefertsein an die Bedingungen, die daran
geknüpft werden, dass man geliebt und angenommen wird, schafft Abhängigkeit,
Leistungsdruck und Perfektionismus, Zwang und Hass und dauernde unterschwellige
Verlassenheitsangst.
S. 114
4
Angst-Manifestationsformen
Trennungsangst
Die Trennungsangst ist der ursprünglichsten Grundform der Angst, der
Verlassenheitsangst, am nächsten. Die Psychiater Arnold und Joraschky
schreiben: „Aufgrund der überlebenswichtigen Funktion von Bindung ist
Trennungsangst eine primäre Angst.“ Am Anfang sind Trennung und Verlassenheit
ein und dasselbe. Sie bleiben dasselbe, wenn das Kind kein Urvertrauen entwickelt,
d.h. das Vertrauen, dass die Mutter oder andere wichtige Personen nach der
Trennung zurückkehren und das Kind nicht verlassen. Hier ist freilich nicht nur
physische, sondern auch – und vor allem – seelische Verlassenheit gemeint.
S. 121
Eine unsichere Bindung, d.h. eine bereits bestehende Verlassenheitsdynamik, die
mit dem Nichtspüren oder Nichternstnehmen der Gefühle des Kindes und der
fehlenden oder zu geringen tragenden Funktion der Familie einhergeht, macht jede
Trennung, auch eine sonst in der Regel tolerierbare, zu einem traumatischen
Ereignis.
S. 122
Identitätsangst
Ohne den eigenen Kampf mit und die Überwindung der Angst vor Verantwortung
kann es kein erfülltes, in eigener Identität gelebtes Leben geben.
S. 128
Es kann keinen neuen Schritt ohne Trennung vom Alten, von früheren Dynamiken
geben. Der Prozess der Identitätsentwicklung ist immer mit Angst verbunden, da
„jeder Schritt in Richtung einer eigenen Identität auch einen Trennungsschritt aus der
Symbiose bedeutet“.
S. 129
Angst vor dem Neuen und vor Veränderung
Die Angst vor dem Neuen ist eine unmittelbare Form der Verlassenheitsangst. Alles
Neue droht mit Unbekanntem, Unsicherem, zwingt den Menschen, der unter Angst
leidet, sich von Altem, Vertrautem zu trennen.
S. 131
Die Angst vor Veränderung ist desto bedrohlicher, je labiler der Bezug zu etwas
Stabilem, je unsicherer die Persönlichkeit und je grösser ihre (meist nicht gespürte)
existenzielle Angst ist.
S. 133
Angst und Körper
Psychosomatik ist Angst, und zwar bei allen psychosomatischen Erkrankungen; sie
ist die häufigste Ausdrucksform der Angst überhaupt. Angst ist der psychosomatische Affekt schlechthin. Sie ist gleichsam zwischen Körper und Psyche
angesiedelt; sie findet körperlichen und seelischen Ausdruck.
S. 159
„Der psychosomatische Kranke wächst in einer emotionalen Leere auf und
(bekommt) nie die Zuwendung, die er als Kind eigentlich bräuchte. Diese Leere in der
5
frühen Lebensgruppe bringt das Kind dazu, sich über das Signal einer körperlich
erscheinenden psychosomatischen Krankheit Liebe und Zuwendung zu holen. Alle
psychosomatischen Kranken sind innerlich Verlassene. Es herrscht ständige Angst
vor, verlassen zu werden; in aktuellen Trennungssituationen versuchen diese
Patienten, alles zu tun, um eine Trennung zu verhindern. Sie machen sich dadurch
unbewusst völlig abhängig von anderen Menschen. Die Patienten reagieren in
Trennungssituationen mit körperlichen Symptomen. Man könnte psychosomatische
Erkrankungen deshalb auch als „Trennungskrankheiten“ bezeichnen.“
S. 160
Trauma und Angst
Das misshandelte oder missbrauchte Kind leidet nicht nur – und oft nicht einmal
hauptsächlich – unter dem eigentlichen Trauma selbst, sondern vielmehr darunter,
dass der Täter, meist ein Vertrauter, „plötzlich“, für das Kind völlig unerklärlich, sich
verändert, bedrohlich und unkenntlich wird. Er ist unberechenbar geworden und hat
sein wahres Gesicht verloren, hat nunmehr zwei Wesen.
Spätere Traumatisierungen sind besonders dann folgenschwer, wenn sie auf den
„fruchtbaren“ Boden früherer (Beziehungs-)Traumatisierungen fallen.
S. 165
Traumatisierende Ereignisse beschränken sich selten auf eine einfache Täter-OpferDynamik. Sie stellen mit grosser Regelmässigkeit gruppendynamische Situationen
dar, in denen aktive und passive Mittäter bzw. duldende Dritte oder Untergruppen
eine bedeutende Rolle spielen. Die häufigste Variante der Mitwirkung von Einzelnen
und Gruppen in traumatisierenden Situationen ist das passive Dulden, das NichtHinschauen.
S. 167
Heute ist bekannt, dass sich der Körper an frühe Traumata wie Verlassenheit,
Misshandlung oder Missbrauch „erinnert“ – man spricht vom „Gedächtnis des
Körpers“.
S. 175
6
Die Angst vor der Angst
Aktionismus
Aktionismus ist vielleicht die am meisten verbreitete – und auch gesellschaftlich
sanktionierte – Art, mit Angst umzugehen. Der stets aktive, „fleissige“, oft auch
innovative „Workaholic“ täuscht oft darüber hinweg, dass er unter seiner produktiven
Unruhe Angst und Leergefühl verbirgt. Das wird erst dann sichtbar, wenn er seiner
Arbeit, seiner vielfältigen Tätigkeit beraubt wird. Dann wird er ängstlich, aggressiv wie
ein Süchtiger, dem der Stoff ausgegangen ist.
Ein gewisser Aktionismus wird in unserer leistungsorientierten Gesellschaft oft als
Leistung missverstanden und honoriert. Aktivität und Leistung hängen eng
zusammen in unserer heutigen Kultur, die von Unruhe und Wettbewerb auf allen
Gebieten bestimmt ist. „Immer besser, immer schneller, immer leistungsfähiger“ ist
die Devise, die nicht nur das Konsumverhalten, sondern auch das Verhalten im
Allgemeinen bestimmt.
S. 203
Menschen werden immer noch in der Regel danach geschätzt, was sie geleistet
haben, ohne dass man die Leistung deren psychologische Grundlage hinterfragt. S. 204
Menschen, die ihre Angst vor allem durch Aktionismus kompensieren, stehen vor
einem wahren Abgrund, wenn sie sich berenten lassen oder arbeitslos werden; oft
fängt ein unaufhaltsamer Verfall nicht nur im Geistigen, sondern auch im
Körperlichen an, der in die heute modisch gewordene Diagnose „Demenz“
mündet.
S. 204/205
Streben nach Macht
Macht ist, neben Besitz und Geld – mit denen sie faktisch und psychologisch eng
verwandt ist -, am besten geeignet, innere Leere, Identitätslosigkeit und Sinnlosigkeit
zu füllen; sie ist mit sozialem Prestige verbunden, schafft grosse materielle und
psychologische Vorteile und schart unterwürfige, opportunistische bzw. parasitäre
Individuen um den Mächtigen, deren Persönlichkeitsstruktur der seinen ähnlich
ist.
S. 205/206
Angst vor der Angst ist Flucht vor sich selbst, vor seinen Ängsten, Flucht in die
„Normalität“. Wir alle neigen dazu, der Urangst, der Angst vor dem Tod, die uns an
unsere Vergänglichkeit erinnert, auszuweichen.
S. 251
7
Angst und Agression
Es besteht ganz allgemein bei Menschen die Tendenz, Angst durch Aggression
auszudrücken oder, besser gesagt, abzuwehren – sie wird durch kulturelle Faktoren
verstärkt. „Beachten wir den so genannten „Normalen“ und nehmen wir an, er habe
Angst, also eine sehr unlustvolle Empfindung, die seinen Kontakt mit anderen
Menschen stört. Da er in einer Gesellschaft und einer Kultur lebt, in welcher er sein
Gesicht und seine Selbstachtung verliert oder zu verlieren glaubt, wenn er Furcht
oder Angst eingesteht“, schreibt Fromm-Freichmann, „so versucht er, sein
Angstgefühl in Ärger zu verwandeln“.
Auch das Gefühl von Lebendigkeit, das Angst macht, kann beim Menschen Wut
provozieren: „Unsere eigene Lebendigkeit und die des Anderen machen uns Angst.
Bricht diese Lebendigkeit doch einmal durch, so steigt Wut auf, und wir selber
wenden uns gegen unsere eigene Freiheit. Es ist die Lebendigkeit selbst, gegen die
wir uns stellen.“
Die Aggression ist die grosse „Maske“ der Emotionen: Nicht nur für Angst – auch für
Schuldgefühle, Scham, Verletztheit, Enttäuschungen, für übermässige Sensibiliät
und Grenzoffenheit kann sie sehr willkommenen Schutz und Abwehr
bieten.
S.265/266
Angst, Hass und Suizidalität
Hass ist eine gesteigerte Form der Aggression, die auf eine Person gerichtet ist und
extreme Ausmasse annehmen bzw. als Identitätsersatz, der dem Leben einen
(destruktiven) „Sinn“ gibt, fungieren kann. Kernberg, Psychoanalytiker, spricht von
einem „komplexen, strukturierten Abkömmling von Wut, der die vereinten Wünsche
widerspiegelt, ein schlechtes Objekt zu zerstören, es leiden zu lassen und es mit
Hilfe des wütenden Selbst zu kontrollieren“.
Eine Wut, die die Ausmasse eines intensiven Hasses annimmt, kann
psychodynamisch immer auf Verlassenheit und die damit verbundene Ohnmacht,
Scham und Erniedrigung zurückgeführt werden. In diesem Sinn kann Hass als
Versuch verstanden werden, die innere Angst, den inneren Schmerz, den „Fremden
in uns“, nach aussen zu projizieren. Hass projiziert die eigene Angst, indem sie durch
Terror anderen Angst macht. Identitätslose, schwache Persönlichkeiten können leicht
manipuliert und instrumentalisiert werden, um ihre Urangst und die „Sinnlosigkeit“
ihres Lebens als Hass und religiösen Fanatismus zu kanalisieren und daraus
lebende Kanonenkugeln gegen Kinder und alte Menschen zu erzeugen, die an den
empfindlichsten Punkten der Bevölkerung eingesetzt werden.
S. 267/268
Das Gefühl, ohnmächtig etwas ausgeliefert zu sein, kann Wut auslösen; damit ist
auch die Gefahr der Suizidalität verbunden. Die Explosivität der als Wut und Hass
abgewehrten Angst tritt akut zutage in Trennungssituationen. In dieser Konstellation
wird die durch Verlassenheit erzeugte Urangst als Aggression gegen sich selbst
gewendet; die scheinbare Selbstaggression ist aber eigentlich die Rache an denen,
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die die Verlassenheit verursacht haben – vertreten etwa durch Partner, die eine
abhängige Beziehung abbrechen.
S. 268
„Wiederholt haben wir mit Patienten sprechen können, die ihren Suizidversuch
deshalb ausgeführt hatten, weil sie ihre Todesangst nicht mehr aushalten konnten“,
erklärt Raymond Battegay, Schweizer Psychiater und Psychoanalytiker. Es ist oft
eher diese Lebensangst als die Sterbensnot, die sie zum Selbstmord verleitet. S. 269
Zusammenfassung von U. Margot 11/2012
www.kraftschoepfung.com
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