Die Dimension des Sozialen in der Psychiatrie

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Editorial
Die Dimension des Sozialen in der Psychiatrie
Joachim Küchenhoff
Zu Recht gilt für Psychiatrie und Psychotherapie der biopsycho-soziale Ansatz. Es ist gerade das Spannungsfeld
zwischen biologischen, psychologischen und soziologischen
Perspektiven, das die Arbeit in diesem Fachbereich ausserordentlich spannend, aber auch komplex und schwierig macht. In Bezug auf die dritte Dimension, die soziale
Perspektive in der Psychiatrie und Psychotherapie, scheint
eine gewisse Ratlosigkeit eingetreten zu sein. Auf der einen
Seite sind die sozialen Faktoren, die seelisches Leiden,
psychiatrische Behandlung und Rehabilitation beeinflussen,
mit Händen zu greifen und unabweisbar. Je nach der Wahl
des Ausschnitts in der Abstraktionsstufe, die wir wählen,
werden unterschiedliche, allesamt wesentliche Faktoren in
den Blick kommen:
– Die gesellschaftliche Entwicklung, die auf die Ökonomisierung der Lebensverhältnisse, die Flexibilisierung
von Lebensläufen und die verstärkte Inanspruchnahme
individueller Verantwortung zielt, wirkt sich auf die Disposition zu psychischer Erkrankung aus. Ein Beispiel ist
der soziologisch gut fundierte Zusammenhang zwischen
gesteigerter Selbstverantwortung und Depression.
– Das Verhältnis von Gesellschaft und Psychiatrie, von
sozialer Dynamik und psychischer Krankheit verändert
sich im Verlauf der Geschichte.
– Die ökonomischen Grundlagen des sozialen Zusammenlebens verändern sich, wenn die Scheren zwischen Arm
und Reich sich vergrössern.
– Das Gelingen eines transkulturellen Zusammenlebens
ist abhängig davon, ob die Realität der Migration anerkannt und die Mechanismen, Fremdheit zu konstruieren, reflektiert werden.
Diese Liste liesse sich fortsetzen.
Auf der anderen Seite scheint in der Psychiatrie und Psychotherapie der Bereich des Sozialen nur ausschnittsweise
reflektiert und entwickelt zu werden. Dafür gibt es einige
Indizien:
– Die Ätiopathogenese psychischer Krankheiten wird
wesentlich an neurobiologischen Konzepten festgemacht; dabei ist durchaus zu fragen, ob die moderne
Neurobiologie nicht in neuem Umfang sozialen Einflüssen gerecht zu werden vermag.
– Die Sozialpsychiatrie wird gefördert im Sinne gemeindenaher Versorgungskonzepte, welche die soziale
Integration fördern; andere Perspektiven der gesellschaftlichen Bedingungen psychischen Leidens hingegen werden unterbelichtet.
Der psychiatrische Themenschwerpunkt des vorliegenden Heftes hat das Ziel, die soziale Dimension des biopsycho-sozialen Zugangs zu Psychiatrie und Psychotherapie zur Geltung zu bringen. Dabei geht es um eine
doppelte Stossrichtung: Zum einen soll den sozialen
Einflüssen auf psychische Erkrankungen und psychische
Konflikte Rechnung getragen werden, auf der anderen
Seite sollen sozialpsychiatrische Ansätze zu Wort kommen
und reflektiert werden.
Die Beiträge des Schwerpunkthefts gehen auf Vorträge
zurück, die die Professoren Thomas Bock, Hamburg, Georg
Bruns, Bremen, und Regina Wecker, Basel, beim Jahressymposion der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
der Psychiatrie Baselland zum Thema «Das Soziale in der
Psychiatrie. Gesellschaftliche Verhältnisse und psychiatrischer Alltag» im November 2011 gehalten haben.
Korrespondenz:
Professor Joachim Küchenhoff, MD
Chefarzt und ärztlicher Leiter
Psychiatrie Baselland
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Bienentalstr. 7
CH-4410 Liestal
Switzerland
joachim.kuechenhoff[at]unibas.ch
S C H W E I Z E R A R C H I V F Ü R N E U R O L O G I E U N D P S Y C H I A T R I E 2012;163(4):121
www.sanp.ch | www.asnp.ch
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