China auf der Suche nach neuen Quellen des Wachstums: Der staatlich befeuerte Börsenboom ist ein wirtschaftspolitischer Irrweg Von Sebastian Heilmann (Dieser Artikel erschien am 12. Juli 2015 in leicht veränderter Form in der Rubrik „Sonntagsökonom“ der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.) Kernpunkte: Chinas jahrzehntelang wirksame Quellen des Wachstums versiegen – Auf der Suche nach Alternativen steht die Regierung unter hohem Druck – Staatlich befeuerter Börsenboom ist ein wirtschaftspolitischer Irrweg – Anhaltende Widerstände gegen Strukturreformen im Staatsektor und Begrenzung staatlicher Eingriffe in der Wirtschaft – Wirtschaftliche Strukturreformen im Konflikt mit politischem Kontrollanspruch der Parteizentrale – Potenziell positive Lektionen der Börsenkrise Die chinesische Börsenkrise der vergangenen Wochen ist nur eine schmerzhafte Episode in einem epochalen Geschehen, dessen Ausgang für die Entwicklung der globalen Wirtschaft richtungsweisend sein wird: Die Quellen des jahrzehntelangen chinesischen Hochwachstums sind am Versiegen. Und die chinesische Regierung steht unter dem Druck, neue Wachstumskräfte binnen kurzer Zeit zu erschließen. In diesem Zusammenhang stehen die staatliche Förderung des jüngsten Börsenbooms und die vehementen Maßnahmen zur Stabilisierung der Aktienmärkte. Chinas kometenhafter Aufstieg in der Weltwirtschaft beruhte auf einer Kombination außergewöhnlich potenter Wachstumsquellen, die gegenwärtig rasch an Kraft verlieren: massenhaft verfügbaren, kostengünstigen und disziplinierten Arbeitskräften; einem rasanten Wachstum der Exportindustrien in einem offenen und nachfragestarken Weltmarkt; einem gewaltigen Zustrom von Investitionen und Technologien aus dem Ausland; der Kanalisierung voluminöser privater Sparvermögen in Industrie- und Infrastrukturinvestitionen auf dem Wege der Finanzrepression (niedrige Einlagezinsen ohne Anlagealternativen); massiven staatlichen Investitionen in Verkehrs- und Transportinfrastruktur sowie Urbanisierung. Bereits seit Mitte der 1990er Jahre allerdings wiesen ranghohe Mitglieder und Berater der chinesischen Regierung darauf hin, dass ein von niedrigen Löhnen, staatlichen Investitionen und Industrieexporten angetriebenes Wirtschaftswachstum nicht dauerhaft tragfähig sein werde. Binnennachfrage, Dienstleistungssektor, Innovationskraft und Produktivitätssteigerungen sollten gezielt gefördert werden. Alle Entwicklungspläne der chinesischen Regierung betonten seitdem das anspruchsvolle, wenn auch vage Ziel, die Grundlagen für den Übergang zu einem neuen Wachstumsmodell zu schaffen. Der gewünschte Strukturwandel aber kam nur äußerst langsam voran: erstens schienen die alten Wachstumskräfte weiterhin gut zu funktionieren; zweitens leisteten diejenigen Marktteilnehmer und politischen Akteure, die von staatwirtschaftlichen Investitionen und Verzerrungen profitierten, beharrlichen Widerstand gegen Strukturreformen. Der Einsatz für ein neues Wachstumsmodell kam de facto komplett zum Erliegen, als Chinas Regierung in Reaktion auf die globale Finanzkrise 2008 das weltweit größte Konjunkturprogramm jener Jahre (in Höhe von 13% des BIP) auflegte. Insbesondere die staatliche Industrie und Bauwirtschaft wurden mit billigen Krediten ohne Risikoprüfung geflutet. Regionale Wirtschaftsbehörden und Staatsunternehmen schwelgten in einem Rausch ungehemmter Investitions- und Korruptionsmöglichkeiten. Auch private Investoren taumelten zwischen 2008 und 2015 auf der Suche nach höheren Renditen von einem Boom- und Blasenmarkt in den nächsten. Jahrelang wurden Immobilien zum bevorzugten Anlageziel – selbst in abgelegenen Städten, die überhaupt nicht über eine entsprechende Einwohnerzahl, Kaufkraft und Nachfrage verfügten. Zwischenzeitlich kam es immer wieder zu absurden spekulativen Preisblasen etwa für Knoblauch oder Mungbohnen, die lebhaft an die holländische Tulpenhysterie im 17. Jahrhundert erinnerten. Als der überhitzte Immobilienmarkt 2013 einzubrechen begann, verlagerte sich der Boom auf Chinas Börsen. Dieser Boom ignorierte den offenkundigen Abwärtsdruck in der Gesamtwirtschaft und auch die mangelnde Ertragskraft oder hohe Schuldenlast vieler börsennotierter Unternehmen. Chinas Regierung setzte auf die Börsen, um die Kapitalaufnahme für Unternehmen generell zu erleichtern, und heizte das Börsenfieber durch Investitionsappelle in den Staatsmedien aktiv an. Das wirtschaftliche Risiko dieser Politik wurde als gering eingeschätzt. Denn Chinas Realwirtschaft ist vom spekulativen Börsengeschehen weitgehend abgekoppelt, sodass die Regierung negative Kettenreaktionen in der Binnenwirtschaft nicht zu fürchten hat. Auch führt die Regierung mit ihrer vehementen Stabilisierungskampagne seit der vergangenen Woche vor Augen, welche formidablen Kräfte sie unter Regulierern, Intermediären und Investoren mobilisieren kann, wenn es um politische Stabilitäts- und Machtfragen geht. Börsenkrisen allein werden nicht zu einem Regimekollaps in China führen. Die staatliche Förderung des Börsenbooms allerdings ist auch aus der Sicht vieler chinesischer Regierungsberater und Ökonomen ein offensichtlicher Irrweg: Spekulative, „blinde“ Marktkräfte widersprechen dem Stabilitätsversprechen der Regierung. Chinas Wirtschaftspolitik wird sich für die unabdingbaren Strukturreformen keinesfalls auf die vermeintlich einfachen Finanzierungslösungen der Aktienmärkte stützen können. China wird den langwierigen und konfliktreichen Weg von Strukturreformen gehen müssen: mit dem Ziel der Verbesserung von Wettbewerbsbedingungen, Produktivität und Innovationskraft bei gleichzeitiger Stärkung des privaten Konsums – auf Kosten staatlicher Verfügungsrechte in der Wirtschaft. Das Versprechen der Parteiführung um Xi Jinping, den Märkten eine „entscheidende Rolle“ im Wirtschaftsgeschehen einzuräumen, ist aufgrund der aktiven Rolle der Regierung in der Entstehung und Eindämmung der aktuellen Börsenkrise erschüttert worden. Der umfassende Kontrollanspruch der Kommunistischen Partei steht in einem grundsätzlichen Konflikt mit Erfordernissen einer wirtschaftlichen Liberalisierung. Dennoch könnten die Erfahrungen der Börsenkrise mittelfristig positive Rückwirkungen auf die Wirtschaftspolitik ausüben. Wenn Chinas Regierung auf der Suche nach neuen Wachstums- quellen mit den bisherigen einfachen Lösungen (kreditfinanzierten Investitionen in Infrastruktur, Immobilien, Börsen etc.) scheitert, muss sie sich den naheliegenden nächsten Quellen zuwenden: der Entfesselung des gewaltigen Potenzials an privatem Unternehmertum, das bisher durch Benachteiligung gegenüber dem Staatssektor und schwierigen Finanzierungsbedingungen gehemmt wird; die weitere Liberalisierung und Öffnung der Kapitalmärkte in Verbindung mit einer transparenten, berechenbaren Regulierung dieser Märkte; der Privatisierung von hoch verschuldeten und unprofitablen Staatsunternehmen; der Sicherstellung der Gleichbehandlung und des Marktzugangs für ausländische Unternehmen und Investoren auch in derzeit versperrten Feldern; der Stärkung der Rechtssicherheit für alle Marktteilnehmer, also einer unabhängigen Rechtsprechung und einer lückenlosen Rechtsbindung staatlichen Handelns. Ohne diese Strukturreformen wird Chinas Regierung neue Quellen des Wachstums, die derzeit aus politischen Gründen versperrt sind, nicht anzapfen können. Sebastian Heilmann Direktor des Mercator Instituts für China-Studien (MERICS) in Berlin und Professor für Politik und Wirtschaft Chinas an der Universität Trier.