Fachtagsdokumentation Demokratie

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Fachtagung
„Demokratie - lernen & erfahren“
Potenziale der außerschulischen Bildung
in Kooperation mit Schule
11. Dezember 2008
Bildungsstätte der Sportjugend Berlin
DGB Jugendbildungsstätte Flecken Zechlin
Helmut-Gollwitzer-Haus,
Bildungsstätte der Evangelischen Jugend
Jugendbildungsstätte Haus Kreisau
Jugendbildungsstätte Kaubstraße e.V.
Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein
ver.di Jugendbildungsstätte
JugendBildungsstätte
Berlin-Konradshöhe e.V.
Eine Veranstaltung der Arbeitsgemeinschaft Berliner Jugendbildungsstätten,
des Landesjugendring Berlin e.V. und der Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Berlin.
Vorwort
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Die Veranstaltung bot Raum, das Spannungsfeld zwischen
einem subjektorientierten und einem eher funktionsbezogenen Bildungsansatz zur Befähigung junger Menschen
zur Politikteilhabe in den Blick zu nehmen.
Subjektorientierte Bildung zielt auf die Entfaltung der
Kräfte jedes einzelnen Kindes bzw. Jugendlichen ab. Sie
setzt dabei konkret an dessen spezifischen Erfahrungen,
Bedürfnissen und Interessen an. Ihr Anliegen ist es, dass
Kinder und Jugendliche eigene Vorstellungen davon entwickeln, wie sie leben möchten, entsprechend ihre eigenen
Interessen artikulieren und sich auf der Grundlage dieser
Selbstkompetenzen an gesellschaftlichen, auch schulischen und politischen Aushandlungsprozessen beteiligen
können.
Peter Ogrzall
die vorliegende Broschüre dokumentiert die Fachtagung
der Arbeitsgemeinschaft der Berliner Jugendbildungsstätten beim Landesjugendring Berlin e.V. in Kooperation mit
der Landeszentrale für politische Bildungsarbeit Berlin
„Demokratie - lernen & erfahren. Potenziale der außerschulischen Bildung in Kooperation mit Schule“ am
11.12.2008 in der Berliner Stadtmission in BerlinTiergarten.
Demokratie braucht Demokratinnen und Demokraten.
Aufgabe politischer Bildung in und außerhalb von Schule
ist es, junge Menschen zu befähigen, sich an gesellschaftlichen und politischen Aushandlungsprozessen zu beteiligen. Wie kann politische Bildung so gestaltet werden, dass
junge Menschen nicht nur theoretisch verstehen, welches
die Wesensmerkmale einer parlamentarischen Demokratie
sind, sondern sich auch ihrer praktischen Möglichkeiten
bewusst werden, die eigenen Interessen zu vertreten und
damit etwas zu bewirken? Wie kann politische Bildung
dazu beitragen, Demokratie nicht nur als Staatsform, sondern auch als Lebensform attraktiv zu machen?
Im Gegensatz dazu steht der Ansatz einer eher funktionsbezogenen Bildung, der von gesellschaftlichen Notwendigkeiten wie der Stärkung der Zivilgesellschaft ausgeht und
allgemein zur politischen Teilhabe auffordert. Dabei werden
Inhalte thematisiert, die nicht notwendigerweise aus den
Lebensumständen und der Weltsicht der Jugendlichen
heraus entstehen, sondern ihnen nur „vorgesetzt“ werden
und daher abstrakt bleiben.
Heute ist außerschulische Bildung zunehmend von
Drittmitteln aus Sonderprogrammen abhängig, die Bildung
von vornherein in den Dienst eines spezifischen Anliegens
stellen, dies zudem zeitlich befristet. Ebenso müssen sich
Schulen nach Lehrplänen richten, die Bildungsziele von
vornherein festschreiben. So ist die Frage, wie Bildung
angesichts dieser funktionsbezogenen Zielsetzungen
dennoch einen subjektorientierten Ansatz verfolgen kann.
Wie können Träger der außerschulischen Bildung dabei mit
Schulen kooperieren? Wie wirkungsvoll sind diese Kooperationen in der Praxis? Und welche konkreten Kooperationsmöglichkeiten gibt es?
Im ersten Teil der Fachveranstaltung wurden zwei Impulsreferate gehalten, die sich der Problematik aus unterschiedlichen Blickwinkeln annäherten. Zunächst sprach
Prof. Dr. Albert Scherr von der Pädagogische Hochschule
Freiburg zu dem Thema “Demokratie braucht Beteiligung.
Subjektorientierter versus funktionsbezogener Bildungsansatz in der Demokratiebildung.”
Der zweite Beitrag kam von Prof. Dr. Iris NentwigGesemann von der Alice Salomon Hochschule Berlin. Ihr
Vortragsthema lautete: “Wirkung von Demokratiebildung
am Beispiel der Evaluation eines Projekts der außerschulischen Jugendbildung in Kooperation mit Schule”.
Im Anschluss an die Vorträge bestand die Möglichkeit zur
Diskussion mit den Referenten.
In einem zweiten Veranstaltungsteil ging es um die Praxis
der außerschulischen politischen Bildung, vor allem in
Kooperation mit Schulen. Es wurden subjektorientierte
Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008 | 1
Ansätze des Demokratielernens und -erlebens dargestellt,
wie sie die außerschulische Jugendbildung in Schulen und
andernorts anwendet. In drei Arbeitsgruppen stellten die
Berliner Jugendbildungsstätten eigene Seminarkonzepte
aus diesem Themenfeld vor. Schwerpunkte waren: Angebote für Auszubildende, Schülervertretung und Demokratietraining / Betzavta.
Eine Arbeitsgruppe beschäftigte sich mit dem Thema: „Ich
bin wichtig“ - Projekte mit Auszubildenden zu Recht und
Gerechtigkeit und zur Förderung zivilgesellschaftlichen
Engagements” Hier stellte die Bildungsstätte Haus Kreisau
ihr Partizipationsprojekt für Jugendliche im Bauhandwerk
vor. Zudem wurde das Seminarkonzept der DGB-Jugendbildungsstätte Flecken Zechlin „Recht und Gerechtigkeit“
vorgestellt.
Die zweite Arbeitsgruppe befasste sich mit dem Thema
“Mitbestimmung und Demokratie in der Schule” Die
Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein berichtete von ihrem
Projekt „Mitmischen possible – Schule , wie wir sie uns
vorstellen!“, in dessen Rahmen Zukunftswerkstätten mit
Schülervertretungen durchgeführt werden. Die Jugendbildungsstätte Sportjugend stellte ihren Ansatz „Mehr
Demokratie in der Schule“ vor.
Die dritte Arbeitsgruppe setze sich mit dem Thema “Demokratietraining - oder: Wie gehen wir eigentlich miteinander
um?” auseinander. Die ver.di JugendBildungsstätte präsentierte die Methode Betzavta als Training für Demokratie
und Toleranz.
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Die Fachveranstaltung hat interessante, teils neue Perspektiven auf die Thematik eröffnet und unterschiedliche
methodische Ansätze der Demokratiebildung aufgezeigt.
Wir hoffen, einen Beitrag dazu geleistet zu haben, dass
das Thema zunehmend in das Bewusstsein der Verantwortlichen in Bildung und Politik dringt und Schulen das
Angebot der Jugendbildungsstätten im Feld der Demokratiebildung zu schätzen wissen und noch stärker in
Anspruch nehmen.
Berlin, den 11.12.2008
Peter Ogrzall
im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft Berliner
Jugendbildungsstätten
Prof. Dr. Albert Scherr
Prof. Dr. Albert Scherr, Pädagogische
Hochschule Freiburg
die analytische und die normative Bedeutung des Subjektbegriffs für die Theorie und Praxis politischer Bildung etwas
näher dargestellt werden.
Subjektivität als Schlüsselbegriff
kritischer politischer Bildung
1. Begriffliche Grundlagen: Subjektivität
jenseits der Idee des autonomen, männlichen
bürgerlichen Subjekts
Prof. Dr. Albert Scherr
Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Annahme, dass kritische politische Bildung ihre Aufgabenstellung
zentral darin sieht, Kinder, Jugendliche und Erwachsene
(1) zu befähigen, politische Ereignisse und Strukturen in
Hinblick auf darin eingelassene Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu analysieren,
(2) die Verschränkungen der eigenen Lebenssituation und
der eigenen Erfahrungen mit Gesellschaftspolitik verständlich zu machen und
(3) zu ermutigen und zu qualifizieren, eigene Interessen
politisch zu artikulieren.
Kritische politische Bildung zielt also nicht auf Akzeptanzbeschaffung für das bestehende politische System und
die Vermittlung vermeintlich eindeutiger demokratischer
und menschenrechtlicher Normen (s. dazu Hormel/Scherr
2004, 131ff.), sondern darauf, Individuen in die Lage zu
versetzen, die ihnen in demokratischen Verfassungen
versprochene Position des mündigen Bürgers auch tatsächlich wahrzunehmen. Dies setzt zentral die Entwicklung
subjektiver politischer Kompetenz, d.h. eines Wissens um
die eigene Fähigkeit und die eigene Zuständigkeit für politische Angelegenheiten voraus. Denn die Überzeugung,
befähigt und berechtigt zu sein, politische Angelegenheiten
zu verstehen und sich in politische Auseinandersetzungen
einzumischen, ist eine notwendige Grundlage für Wissensaneignung, Artikulation und Partizipation (s. Scherr 1995).
Im Folgenden soll vor diesem Hintergrund die empirische,
Die Begriffe Subjekt bzw. Subjektivität stehen für unterschiedliche theoretische Bemühungen in der Philosophie,
Sozialphilosophie und Soziologie, in denen geltend gemacht wird, dass menschliche Individuen mehr und anders
sind bzw. sein können und sollen als Marionetten, die an
den Fäden politischer Herrschaftsverhältnisse, ökonomischer Zwänge, kultureller Einflusse, sozialisatorischer
Prägungen sowie innerer Zwänge (Gene, Triebe) hängen.
Grundlegend für die Rede von Subjekten und Subjektivität
ist demgegenüber die Annahme, dass Menschen eigensinnig auf soziale Erwartungen reagieren sowie in der
Lage sind, sich bewusst mit den sozialen und psychischen
Bedingungen und Einflüssen, denen sie unterliegen,
auseinander zu setzen; sie verfügen über die Möglichkeit,
eigene Vorstellungen über ein gutes und anstrebenswertes
privates und gesellschaftliches Leben und Zusammenleben
zu entwickeln und zu realisieren (s. als Überblick zu den
relevanten Theorien etwa Daniel 1981; Vogel 1983; Scherr
1992; Meueler 1993; Keupp/Hohl 2006).
Dies verbindet sich, insbesondere in der Traditionslinie
der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, mit der
Annahme, dass die Subjektivität der Individuen, die Fähigkeit und das Interesse, sich nicht bestimmen zu lassen,
sondern sich selbst zu bestimmen, eine auch normativ
positiv zu bewertende Qualität ist. Zur Verdeutlichung:
Bereits Immanuel Kant sah in der Fähigkeit, sich des
eigenen Verstandes ohne die Leitung anderer zu bedienen, die Grundlage einer aufgeklärten Gesellschaft (Kant
1785/1980, 53ff.). Karl Marx fasste seine Utopie einer
nachkapitalistischen Gesellschaft bekanntlich in der Formel
von der „freien Assoziation der freien Individuen“ zusammen. Theodor W. Adorno (1966:, 90) argumentierte, dass
es in einer „Erziehung nach Auschwitz“ darauf ankomme,
der „Besinnungslosigkeit … entgegenzuarbeiten“, denn
„die Menschen sind davon abzubringen, ohne Reflexion
auf sich selbst nach außen zu schlagen“.
Bei Kant, Marx und in der Kritischen Theorie wird nun
jedoch keineswegs unterstellt, dass Individuen de facto
bereits vernünftig-selbstbestimmungsfähige Subjekte sind.
Vielmehr wird Subjektivität als ein Potential verstanden,
dass sich in Abhängigkeit von den sozialen Bedingungen
entfaltet - , oder dessen Entfaltung aber blockiert wird.
Insbesondere die spätere kritische Theorie hat sich mit den
vielfältigen Einschränkungen, Formierungen und Deformationen von Subjektivität im entwickelten Kapitalismus
befasst (s. dazu Vogel 1983; Ritsert 2001).
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Prof. Dr. Albert Scherr
In einflussreicher Weise setzen Michel Foucaults Analysen
die Untersuchung der sozialen Formierungsprozesse fort:
Foucault weist insbesondere nach, dass es nicht genügt,
Formen des Verbots und der Repression in den Blick zu
nehmen, sondern zu untersuchen, wie bestimmte Bedürfnisse und Wünsche sozial hervorgebracht werden (s. etwa
Foucault 1997). Dagegen rücken die britischen ‚Cultural
Studies’ in den Blick, dass selbst der Medienkonsum gerade nicht zureichend als Beeinflussung verstanden werden
kann, sondern eigensinnige Aneignungs- und Umdeutungsprozesse umfasst (s. Hall 2004)
hen, sondern hat sich damit auseinanderzusetzen, dass
Subjektivität nur als soziale Subjektivität sinnvoll zu denken
ist, als Fähigkeit zu Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung von Individuen, die gesellschaftlichen (ökonomischen, politischen, kulturellen, rechtlichen) Zwängen
und Einflüssen unterliegen und die ihre Subjektivität nur in
sozialen Beziehungen entwickeln können.
Knapp angedeutet sind damit unterschiedliche Theorielinien, die sich einer je spezifischen sozialwissenschaftlichen
Perspektive mit dem widersprüchlichen Zusammenhang
von gesellschaftlicher Bestimmtheit und individueller
Selbstbestimmung befassen. Kritische Bildungstheorien (s.
dazu ausführlicher etwa Grubauer u.a. 1992; Marotzki/Sünker 1992; Meueler 1993; Scherr 1997; Meyer-Drawe 2001;
Höffer-Mehlmer 2003; Scherr 2005) sehen vor diesem Hintergrund die – oder jedenfalls eine zentrale - Aufgabe von
Pädagogik darin, pädagogische Kontexte und Prozesse so
zu gestalten, dass sie der Entwicklung von Subjektivität,
von Selbstwertgefühl, Selbstachtung, Selbstbewusstsein
und Selbstbestimmungsfähigkeit förderlich sind.
• Welche Ermöglichungen, Formierungen und Begrenzungen von Subjektivität gehen mit je konkreten
gesellschaftlichen Lebensbedingungen sozialer Klassen,
Schichten und Milieus einher?
Der Rekurs auf den Subjektbegriff bietet eine, jedoch eine
keineswegs unproblematische Grundlage für Bildungstheorien. Denn insbesondere feministische, postmoderne und
poststrukturalistische Theorien haben geltend gemacht,
dass die positive normative Beanspruchung des Subjektbegriffs mit Ausblendungen einhergeht: Die Idee des von
anderen unabhängigen und in diesem Sinne autonomen
Subjekts wird hier als eine Denkfigur dechiffriert, die sich
am historischen Modell des männlichen besitzbürgerlichen
Individuum orientiert, das seine grundlegenden sozialen
Bindungen und Abhängigkeiten verdrängt und verleugnet
(s. dazu zur Lippe 1975; Mayer-Drawe 2001). Sie blenden den Preis aus, den andere dafür zahlen, dass sich
männliche bürgerliche Individuen als autonome Subjekte
inszenieren und imaginieren können (s. Hall 2004a). Vor
dem Hintergrund dieser Kritiken ist es zwingend, Subjektivität nicht als Unabhängigkeit misszuverstehen, sondern
als konstitutiv soziale Subjektivität zu fassen: Selbstbewusstsein und Selbstbestimmungsfähigkeit sind Potentiale,
die sich biographisch und lebenspraktisch in sozialen
Beziehungen entfalten; Prozesse der Subjekt-Werdung
führen auch nicht zur Überwindung sozialer Bindungen
und Abhängigkeiten, sondern idealiter zur Entwicklung
von selbstbestimmter Urteils- und Handlungsfähigkeit bei
gleichzeitiger Anerkennung des eigenen Angewiesenseins
auf soziale Beziehungen und Bindung.
Ein Verständnis von Bildung als Subjekt-Bildung kann also
nicht naiv von einem Verständnis von Subjektivität als
Selbstbestimmung des unabhängigen Einzelnen ausge-
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In einer gesellschaftstheoretischen Perspektive sind vor
diesem Hintergrund u.a. folgende Fragestellungen für
Subjekttheorien und subjektorientierte Bildung zentral:
• Wie sind jeweilige Ausprägungen von Subjektivität mit
Strukturen sozialer Ungleichheit, mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen, mit gesellschaftlichen Geschlechterverhältnissen sowie mit Fremd- und Selbstzuordnungen zu
kollektiven Identitäten verschränkt?
• Wodurch werden Individuen befähigt bzw. behindert,
sich bewusst mit den gesellschaftlichen Einflüssen und
den eigenen inneren Zwängen auseinanderzusetzen und
um auf dieser Grundlage zu begründbaren und verantwortbaren Verständnis eigener Interessen und Überzeugungen
zu gelangen?
• Wie kann die Subjektivität in einer Weise gedacht
werden, die nicht mit den Verkennungen und dem Überlegenheitsbewusstsein männlich-bürgerlicher Subjektivität
einhergeht? Wie können Subjekt- und Bildungstheorien
den Herausforderungen gerecht werden, die aus der
feministischen, postmodernem und postkolonialen Kritik
resultieren?
• Wie kann Pädagogik Prozesse der Distanzierung
und Überschreitung im Verhältnis zu gesellschaftlich
auferlegten Subjektivitätsformen sowie die Entwicklung
politischer und moralischer Urteilsfähigkeit ermöglichen?
2. Die Unhintergehbarkeit von Subjektivität in
der politischen Bildung
Gängige Konzepte der Politikdidaktik setzen als selbstverständlich voraus, dass ihre Adressaten sich als Bürger
einer demokratischen Gesellschaft begreifen, die politisch
interessiert sind und sich zumindest an Wahlen beteiligen –
oder aber jedenfalls, dass Teilnehmern politischer Bildung
ein solches Selbstverständnis durch Wissensvermittlung
über die Geschichte und Gegenwart demokratischer
Gesellschaften nahegelegt werden kann. Dabei wird
gewöhnlich ignoriert, dass die Idee des mündigen Bürgers
keineswegs selbstevident ist sowie Distanz und Desinte-
Prof. Dr. Albert Scherr
resse im Verhältnis zu den Institutionen und Strukturen
der verfassten Demokratie auch nicht zureichend als eine
bloß irrationale Haltung, als Ausdruck eines Wissensdefizits oder individueller Lernblockaden verstanden werden
können. Denn es gibt ja durchaus rationale Gründe für
eine Sichtweise, die davon ausgeht, dass die Chancen
des Einzelnen gering sind, für eigene Argumente und
Überzeugungen im politischen Diskurs Resonanz zu finden
oder durch politische Beteiligung Interessen durchsetzen
zu können. Entscheidender ist im vorliegenden Argumentationszusammenhang aber, dass die Entstehung
und Verfestigung subjektiver politischer Kompetenz bzw.
Inkompetenz soziologisch zu erklären ist: Die in einschlägigen Untersuchungen immer wieder deutlich werdende
Korrelation zwischen formalem Bildungsniveau sowie
Geschlecht einerseits und dem geäußertem politischem Interesse andererseits bringt zum Ausdruck, dass Positionen
in der Struktur sozialer Ungleichheiten, also im Gefüge der
sozialen Klassen und Schichten und den damit zusammenhängenden Milieuverortungen eng mit Wahrnehmungen
des Politischen und eigenen Haltungen im Verhältnis zum
Politischen verbunden sind. In einschlägigen empirischen
Studien (s. Scherr 1995; Vester u.a. 2001) wird deutlich,
dass die Vorstellung, politische Kommunikation und
politische Beteiligung seien gewöhnlich eine Sache der
relativ Privilegierten, zu der die Benachteiligten keinen
Zugang finden, nach wie vor verbreitet ist. Entsprechend
diagnostizieren Michael Vester u.a. (2001, 13f.) eine „Krise
der politischen Repräsentation“ in Folge der wachsenden
Distanz zwischen den ökonomischen und politischen Eliten
und den Volksmilieus.
Der Subjekttypus des sich als mündiger und politisch
kompetenter Bürger begreifenden Individuums kann
folglich keineswegs als empirischer Normalfall vorausgesetzt werden. Die Theorie und Praxis politischer Bildung
muss vielmehr klassen-, schichten- und milieutypisch
ausgeprägten Formen politischer Subjektivität und damit
zusammenhängende Ausprägungen der Nähe und Distanz
zu den Formen politischer Artikulation und Repräsentation
in Rechnung stellen. Politische Bildung als Subjektbildung, d.h. als Unterstützung von Prozessen, in denen
Individuen und soziale Gruppen lernen können, sich als
Subjekte politischen Denkens und Handelns zu begreifen,
steht folglich vor der Aufgabe, sich mit sozial verankerten,
klassen-, schichten- und milieubezogenen Kompetenz- und
Inkompetenzuschreibungen auseinanderzusetzen.
Zudem trifft politische Bildung auf Subjekte, die in Sozialisationsprozessen und in der Auseinandersetzung mit
eigenen Erfahrungen eine für sie selbst gültige Sichtweise
der sozialen Wirklichkeit, eigener politischer und moralischer Überzeugungen sowie eigener Bedürfnisse und
Interessen entwickelt haben. Die – in der Regel durch die
Kommunikation in Peer-Groups, Cliquen, Freundeskreisen
usw. – abgestützten Deutungs-, Handlungs- und Wahr-
nehmungsmuster sind nun nicht beliebig verfügbare und
veränderbare Elemente der eigenen Subjektivität und als
solche ein unhintergehbarer Bezugspunkt von Bildungsprozessen.
Exemplarisch deutlich wird die damit für die politische Bildung verbundene Problematik in einer von Klaus Holzkamp
(1993, 45) vorgelegten Analyse von Lernwiderständen, mit
denen antirassistische Bildung zu rechnen hat. Holzkamp
weist darauf hin, dass auch politisches Wissen und politische Einstelllungen kein problemlos vom eigenem Selbstverständnis abspaltbares Element sind und dass Versuche,
diese durch bessere Argumente und überlegenes Wissen
zu verändern, folglich als Bemühungen erlebt werden können, die eigene Subjektivität zu beeinflussen, was Abwehr
provozieren kann:
Ihre Vorurteile, ihre Einstellungen, also sie selbst
sollen geändert werden. Dies bedeutet aber, dass ....
das traditionelle konservative Postulat der Asymmetrie zwischen der Position des allwissenden Lehrers
als Subjekt pädagogischer Einwirkungen und der
Position der unmündigen, kognitiv und moralisch
verbesserungswürdigen SchülerInnen als Objekt dieser
Einwirkungen ... befestigt wird. (....) So kommt es in
dieser Konstellation zu einem permanenten, mehr
oder weniger verdeckten Kampf zwischen dem Lehrer,
der den Zu-Erziehenden ihre rassistischen Vorurteile
ausreden will, und den SchülerInnen
Eine vergleichbare Problematik hat Niklas Luhmann (1987:
177f.) als „Verdoppelung der Ablehnungsmotive“ thematisiert: Versuche der pädagogischen Einflussnahme können
als solche wahrgenommen und ablehnt werden, wenn der
Adressat pädagogischer Bemühungen sich nicht in die
Position desjenigen begeben will, der darauf verwiesen ist,
sich erziehen, belehren oder aufklären zu lassen.
Eine politische Bildung, die darauf gerichtet ist, den
Widerstand gegen eine Infragestellung eigener Erfahrungen und Überzeugungen aufzubrechen, kann folglich in
eine Konfrontationsfalle geraten: Die Adressaten wehren
Informationen und Argumente gerade deshalb ab, weil sie
wahrnehmen, dass Pädagogen versuchen, auf sie einzuwirken und dies als einen illegitimen Versuch bewerten, sie
zu beeinflussen oder gar zu manipulieren. Dann entwickelt
sich eine Dynamik der Konfrontation, in der jeder weitere
Versuch zu argumentieren als unzulässiger Übergriff auf
die eigene Person zurückgewiesen wird.
Eine damit zusammenhängende, aber etwas anders
gelagerte Problematik ist darin zu sehen, dass politische
Bildung vielfach schlicht in Unkenntnis der Erfahrungen,
des Wissens und der Überzeugungen ihrer Adresstaten
agiert. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sie auf
Seiten des Adressaten fehlendes Wissen oder aber die
Verbreitung falscher Überzeugungen, z.B. von Vorurteilen,
Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008 | 5
Prof. Dr. Albert Scherr
schlicht unterstellt (s. dazu Scherr/Schäuble 2008). Daraus
resultiert dann ein Arrangement von Bildungsprozessen,
das gerade nicht an die Sichtweisen und Fragestellungen
der Adressaten anknüpft, sondern mit unausgewiesenen
Unterstellungen darüber operiert, welche Wissensdefizite
und welche Fragestellungen zu bearbeiten sind. Entsprechend kommen Didaktiken der politischen Bildung vielfach
ohne eine gründliche empirische Fundierung aus, die
themenbezogen genau aufzuweisen hätte, bei welchen
Adressatengruppen mit welchen Überzeugungen zu rechnen ist und warum diese sich den jeweiligen Adresstaten
als plausibel oder ggf. auch als alternativlos und zwingend
darstellen. In der Folge muss politische Bildung mit Desinteresse und ggf. mit Abwehrhaltungen rechnen, denen die
Wahrnehmung zu Grunde liegt, dass die eigenen Fragestellungen und Interessen nicht ernst genommen, sondern
ggf. lediglich methodisch im Interesse der Motivationsbeschaffung instrumentalisiert werden – oder auch nur rituell
angefragt werden, um eine teilnehmerorientierte Haltung
zu inszenieren.
3. Subjektbildung vs. Subjektivierung
Auch im aktuellen Diskurs zu den Erfordernissen einen
Bildung in der sog. Wissensgesellschaft wird Bildung in
bestimmter Weise als Eigentätigkeit des sich bildenden
Individuums bestimmt:
Lebenslanges Lernen ist weitgehend vom Einzelnen
selbst verantwortetes Lernen, d.h. Lernen, bei dem der
Lernende durch ein vielfältiges Netzwerk von Lernangeboten und Lernmöglichkeiten steuert. Das gilt selbst
in der frühen Kindheit, in der Eltern weitgehend den Bildungsweg bestimmen. Dieses selbstgesteuerte Lernen
beinhaltet die Nutzung fremd organisierter Lernangebote ebenso wie das Selbstorganisieren von Lernen. Es
setzt gerechte Zugangsmöglichkeiten und kompetente
Lernberatung voraus. (BMBF 2004)
Diese politische Akzentuierung von Selbstverantwortung,
Selbststeuerung und Selbstorganisation von Lernprozessen weist auf der semantischen Ebene und hinsichtlich
ihrer methodischen Implikationen ersichtlich eine Übereinstimmung mit subjekttheoretischen und reformpädagogischen Bildungskonzepten auf. Dies trägt dazu bei, dass
tradierte Konfliktlinien erodieren und sich das einschlägige
methodische Repertoire von Konzepten selbstgesteuerten
Lernens in Schulen wachsender Beliebtheit erfreut. Diese
methodische und semantische Affinität sollte jedoch nicht
dazu verleiten – und gerade darin besteht eine zentrale
Problematik von Versuchen, den aktuellen Bildungsdiskurs
als Chance zu begreifen – zu übersehen, dass es dabei
keineswegs um Bildung als Moment der Selbstkonstitution
selbstbestimmungsfähiger Subjekte geht. Vielmehr geht
es um Bildung als Element einer solchen Subjektivierung,
in der die politisch eingeforderte Selbstverantwortung
6 | Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008
sich am Ziel einer „Ausrichtung des eigenen Lebens an
betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien und unternehmerischen Kalkülen“ (Lemke/Krasmann/Bröckling 2000,30)
orientiert. Eine disziplinierte, an starren normativen
Vorgaben orientierte „methodische Lebensführung“ (Max
Weber) wird schrittweise ersetzt durch die Verpflichtung,
eigene Qualifikationen permanent in Hinblick auf unbestimmte Erwartungen, aber im Wissen um die Gefahr des
Scheiterns, zu optimieren, auf prekäre Arbeitsverhältnisse
verwiesen oder arbeitslos zu werden. Funktionalisierung
für gesellschaftliche Zwecke und Förderung der Entfaltung
individueller Subjektivität werden in der Folge nicht mehr
als Widerspruch gedacht, sondern
verschmelzen ... zu einem neuen Typ funktionaler
Subjektivität. Plakativ formuliert: Durch selbsttätigen,
flexiblen und selbstverantwortlichen Wissenserwerb
modularisieren sich die Subjekte umgebungs- bzw.
marktgerecht. ‚Kompetenz/Kompetenzerwerb’ und
‚lebenslanges Lernen’ bilden Schlüsselkonzepte im
Diskurs über die Wissensgesellschaft, in dem Subjekte
als umfassend, lebenslang und individuell ‚angemessen’
förderungs- und entwicklungsfähig dargestellt werden
(Maasen 2006: 191).
Es steht zu befürchten, dass von Bildung als zweckfreier,
nicht auf gesellschaftliche Funktionalität ausgerichteter
Selbstbildung bzw. als politischer Bildung, die auf die
Befähigung zu Gesellschaftskritik zielt, unter solchen
Bedingungen wenig übrig bleibt. Selbst die ehemaligen
akademischen Elfenbeintürme werden in Dienstleistungseinrichtungen zur Erzeugung vermeintlich marktgängiger
Qualifikation umgebaut.
4. Folgerungen für die Theorie und Praxis
subjektorientierter politischer Bildung1
Grundlegend für eine subjektorientierte politische Bildung
ist ein Verständnis von Bildung als ein dialogischer Prozess, der darauf zielt Selbstbildungsprozesse anzuregen,
zu ermutigen, zu unterstützen und zu qualifizieren (s. dazu
grundlegende Freire 1970; vgl. Meueler 1993 und Scherr
1997). Eine so verstandene Bildungsarbeit verzichtet keineswegs darauf, relevantes Wissen verfügbar zu machen
und ist von einer sog. Teilnehmerorientierung ebenso zu
unterscheiden wie von einem solchen Konstruktivismus,
der mit der Annahme operiert, dass alle Wirklichkeitskonstruktionen gleichermaßen begründet und berechtigt seien.
Denn eine dialogische Orientierung setzt die Bereitschaft
und die Fähigkeit, den Standpunkt des Anderen ernst zu
nehmen ebenso voraus, wie die Bereitschaft und die Fähigkeit, eigene Standpunkte offenzulegen und zu vertreten.
Eine dialogische Orientierung schließt also Kontroversen
im Sinne des Streits um die Wahrheitsfähigkeit und die
moralische Rechtfertigbarkeit unterschiedlicher politischer
Überzeugungen nicht aus, sondern ein.
Prof. Dr. Albert Scherr
Im Unterschied zu einer Pädagogik, die auf Belehrung
setzt oder naiv von der Überzeugungskraft des besseren
Arguments ausgeht, ist für eine dialogische und subjektorientierte Bildungsarbeit aber die Annahme entscheidend,
dass jeder gute Gründe hat, die eigenen Überzeugungen
für gut begründet und für rechtfertigbar zu halten. Bildungsarbeit besteht entsprechend darin, Situationen herzustellen, in denen die Chance besteht, sich wechselseitig die je
eigenen guten Gründe darzulegen und darauf zu setzen,
dass dies zu produktiven Irritationen im Sinne von Lernprozessen führt, in denen eine Hinterfragung der bisher
fragloser Sichtweisen und das Nachdenken über Alternativen möglich wird (vgl. Rorty 2003, 241ff.).
Eine solche politische Bildung zielt darauf, Lern- und
Reflexionsprozesse zu ermöglichen und anzustoßen, aber
nicht auf Versuche, diese durch eine gezielte Einflussnahme zu erzwingen. Dabei wird davon ausgegangen, dass es
in diesem Prozess zentral darauf ankommt, in eine solche
Auseinandersetzung jeweilige Sichtweisen und diesen zu
Grunde liegenden Erfahrungen einzutreten, die anerkennt,
dass die Adressaten politischer Bildung sich selbst als
politisch und moralisch urteilsfähige Individuen sehen und
subjektiv gute Gründe haben, diejenige Positionen einzunehmen, die sie beziehen. Jeweilige Positionen stehen
in einem mehr oder weniger engen Zusammenhang mit
biografisch erworbenen und nicht einfach preiszugebenden
Grundlagen des eigenen Selbst- und Weltverständnisses
sowie mit den in Bezugsgruppen geteilten Überzeugungen.
Bildungsprozesse sind folglich darauf verwiesen, solche
Möglichkeiten zu eröffnen, in denen die kritische Überprüfung eigener politischer Wissensbestände und Überzeugungen als subjektiv zugängliche und anstrebenswerte
Chance erlebt werden kann - also gerade nicht als Zwang
oder Zumutung, sich das Wissen und die Überzeugungen
jeweiliger Pädagogen zu eigen zu machen.
Notwendiger Ausgangspunkt subjektorientierter und
dialogischer Bildungsarbeit sind deshalb die Prozesse, in
denen Jugendliche und Erwachsene sich selbst in Auseinandersetzung mit - in ihren sozialen Milieus, in Gleichaltrigengruppen und in den Massenmedien -gesellschaftlich
zirkulierenden Informationen und Deutungsangeboten
ihnen begründet und plausibel erscheinende Sichtweisen
aneignen, die es ihnen erlauben, die für sie bedeutsamen
alltäglichen Erfahrungen sowie für sie interessante gesellschaftliche Sachverhalte und Entwicklungen zu verstehen.
Aus den obigen Überlegungen folgt des Weiteren eine
solche Konzeption von Bildungsangeboten, die darauf
zielt, den Lerngegenstand nicht allein didaktisch aus
einer wissenschaftlichen Analyse des Lerngegenstandes
abzuleiten, sondern seine Relevanz und seine Dimensionen zugleich auch aus Sicht der Adressaten zu bestimmen. Wenn also z.B. Jugendliche annehmen, dass es
tatsächlich bedeutsame Unterschiede zwischen Juden und
Nicht-Juden sowie gute Gründe für Distanz und ggf. für
Feindseligkeit gegenüber Juden gibt, ist es sinnvoll, diese
subjektiven ‚Wahrheiten’ im Rahmen von Bildungsprozessen nicht von vornherein zu indiskutablen Vorurteilen zu
erklären, sondern in eine Auseinandersetzung mit ihnen
einzutreten, die Jugendlichen zunächst die Möglichkeit
gibt, ihre Sichtweisen und Begründungen zu artikulieren.
Denn die Möglichkeit eigene Standpunkte zu formulieren,
ist eine zwingende Voraussetzung für daran anschließende
Prozesse, in denen zu erarbeiten ist, was die Problematik
der jeweiligen Sichtweise ist.
Zweifellos berührt politische Bildungsarbeit in solchen und
anderen Fällen menschenrechtliche, demokratische und
moralische Grundsätze, die nicht als jederzeit revidierbar betrachtet werden können und für die entsprechend
gilt, dass darauf bezogen nicht jedwede Sichtweise als
gleichermaßen gültig und legitim gelten kann. Vielmehr
besteht notwendigerweise die Zielsetzung und Erwartung,
dass Bildungsprozesse zu einer Distanzierung und Kritik
von Vorurteilen und Feindbildern, antidemokratischen
und menschenrechtswidrigen Positionen führen. Es
kann folglich nicht Einzelnen überlassen werden, welche
Schlussfolgerungen sie aus der Auseinandersetzung mit
den jeweiligen Themen ziehen. Dies kann jedoch nicht
dadurch gewährleistet werden, dass abzulehnende Überzeugungen von vornherein mit dem Hinweis auf Recht und
Moral tabuisiert von weiterer Bearbeitung ausgeschlossen
werden sowie dass diejenigen diskreditiert werden, die
sie äußern. Denn dies verschließt jede Möglichkeit des
weiteren Dialogs mit denjenigen, deren Überzeugungen
verändert werden sollen. Bildungsarbeit kann folglich allein
darauf hoffen, dass eine konsequente dialogische Orientierung entsprechende Lernprozesse ermöglicht und muss
sich entsprechend auch den Grenzen ihrer Möglichkeiten
bewusst sein. Bildung kann ermöglicht und unterstützt,
aber eben – jenseits psychotechnischer und ideologischer
Manipulationen – nicht erzwungen werden. Bildungsarbeit
ist also auch nicht als ein ‚Kampf’ gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus misszuverstehen und
sie kann rechtliche Grenzziehungen nicht ersetzen.
Im Grenzfall des drohenden Scheiterns sind PädagogInnen
darauf verwiesen, Grenzen zu markieren, indem sie ihre
eigenen Positionen inhaltlich, rechtlich und moralisch
ausweisen und möglichst auch so erklären, dass jeweilige
Adressaten die Gründe und Motive nachvollziehen können.
Grundlegend für eine subjektorientierte und dialogische
Bildungsarbeit sind pädagogische Prozesse, in denen
Jugendliche bzw. Erwachsene sich als respektierte
Dialogpartner erleben können, in denen sie also nicht als
Zu-Erziehende und Zu-Belehrende adressiert werden.
Bildungsangebote sollten deshalb die Möglichkeit bieten,
sich mit einem jeweiligen Lerngegenstand auseinander zu
setzen und dabei selbst zu entscheiden, ob und in welchen
Formen sie bereit sind, sich auf eine Artikulationen eigener
Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008 | 7
Prof. Dr. Albert Scherr
Erfahrungen und Gewissheiten einzulassen.
Literatur
Anzustreben sind damit Arbeitsbündnisse, in denen den
Adressaten grundsätzlich ein gemeinsames Interesse
an der Erarbeitung moralisch und politisch vertretbaren
Überzeugungen unterstellt wird. Der zentrale Ansatzpunkt
subjektorientierter politischer Bildung liegt so betrachtet
in der Initiierung von Lern- und Bildungsprozessen, die
auf das Bedürfnis reagieren, die soziale Wirklichkeit zu
verstehen und die darauf ausgerichtet sind, Jugendliche
und Erwachsene zu einer Überprüfung sowie zu einer
Auseinandersetzung mit alternativen Verstehens- und
Handlungsmöglichkeiten anzuregen.
Adorno, Theodor W. 1970: Erziehung nach Auschwitz, in:
Ders. (Hg.): Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt, S. 88-104
Anmerkungen:
1) Die folgenden Formulierungen greifen auf ältere Texte
zurück, nicht zuletzt auf eine gemeinsam mit Barbara
Schäuble verfasste Publikation (Schäuble/Scherr 2008).
BMBF (Hg.) 2004: Strategie für Lebenslanges Lernen in
der Bundesrepublik Deutschland. Bonn
Daniel, Claus 1981: Theorien der Subjektivität. Frankfurt
Foucault, Michel 1979: Sexualität und Wahrheit. Frankfurt
Freire, Paolo (1970): Pädagogik der Unterdrückten.
Reinbek
Grubauer, Franz u.a. (Hg.) 1992: Subjektivität – Bildung –
Reproduktion. Weinheim
Hall, Stuart (2004): Kodieren/Dekodieren. In. Ders., Gesammelte Schiften 4. Hamburg, S. 66-80
Hall, Stuart (2004a): Wer braucht ‚Identität‘?. In: Ders.,
Gesammelte Schiften 4. Hamburg, S.167-187
Höffer-Mehlmer, Markus (Hg.) 2003: Bildung: Wege zum
Subjekt. Hohengehren
Holzkamp, Klaus 1993: Lernen. Eine subjektwissenschaftliche Grundlegung. Frankfurt/M.
Hormel, Ulrike/Scherr, Albert 2004: Bildung für die Einwanderungsgesellschaft. Wiesbaden
Kant, Immanuel 1785/1980: Beantwortung der Frage:
Was ist Aufklärung, in: Ders. (Hg.): Werkausgabe Band XI.
Frankfurt, S. 53-61
Keupp, Heiner/Joachim Hohl (Hg.) 2006: Subjektdiskurse
im gesellschaftlichen Wandel. Bielefeld
Lemke, T./Krasmann, S./Bröckling, U. 2000: Gouvermentalität, Neoliberalismus und Selbsttechnologie, in: Diess.(Hg):
Gouvermentalität der Gegenwart. Frankfurt/M., S. 7-40
Luhmann, Niklas 1987: Sozialisation und Erziehung, in:
Ders. (Hg.): Soziologische Aufklärung 4. Wiesbaden, S.
173-181
Maasen, S. 2006: Wissensgesellschaft, in: Scherr, Albert
(Hg.): Soziologische Basics. Wiesbaden, S. 193-198
Marotzki, Winfried/Sünker, Heinz (Hg.) 1992: Kritische Erziehungswissenschaft– Moderne– Postmoderne. Weinheim
Mayer-Drawe, Käte 2001: Illusionen von Autonomie.
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Prof. Dr. Albert Scherr
Meueler, Erhard 1993: Die Türen des Käfigs. Stuttgart
Ritsert, Jürgen 2001: Soziologie des Individuums. Darmstadt
Rorty, Richard 2003: Wahrheit und Fortschritt. Frankfurt
Scherr, Albert (1995): Soziale Identitäten Jugendlicher.
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Markus (Hg.): Bildung: Wege zum Subjekt. Hohengehren:
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Scherr, Albert 1992: Das Projekt Postmoderne und die
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Marotzki, Winfried/Sünker, Heinz (Hg.): Kritische Erziehungswissenschaft – Moderne –Postmoderne. Weinheim,
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Scherr, Albert 1997: Subjektorientierte Jugendarbeit.
Weinheim
Scherr, Albert 2005: Vergesellschaftung und Subjektivität.
Rückfragen an die Theorie reflexiver Modernisierung, in:
Hafeneger, Benno (Hg.): Subjektdiagnosen. Bad Schwalbach, S. 11-24.
Scherr, Alnert/Schäuble, Barbara (2008): ‚Ich habe nichts
gegen Juden, aber …‘. Ausgangsbedingungen und
Perspektiven einer Bildungsarbeit gegen Antisemitismus.
Berlin
Vester, Michael u.a. (2001): Soziale Milieus im geseschaftlichen Strukturwandel. Framkfurt/M.
Vogel, Martin Rudolf 1983: Gesellschaftliche Subjektivitätsformen. Frankfurt
zur Lippe, Rudolf 1975: Bürgerliche Subjektivität: Autonomie als Selbstzerstörung. Frankfurt
Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008 | 9
Prof. Dr. Iris Nentwig-Gesemann
Prof. Dr. Iris Nentwig-Gesemann, Alice
Salomon Hochschule Berlin
Wirkung von Demokratiebildung am
Beispiel der Evaluation eines Projekts
der außerschulischen Jugendbildung
in Kooperation mit Schule
ihren Ursprung allein in dem Inneren der Seele und kann
durch äußere Veranstaltungen nur veranlaßt, nie hervorgebracht werden“. Dies ist keinesfalls als Legitimation für den
päda-gogischen Rückzug zu verstehen, vielmehr heißt es:
Wir können und müssen ‚veranlassen‘, wir müssen Motor
dafür sein, dass Heranwachsende Bildungsprozesse vollziehen können, die auf einer demokratischen Grundhaltung
beruhen, wir müssen eine Partizipationskultur etablieren
und mit ihnen gemeinsam praktizieren, die ihnen wirklich
gesellschaftliche Teilhabe, Mitgestaltung und Verantwortungsübernahme zugesteht und abfordert!
Partizipation von Kindern und Jugendlichen kann und muss
zum einen politisch etabliert und geschützt werden. So
heißt es etwa im Koalitionsvertrag von 2005: „ Kinder und
Jugendliche in politische, planerische und zukunftsorientierte Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse einzubeziehen, ist für die Zukunftsfähigkeit eines demokratischen
Gemeinwesens unverzichtbar“. Das ist ohne Zweifel eine
wichtige politische Standortbestimmung bzw. Absichtserklärung. Letztlich erweist sich der Erfolg, die Wirkung solcher Ideale aber immer erst in der Praxis, in Projekten, in
denen Kinder und Jugendliche Verantwortung übertragen
und Teilhabe tatsächlich ermöglicht wird! Sind Erwachsene
bereit, ihre Entscheidungsmacht mit Kindern und Jugendlichen zu teilen? Respektieren Sie z.B. Konfliktlösungen,
die diese für angemessen erachten? Sind Sie auch selbst
be-reit, sich demokratischen Beschlüssen unterzuordnen?
Das evaluierte Projekt: Peer-Mediation
Prof. Dr. Iris Nentwig-Gesemann
Kinder und Jugendliche müssen demokratische Beteiligung
zunächst erfahren, also konkret erleben in Kontexten, in
denen Demokratie gelebt, vorgelebt und mit ihnen gemeinsam praktiziert wird. Demokratie lernen ist dann mehr als
ein Lernprozess im Sinne der Aneignung von Wissen und
Kompetenzen, sondern ein Bildungsprozess, in dem sich
das Verhältnis der Heranwachsenden zu sich selbst und
zur Welt verändert, ein Prozess der Ausbildung und Habitualisierung einer Haltung, die einen neugierigen, respektvollen und demokratischen Umgang mit dem Vertrauten
und dem Fremden und Anderen ermöglicht.
Lernprozesse sind didaktisierbar – Bildungsprozesse
nicht oder zumindest nicht vollständig. Dies heißt für
die Erwachsenen, die mit Kindern und Jugendlichen
arbeiten, seien dies Lehrer/innen, Sozialpädagog/innen,
Sozialarbeiter/innen oder andere Professionelle, dass es
nicht reicht, demokratisches Verhalten zu lehren bzw. zu
unterrichten, sondern dass es gilt, einen pädagogischen
Bezug her-zustellen, mit Kindern und Jugendlichen eine
pädagogische Beziehung einzugehen, in die der/die Pädagoge/Pädagogin sich als Professionelle/r und als Mensch
einbringt. Wie hat Humboldt dies formuliert? „Bildung hat
10 | Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008
In dem Projekt, das von Ralf Bohnsack und der Autorin als
externe Evaluatoren von 2002 bis 2004 begleitet wurde,
wurden Schüler/innen aus den 7. bis 10. Klassen mehrerer
Berliner Oberschulen durch Mitarbeiter/innen der Jugendbildungsstätte Kaubstraße zu Peermediator/innenen ausgebildet (vgl. Jugendbildungsstätte Kaubstraße 1999). Die
Pädagog/innen arbeiteten dabei eng mit jeweils ein oder
zwei Lehrer/innen zusammen, die auf schulischer Seite für
die Projektimplementierung und Begleitung der Schüler/
innen zuständig waren.
Die Evaluation hat ergeben , dass ein derartiges Projekt
unter bestimmten Bedingungen tatsächlich dazu geeignet
ist, Jugendliche zu beteiligen, sie in die Verantwortung zu
nehmen, damit erstaunliche persönliche Bildungsprozesse
anzuregen und zumindest wichtige Impulse zur Entwicklung einer partizipativen und demokratischeren Schulkultur
zu geben. Der empirisch durchaus begründete Optimismus, was das Entwicklungs- und Veränderungspotential
von Heranwachsenden angeht, steht dabei der Schwerfälligkeit strukturell-organisatorischer und organisationskultureller Bedingungen der Institution Schule gegenüber,
die sich viel stärker als bislang auf die Herausforderungen
einlassen müsste, die damit verbunden wären, wenn man
nicht nur von Partizipation und demokratischer Beteili-
Prof. Dr. Iris Nentwig-Gesemann
gung von Kindern und Jugendlichen redet, sondern ernst
damit macht. Zu den Ergebnissen der Evaluation vgl.
Nentwig-Gesemann/Bohnsack 2005; Nentwig-Gesemann/
Bohnsack/Streblow 2005; Nentwig-Gesemann/Bohnsack/
Fritzsche 2007.
Methoden der Evaluation
Bevor ich zu einigen Ergebnissen der Evaluation komme,
möchte ich ein paar kurze methodische Anmerkungen
machen: Mit Hilfe qualitativer Forschungsmethoden sollte
hier explizit, so der Auftrag der Stiftung, ein Einblick in die
Tiefen- und Prozessstruktur der Projektpraxis geworfen
werden. Auf der Grundlage von komplexen Fallstudien in
zwei ausgewählten Schulen, sollte nicht nur rekonstruiert
werden, was die Ausbildung zu Peermediatoren und die
Etablierung von Peer-Mediation in der Schule leistet, sondern auch wie dies geleistet wird, wie und warum sich also
angestrebte Wirkungen entfalten oder auch nicht.
Die Evaluation bezog sich auf den gesamten Prozess von
der Ausbildung der Schüler in der Jugendbildungsstätte
bis zur Implementierung der Mediation in den beiden
ausgewählten Schulen. Im Rahmen der Einbeziehung
verschiedener Perspektiven wurden Gruppendiskussionen
sowohl mit den professionell Beteiligten – Pädagogen
der Jugendbildungsstätte und Lehrer der Schulen –, als
auch mit verschiedenen Mediatoren- und Schülergruppen
durchgeführt. Die Rekon-struktion dieser Mehrperspektivität ist wichtig, weil es die Realität, die eine ‚richtige’
Sichtweise nicht gibt, sondern sich erst die verschiedenen
Erfahrungen und Perspektiven der Beteiligten wie bei
einem Puzzle zu einem verdichteten Bild zusammensetzen
lassen. Zu den methodischen Aspekten einer qualitativen,
dokumentarischen Evaluationsforschung vgl. Bohnsack/
Nentwig-Gesemann 2006; Nentwig-Gesemann 2006.
Zentrale Evaluationsergebnisse:
Bildungsprozesse der Mediator/innen
Die Beteiligung am Mediationsprojekt, die Ausbildung zum
Mediator, zur Mediatorin und die Arbeit in der Schule, hat
bei den Jugendlichen zum Teil erstaunliche Entwicklungsund Bildungsprozesse angeregt. Insbesondere die selbst in
gewaltförmige Auseinandersetzungen verstrickten Jungen,
die an der Mediationsausbildung teilnahmen, distanzierten
sich zunehmend von eskalierendem, konfliktträchtigem
Verhalten. Der mit der Ausbildung verbundene Zuwachs an
sozialen und kommunikativen Kompetenzen, das Einüben
konstruktiver bzw. kommunikativer Konfliktbearbeitungsstrategien erweiterte ihr eigenes Handlungsrepertoire in
Konfliktsituationen auch außerhalb der Peer-Mediation.
Beispielhaft sei hier ein kurzer Ausschnitt aus einem Gespräch wiedergegeben, der verdeutlicht, dass sich tatsächlich grundlegende Orientierungen veränderten und damit
zunächst der Umgang mit Konflikten, in die die Mediatoren
selbst nach wie vor verstrickt waren.
Juan: ick bin früher also (.) bin ick gerne vielleicht so (.)
also der Draufhauer also, von mir selber aus, und (.) ick
hab mich früher sehr viel sehr schnell reizen lassen und
(.) vielleicht auch dadurch weil (.) man hat ja auch wieder andere Ansichten, dann sagt man, ach, machst du
lieber nicht, kann sein dass da ne Anzeige kommt oder
so (…) na gut dann lässt man es lieber sein und (.) und
tritt lieber n Schritt zurück, sagt (mit veränderter ruhiger
Stimme) lass mich doch in Ruhe, n bisschen quatschen,
(.) und dann is (.) sind beede Seiten glücklich. und (.) na
ja (.) jetzt (.) quatscht man eher als druffzuhauen. also
von meine Seite aus jetzt.
Wir erkennen hier, dass sich auf der Grundlage einer
Reflexion der Konfliktsituation und des eigenen Verhaltens, des Vorschaltens einer kurzen ‚Denkzeit‘ vor der
spontanen Eskalation, das, was vorher impulsiv und
unkontrollierbar geschah, gar nicht mehr zu entfalten
vermochte. Die Fähigkeit in Konfliktsituationen „einen
Schritt zurückzutreten“, wie Juan das hier beschreibt, ist
bei vielen Jugendlichen ebenso wenig selbstverständlich
vorhanden, wie ein Grundvertrauen darin, dass man über
Konflikte auch miteinander reden und sie auf diese Weise
lösen kann. Im Rahmen der Ausbildung zu Mediatoren
machten die Jugendlichen zum einen die Erfahrung,
von den Pädagog/innen ernst und in die Verantwortung
genommen zu werden – ihnen wurde etwas zugemutet,
und damit eben auch zugetraut. Zum anderen prägte sich
auch eine andere Kommunikationskultur heraus: Anders
als in Schule und Unterricht vielleicht möglich, erlebten
die Jugendlichen mit den Mitarbeiter/innen der Jugendbildungsstätte auf Reziprozität beruhende Formen der Kommunikation auf Augenhöhe. Die Einhaltung kommunikativer
Regeln, der respektvolle Umgang miteinander – beides
wichtige Bestandteile der Ausbildung zum Mediator, zur
Mediatorin, wurde den Jugendlichen zunehmend wichtig
und sie forderten ein entsprechendes Verhalten immer
wieder auch von den Pädagog/innen. Diese Erfahrung,
auch von Erwachsenen die Einhaltung kommunikativer
Regeln einfordern zu können, ist letztlich grundlegend für
Partizipation und Beteiligung in einem enthierarchisierten
Kontext, in dem gleiche Regeln für alle gelten, seien dies
nun Erwachsene oder Jugendliche.
Wie nachhaltig sich bei den Mediator/innen die Überzeugung ausprägte, dass Konflikte tatsächlich diskursiv gelöst
werden können und sollten, dokumentiert sich auch in
folgendem Zitat:
„so wie wir reden, können wir denen die Gründe warum
sie auf den los gehen wollen, (.) aus m Mund nehmen
und wegschaffen“.
Diese Grundhaltung wurde auch aufrechterhalten, als
die eigene diskursive, auf Kommunikationen beruhende
Strategie einmal keine Wirkung zeigte. So erzählte eine
Gruppe von Mediatoren, dass sie in eine Massenschlägerei
verwickelt wurden, nachdem der Versuch, mit den anderen
Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008 | 11
Prof. Dr. Iris Nentwig-Gesemann
zu reden, misslang:
„wir standen da wirklich da und haben uns sag ich mal
auf die Nase hauen lassen. (.) ja weil (.) ähm wir sind
denn so, auch wenn wir mal eine reinkriegen oder so,
wir versuchen weiter mit denen zu reden“.
Die Jungen mussten vom Unfallarzt behandelt werden
und die Polizei war einige Wochen lang auf dem Schulhof präsent. Gleichwohl hielt die Mediatorengruppe an
der Überzeugung fest und untermauerte dies mit vielen
Beispielen, dass sie mit ihrem Ansatz der gewaltfreien
Konfliktlösung letztlich „Erfolg“ haben und zwar sowohl bei
persönlichen Streitfällen, als auch auf andere bzw. auf das
gesamte Schulklima bezogen.
Die Jugendlichen konnten durch die Mediationsausbildung
und -tätigkeit soziale und kommunikative Kompetenzen
erwerben und ausbauen, die weit über die Mediation selbst
hinauswirkten, zum Beispiel in die Herkunftsfamilien hinein.
Sie gewannen an Selbstbewusstsein, Selbstwirksamkeitsüberzeugung und Sicherheit: Sie konnten anderen dabei
helfen, Konflikte konstruktiv zu lösen, und es gelang ihnen
auch selbst besser, den Alltag „ohne Gewalt“ zu gestalten.
Indem sich die Haltung ihnen gegenüber veränderte: man
traute ihnen nämlich zu, nicht nur die eigenen Konflikte
gewaltfrei zu lösen, sondern auch bei Konflikten der
Mitschüler erfolgreich zu vermitteln, veränderte sich auch
der Anspruch der Jugendlichen sich selbst gegenüber. Sie
bemühten sich zunehmend, so formulierten sie dies selbst,
um „vorbildlicheres“ Verhalten. Für die anderen Schüler
und Schülerinnen in diesem Sinne ein Vorbild, ein positives
Modell sein zu wollen – dies war nur möglich auf der
Grundlage der erfahrenen Anerkennung und Unterstützung
der begleitenden Erwachsenen in dem Projekt und auch
des Sicherheit vermittelnden Gemeinschaftsgefühls der
Mediator/innen untereinander.
Nachdem ich nun einen Einblick in die Bildungsprozesse
der Mediatoren gegeben habe, sollen nun die Erfahrungen
der Schüler/innen mit der Mediation und die Umsetzung
des Angebots in den Schulen dargestellt werden.
Erfahrungen der Schüler/innen mit der
Mediation: Die Bewertung der Mediation und
die erlebte Mediation
Betrachtet man das, was insbesondere diejenigen Schüler/
innen, die uns von den Lehrern als einerseits gewalttätig,
andererseits als radikale ‚Mediationsgegner’ präsentiert
wurden, als Einschätzung und Bewertung des Projekts
explizit formulierten, erschien das Mediationsangebot kaum
akzeptiert und weitgehend wirkungslos: Es wiederholten
sich Äußerungen wie, die Mediatoren seien sowieso „beknackt“, „schwach“, „Loser“, „Opfer“ und die Mediation, die
man niemals freiwillig in Anspruch nehmen würde, „nütze
eh nix“. Als Grund für diese ablehnende Haltung erwies
12 | Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008
sich allerdings die Furcht – insbesondere von Jungen – davor, den „Respekt“ der Mitschüler dann zu verlieren, wenn
sie Konflikte nicht selbst mit Gewalt bzw. deren Androhung
‚lösen’ konnten.
„man hat dann nicht mehr diesen Respekt auf dem
Schulhof. (...) den man davor hatte, wenn man zu
einem zum Beispiel sagt, ach komm, wir schlagen uns
nicht, komm, wir gehen zu den Mediatoren. (...) also auf
unserer Sprache, man ist ein Opfer (...) man gilt dann
als Vollidiot“.
Ein ‚harter Kern’ insbesondere älterer, männlicher Schüler
mit traditionellen Männlichkeitsvorstellungen, lehnte es
nach außen vehement ab, mit der Peer-Mediation einen
Gesprächsrahmen anzuerkennen, der von kommunikativer
Reziprozität und Regelhaftigkeit geprägt ist. Dies ließ
sich aber als ein Muster lediglich verbaler Distanzierung
identifizieren, das einen bestimmten Zweck erfüllte: Die
Inanspruchnahme der Mediation konnte auf dieser Grundlage als nicht freiwillig dargestellt und damit legitimiert
werden. Dieselben Jugendlichen erzählten nämlich in den
Gruppendiskussionen durchaus von positiv erlebten und
erfolgreichen Mediationen. Eine zentrale Bedingung für ein
Gelingen in dieser Form war allerdings, dass Peer-Mediation nicht als schulischer Sanktionierungsmechanismus instrumentalisiert wurde – etwa mit der Drohung verbunden,
einen Tadel zu erhalten oder von der Schule verwiesen zu
werden, wenn man nicht zur Mediation ginge.
Wenn die Beteiligung an der Mediation tatsächlich freiwillig
erfolgte, wenn sich die Schüler die Mediatoren selbst aussuchen konnten, wenn es sich nicht um bereits dramatisch
eskalierte Konflikte handelte, die von den Lehrern nicht
mehr zu lösen waren, dann wurde die Peer-Mediation als
Deeskalationsstrategie wahr-genommen und angenommen.
„aber die Lehrer lassen ja irgendwie auch einem (.) die
Chance dazu gar nich. die geben gleich n Tadel oder
machen gleich ne Anzeige; ziehen die Polizei mit rein,
also wir sprechen ja aus Erfahrung“
Der Kritik gerade an den formalisierten Bestrafungs- und
Ausgrenzungsmechanismen der Institution Schule steht
ein Plädoyer gegenüber, bestimmte Konflikte zunächst
im innerschulischen Gesprächsrahmen zu bearbeiten.
Eine Mediation – durch respektierte Peer-Mediatoren
oder Erwachsene –wird als „Chance“ zur Konfliktklärung
akzeptiert, wenn damit eine Eskalation – z.B. durch die
Einbeziehung der Polizei oder schuldisziplinarische Maßnahmen – vermieden werden konnte. Lehrer, die in diesem
Sinne agierten oder aber sich aus der pädagogischen
Verantwortung zurückzogen, konnten keine Partner in
einem Prozess gemeinsamer Verantwortungsübernahme
und ko-konstruktiver Gestaltung schulischer Kultur sein.
Mehrfach erzählten Schüler, dass Lehrer mit dem Unterricht fortfuhren, obwohl Mitschüler sich prügelten oder aber
Prof. Dr. Iris Nentwig-Gesemann
sich bei Auseinandersetzungen auf dem Schulhof mit dem
Argument heraushielten, ein Eingreifen sei Aufgabe der
Mediatoren. Einen positiven Kontrast bildeten – auch in
den Augen der Jugendlichen – diejenigen Lehrer, die sich
auf eine reziproke, partnerschaftliche Beziehung zu den
Schülern einließen, deren aktive Beteiligung und Übernahme von Verantwortung einforderten, sie zur Mit-Gestaltung
der Schulkultur ermutigten und in Entscheidungsprozesse
einbezogen.
Die Suche nach durchsetzungsfähigen und
verlässlichen Bezugspersonen
In allen Gruppendiskussionen mit den Schülern – auch
mit den als ‚auffällig’ etikettierten – dokumentiert sich der
Wunsch nach emotional zugewandten, verlässlichen und
durchsetzungsfähigen Bezugs- bzw. auch Autoritätspersonen, die sich nicht auf institutionell vorgegebene Sanktionierungsmechanismen zurückziehen, sondern ernsthaft um
einen Aushandlungsprozess mit den Jungendliche bemüht
sind.
In Bezug auf die Konfliktschlichtung durch Gleichaltrige
erwies sich als wichtige Bedingung für die Akzeptanz bzw.
die Ablehnung der Mediation, welcher Art die Konflikte
waren: Bei massiven Streitfällen, die sich über den schulischen Rahmen hinaus erstrecken, in denen Waffen zum
Einsatz kamen und z.B. auch Bandenstrukturen eine Rolle
spielten, erwies sich die Einschaltung von Peer-Mediation
als massive Überforderung der Mediatoren. Unter Androhung von Ordnungsmaßnahmen angeordnete Mediationen
wurden als verlängerter Arm der Institution Schule empfunden, blieben wirkungslos bzw. schadeten dem Ansehen der
Mediatoren. Der Gestaltungsspielraum, den die Mediatoren
bei derartig eskalierten Konflikten hatten, war tatsächlich
auf ein Minimum reduziert; dementsprechend wurden sie
auch von den involvierten Schülern in diesen Fällen nicht
als kompetent betrachtet und nicht respektiert.
„mit so einer großen Sache kann man nicht zu den
Streitschlichtern; (...) was sollen da Schü-ler bitte
machen? also wenn die Polizei grad mal so mit uns klar
kommt was solln da die Schüler machen?“.
Wir haben bei unserem Einblick in die Peer-Mediation
überwiegend positive Beispiele gesehen: Vielfach gelang
es in der Mediation, eine einvernehmliche Konfliktlösung
zu ermöglichen, mit der alle Beteiligten zufrieden waren –
auch wenn sie dies zum Teil nur schwer zugeben konnten:
So gelang es den Mediatoren, bei alltäglichen Konflikten
– wie z.B. verbalen Provokationen, Beleidigungen oder
Prügeleien – erfolgreich zu moderieren, einen Rahmen für
gelingende Kommunikation zu etablieren und die Streitenden beim Finden einvernehmlicher Kompromisslösungen
zu unterstützen. Wenn es nicht darum ging, institutionelle
Ziele oder Auflagen zu erfüllen, wenn die Streitenden die
Mediatoren selbst auswählen konnte, dann stellte die
Mediation eine wirkungsvolle Alternative zu herkömmlichen
Sanktionierungsverfahren dar.
„ich bin neu in diese Klasse gekommen, von dem; in
seine Klasse, (.) ah: is unsere Lehrerin kurz rausgegangen, (3) danach hab ich ihn beleidigt, (.) dann is er
ausgerastet und is aufge-standen, wollt die Stühle auf
mich schmeißen und alles, (3) dann hat er sich wieder
ein biss-chen beruhigt; dann nach der Schule kam er
zu mir, er hat mich (2) geschlagen, (ich guck) so ich
mach so oh: ich blute. da bin ich gegangen; nächsten
Tag mussten wir hierher kommen; da haben wir uns
gar nicht gestritten. (2) danach haben wir das in das
Buch eingetragen, und danach haben wir uns wieder
vertragen und sind jetzt Freunde geworden.“
Es gelang bei alltäglichen Konflikten mit der Mediation
einen Rahmen bereitzustellen, in dem es nicht um individuelle Durchsetzungsfähigkeit, sondern um die Suche nach
Kompromissen, nach tragfähigen, pragmatischen Einigungen, die beiden Streitparteien ermöglichen, ihr Gesicht
zu wahren. Auf diese Weise wurde – so unsere Einschätzung – eine realistische Alternative zu ‚eingespielten’, zum
Teil gewaltförmigen Eskalationsmechanismen eingeübt.
Ich möchte nun noch einmal zusammenfassen, inwiefern
in diesem Projekt die Qualitätskriterien für die Beteiligung
von Kindern und Jugendlichen, wie sie vom Deutschen
Kinderhilfswerk (2004) entwickelt wurden, erfüllt wurden
bzw. inwiefern die Partizipationskultur, und hier geht es
primär um die Schulen, verbessert werden könnte.
Zwangsangeordnete Mediationen wurden lediglich als
verlängerter Arm der Institution Schule empfunden und die
Frage, was eine Mediation hier noch bewirken sollte, blieb
ungeklärt. Ein derartiges Vorgehen schadete der Etablierung von Peer-Mediation in der Schule, die fundamental
auf die Akzeptanz der Mediator/innen durch die Schüler/
innen angewiesen ist.
Im Sinne einer Kultur der Partizipation müsste den
Mediatoren noch deutlicher gemacht werden, dass nicht
sie die Verantwortung für die Lösung der Probleme der
Schüler/innen tragen, sondern diese lediglich im Rahmen
eines moderierenden Prozesses dabei unterstützen sollen,
selbst Lösungen zu finden. Die Mediator/innen neigten
zuweilen dazu, Konflikte der Peers autoritär und schnell
lösen zu wollen, sich als Besserwissende und kompetente
Konfliktlöser zu verstehen, und damit aber denjenigen,
die die Mediation in Anspruch nahmen, nur wenig eigenen
Handlungs- und Entscheidungsspielraum zubilligten.
Letztlich erscheint es banal, aber es ist der Entwicklung
einer Partizipationskultur nicht zuträglich, wenn Kinder
und Jugendliche einerseits immer wieder erfahren, dass
Erwachsene Konflikte überwiegend autoritär und nicht
diskursiv lösen, von ihnen aber andererseits erwartet wird,
Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008 | 13
Prof. Dr. Iris Nentwig-Gesemann
dass sie eine moderierende Rolle einnehmen und bei
eigenen Konflikten die Fähigkeit zum respektvollen und
diskursiven Umgang miteinander beweisen.
Ein Qualitätskriterium der Beteiligung von Kindern und
Jugendlichen ist, dass es tatsächlich Handlungsspielräume
gibt, das heißt einen realistischen und realen Entscheidungsrahmen. Wenn allerdings Jugendlichen die Verantwortung für die Lösung von Konflikten übertragen wird,
denen die Erwachsenen bereits hilflos gegenüberstehen
bzw. die Einbeziehung und Beteiligung von Jugendlichen
zum verlängerten Arm der Durchsetzung von institutionellen Sanktionierungsmechanismen degradiert wird,
dann läuft das dem Partizipationsgedanken zuwider. Ein
weiteres Qualitätskriterium für Beteiligung ist nämlich der
Ernstcharakter: Nur ernst gemeinte Beteiligungsangebote
zählen, nur wenn Mitverantwortung und Mitbestimmung
tatsächlich bei den Jugendlichen liegt, können wir von
einem partizipativen Ansatz reden.
Ein solches Projekt muss auf jeden Fall in den Schulentwicklungsprozess integriert werden und zwar wesentlich
stärker, als wir dies in den beiden Schulen vorfanden,
wenn seine Potentiale im Hinblick auf die Stärkung einer
konstruktiven schulischen Konfliktkultur ausgeschöpft und
darüber hinaus nachhaltige Wirkungen erreicht werden sollen. Nur ein in diesem Sinne unterstützender gesamtschulischer Rahmen vermag zu vermitteln, dass die Mediation
als Projekt der Schule und aller Lehrer ernst genommen
und anerkannt wird. Die Mit-Verantwortung von Schüler/
innen für die Regelung von Konflikten erfordert dabei auch
eine kritische Reflexion über organisatorische Strukturen
und das professionelle Selbstverständnis der Lehrer/innen,
die zu demokratischer Beteiligung von Jugendlichen nicht
nur theoretisch, sondern auch und vor allem praktisch
bereit sein müssen.
Die PowerPoint-Präsentation von Prof. Dr. Iris
Nentwig-Gesemann findet sich im Anhang.
14 | Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008
Literatur
Bohnsack, Ralf; Nentwig-Gesemann, Iris (2006): Dokumentarische Evaluationsforschung und Gruppendiskussionsverfahren. Am Beispiel einer Evaluationsstudie zu
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Deutsches Kinderhilfswerk e.V. und Infostelle Kinderpolitik
(2004) (Hrsg.): Nachschlagewerk Kinderpolitik. Berlin.
Jugendbildungsstätte Kaubstr. e.V. (1999): „mach bloß
keinen Stress ...“. Jugendliche aus Haupt- und Realschulen moderieren Konflikte.
Nentwig-Gesemann, Iris; Bohnsack, Ralf (2005): PeerMediation in der Schule. Eine qualitative Evaluationsstudie
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Jung. Talentiert. Chancenreich? Beschäftigungsfähigkeit
von Jugendlichen fördern. Opladen 2005: B. Budrich, S.
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Nentwig-Gesemann, Iris; Bohnsack, Ralf; Streblow, Claudia (2005): Programmübergreifende Schlüsselerlebnisse
und Lernprozesse Jugendlicher in zukunftsqualifizierender
Projektarbeit. In: Deutsche Kinder- und Jugend-stiftung
(Hg.): Jung. Talentiert. Chancenreich? Beschäftigungsfähigkeit von Jugendlichen fördern. Opladen 2005: B.
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Nentwig-Gesemann, Iris (2006): Dokumentarische Evaluationsforschung. In: Flick, Uwe (Hg.): Qualitative Evaluationsforschung – Konzepte, Methoden, Umsetzungen.
Reinbek bei Hamburg 2006: Rowohlt, S. 159-182.
Nentwig-Gesemann, Iris; Bohnsack, Ralf; Fritzsche,
Bettina (2007): Konflikte friedlich lösen. Dokumentarische
Evaluationsforschung am Beispiel von zwei Peer-Mediationsprojekten. In: Schröder, Ute; Streblow, Claudia (Hg.):
Evaluation konkret. Fremd- und Selbstevaluationsansätze
anhand von Beispielen aus Jugendarbeit und Schule.
Opladen 2007, S. 65-105.
Projekte der Jugendbildungsstätten
Ansätze und Projekte der
Jugendbildungsstätten zum Thema
Demokratiebildung
Arbeitsgruppe 1:“Ich bin wichtig“ - Projekte
mit Auszubildenden zu Recht & Gerechtigkeit
und zur Förderung zivilgesellschaftlichen
Engagements
Jugendbildungsstätte Haus Kreisau für
Berliner Auszubildende
Referentin: Maria von Fransecky
Ich bin wichtig! – Demokratie lernen durch
Bürgerbeteiligung!
„Ich bin wichtig! Selbstbewusst durch freiwilliges Engagement in der Zivilgesellschaft“ – dieses neue Bildungsangebot der JBS Haus Kreisau verbindet die probeweise
Teilhabe an ehrenamtlichem Engagement in Berlin mit
der Entdeckung eigener Kompetenzen und verborgener
Talente. Wo Bürgerbeteiligung, Persönlichkeitsentwicklung
und Verantwortung für andere gefragt sind, da ergeben
sich praktische Erlebnisräume für unsere Projektteilnehmer. Sie werden dabei nicht zu Lückenbüßern für einen
sich zurückziehenden Sozialstaat, sondern erleben Chancen der Entwicklung einer Zivilgesellschaft mit menschlichem Gesicht. Die Internatsform unseres Seminars
ermöglicht eine intensive Arbeitsatmosphäre, in der neue
Erfahrungen gewagt, gemeinsam reflektiert und diskutiert
werden können.
finden sich aktiv in den Strukturen des Ehrenamts ein. Sie
bringen sich selbst und ihre vorhandenen Kompetenzen
mit ins Spiel und erleben dabei ihr Gebrauchtsein. Die neu
gewonnenen Erfahrungen, Fragen und kritischen Beobachtungen werden gemeinsam besprochen und ausgewertet.
Für die meisten Jugendlichen ist unser Angebot der erste
Kontakt zu ehrenamtlich tätigen Menschen und ihren
Organisationen in Berlin. Ihr Verhalten wirkt beispielgebend
und fordert zu eigener Positionierung heraus.
Viele Projektteilnehmer können sich vorstellen, selbst aktiv
zu werden. Ein junger Betonbauer sagte abschließend:
„Über mich selbst habe ich gelernt, dass ich eventuell zur
ehrenamtlichen Arbeit fähig bin, jedenfalls in bestimmten
Bereichen. Überhaupt habe ich neue Einblicke in die
Gesellschaft gewonnen.“ Und ein angehender Schlosser
meinte: „Was ich gelernt habe? Es gibt Menschen, die
nicht nur auf`s Geld achten, sondern auch freiwillig anderen Leuten helfen.“
Die Projektzeitung der Jugendbildungsstätte Haus Kreisau
„Ich bin wichtig! Selbstbewusst durch freiwilliges Engagement in der Zivilgesellschaft“, die weitere Informationen zu
dem vorgestellten Projekt enthält, steht unter
www.hauskreisau.de zum Download zur Verfügung.
Angeleitet durch professionelle Pädagogen gewinnen die
Teilnehmer und Teilnehmerinnen Einsicht in die Entwicklung einer modernen Bürgergesellschaft, erkennen
Problemfelder im Sozialstaat, lernen Traditionen ehrenamtlichen Handelns kennen und entscheiden sich für ein
erstes exemplarisches Mittun bei einem Verein, einer Initiative oder Non-Profit-Organisation. Sie organisieren sich
ihren Einsatz selbst, führen erste Kontaktgespräche und
Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008 | 15
DGB-Jugendbildungsstätte Flecken Zechlin
Referent/innen: Martina Panke, Ulrich
Schnauder
Das Seminarkonzept „Recht und
Gerechtigkeit“
Ulrich Schnauder (Bildungsreferent) und Martina Panke
(Leiterin) der Bildungsstätte stellten ihren Ansatz einer „arbeitsorientierten politischen Bildung“ vor. Dieses Angebot
für Auszubildende knüpft an die Arbeits- und Lebenserfahrungen junger Berufstätiger an. Gerechtigkeitsurteile
und Gerechtigkeitskonzepte formen sich auch im Alltag
der Betriebe, im Arbeitsethos der Berufe und der sozialen
Erfahrung der verschiedenen Statusgruppen.
Das Seminar „Recht und Gerechtigkeit“ stellt die Kriterien
von Gerechtigkeitsurteilen zur Debatte. Wie lässt sich entscheiden, was gerecht ist? In welchem Verhältnis stehen
Gerechtigkeit und Rechtsstaat? Wie gerecht ist die Verteilungsordnung dieser Gesellschaft? Werden härtere Strafen
gebraucht? In Gerichtsbesuchen und Gesprächen mit
Richtern, Schöffen, Bewährungshelfern und Arbeitsrichtern
wird die Funktions- und Verfahrensweise des Rechtsstaats
diskutiert.
Ziel des Seminars ist es auch, zur Entwicklung der moralisch-kognitiven Reflexionskompetenzen und zur Überwindung des Gegensatzes zwischen der Verfahrenslegitimität
des Rechtsstaates und lebensweltlichen Gerechtigkeitsprinzipien beizutragen.
Vorgestellt wurde der didaktische Schritt der Arbeit mit
einer „Wertepyramide“, einer Arbeitsform, welche die Reflexion der unterschiedlichen, durchaus auch gegensätzlichen, Werteorientierungen und ihr Verhältnis zueinander
thematisiert.
16 | Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008
Arbeitsgruppe 2:“Mitbestimmung und
Demokratie in der Schule”
Jugendbildungsstätte Kurt Löwenstein e.V.
Referent: Hendrik Giese
Projekt „Mitmischen possible – Schule , wie
wir sie uns vorstellen!“
Ziel des hier beschriebenen Projekts ist es, die Lebenswelt
Schule als ein zentrales Lernfeld für Partizipation und
Demokratie erfahrbar zu machen. Schüler/innen werden
motiviert, demokratische Strukturen zu schätzen, zu
stützen und auszubauen, sich ehrenamtlich zu engagieren
und Verantwortung zu übernehmen. Zielgruppe des
Projektes sind Schüler/innen- und Schülervertreter/innen
der 7.-12. Jahrgangsstufe. Das Projekt richtet sich an
alle interessierten Schüler/innen, die bereit sind, sich im
Schulalltag ehrenamtlich und aktiv einzubringen.
Indem auch interessierte Begleitlehrer/innen in den
Prozess mit einbezogen werden, können diese Schüler/
innen im weiteren Verlauf, z.B. bei der Umsetzung ihrer
Vorhaben, besser unterstützen. Im Mittelpunkt steht ein
fünftägiges Seminar mit dem Titel „Mitmischen possible –
Schule wie wir sie uns vorstellen!“. Die in diesem Rahmen
ausgebildeten „Peer-Leader“ sollen über das Engagement
in der Schülerselbstverwaltung hinaus einen Kreis ehrenamtlicher, aktiver Schüler/innen bilden, der sich für die Interessen anderer engagiert. Dazu gehört zum Beispiel die
Unterstützung von Mitschüler/innen bei der Organisation
von Projekten zum Thema „Partizipation und Demokratie“
sowie die Moderation und Bewältigung von Konflikten.
Im Verlauf des Projekts entwickeln Schüler/innen Ideen
für Projektvorhaben und Strukturveränderungen in der
Schule und deren unmittelbarem Umfeld. Sie formulieren
Zukunftsvisionen, Forderungen und konkrete Umsetzungsvorschläge. Gleichzeitig erwerben sie Kenntnisse und
Kompetenzen in den Bereichen Kommunikation, Moderation, Projektplanung und Gruppenleitung und üben, diese
in ihrem Alltag einzusetzen. Das Thema „Demokratie an
der Schule“ wird anhand konkreter Mitbestimmungsformen
anschaulich gemacht und mit Hilfe von Alltagsbeispielen
weiterentwickelt.
Demokratie wird dabei nicht als abstrakte Theorie behandelt, sondern als ein lebendiger Prozess verstanden, der
überall dort in Gang kommt, wo Menschen ihre Interessen
aushandeln. Um Jugendliche gegen antidemokratische
und autoritäre Ideologien zu wappnen, muss Demokratie in
der Schule gelebt und gelernt werden. So können positive
Erfahrungen mit ehrenamtlichem Engagement im „Demokratie-Übungsfeld“ Schule ein Anstoß für Jugendliche sein,
auch außerhalb der Schulzeit sozial aktiv zu werden.
Wichtig dabei ist die freiwillige Teilnahme am Projekt sowie
ein Teilnehmer/innen-orientierter Ansatz. Zentrales Ziel ist
es, Kenntnisse und Kompetenzen für langfristiges innerschulisches Engagement zu vermitteln. Die Schüler/innen
sollen befähigt werden, Mitschüler/innen bei Konflikten
und bei der Planung von Projekten zu unterstützen. Dazu
erwerben sie Kompetenzen im Bereich Kommunikation
und Konfliktbearbeitung. Präsentationstechniken und
Projektplanung sollen den Teilnehmer/innen Sicherheit bei
der Betreuung von Projekten geben.
Den Projektauftakt bildet ein erstes Vorbereitungstreffen
mit interessierten Schüler/innen und Lehrer/innen in der
Schule, bei dem die Schüler/innen ihre Ziele und Erwartungen in die Seminarplanung einbringen können. Nach
biographischen Spielen zum gegenseitigen Kennenlernen
wird das Seminarprogramm für die Woche vorgestellt.
Hier haben die Schüler/innen noch einmal Gelegenheit,
Änderungswünsche und Anregungen einfließen zu lassen.
Die Schüler/innen teilen sich eigenständig in jahrgangsübergreifende Kleingruppen auf. So lernen sich bei der
Gruppenarbeit Schüler/innen unterschiedlichen Alters
näher kennen und bilden neue Netzwerke, die auch
längerfristig Bestand haben können. Auf diesem Wege
sollen dauerhafte Strukturen im Schulalltag entstehen, die
es möglich machen, einen großen Teil der Schülerschaft
Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008 | 17
einzubinden. Eine Vielzahl von Interessen fließt so in die
erarbeiteten Projekte ein.
Die Zukunftswerkstatt „Mitbestimmung in der Schule“ lädt
Schüler/innen dazu ein, sich mit ihren Utopien, ihrer Kritik
und ihren Forderungen zu dem Thema auseinanderzusetzen. Angestrebt wird, dass sich möglichst viele Schüler/
innen aller Jahrgangsstufen an der Zukunftswerkstatt
beteiligen. Da für diese Methode keinerlei Vorkenntnisse
erforderlich sind, sinkt die Hemmschwelle auch bei jüngeren Schüler/innen, sich mit den eigenen Standpunkten
einzubringen. Zunächst dient die Zukunftswerkstatt als
Bedarfsanalyse für Veränderungen im Schulalltag. Sie
setzt an den Interessen der Beteiligten an, macht dabei
Aushandlungsprozesse exemplarisch erfahrbar und ermöglicht die Entwicklung von konkreten Handlungsstrategien in
Form von Forderungen und konkreten Projekten.
Die Ergebnisse der Kleingruppen werden der Gesamtgruppe vorgestellt und in Verantwortlichkeiten sowie Zeitpläne
zur Umsetzungen überführt
Durch die Formulierung eigener Interessen und Standpunkte werden die Schüler/innen zur politischen Partizipation motiviert. So kann den Jugendlichen vermittelt werden,
dass es sich lohnt, Position zu beziehen und sich couragiert für die eigenen Interessen sowie gesellschaftliche
Belange zu engagieren.
18 | Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008
Bildungsstätte der Sportjugend Berlin
Referent: Peter Holtgrave
„Mehr Demokratie in der Schule“
Das Programmangebot der Bildungsstätte der Sportjugend
Berlin wurde über die Jahre aus den praktischen Anforderungen der SV-Arbeit heraus entwickelt und geht auf
den Wunsch der Schüler/innen nach Unterstützung und
Fortbildung für Ihre SV-Arbeit ein. Es berücksichtigt zwei
wesentliche Elemente: Zum einen die Eigenverantwortlichkeit und Selbstorganisation der SV-Vertreter/innen, zum
anderen deren Bedürfnis nach Förderung ihrer Tätigkeit im
Schulalltag.
Daraus ergaben sich folgende inhaltliche Schwerpunkte für
das Programmangebot der Bildungsstätte der Sportjugend
Berlin:
•
•
•
•
•
•
Selbstverständnis, Demokratieverständnis, Mitwirkung im Schulalltag
Rechtliche Grundlagen der SV-Arbeit
Kommunikation, Kooperation, Vertrauen
Konfliktfähigkeit, Problemlösungsstrategien, diplomatische Intervention
Präsentationstechniken, Öffentlichkeitsarbeit
Organisation, Veranstaltungs- und Projektplanung
Im Rahmen der Fachtags-Arbeitsgruppe wurden in einer
Powerpoint-Präsentation exemplarisch ausgesuchte
methodisch-didaktische Verfahren vorgestellt, die in der
Arbeit mit den SV-Vertreter/innen eingesetzt werden, um
die Selbstreflexion und das Selbstbewusstsein der Schüler/
innen zu stärken und ihnen Fertigkeiten zu vermitteln, die
in ihrer konkreten SV-Arbeit nützlich sind.
In der Diskussion wurden zunächst inhaltliche Fragen
geklärt und die Höhe der Nachfrage nach solchen Seminaren angesprochen. Einige Teilnehmende zeigten sich
positiv überrascht, dass es derartige Seminarangebote von
Jugendbildungsstätten gibt.
Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008 | 19
Arbeitsgruppe 3:“Demokratietraining - oder:
Wie gehen wir eigentlich miteinander um?”
ver.di JugendBildungsstätte
Referent: Guido Monreal
Betzavta – Training für Demokratie und
Toleranz
In der „Fadenübung“ finden sich die Teilnehmenden zu
Kleingruppen von circa fünf Personen zusammen. Sie
werden in ein spezielles Setting gebracht, das hier nicht
näher ausgeführt werden braucht, und agieren in dieser
Situation etwa zehn Minuten lang. Anschließend wird der
Handlungsverlauf in den Kleingruppen rekapituliert, wobei
auch die individuellen Wahrnehmungen Berücksichtigung
finden. Dabei werden zentrale Begriffe wie „Freiheit“,
„Kompromiss“ und „Bedürfnis“ sowie „stillschweigende
Annahmen“ reflektiert.
In diesem Workshop wurden (mindestens) zwei Dinge
deutlich:
a) Schon mit einem sehr simplen Übungseinstieg lässt
sich die gesamte Komplexität zwischenmenschlicher
Beziehung vergegenwärtigen.
b) Unsere Wahrnehmung und unser Handeln werden
vielfach durch nicht hinterfragte Annahmen beeinflusst. Nur ein ehrliches, intensives und wertschätzendes Interesse aneinander sowie die Auseinandersetzung miteinander führt zu Lösungen, mit denen
alle Beteiligten zufrieden sind.
Die so genannte „Fadenübung“ aus dem Programm
Betzavta verdeutlicht die zentrale Rolle einer demokratischen Alltagskultur. Demnach sind eine demokratische
Verfassung sowie eine aktive Zivilgesellschaft für das Gelingen von Demokratie notwendige, aber noch nicht hinreichende Voraussetzungen. Erst wenn demokratische Werte
wie Freiheit und Gerechtigkeit verinnerlicht und gelebt
werden, kann von einer demokratischen Alltagskultur die
Rede sein. Hier liegt der Fokus des Betzavtas-Programms
zur Demokratieerziehung.
Der demokratische Charakter einer Gesellschaft zeigt
sich vor allem im Konfliktverhalten ihrer Mitglieder. Die
entscheidende Frage ist, ob Meinungsverschiedenheiten
und Interessensgegensätze auf der Basis gleichen Rechts
auf freie Entfaltung ausgehandelt werden oder nicht.
In Übungen werden Konflikte durchgespielt, zu denen sich
die Teilnehmenden verhalten müssen. In der anschließenden Reflexionsrunde werden der Verlauf des oftmals
spielerischen Einstiegs, die erkennbaren Konfliktlinien und
das Verhalten der Teilnehmenden gemeinsam besprochen.
Ziel ist es, Hintergründe für das Verhalten der Einzelnen
zu analysieren, auf diesem Weg Empathie für einander
zu entwickeln und gemeinsam nach guten Lösungen für
das jeweilige Problem zu suchen. Es erfolgt also eine
Sensibilisierung für die Bedeutung einer gemeinsamen
Konfliktlösung, die möglichst alle zufrieden stellen soll. Im
Transfer wird dann geprüft, was aus dieser Betrachtung für
die Lösung realer Konflikte im Leben der Teilnehmenden
sowie politisch-gesellschaftlicher Fragen geschlossen
werden kann.
20 | Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008
Anhang
PowerPoint-Präsentation Prof. Dr. Iris Nentwig-Gesemann
Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008 | 21
PowerPoint-Präsentation
Prof. Dr. Iris Nentwig-Gesemann
22 | Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008
Anhang
Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008 | 23
PowerPoint-Präsentation
Prof. Dr. Iris Nentwig-Gesemann
24 | Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008
Anhang
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PowerPoint-Präsentation
Prof. Dr. Iris Nentwig-Gesemann
26 | Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008
Anhang
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PowerPoint-Präsentation
Prof. Dr. Iris Nentwig-Gesemann
28 | Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008
Anhang
Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008 | 29
PowerPoint-Präsentation
Prof. Dr. Iris Nentwig-Gesemann
30 | Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008
Anhang
Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008 | 31
PowerPoint-Präsentation
Prof. Dr. Iris Nentwig-Gesemann
32 | Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008
Anhang
Fachtagung „Demokratie - lernen & erfahren“ 11. Dezember 2008 | 33
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