Begutachtungen zur Schuldunfähigkeit und

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Schwerpunkt
Begutachtungen zur Schuldunfähigkeit und verminderten
Schuldfähigkeit
N. Nedopil1; A. Boetticher2
1Klinik
und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig Maximilians Universität München, Abteilung für Forensische
Psychiatrie; 2Bundesrichter a.D.
Schlüsselwörter
Zusammenfassung
Schuldunfähigkeit, Zweistufigkeit, juristisch-psychiatrischer Diskurs,
Mindestanforderungen
an Schuldfähigkeitsgutachten
Der Begriff der Schuldunfähigkeit wurde erst nach dem 2. Weltkrieg als Grundlage für
Straffreiheit oder Strafminderung bei psychisch Kranken in das deutsche Strafrecht aufgenommen. Die Anwendung dieses Konstruktes ist Strömungen des Zeitgeistes und des ständigen Diskurses zwischen der Strafrechtspraxis und der forensischen Psychiatrie unterworfen und nur begrenzt abhängig von empirisch-naturwissenschaftlichen oder medizinischen
Erkenntnissen. In diesem Diskurs haben Fachvertreter von beiden Seiten gemeinsam versucht, Konzept und Struktur von Begutachtung und Beurteilung so festzulegen, dass Handlungsanweisungen für Gutachter und Beurteilungskriterien für Gerichte möglichst eindeutig und transparent werden, den wechselseitigen Dialog erleichtern aber auch die jeweiligen
Fragen und Schlussfolgerungen überprüfbar machen können. Die systematische Anwendung von Diagnosesystemen, die Zuordnung zu den juristischen Eingangsmerkmalen, die
Einhaltung eines zweistufigen Beurteilungsprozesses und die Einhaltung einer Konvention
der Schweregradbeurteilung sind die konzeptionellen Voraussetzungen, die getrennte Darstellung der Informationsquellen, die Trennung von Datenerhebung, Befund, Kommentar
und Schlussfolgerung gehören zu den strukturellen Anforderungen an Gutachten, die den
derzeitigen Qualitätsstandards genügen können.
Keywords
Summary
Inculpability, two-stage
procedure, judicial-psychiatric discourse, minimum requirements for
psychiatric expert reports
The concept of inculpability was added to the relevant German penal laws after the Second
World War as a basis for immunity or reduced sentences. The use of this construct still depends on the Zeitgeist and the constant discourse between criminal law and practice of
forensic psychiatry; and is much less on empirical, scientific or medical knowledge. In this
discourse, professionals from the legal, psychiatric, and psychological field attempted
jointly to define a concept and structure for the assessment and evaluation of offenders. Its
purpose is to provide clear and transparent instructions for assessors and at the same time
criteria for the evaluation of expertises to be used by court, and thus to facilitate the dialogue between the professions. The systematic application of diagnostic systems, the correct translation of diagnoses into legal terms, the compliance with a two-stage assessment
process, and a convention about the assessment of the severity of a mental disorder form
the concept of these minimal requirements for the assessment of culpability. The separate
presentation of information sources, the separation of history taking, findings, comment
and conclusion belong to the structural requirements for the expert reports. Both conceptual and structural requirements have to be fulfilled to meet the current quality standards.
Psychiatric assessment in cases of inculpability or diminished culpability
Die Psychiatrie 2013; 10: 152–159
Eingegangen: 03. April 2013
Angenommen: 03. Juni 2013
Die Psychiatrie 3/2013
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Schwerpunkt
D
ie Frage, wie mit psychisch Kranken, die Verbrechen
begangen haben, umgegangen werden soll, wurde
schon in der Antike und in der Geschichte des Rechts immer wieder und in fast allen Rechtssystemen diskutiert.
Allerdings wurde erst in der Renaissance die Hinzuziehung
von Ärzten bei der Klärung dieser Frage erwogen und erst
im 19. Jahrhundert wurden Ärzte systematisch zu Beratern
der Gerichte.
Geschichtliche und philosophische
Grundlagen der Schuldfähigkeitsbeurteilung
Diese Frage wurde zunehmend an die Psychiater gerichtet.
Diese Entwicklung bekam umso mehr Bedeutung je mehr
im 19. Jahrhundert der Täter als Individuum in den Vordergrund rückte (nicht die Tat sondern der Täter wurde
bestraft [3]), und je mehr im 20. Jahrhundert der Resozialisierungsgedanke des Strafrechts auch verfassungsrechtlichen Rang erhielt.
Die historische Betrachtung zeigt aber, dass die Psychiater relativ spät in ein Feld eingedrungen sind, welches
schon lange von den Juristen beherrscht worden ist. In der
gutachterlichen Praxis müssen Psychiater lernen, sich in
diesem für sie fremden Feld zu bewegen, ohne ihre eigene
Herkunft und Kompetenz, wegen der sie als Ratgeber vom
Gericht angefordert wurden, aufzugeben (7).
In Deutschland wurde der Begriff der Schuldunfähigkeit
mit der Strafrechtsreform 1975 in die §§ 20, 21 StGB aufgenommen, nachdem bis dahin in § 51 RStGB die Zurechnungsunfähigkeit als Grundlage für eine krankheitsbedingte Straffreiheit definiert war. Das Gegenteil von
Schuldunfähigkeit, die Schuldfähigkeit ist weder umgangssprachlich noch im Gesetz, noch in der Rechtsprechung verbindlich definiert. Die Strafjustiz hält sich aber
in ihrer täglichen Arbeit an die Entscheidung des Großen
Senats für Strafsachen vom 18. März 1952 (BGHSt 2,
194ff ). Darin ist versucht worden, das Schuldprinzip vom
Determinismusstreit zu lösen und für das Strafrecht positiv
zu bestimmen. Der Große Senat hat sogar gemeint, eine
Festschreibung der Schuldtheorie durch den Gesetzgeber
sei nicht (mehr) erforderlich, weil deren Regeln sich „aus
dem Wesen der Schuld ergäben“ (S. 209). Er hat u. a. entschieden: „Staatliche Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist
Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird
dem Täter vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten habe, dass er sich für das Unrecht entschieden hat,
obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht
habe entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfes liegt darin, dass der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und des-
Die Psychiatrie 3/2013
halb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht
zu entscheiden, sein Verhalten nach den Normen des
rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu vermeiden…“
Die in der Populärliteratur mit der Schuldfähigkeit häufig verbundene Frage der „freien“ Willensentscheidung
bleibt damit in der juristischen Diskussion zweitrangig
(13). Ob der Mensch seinen Willen frei bestimmen und
entsprechend frei handeln kann (Indeterminismus) oder ob
der Wille von biologischen und gesellschaftlichen Kräften
so bestimmt ist, dass freie individuelle Entscheidungen gar
nicht möglich sind (Determinismus), ist nach wie vor umstritten. Der Determinismus-Indeterminismus-Streit spielt
für die psychiatrische Begutachtung von Rechtsbrechern
jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Unabhängig von
philosophischen Erwägungen und wissenschaftlichen Hypothesen und weitgehend unberührt von dem wiederholt
aufgegriffenen Diskurs über Determinismus und Indeterminismus (6, 9) gehen Gesetze und Rechtsprechung davon
aus, dass der erwachsene, rechtsmündige Mensch weitgehend frei über seinen Willen verfügen und die Verantwortung für sein eigenes Handeln übernehmen kann. Dem erwachsenen Menschen wird im Strafrecht Schuldfähigkeit
unterstellt, ohne dass näher erörtert wird, wie sie definiert
ist und unabhängig davon, ob dies mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen übereinstimmt oder nicht. Da auch
die Naturwissenschaften nicht bewiesen haben, dass es
den „freien Willen“ nicht gibt, hat sich der Gesetzgeber für
das Schuldstrafrecht entschieden, das nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verfassungsfest ist.
Die Justiz geht also in der Regel von einem gesunden Beschuldigten aus, der sich für oder gegen das Recht entscheiden konnte. Dem Psychiater kommt die Aufgabe zu,
Ausnahmen festzustellen, welche die Schuldfähigkeit aufheben oder vermindern. Liegen diese Ausnahmen nicht
vor, gilt die allgemeine Unterstellung von Schuldfähigkeit.
Die Schuldunfähigkeit und verminderte Schuldfähigkeit
ist in den §§ 20 und 21 des Strafgesetzbuches (StGB) geregelt. Demnach handelt ohne Schuld, wer bei Begehung einer Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tief greifenden Bewusstseinsstörung oder wegen
Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht einer Tat einzusehen
oder nach dieser Einsicht zu handeln. Wenn die Fähigkeit
eines Menschen, sein Handeln bei Begehung einer Tat zu
steuern, erheblich vermindert war, obwohl er erkannt hat,
dass er damit gegen die Gesetze verstößt, so kann die Strafe gemildert werden.
Bei der Beurteilung der aufgehobenen oder verminderten Schuldfähigkeit ist – wie bei allen vergleichbaren Regelungen, z.B. bei Geschäfts- und Testierunfähigkeit – ein
zweistufiges Vorgehen erforderlich: In den Gesetzen werden so genannte „Eingangsmerkmale“ (5, 7) genannt. Der
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Schwerpunkt
Psychiater muss zunächst die von ihm gestellten klinischen Diagnosen den Eingangsmerkmalen, die auch als
biologische oder medizinische Merkmale bezeichnet werden, zuordnen. Erst wenn eine solche Zuordnung gelingt,
kann nach der psychischen Funktionsbeeinträchtigung,
die durch die genannte Störung bedingt ist, gefragt werden. Diese Funktionsbeeinträchtigungen werden im Strafrecht als Einsichts- oder Steuerungsunfähigkeit bezeichnet. Es kann somit nie direkt aus der Unsinnigkeit oder aus
der besonderen Auffälligkeit einer strafbaren Handlung
auf eine psychische Störung oder gar auf Beeinträchtigungen der Schuldfähigkeit geschlossen werden. Der Weg ist
vielmehr umgekehrt. Psychiater haben entsprechend ihrer
Kompetenz zunächst eine klinische Diagnose zu stellen.
Sie haben dann den Schweregrad der Störung zu beurteilen, da lediglich schwerwiegende Störungen als Grundlage
(als Eingangsmerkmale) für Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit in Betracht kommen. Dieser
Schweregrad wird im § 20 des Strafgesetzbuches mit den
quantifizierenden Adjektiven krankhafte seelische Störung, tief greifende Bewusstseinsstörung oder schwere
seelische Abartigkeit beschrieben. Die Zuordnung der klinischen Diagnosen zu diesen rechtlichen Begriffen ist ein
wichtiger, möglicherweise der entscheidende Schritt bei
der psychiatrischen Beurteilung. Die Zuordnung entspricht
dabei nicht mehr den heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern dem Kenntnisstand, der bei Schaffung des Gesetzes Anfang der 70er-Jahre des vorigen
Jahrhunderts bekannt war. Man wollte damals den organisch bedingten seelischen Krankheiten – oder was man
dafür hielt – den Vorrang vor den anderen psychischen
Störungen geben. Diese Krankheiten wurden den „krankhaften seelischen Störungen“ zugeordnet. Zwar weiß man
heute, dass weit mehr psychische Störungen organische
Korrelate haben und dass auch viele organische Störungen
und die früher als endogene Psychosen bezeichneten
Krankheiten von persönlichen und sozialen Bedingungen
modelliert werden, dennoch blieben diese Krankheiten und
der durch sie bedingte Verlust an sozialer Kompetenz als
„krankhafte seelische Störung“ Referenzpunkt bei der Beurteilung der anderen Merkmale des § 20 des Strafgesetzbuches.
Wenn eines der vier Eingangsmerkmale des § 20 StGB,
nämlich die krankhafte seelische Störung, die tiefgreifende
Bewusstseinsstörung, der Schwachsinn oder die schwere
andere seelische Abartigkeit vom Gutachter identifiziert
worden ist, muss das Gericht u. U. mit Hilfe des Sachverständigen aber auch unter Berücksichtigung und Verwertung aller Zeugenaussagen überprüfen, ob aufgrund dieser
Störung die Einsichts- oder die Steuerungsfähigkeit aufgehoben oder erheblich vermindert war. Dabei kommt es
nicht nur auf die Diagnose allein an, sondern meist auch
Die Psychiatrie 3/2013
auf das konkrete bei der Tat oder im Umfeld der Tat beobachtbare Verhalten.
Psychiater und Psychologien haben vor allem die medizinischen und psychologischen Einbußen aufzuzeigen,
welche die Schuldfähigkeit beeinträchtigen können. Sie
tun dies aufgrund ihres Wissens um Krankheiten und Störungen und meist unter Berücksichtigung der von den Untersuchten geschilderten Symptome. Sie stellen aufgrund
dieses Wissens Hypothesen über die Verhaltensmöglichkeiten des Untersuchten zu einem Tatzeitpunkt auf, der
schon lange zurückliegt und bei dem sie den Untersuchten
auch nicht haben beobachten können. Diese Hypothesen
erhalten umso mehr Bestätigung, je besser die angenommene Symptomatik durch Zeugen, die den Täter vor, während oder nach der Tat beobachtet haben, bestätigt wird;
die Hypothesen werden umso mehr in Zweifel gezogen, je
mehr die beobachtete Symptomatik von der angenommenen abweicht. Sachverständige haben sich dabei eng an
den gesetzlichen Vorgaben zu orientieren, ohne die erfahrungswissenschaftlichen Grundlagen ihrer Kenntnisse zu
verlassen und selber rechtliche Wertungen vornehmen zu
wollen.
Bei der Beantwortung der Frage nach aufgehobener
oder verminderter Schuldfähigkeit muss somit in aller Regel in mehreren Schritten vorgegangen werden, die im
Folgenden dargestellt werden:
1. Stellen einer klinischen Diagnose
2. Subsumption der klinischen Diagnose unter einen juristischen Krankheitsbegriff (= eines der 4 Eingangsmerkmale des § 20 StGB)
3. Entwicklung einer Hypothese über die störungsbedingte
Funktionsbeeinträchtigung aufgrund des klinischen Erfahrungswissens
4. Quantifizierung der rechtsrelevanten Funktionsbeeinträchtigung
5. Benennung der Wahrscheinlichkeit, mit welcher die klinische Hypothese zutrifft
Eingangsmerkmale
(Erste Stufe der Beurteilung)
Krankhafte seelische Störung
Dieser Begriff umfasst alle Erkrankungen und Störungen,
bei denen nach traditioneller Auffassung Ende des vorigen
Jahrhunderts entweder eine organische Ursache bekannt
ist, oder aber eine solche Ursache vermutet wird. Hierzu
werden gezählt:
körperlich begründbare (exogene) Psychosen
endogene Psychosen (schizophrene und affektive Psychosen)
hirnorganisch bedingte Störungen
•
•
•
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Schwerpunkt
Durchgangssyndrome, die entweder toxisch oder trau• matisch
bedingt sind (z.B. Alkoholrausch oder Drogen-
•
•
bzw. Medikamentenintoxikation)
epileptische Erkrankungen, einschließlich epileptischer
Dämmerzustände
genetisch bedingte Erkrankungen, z.B. Down-Syndrom
Tief greifende Bewusstseinsstörung
Dieses Merkmal bezieht sich auf Bewusstseinsveränderungen, die bei einem ansonsten gesunden Menschen auftreten können, aber in extremen Belastungssituationen zu einer erheblichen Beeinträchtigung der psychischen Funktionsfähigkeit führen. Die quantitative Abgrenzung erfährt
dieses Merkmal durch den Zusatz „tief greifend“, worunter
der Sonderausschuss für die Strafrechtsreform verstand,
dass die Bewusstseinsstörung so intensiv sein muss, „dass
das seelische Gefüge des Betroffenen zerstört oder im Falle
des § 21 StGB erschüttert ist“ (Sonderausschuss, Drucksache V/4095, S. 11). Wenngleich beispielsweise auch
Schlaftrunkenheit und Somnambulismus unter dieses
Merkmal zu subsumieren sind, so liegt die praktische Bedeutung dieses Merkmals in den Beeinträchtigungen bei
starker affektiver Belastung, z. B. Wut, Angst oder Verzweiflung. Es wird am häufigsten bei so genannten “Affektdelikten” diskutiert.
Die Beurteilung der Affekte und ihrer Folgen wird in
der Literatur und vor Gericht kontrovers diskutiert. Psychiatrische Laien meinen, Affekte beurteilen zu können,
und interpretieren daher die psychopathologisch auffälligen Affektstürme vor dem Hintergrund ihres eigenen Erfahrungswissens. Bei ihnen und auch bei Gericht schleicht
sich so häufig unreflektiert die Frage ein, ob dieser Affektsturm gerechtfertigt war. Wird die Frage vor dem eigenen
Erfahrungswissen beantwortet, wird man öfter zu verschiedenen Ergebnissen kommen, als wenn man sie in
psychiatrischer Kenntnis der Täterpersönlichkeit beantwortet. In der forensisch psychiatrischen und in der juristischen Literatur wurden verschiedene Vorgehensweisen
vorgeschlagen, mit deren Hilfe das Ausmaß einer affektiven Beeinträchtigung bei einer Tat erfasst werden soll.
Von diesem Ausmaß hängt es ab, ob die Annahme einer
tiefgreifenden Bewusstseinsstörung gerechtfertigt ist oder
nicht.
Die aus psychiatrischer Sicht zu stellende Diagnose ist
eine schwere akute Belastungsreaktion (4). Nach ICD-10 ist
die akute Belastungsreaktion definiert als vorübergehende
Störung, die sich bei einem psychisch nicht manifest gestörten Menschen als Reaktion auf eine außergewöhnliche
körperliche oder seelische Belastung entwickelt und im
Allgemeinen innerhalb von Stunden oder Tagen abklingt.
Unter der außergewöhnlichen Belastung wird eine ernsthafte Bedrohung für die Sicherheit oder körperliche Un-
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versehrtheit des Betroffenen oder einer geliebten Person
(z.B. Naturkatastrophe, Unfall, Krieg, Verbrechen, Vergewaltigung) oder eine ungewöhnlich plötzliche und bedrohliche Veränderung der sozialen Stellung und/oder des
Beziehungsnetzes des Betroffenen verstanden. Dabei spielen für das Auftreten der Störung weitere Faktoren, wie
körperliche Erschöpfung oder organische Beeinträchtigungen, insbesondere aber die individuelle Vulnerabilität und
die zur Verfügung stehenden Bewältigungsmechanismen
eine Rolle. Von entscheidender Bedeutung sind die persönliche Relevanz der Ereignisse für den Betroffenen und das
Vorhandensein von Vulnerabilität, Persönlichkeitslabilisierung und Abschwächung der Bewältigungsmechanismen. Nach DSM-IV-TR müssen für die Diagnose einer
akuten Belastungsstörung mindestens drei der folgenden
Kriterien erfüllt sein:
Subjektives Gefühl von emotionaler Taubheit, von Losgelöstsein, oder Fehlen emotionaler Reaktionsfähigkeit
Beeinträchtigung der bewussten Wahrnehmung der
Umwelt (z.B. wie betäubt sein)
Derealisationserleben
Depersonalisationserleben
Dissoziative Amnesie (z.B. Unfähigkeit, sich an einen
wichtigen Aspekt des Traumas zu erinnern)
•
•
•
•
•
Saß (10, 12) hat den Kriterienkatalog, der zur Annahme einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung führen kann, erweitert, indem er aus einer Literaturübersicht folgende
Merkmale zusammenstellte: „Spezifische Vorgeschichte
und Tatanlaufzeit“, „Affektive Ausgangssituation mit Tatbereitschaft“, „Psychopathologische Disposition der Persönlichkeit“, „Konstellative Faktoren“, „Abrupter, elementarer Tatablauf ohne Sicherungstendenzen“, „Charakteristischer Affektaufbau und Affektabbau“, „Folgeverhalten
mit schwerer Erschütterung“, „Einengung des Wahrnehmungsfeldes und der seelischen Abläufe“, „Enger Zusammenhang Provokation – Erregung – Tat“ und „Vegetative,
psychomotorische und psychische Begleiterscheinungen
heftiger Affekterregung“
Schwachsinn
Unter dem Eingangsmerkmal Schwachsinn sind alle Störungen der Intelligenz zusammengefasst, die nicht auf
nachweisbaren organischen Grundlagen beruhen. Nicht
darunter fallen insbesondere die demenziellen Prozesse im
Alter und die genetisch bedingten Formen der Minderbegabung, sofern sie eindeutig zugeordnet werden können
(sie fallen unter das Merkmal der krankhaften seelischen
Störung). Wenngleich eine Zuordnung zu diesem Merkmal
erst ab einer relativ ausgeprägten Minderbegabung erfolgt,
hängt seine Anwendung nicht allein vom Intelligenzquotienten ab, sondern auch von der Täterpersönlichkeit und
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ihrer Sozialisation. Intelligenzeinbußen führen u.U. auch
zu leichterer Verführbarkeit, zu verminderter Erregungskontrolle und zu unüberlegten Handlungen in komplexen
Situationen.
Affektive Zuspitzungen und unklare situative Verhältnisse belasten Minderbegabte oft wesentlich stärker als
durchschnittlich Intelligente; geistig Behinderte sind zudem Verführungssituationen mehr ausgeliefert. So mag
beispielsweise ein Minderbegabter mit einem IQ von 70
vermindert steuerungsfähig sein, wenn er von einem anderen dazu überredet wird, einen gefälschten Scheck einzureichen, während er bei einem Handtaschenraub, den er
allein durchführt, als voll schuldfähig erachtet werden
kann.
Schwere andere seelische Abartigkeit
Bei diesem unglücklich gewählten Terminus handelt es
sich um einen Sammelbegriff, unter dem alle Störungen,
die nicht den ersten drei Merkmalen zugeordnet werden
können, zusammengefasst werden. Dazu gehören insbesondere die Persönlichkeitsstörungen, die neurotischen
Störungen, die sexuellen Verhaltensabweichungen, aber
auch die chronischen Missbrauchsformen, die nicht oder
noch nicht zur körperlichen Abhängigkeit geführt haben.
In den letzten Jahren wurden hier auch die Störungen der
Impulskontrolle, z.B. das pathologische Spielen, eingeordnet. Auch in diesem Begriff ist eine quantitative Begrenzung durch das Adjektiv „schwere“ enthalten. Im allgemeinen wird darauf hingewiesen, dass die Funktionsbeeinträchtigung durch die Störung so ausgeprägt sein muss,
wie bei den psychotischen Erkrankungen (psychopathologisches Referenzsystem; [11]) oder dass die Einbußen an
sozialer Kompetenz denen bei psychotischen Erkrankungen gleichen müssen (strukturell-sozialer Krankheitsbegriff; [8]).
Es ist jedoch nicht allein das Ausmaß der Störung von
Bedeutung, sondern auch die Spezifität der Störung für die
inkriminierte Tat (z. B. bei sexuell-devianten Individuen).
Die Funktionsbeeinträchtigungen
(2. Stufe der Beurteilung)
Erst wenn eines der vier Eingangsmerkmale vorliegt, können weitere Überlegungen zur Beeinträchtigung der
Schuldfähigkeit angestellt werden. In einem zweiten
Schritt muss die psychische Funktionsbeeinträchtigung
festgestellt werden, die bei der Tat durch die Störung bedingt war. Diese zweite Stufe der Schuldfähigkeitsbeurteilung beinhaltet auch eine normative Beurteilung. Zum einen ist es eine normative Entscheidung, bis zu welchem
Ausmaß Einsicht in das Unrecht einer Handlung erwartet
Die Psychiatrie 3/2013
werden kann und bis zu welchem Grad Steuerung von einem Menschen verlangt wird, zum anderen ist es mit empirischen Methoden nicht möglich, retrospektiv eindeutige
Aussagen über das Ausmaß psychischer Beeinträchtigungen zu treffen.
Die von den Gerichten angewendeten normativen
Maßstäbe unterliegen – wie auch die psychiatrischen Beurteilungsmaßstäbe – Schwankungen, die Folge gesellschaftlicher und rechtspolitischer Veränderungen sind und
auch von sich wandelnden Grundüberzeugungen der jeweils handelnden Richter und Richterinnen beim Bundesgerichtshof geprägt sein können. Erhöhte normative Anforderungen hat die Rechtsprechung z.B. an die Beurteilung von Straftaten unter dem Einfluss von Alkohol aufgestellt. Die Rechtsprechung sieht spätestens seit der Entscheidung vom 29.4.1997 zum Vorliegen einer alkoholbedingt erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit (BGHSt
43, 66ff) die Frage der Erheblichkeit der Einschränkung
der Steuerungsfähigkeit eines alkoholisierten Täters als eine allein vom Richter zu entscheidende Rechtsfrage an.
Diese Entscheidung hat er ohne Bindung an das Sachverständigengutachten zu entscheiden, wobei auch generalpräventive und normative Maßstäbe einfließen sollen.
Normativ heißt nicht – wie noch zur Zeit der Geltung des
alten § 51 StGB a.F. –, dass es allein auf die zur Verfügung
stehenden Willenskräfte ankommt und dass der Täter diese
voll einsetzt. Die „Erheblichkeit“ hängt entscheidend von
den Ansprüchen ab, die durch die Rechtsordnung an das
Wohlverhalten eines „Berauschten“ gestellt werden müssen. Dies bedeutet, dass der Richter, selbst wenn er eine
„erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit“ annimmt, nach normativen Gesichtspunkten entscheiden
kann, ob er die Strafe „mildert“ oder von der Milderung
absehen „kann“.
In der Folge dieser neuen Rechtsprechung zum Alkohol
gelten erhöhte normative Anforderungen auch beim vierten Merkmal des § 20 StGB, der „schweren anderen seelischen Abartigkeit“ (SASA). In Fällen, in denen auf der ersten Stufe der Sachverständige zur Diagnose einer schweren „dissozialen und schizoiden“ Persönlichkeitsstörung
oder einer „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ kommt,
verlangt der 1. Strafsenat auf der zweiten Stufe: „Ob die
Steuerungsfähigkeit wegen des Vorliegens einer schweren
anderen seelischen Abartigkeit bei Begehung der Tat „erheblich“ i.S. des § 21 StGB vermindert war, ist eine Rechtsfrage. Diese hat der Tatrichter ohne Bindung an Äußerungen von Sachverständigen in eigener Verantwortung zu
beantworten. Hierbei fließen normative Gesichtspunkte
ein. Entscheidend sind die Anforderungen, die die Rechtsordnung an jedermann stellt. Diese Anforderungen sind
umso höher, je schwerwiegender das in Rede stehende Delikt ist (BGH StV 2001, 451 L).“
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Schwerpunkt
Der 1. Strafsenat des BGH hat all dies im Jahr 2005 im
Fall „Karolina“ besonders deutlich klargestellt. Im Urteil
heißt es: „Insoweit hat die Kammer jedoch verkannt, dass
die Frage, ob die Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt ist, eine Rechtsfrage ist. (...) Die Rechtsordnung
darf erwarten, dass Menschen mit den hier festgestellten
Störungen ihr Verhalten so steuern, dass es nicht zu tagelangen, grausamen, letztlich tödlichen Misshandlungen eines kleinen Kindes kommt, wie hier bislang festgestellt.“
(1)
Der Psychiater sollte jedoch Hilfestellungen für diese
normativen Entscheidungen, die letztendlich vom Gericht
zu treffen sind, anbieten, er sollte aber nie in seinem Gutachten die Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit selber feststellen, sondern lediglich die medizinischen Grundlagen oder Voraussetzungen für die Schlussfolgerungen des Gerichts benennen und erklären.
Das vom Gericht geforderte Vorgehen bei der Überprüfung der Schuldfähigkeit unterliegt folgender Logik:
Einsichtsunfähigkeit
Es ist zunächst zu fragen, ob Einsichtsunfähigkeit vorlag.
Einsichtsunfähigkeit besteht, wenn die kognitiven Funktionen nicht ausreichen, eine Einsicht in das Unrecht eines
Handelns zu ermöglichen. Dies ist beispielsweise bei
schwerwiegenden intellektuellen Einbußen, aber auch bei
psychotischen Realitätsverkennungen der Fall. Wird Einsichtsunfähigkeit vom Gericht festgestellt, erübrigt sich eine weitere Prüfung, da sich eine Person, die das Unrecht
eines Handelns nicht einsehen kann, nicht entsprechend
einer Rechtseinsicht steuern kann. Wird hingegen die Einsichtsfähigkeit bejaht, wird das Gericht – vom Sachverständigen beraten – in einem weiteren Schritt prüfen, ob
sich der Täter entsprechend seiner Einsicht hat steuern
können.
Die Annahme einer erheblichen Verminderung der Einsichtsfähigkeit kommt nur unter ganz bestimmten rechtlichen Voraussetzungen in Betracht, die praktisch nie vom
Psychiater zu klären sind. Bei vorhandener Einsichtsfähigkeit überprüft das Gericht die Steuerungsunfähigkeit.
Steuerungsunfähigkeit
Zu einer Aufhebung oder einer Verminderung der Steuerungsfähigkeit führen in der Regel Einbußen der voluntativen Fähigkeiten, die zu einem Handlungsentwurf beitragen. Die von verschiedenen Wissenschaftlern vorgetragenen Kriterien und Definitionsvorschläge sind vielfältig:
Begriffe wie „Enthemmung“, „Beeinträchtigung der inneren Freiheitsgrade und Handlungsspielräume“, „Unterbrechung der Kette zwischen antizipierender Planung, Vorbe-
Die Psychiatrie 3/2013
reitung und Handlung“, „krankheitsbedingte Beeinträchtigung des Motivationsgefüges“ zeigen die Komplexität der
Materie und lassen erkennen, dass es eine allgemein verbindliche, knappe und praktisch anwendbare Definition
der Steuerungsfähigkeit kaum geben kann. Es wird somit
verständlich, dass die Grenzen, innerhalb derer eine erheblich verminderte oder aufgehobene Steuerungsfähigkeit
angenommen wird, durch die Rechtsprechung ständig neu
festgelegt werden.
Verminderte Schuldfähigkeit
Die gleichen Eingangsmerkmale, die zur Schuldunfähigkeit führen, können nach § 21 StGB auch eine verminderte
Schuldfähigkeit des Täters bedingen. Er ist zwar dann
schuldfähig; er wird in aller Regel auch zu einer Strafe
verurteilt, die Strafe kann jedoch vom Gericht gemildert
werden. Voraussetzung für die Anwendung des § 21 ist,
dass der Täter bei Begehung der Tat in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich vermindert war. Auch hier ist eine
quantitative Abgrenzung gefragt, die sowohl normative
(rechtliche) als auch psychiatrisch-psychologische Aspekte
enthält. Um zur verminderten Schuldfähigkeit zu gelangen, bedarf es also einer mehrfachen quantitativen Abgrenzung, da zunächst die Schwere der Störung ausreichen muss, um diese einem Eingangsmerkmal zuzuordnen
und dann das Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigung einen Grad erreicht haben muss, dass eine erheblich verminderte Steuerungsfähigkeit angenommen werden kann.
Abfassung eines Gutachtens
zur Schuldunfähigkeit und verminderten
Schuldfähigkeit
Gutachten haben die Aufgabe, medizinischen, psychiatrischen und psychologischen Sachverhalt in eine Sprache
zu übersetzen, die der juristische Anwender verstehen und
sie zu seiner eigenen Entscheidungsfindung nutzen kann.
Sie müssen nachvollziehbar und transparent sein. In ihnen
ist darzulegen, aufgrund welcher Anknüpfungstatsachen
(Angaben des Probanden, Ermittlungsergebnisse, Vorgaben des Gerichts zum Sachverhalt und möglichen Tathandlungsvarianten), aufgrund welcher Untersuchungsmethoden und Denkmodelle der Sachverständige zu den
von ihm gefundenen Ergebnissen gelangt ist.
Die Arbeitsgruppe beim BGH, die sich mit den Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten befasst hat
(2), hat deshalb einige formale und inhaltliche Kriterien
benannt, die dem Zweck der Nachvollziehbarkeit und
Transparenz dienen sollen, und deren Einhaltung zumindest von den Revisionsgerichten überprüft und von vielen
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Gerichten angemahnt wird. Die Einhaltung dieser Mindestanforderungen ist auch Grundlage bei der Zertifizierung für die forensische Psychiatrie bei der DGPPN.
Formelle Mindestanforderungen:
Nennung von Auftraggeber und Fragestellung
Darlegung von Ort, Zeit und Umfang der Untersuchung
Dokumentation der Aufklärung
Darlegung der Verwendung besonderer Untersuchungsund Dokumentationsmethoden (z. B. Videoaufzeichnung, Tonbandaufzeichnung, Beobachtung durch anderes Personal, Einschaltung von Dolmetschern)
Exakte Angabe und getrennte Wiedergabe der Erkenntnisquellen: a) Akten, b) Subjektive Darstellung des Untersuchten, c) Beobachtung und Untersuchung
Zusätzlich durchgeführte Untersuchungen (z.B. bildgebende Verfahren, psychologische Zusatzuntersuchung)
Eindeutige Kenntlichmachung der interpretierenden
und kommentierenden Äußerungen und deren Trennung von der Wiedergabe der Informationen und Befunde
Trennung von gesichertem medizinischen (psychiatrischen, psychopathologischen, psychologischen) Wissen
und subjektiver Meinung oder Vermutungen des Gutachters
Offenlegung von Unklarheiten und Schwierigkeiten
und den daraus abzuleitenden Konsequenzen, ggf.
rechtzeitige Mitteilung an den Auftraggeber über weiteren Aufklärungsbedarf
Kenntlichmachung der Aufgaben- und Verantwortungsbereiche der beteiligten Gutachter und Mitarbeiter
Bei Verwendung wissenschaftlicher Literatur Beachtung
der üblichen Zitierpraxis
Klare und übersichtliche Gliederung
Hinweis auf die Vorläufigkeit des schriftlichen Gutachtens
•
•
•
•
•
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•
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•
Inhaltliche Mindestanforderungen:
Vollständigkeit der Exploration, insbesondere zu den
delikt- und diagnosenspezifischen Bereichen (z. B. ausführliche Sexualanamnese bei Paraphilie, detaillierte
Darlegung der Tatbegehung)
Benennung der Untersuchungsmethoden,. Darstellung
der Erkenntnisse, die mit den jeweiligen Methoden gewonnen wurde. Bei nicht allgemein üblichen Methoden
oder Instrumenten: Erläuterung der Erkenntnismöglichkeiten und deren Grenzen
Diagnosen unter Bezug des zugrunde liegenden Diagnosesystems (i. d. R. ICD-10 oder DSM–IV-TR). Bei Abweichung von diesen Diagnosesystemen: Erläuterung,
warum welches andere System verwendet wurde
Darlegung der differenzialdiagnostischen Überlegungen
Darstellung der Funktionsbeeinträchtigungen, die im
Allgemeinen durch die diagnostizierte Störung bedingt
•
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Die Psychiatrie 3/2013
•
•
•
•
•
werden, soweit diese für die Gutachtensfrage relevant
werden könnten
Überprüfung, ob und in welchem Ausmaß diese Funktionsbeeinträchtigungen bei dem Untersuchten bei Begehung der Tat vorlagen
Korrekte Zuordnung der psychiatrischen Diagnose zu
den gesetzlichen Eingangsmerkmalen
Transparente Darstellung der Bewertung des Schweregrades der Störung
Tatrelevante Funktionsbeeinträchtigung unter Differenzierung zwischen Einsichts- und Steuerungsfähigkeiten
Darstellung von alternativen Beurteilungsmöglichkeiten.
Abschlussbemerkungen
Bei der Beurteilung, ob ein Mensch aufgrund einer psychischen Störung schuldunfähig oder vermindert schuldfähig ist, kommt es auf seinen Zustand zum Zeitpunkt seiner Tat an. Die psychiatrische Untersuchung findet häufig
erst Monate nach der Tat statt, wo sich schon vieles im Leben des Täters verändert hat und er oft schon vielfältig
von allen Seiten beeinflusst worden ist. Das Bild, welches
der Psychiater sieht, entspricht oft nicht dem, welches
Zeugen sehen, wenn ihnen ein Täter unmittelbar nach dem
Delikt entgegentritt. Manchem Sachverständigen erscheint
es sinnvoll, Täter unmittelbar nach einer Festnahme psychiatrisch und psychologisch untersuchen zu lassen, um
dadurch eine adäquate tatbezogene Diagnose zu stellen
oder auch den Ermittlungsorganen frühzeitig mitzuteilen,
dass keine relevante psychische Störung vorliegt. Der Autor hat früher selber ein vergleichbares Ansinnen bei der
Staatsanwaltschaft gestellt, welches durchaus mit Interesse aufgenommen wurde. Neben vielen rechtlichen Bedenken, die vor allem von Rechtsanwälten geäußert wurden,
die befürchteten, dass ihre Mandanten vor einem Psychiater Aussagen machen würden, die sie – rechtsanwaltschaftlich beraten – nicht machen würden, erscheint mir
aus meiner jetzigen Erfahrung eine solche frühzeitige psychiatrische Untersuchung nur in Ausnahmefällen gerechtfertigt. Bei solchen Untersuchungen vor Abschluss der wesentlichen Ermittlungen gerät der Psychiater selber nämlich häufig in die Rolle des Ermittlers. Er ist aber weder für
diese Aufgabe ausgebildet noch will er diese Rolle wirklich
übernehmen. Insofern sollte jeder, der im Gang der Dinge
von einem Delikt bis zur Verurteilung des Täters beteiligt
ist, seine Rolle und deren Grenzen kennen, aber auch ein
Verständnis für die Rollen der anderen Akteure haben. Ermittlungsbehörden können von Psychiatern und Psychologen erwarten, dass sie dann Hilfestellung abgeben, wenn
bei der Festnahme psychische Auffälligkeiten nahe legen,
dass unmittelbare psychiatrische Hilfe oder Interventionen
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Schwerpunkt
erforderlich sind. Ihre Aufgabe ist es aber nicht, juristische
Sachverhalte zu ermitteln oder eigene Wertungen außerhalb der psychologischen und psychopathologischen
Grenzen vorzunehmen.
Literatur
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Thomsen H (eds). Medizinrecht, Psychopathologie,Rechtsmedizin.
Berlin, Heidelberg, New York: Springer-Verlag 1991, 266–281.
12. Saß H. Handelt es sich bei der Beurteilung von Affektdelikten um
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53: 55–62.
13. Schöch H. Die Schuldfähigkeit. In: Kröber HL, Dölling D, Leygraf
N, Saß H (eds). Handbuch der Forensischen Psychiatrie, Vol. Band
1. Heidelberg: Steinkopf Verlag 2007.
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. Norbert Nedopil
Abteilung für Forensische Psychiatrie
Psychiatrische Klinik der Universität München
Nußbaumstr. 7
80336 München, Germany
E-Mail: [email protected]
www.forensik-muenchen.de
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