Abschiedssprachmusik

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Musikfreunde | Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
Mai/Juni 2017
Abschiedssprachmusik
Zwei Dichter und die „Vier letzten Lieder“
„Was die wortmusizierenden Dichter den lesenden Komponisten insgeheim stiften, ist ja doch: dass ihre Augen
gleichsam anders zu hören beginnen.“ Gerhard Stadelmaier über Eichendorff, Hesse und Richard Strauss – die Poesie
der „Vier letzten Lieder“.
„Ist das etwa der Tod?“ Ja, so ist er. Zwar endet Joseph von Eichendorffs Gedicht „Im Abendrot“ aus dem Jahr 1837
mit einer bangen, welt- und subjektbeklemmenden Frage. Und wer sie stellt von den beiden, die hier als lyrisches
Wir „durch Not und Freude/ Gegangen Hand in Hand“ und „vom Wandern ruhen …/ Überm stillen Land“, bleibt
ungesagt – wie übrigens so vieles in den Gedichten dieses grandiosen poetischen romantischen Aussparers und
Andeuters, der ganze Dramen, tollste Geschichten, Verwunschenstes und Geheimnisvollstes zwischen Zeilen und
Versen versteckte. Was aber klar zu Tage, will hier sagen: zu Abend liegt, ist – ein klarer, klinischer Bericht. Allerdings
verpackt in herzbewegendste Abschiedssprachwehmusik, garniert mit den dunkelfunkelnden Verwesungsblüten
eines Melancholie-Bouquets.
Wenn es zum Letzten kommt
Wer je am Bett eines Sterbenden stand, hat ja doch hautnah erlebt, was die Verlaufsform der Eichendorff-Verse nun
eben nicht nur verdichtet, sondern einfach auch klar schildert: nämlich eine physiolo-gische Folge schwindender
Sinne. Nach dem letzten Schnaufer des gerade in eine andere Welt Hinübergehenden wird man ja von den anderen
Trauernden, sollte man selbst nicht darauf kommen, tränenerstickt dazu angehalten, dem Dahingegangenen jetzt
nicht irgendwas Dummes oder gar unehrerbietig Diesseitsfrohes (so à la „Jetzt brauche ich aber was zu trinken. Ist
noch Cognac da?“) hinterherzuseufzen. Denn das höre er noch.
Das Letzte, was gerade eben Erloschenen noch für ein paar Momente bleibe, so heißt es, sei: ihr Gehör. Töne. Unter
Umständen durchaus in höchste Himmelshöhen sich trillersanft sehrend wie im Silberglanzzwitschern zweier
Piccoloflöten: „Zwei Lerchen nur noch steigen/ Nachträumend in den Duft“ – berichtet Eichendorff in der zweiten
Strophe. Denn der Geruchssinn ist nur noch eine fiebrige Illusion, worin der „Duft“ es sich gefallen lassen muss, dass
er es schwirrenden Vögeln ermöglicht, in ihn hineinzusteigen, wobei man in einen Duft eigentlich noch nie
„hineinsteigen“ konnte – außer wenn es zum Letzten kommt. Auch hat der Gesichtssinn längst alle
Farbwahrnehmung verloren, die Augen sind langsam gebrochen und die Welt ringsum ins Nichts zusammengefallen
wie eine zeitlupenartig wegrutschende Kulisse: „Rings sich die Täler neigen,/ Es dunkelt schon die Luft“. Wer so
redet, dem wird schwarz vorm Bewusstsein, denn eine Luft kann ja eigentlich auch nicht „dunkeln“. Außer es kommt
zum Letzten.
Wie aus wundersamen Fernen
Es hat einen mehr als nur zitatsentimentalen tiefen Sinn, wenn Richard Strauss, der nach dem Krieg aus allen Zeitund Weltgewissheiten gerissene, allein noch unerschütterlich in Kunstgewissheiten existierende kranke Greis 1947
Eichendorffs Gedicht in die Hände bekommt, das er im Mai 1948 für eine Sopranstimme und großes Orchester in
Montreux als erstes seiner „Vier letzten Lieder“ (die er als solche nie geplant und begriffen hat, Titel und Anordnung
stammen vom Londoner Boosey-&-Hawkes-Verleger Ernst Roth) zu vertonen beginnt und nach der Bangigkeits- und
Beklemmungsfrage am Ende (wobei er aus Eichendorffs „ist das etwa der Tod“ ein heller klingenderes „ist dies etwa
der Tod“ macht) in den Streichern ein altes Thema aufblühen lässt. Es erklingt wie aus wundersamen Fernen das
Hauptmotiv aus der symphonischen Dichtung „Tod und Verklärung“ des Mittzwanzigers Strauss. Und „Tod und
Verklärung“ fasst ja exakt und gnadenlos klinisch in Töne, was Eichendorff in „Im Abendrot“ in milde und gnadenvoll
poetische Worte kleidet: die Schilderung eines physischen Todes, eines bis zum letzten zuckenden Herzschlag penibel
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beobachteten Verlöschens, vom Komponisten völlig teilnahms- und kommentarlos in Töne gesetzt. Aber in gewaltig
schwingenden Klangwundermassen.
Die Gefühle bleiben ganz dem Hörer überlassen, die der Komponist ihm in generöser und virtuos orchestrierter
Geste freistellt. Strauss, der große Objektivist, der Subjektives – anders als Mahler, als Wagner, als Schumann, als
Schubert und besonders: Beethoven – nicht durchlebt oder gar durchleidet, sondern in seinen Opern wie in seinen
Liedern oder symphonischen Dichtungen sozusagen nur protokolliert, hält sich immer raus. Nicht umsonst stammt
der goldene Satz: „Ein guter Komponist müsste auch eine Speisekarte komponieren können“ von ihm. Aber was für
Speisen! Auf Dichterspesen.
Und der Tod ist leicht wie eine Feder
Eichendorff spendiert den „Vier letzten Liedern“ gleichsam den vorgezogenen Leichenschmaus zu einem Tod, der
schon im Gedicht auf federleicht vierhebigen Versfüßen im Abendrot darauf wartet, dass man mit ihm ein
Einverständnis herstellt, kein Aufbegehren anzettelt: „Wie sind wir wandermüde –“, der vorletzte Vers der letzten
Strophe hat als einziger im Gedicht einen Gedankenstrich am Ende, bevor die letzte Zeile „Ist das etwa der Tod?“
fragt. Der Gedankenstrich streicht hier keine Gedanken. Er verwandelt sie in ein vorbewusstes erkennendes
Innehalten. Eine höhere Wahrheit. Die jetzt zum Ereignis wird, an dem das Fragezeichen nichts mehr ändert. Und so,
wie Strauss diesen herzzerreißenden Moment komponiert, ist es, als wolle die ins Abgrundtiefe sich hinabträumende
Sopranstimme mitsamt dem Orchester in vollkommener Moll-Ruhe sich auflösen – bevor dann die zwei
Piccoloflöten-Lerchen noch ein letztes Mal über allem Tod und aller Verklärung dem Himmel nachträumend
entgegensteigen.
Hermann Hesse und der „schöne alte Herr“
Um Himmelsträume und Einverständniserklärungen in unvermeidliche Abschiede geht es auch in der nach
Eichendorff zweiten, einer dreifachen lyrischen Wortdichterspende an den Tondichter der „Vier letzten Lieder“, alle
drei aus der Feder Hermann Hesses: „Frühling“ aus dem Jahr 1899, den Strauss im Juli 1948, „September“ (1927),
den Strauss im September 1948, und „Beim Schlafengehen“ (1911), das Strauss im August 1948 vertonte. (Das
eigentlich zuerst komponierte „Im Abendrot“ wurde vom Verleger an den Schluss gesetzt und blieb seither auch
dort.)
Hesse freilich hatte zu Vertonungen seiner Gedichte ein neutrales bis skeptisches Verhältnis, wie er in einem Brief
bekannte: „Mir persönlich haben von den zahllosen Vertonungen meiner Verse nur ganz wenige etwas bedeutet; im
Übrigen bin ich froh, wenn ich unvertont bleibe.“ Von der Person des Komponisten, dem „schönen alten Herren“,
den er zufällig in einem Hotel in der Schweiz kennengelernt hatte, wohin sich das Ehepaar Strauss aus dem
zerbombten Nachkriegsdeutschland zurückgezogen hatte, war Hesse durchaus angetan, von dessen Musik weniger,
die er als „virtuos, raffiniert, voll handwerklicher Schönheit, aber ohne Zentrum, nur Selbstzweck“ empfindet.
Geburt, versteckt in Todesahnungen
Dabei beobachtet Strauss den jeweiligen versteckten Herzton Hesses exakt: Wenn im „Frühling“ ein lyrisches WeltIch „in dämmrigen Grüften“ lange geträumt hat von „deinen Bäumen und blauen Lüften,/ Von deinem Duft und
Vogelgesang“ und den Frühling als Sehnsuchtspartner personalisiert, der da liegt „erschlossen/ In Gleiß und Zier,/
Von Licht übergossen/ Wie ein Wunder vor mir“ – dann wechselt die ergriffen ekstatische Gedicht-Atmosphäre im
Tongemälde dunkel-pessimistisch zunächst zwischen c-Moll und as-Moll, wendet sich innerhalb weniger Takte nach
H-Dur und cis-Moll, um dann erst zu Ende der ersten Strophe Es-Dur zu erreichen. Im opulenten Glanz des Orchesters
und in den Melismen der Sopranstimme schwingt die herz-ungewisse todversprechende Haltlosigkeit und
Losgelassenheit mit, die dann in „Im Abendrot“ so endspielsicher sich einstellt. Was Hesse dem Tondichter da
insgeheim spendiert, ist eine Geburt, versteckt in Todesahnungen – die man aber erst dann liest, wenn man sie hört.
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Abschiedsekstasen und ein großes „Noch einmal!“
Und der „September“ ist sowieso der ideale Sterbemonat. Wenn die Blumen noch präsent sind, in die der Regen
sinkt, und Tausende gelbfarbener Tupfen vom Akazienbaum „Blatt um Blatt“ tropfen, und der Sommer die
„müdgewordenen Augen“ zutut, nachdem er „erstaunt und matt“ in den sterbenden Gartentraum geblickt hat –
dann ist im Silberklang der Celesta, den Flirrlagenwechseln der Streicher und den Abschiedsekstasen der
Sopranstimme der Todes- und eben auch Trostton des Gedichts ganz wunderbar getroffen. Als ein gelassenes
Einverstandensein mit dem Ende. Und könnte die „in freien Flügen schweben“ und „tausendfach zu leben“
anhebende „Seele unbewacht“ im Gedicht „Beim Schlafengehen“ besser gelesen und in allen Seligkeitskurven
protokolliert werden als im großen Violinsolo, das der Singstimme eines „frommen Kindes“, müdgemacht durch alles
Tag- und Hand- und Kopfwerk, sozusagen geschwisterlich die Augen zu schließen hilft?
Was die wortmusizierenden Dichter den lesenden Komponisten insgeheim stiften, ist ja doch: dass ihre Augen
gleichsam anders zu hören beginnen. Nachdem das alte Europa spätestens in den Feuer- und Mordhöllen des
Zweiten Weltkriegs seine entsetzensmüden Augen schloss, wagte der alte Richard Strauss mit Eichendorffs und
Hesses Lidschlägen einen unfassbar reinen, trotzig emphatischen Hör-Blick zurück aufs Schöne, wiewohl Sterbende
und Vergehende, in Tönen und Tonalitäten aber wie in einem großen „Noch einmal!“ als Traum zu Bewahrende. Die
Uraufführung am 22. Mai 1950 in London (unter Furtwängler mit Kirsten Flagstad und dem Philharmonia Orchestra)
hat er nicht mehr erlebt. Es hätte ihm gefallen.
Gerhard Stadelmaier
Dr. Gerhard Stadelmaier, Jahrgang 1950, bis September 2015 der fürs Theater und die Theaterkritik verantwortliche
Redakteur im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, lebt in Bad Nauheim. Zuletzt erschienen von ihm
„Regisseurstheater. Auf den Bühnen des Zeitgeists“ und der Roman „Umbruch“.
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