Klassische Kinematik und Gravitationstheorie

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KLASSISCHE KINEMATIK UND GRAVITATION
KLAUS KRÖNCKE
Die klassische Kinematik wurde im wesentlichen von Isaac Newton (1643-1727)
begründet und fußt auf folgenden Annahmen:
● Der absolute Raum bleibt vermöge seiner Natur und ohne Beziehung auf
einen äußeren Gegenstand stets gleich und unbeweglich.
● Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge
ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand.
Mathematisch bedeuted dies: Der absolute Raum wird als euklidisch wahrgenommen, d.h. man kann ihn mit R3 identifizieren. Die absolute Zeit wird mit R identifiziert.
Definition 1. Ein Ereignis ist ein Punkt p = (t, x) ∈ R × R3 .
Die Bahn eines punktförmigen Teilchens wird durch eine glatte Kurven beschrieben,
also Abbildungen der Form
x ∶ [a, b] → R3 ,
x ∈ C ∞ ([a, b], R3 ).
Die Geschwindigkeit des Teilchens ergibt sich aus
ẋ ∶ [a, b] → R3 .
Die Beschleunigung erhält man durch
ẍ ∶ [a, b] → R3 .
Die Masse des Teilchens wird beschrieben durch eine positive Funktion
m ∶ [a, b] → R>0 .
Der Impuls berechnet sich durch
p = m ⋅ ẋ ∶ [a, b] → R3 .
Die zurückgelegte Strecke des Teilchens ist
b
∫
a
∥ẋ(t)∥ dt.
Axiom 2 (Erstes Newtonsches Gesetz). Teilchen, auf die keine Kräfte wirken, sind
charakterisiert durch ẍ(t) = 0, d.h. x(t) = x(0) + t ⋅ ẋ(0).
Definition 3. Ein Bezugssystem ist eine Wahl von Raum-Zeit-Koordinaten, d.h.
ein Diffeomorphismus φ = (φz , φr ) ∶ R × R3 → R × R3 .
Definition 4. Ein Inertialsystem ist ein Bezugssystem φ in dem
2
d
(i) kräftefreie Teilchen sich auf Geraden bewegen, d.h. dt
2 (φ○x) ≡ 0, falls ẍ ≡ 0,
(ii) die Zeitdifferenz zwischen verschiedenen Ereignissen erhalten bleiben, d.h.
φz (t, x) − φz (s, y) = t − s für alle t, s ∈ R,
(iii) die räumliche Distanz zweier gleichzeitiger Ereignisse erhalten bleibt, d.h.
∥φr (t, x) − φr (t, y)∥ = ∥x − y∥ für alle t ∈ R, x, y ∈ R3 .
1
2
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Theorem 5. Die Menge der Intertialsysteme bildet eine Gruppe, die sogenannte
Galileigruppe, die wir mit Gal(4) bezeichnen. Es gilt
Gal(4) = {φ = (φz , φr ) ∶ R × R3 → R × R3 ∣ φz (t, x) = t + t0 , φr (t, x) = A ⋅ x + b + t ⋅ c} .
wobei A ∈ O(3), b, c ∈ R3 , t0 ∈ R.
Beweis. Aus (ii) folgt sofort φz (t, x) = φz (t) = t + φz (0) =∶ t + t0 . Aus (i) folgt
φr (t, x1 + t ⋅ x2 ) = Φ(x1 , x2 ) ⋅ t + Θ(x1 , x2 )
für gewisse R -wertige Funktionen Φ, Θ. Setzen wir t = 0, so folgt φr (0, x1 ) =
Θ(x1 , x2 ), also ist Θ unabhängig von x2 . Aus (iii) folgt, dass Θ = Θ(x1 ) eine euklidische Bewegung ist, d.h. Θ(x) = A ⋅ x + b, wobei A ∈ O(3) und b ∈ R3 . Also
gilt
3
φr (t, x1 + tx2 ) = Φ(x1 , x2 ) ⋅ t + A ⋅ (x1 + t ⋅ x2 ) + b
Aus (iii) folgt des Weiteren, dass
∥x1 ∥ = ∥φr (t, x1 + t ⋅ x2 ) − φr (t, t ⋅ x2 )∥ = ∥(Φ(x1 , x2 ) − Φ(0, x2 )) ⋅ t + A ⋅ x1 ∥
was Φ(x1 , x2 ) ≡ Φ(0, x2 ) impliziert. Außerdem gilt auch
t ⋅ ∥x2 ∥ = ∥φr (t, t ⋅ x2 ) − φ(t, 0)∥ = t ⋅ ∥A ⋅ x2 + Φ(0, x2 ) − Φ(0, 0)∥ ,
d.h. x2 ↦ A ⋅ x2 + Φ(0, x2 ) − Φ(0, 0) ist orthogonal. Da aber bereits A ∈ O(3), folgt
Φ(0, x2 ) − Φ(0, 0) ≡ 0.
Bemerkung 6. Ist x die Bahnkurve eines Teilchens in einem Inertialsystem, so sind
Bahnkurve, Geschwindigkeit und Beschleunigung in einem anderen Inertialsystem
durch
y = Ax + b + t ⋅ c
ẏ = Aẋ + c
ÿ = Aẍ
gegeben. Falls A = 13 und t0 = 0, so ist
−v ∶ = c = Geschwindigkeit von Beobacher 2, gemessen von Beobachter 1,
v1 ∶ = ẋ = Geschwindigkeit des Teilchens, gemessen von Beobachter 1,
v2 ∶ = ẏ = Geschwindigkeit des Teilchens, gemessen von Beobachter 2,
und wir erhalten die nichtrelativistische Geschwindigkeitsadditionsformel v1 = v+v2 .
Beispiel 7. Ein rotierendes Bezugssystem, gegeben durch die Abbildung
φ ∶ (t, x, y, z) ↦ (t, cos(t)x + sin(t)y, − sin(t)x + cos(t)y, z), ist kein Inertialsystem.
In einem solchen System können Scheinkräfte auftreten (z.B. die Corioliskraft).
Axiom 8 (Zweites Newtonsches Gesetz). In einem Inertialsystem gilt für ein Teilchen, auf das eine Kraft wirkt
d
(m(t) ⋅ ẋ(t)) = F (t, m(t), x(t), ẋ(t)).
dt
wobei F ∶ R × R × R3 × R3 → R3 glatt ist.
Definition 9. Die Arbeit, die entlang eines Weges errichtet wird, ist definiert als
Wegintegral der Kraft, d.h.
b
∫ ⟨F (t, m(t), x(t), ẋ(t)), ẋ(t)⟩dt.
a
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3
Üblicherweise wird m als konstant angenommen und F als unabhängig oder proportional zu m angenommen. Ein solches System kann unter Angaben von Anfangsbedingungen eindeutig gelöst werden, was zeigt, dass die klassische Mechanik eine
deterministische Theorie ist.
Beispiel 10. Sei m eine Masse, die zwischen zwei Federn mit Federkonstante κ > 0
aufgespannt ist. Nach dem Hookschen Gesetz ist die Kraft durch F (t, m, x, y) = −κx
gegeben, d.h. es gilt m ⋅ ẍ(t) = −κ ⋅ x(t). Eine allgemeine Lösung dieser Gleichung
ist durch
√
√
κ
κ
t) + B sin (
t)
x(t) = A cos (
m
m
gegeben. Unter Angabe von Anfangswerten ist die Lösung eindeutig und gegeben
durch
√
√
√
κ
m
κ
x(t) = x(0) ⋅ cos (
t) +
ẋ(0) ⋅ sin (
t) .
m
κ
m
Sei von nun an F (t, m, x, y) = m ⋅ F (x) oder F (t, m, x, y) = F (x).
Definition 11. Ein Kraftfeld F heißt konservativ, falls F (x) = grad V (x) für eine
glatte Funktion V ∶ R3 → R. Eine solche Funktion V nennt man Potential.
Bemerkung 12. In einem konservativen Kraftfeld hängt die Arbeit nur von den
Endpunkten eines Weges ab, denn in diesem Fall gilt
b
∫ ⟨F (x(t)), ẋ(t)⟩dt = V (b) − V (a).
a
Für den Rest des Vortrages wollen wir uns vor allem mit klassischer Gravitationstheorie beschäftigen. Wir nehmen hierbei an, dass der absolute Raum mit Materie
gefüllt ist und dass die Masse unserer Teilchen gegenüber der des Hintergrundes
vernachlässigbar klein ist.
Gravitationskraft in einem statischen System ist eine konservative Kraft. Das dazu
gehöige Gravitationspotential erfüllt die die Poisson-Gleichung
∆V = 4πGρ,
wobei G die Gravitationskonstante ist und ρ ∶ R3 → R≥0 die Materiedichte beschreibt. Die in einem Punkt auf ein Teilchen der Masse m wirkende Gravitationskraft ist dann (nach Vorzeichenkonvention)
F (x) = m ⋅ H(x) = −m ⋅ grad V.
Hierbei wird H die Gravitationsfeldstärke genannt.
Von nun an setzen wir der Einfachheit her G = 1. Wir wollen das Gravitationspotential für ein System mit Masse 1 berechnen, in dem sämtliche Masse in einem
Punkt (o.B.d.A in 0 ∈ R3 ) konzentriert ist.
Was ist in diesem Falle ρ? Nach den Modellannahmen gilt ∫R3 ρ(x)dx = 1 und
ρ(x) = 0 für alle x ≠ 0. Es gibt keine Funktion im klassischen Sinne, die diese
Eigenschaften erfüllt, wir benötigen daher eine Erweiterung des Funktionsbegriffes.
Zunächst lässt sich ρ heuristisch als Limes der Funktionen
1
ρ =
1B()
vol(B()
verstehen, wobei B() = {x ∈ R3 ∣ ∥x∥ < } und 1A die charakteristische Funktion
der Menge A ist. Sei nun ϕ ∈ Cc∞ (R3 ) eine glatte Funtkion mit kompaktem Träger.
Aufgrund des Mittelwertsatzes der Integralrechnung gibt es ein x ∈ B(), sodass
∫B() ϕdx = vol(B()) ⋅ ϕ(x ) und somit folgt
lim ∫
→0
Rn
ϕ ⋅ ρ dx = lim
→0
1
ϕdx = lim ϕ(x ) = ϕ(0).
∫
→0
vol(B()) B()
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Diese Beobachtung motiviert folgende Definition:
Definition 13. Eine Distribution auf R3 ist eine stetige lineare Abbildung
ρ ∶ Cc∞ (R3 ) → R.
Bemerkung 14. Jede lokal integrierbare Funktion f ∶ R3 → R (also insbesondere
jede stetige Funktion) lässt sich durch die Abbildung
ϕ↦∫
R3
f ⋅ ϕdx
auf natürliche Art und Weise als Distribution auffassen.
Definition 15. Die Abbildung δ ∶ ϕ → ϕ(0) heißt Delta-Distribution.
Unsere Massenverteilung wird also durch die Delta-Distribution modelliert. Um
das Gravitationspotential auszurechnen, müssen wir nun den Lösungsbegriff für
partielle Differentialgleichungen erweitern. Betrachten wir zunächst eine Lösung
der Differentialgleichung
∆V = f
mit f stetig und V zweimal stetig differenzierbar. Multiplikation mit einer Funktion
ϕ ∈ Cc∞ (R3 ) und Integration impliziert
∫
R3
f ⋅ ϕdx = ∫
R3
∆V ⋅ ϕdx = ∫
R3
V ⋅ ∆ϕdx.
Das letzte Gleichheitszeichen folgt hierbei aus den Green’schen Formel
∂u
∂v
− u ) dF
∂ν
∂ν
und nutzt aus, dass ϕ außerhalb eines beschränkten Gebietes verschwindet.
∫ (v∆u − u∆v)dx = ∫
Ω
∂Ω
(v
Definition 16. Seien V, f Distributionen. Dann ist eine V eine distributionelle
Lösung der Gleichung ∆V = f , wenn f (ϕ) = V (∆ϕ) für alle ϕ ∈ Cc∞ (R3 ) gilt.
Wir suchen also eine Distribution V sodass V (ϕ) = 4π∆ϕ(0) gilt.
Proposition 17. Eine distributionelle Lösung der Gleichung ∆V = 4πδ ist durch
die fast überall definierte Funktion V (x) = −1/ ∥x∥ gegeben.
Beweis. Zunächst einmal ist zu beobachten, dass das gegebene V lokal integrierbar
ist und daher V ∶ ϕ ↦ ∫R3 V ⋅ ϕdx eine Distribution definiert. Außerdem gilt ∆V = 0
außerhalb des Ursprunges. Nach der Green’schen Formel gilt daher
V (∆ϕ) = lim ∫
→0
∥x∥>
V ⋅ ∆ϕdx = lim [∫
→0
∥x∥=
(V
∂V
∂ϕ
−ϕ
) dF ] .
∂ν
∂ν
Für den zweiten Integranden gilt dann nach dem Mittelwertsatz der Integralrechnung
∂V
1
dA = lim ϕ(x ) ∫
dA = 4πϕ(0)
− lim ∫
ϕ
2
→0 ∥x∥=
→0
∂ν
∥x∥= ∥x∥
mit ∥x ∥ = . Für den ersten Integranden haben wir die Abschätzung
∣∫
V
∥x∥=
∂ϕ
1
dA∣ ≤ 4π2 sup ∥grad ϕ∥ .
∂ν
∥x∥=
Die rechte Seite konvergiert für → 0 gegen 0, was den Beweis vervollständigt. Bemerkung 18. Jede Funktion der Form V (x) = −1/ ∥x∥ + W (x) mit ∆W = 0 ist
ebenfalls distributionelle Lösung der Gleichung ∆V = 4πδ. Allerdings ist V (x) =
1/ ∥x∥ die einzige physikalisch sinnvolle Lösung, denn sie ist die einzige Lösung, die
nur von ∥x∥ abhängt und die lim∥x∥→∞ V (x) = 0 erfüllt.
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Die Gravitationsfeldstärke ist nun durch F (x) = −x/ ∥x∥ gegeben. Man sieht nun,
dass diese quadratisch mit der Distanz zum Ursprung abnimmt.
Bemerkung 19. Sind mehrere Massen mi an den Punkten xi konzentriert, so
ist die Massendichte durch ρ = ∑ni=1 mi ⋅ δxi gegeben, wobei δxi die Distribution
δxi ∶ ϕ ↦ ϕ(xi ) bezeichnet. Das Gravitationspotential ist dann durch
n
mi
∥x
− xi ∥
i=1
V (x) = − ∑
gegeben und die Gravitationsfeldstärke ist
n
x − xi
i=1
∥x − xi ∥
H(x) = − ∑ mi ⋅
3
.
Literatur
[1] C. Bär, Theory of Relativity, Vorlesungsskript, 2013.
[2] L. Godinho and J. Natário, An introduction to Riemannian Geometry. With Applications
to Mechanics and Relativity, Springer Universitext, 2014.
https://www.math.tecnico.ulisboa.pt/~jnatar/geometria_secret.pdf.
[3] C. Schmeiser, Partielle Differentialgleichungen, Vorlesungsskript, 2007.
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