Eine klassische Tragödie

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Haiti: Unter Jean-Claude Duvalier ist das Land noch ärmer geworden
Eine klassische Tragödie
Von Alexander Kulpok
z. Z. Port-au-Prince
uf der Terrasse des Hotels
"Oloffson" - dieser "Illustration
aus einem Märchenbuch" mit
seinen Balkonen, Türmchen
und Giebeln - sitzen harmlose Touristen
beim Kaffee.Weitund breit kein "Tonton
Macoute" mit dicker Sonnenbrille - keine
Leiche in dem kleinen, rechteckigen
Swimming-pool. Graham Greene scheint
widerlegt, seine "Stunde der Komödianten" vorüber.
Die "Tontons" - die gefürchtete Schlägertruppe des Diktators Dr. Fran«;:oisDuvalier ("Papa Doc") - sind aus dem Straßenbild von Port-au-Prince verschwunden. Schulklassen werden nicht mehr als
Zuschauer zu öffentlichen Hinrichtungen
abkommandiert. Ausländische Besucher
Haitis spüren nichts von Schikane bei der
Ein- und Ausreise. Es ist manche Änderung eingetreten seit dem Tode von "Papa Doc", seit "Baby Doc" Jean-Claude
Duvalier an der Macht ist - aber nicht
zum Besseren.
Vor zehn Jahren - am 21. April 1971starb der einstige Landarzt Fran«;:oisDuvalier nach anderthalb Jahrzehnten unumschränkter, grausamer Herrschaft. Er
machte das arme Land zum ärmsten der
westlichen Hemisphäre. Protestierende
katholische Bischöfe ließ er ausweisen,
politische Gegner liquidieren. In den Verliesen seines Amtssitzes, des strahlenden
weißen Präsidentenpalastes am Champ
de Mars, wurde gefoltert und getötet.
Für die 75 Prozent Neger unter Haitis
Bevölkerung bestand Fran«;:oisDuvaliers
Verdienst darin, daß er mit Amtsantritt
die Vorherrschaft der 20 Prozent Mulatten im Lande beendete. Die Rückbesinnung auf die afrikanische Herkunft, die
Idee eines schwarzen Nationalismus gipfelte in der Förderung und Verherrlichung des Vodoo-Kultes.
Vodoo ist Volksreligion, ungeachtet der
Zugehörigkeit fast aller Haitianer zur römisch-katholischen Kirche. Ein von Negersklaven aus Westafrika überlieferter
Kult. Heute Sinnbild für Leben und Lebenseinstellung der Bevölkerung Haitis Erleichterung, Trost und Hoffnung für
ein Heer von Unwissenden.
Nacht für Nacht tönt aus den Bergen und
vom Meer der hitzige Rhythmus der Vodoo-Trommeln. Geister werden beschworen, Feuer und Fackeln entzündet. Trom.
melwirbel und Rum bringen die Tänzerinnen und Tänzer zur Ekstase - bis zum
Blutopfer, wenn eine Vodoo-Priesterin
einem lebenden Hahn den Kopf abbeißt,
ihn verschluckt und das Blut des flügelschlagenden Tieres trinkt.
Die Haitianer haben inzwischen herausgefunden, daß eine Vodoo-Zeremonie
auch den ausländischen Touristen gegen
Bezahlung vorzuführen ist. Um unliebsame Zwischenfälle zu vermeiden, werden
die in Trance verfallenen Vodoo-Tänzer
A
sofort hinausgetragen. "Vodooala plage"
heißt dieser Programm punkt eines HaitiAufenthalts. Schauplatz ist ein "Tempel"
- eine offene Strohhütte - am Meer, unweit vom Zentrum der Hauptstadt.
Der Glaube, daß die Seelen der Verstorbenen nach Afrika zurückkehren, ist ein
wichtiges Element. Der "Bondieu" des
Vodoo-Kults ist meist die einzige Hoffnung des einfachen Mannes. "Papa Doc"
ließ sie ihm und bestärkte ihn darin,
indem er den Vodoo-Kultals Zeichen der
Überlegenheit des schwarzen Mannes
ausgab.
Haiti ist die älteste Negerrepublik der
ErCie.Zuerst wurden die Franzosen mit
Hilfe der Spanier, dann die Briten und
Spanier mit Hilfe der Franzosen vertrieben. Der ehemalige Negersklave JeanJacques Dessalines proklamierte am
1. Januar 1804die Unabhängigkeit. Doch
er wurde ermordet, seine Nachfolger
suchten den Anschluß an die USA, die
Haiti von 1915 bis 1934 besetzt hielten.
Noch heute ist der US-Dollar neben der
Landeswährung Gourde gleichberechtigtes Zahlungsmittel. jecter haitianische
Geldschein ist bedruckt mit dem offIZiellen, unumstößlichen Wechselkurs: fünf
Gourdes gleich ein US-Dollar.Und Touristen können auf Haiti überhaupt nur USDollars einwechseln.
Fran«;:oisDuvalier liegt in einem mächtigen modernistischen Mausoleum neben
dem Präsidentenpalast begraben. Bevor
er 1971starb, wurde unter der Bevölkerung noch eine "Volksabstimmung" abgehalten. Die Haitianer über 21 Jahren
sollten sich für oder gegen Fran«;:oisDuvaliers schwergewichtigen, damals 20jährigen Sohn Jean-Claude entscheiden. Das
amtliche Abstimmungsergebnis lautete
wie erwartet: Von den fast zweieinhalb
Millionen Wählern stimmte nur einer mit
~ein. Der Sohn durfte dem Vater folgen,
gleichfalls auf Lebenszeit - "President a
Vie".
"Jean-Claudismus" heißt in Haiti jetzt die
maßgebende Auffassung von Politik und
Staatsführung, die einem des Lesens und
Schreibens weitgehend unkundigen Volk
- etwa 80 Prozent sind Analphabeten auf Straßen und Plätzen mit Plakaten
und Transparenten verkündet wird. Präsident Jean-Claude meint, sein Vater habe Haiti die politische Revolution gebracht - er werde die ökonomische Revolution bewerkstelligen. Zahlen, Daten
und Fakten widerlegen ihn.
Es gibt kaum Industrieansiedlungen in
Haiti, nur ein paar Kilometer Eisenbahnlinie, die meisten Straßen sind nicht das
ganze Jahr über befahrbar, die Energieversorgung ist völlig unzureichend, die
Förderung der vorhandenen Bodenschätze liegt brach.
So unglaublich es klingen mag: Das Produktionsvolumen
der
haitianischen
Landwirtschaft liegt heute weit unter
dem der Kolonialzeit, als hier die franzö-
sische Kolonie Saint Dominique in wirtschaftlicher Blüte stand. Der gegenwärtige Exportwert der Agrarprodukte beträgt
nur etwa die Hälfte desjenigen von 1789,
dem Jahr der Französischen Revolution.
Präsident Jean-Claude Duvalier behauptet, er regiere ein im Innern freies Land.
Die Gefangenenhilfsorganisation "amnesty international" weiß hingegen von fortlaufenden willkürlichen Verhaftungen zu
berichten, von politischen Gefangenen,
deren Schicksal unbekannt bleibt, von
einer der höchsten Sterblichkeitsraten
bei Gefangnisinsassen. Eine UNO-Kommission forderte die USA zur Einstellung
der Wirtschaftshilfe für Haiti auf, weil
dort permanent die Menschenrechte verletzt würden.
Zu den "Errungenschaften" unter dem
Regime von Jean-Claude Duvalier gehört, daß Haiti auf Drängen der USA seit
1979Einnahmen und Ausgaben in einem
Haushalt ausweist. Zwei Drittel des Etats
werden fremdfinanziert, fast die Hälfte
dieser ausländischen Gelder landete regelmäßig auf Privatkonten der Familie
Duvalier.
Nachdem "Baby Doc" zunächst politische Gefangene entließ und der Presse
einige Freiheiten einräumte, ist er in den
letzten Jahren Schritt für Schritt zu den
Praktiken seines Vaters zurückgekehrt.
Oppositionelle, Verleger, Journalisten
wurden unter der Besch\lldigung der
Subversion inhaftiert. Ein neues Pressegesetz trat in Kraft, das Kritik am Präsidenten und an seiner Mutter bei Strafe
untersagt. Eine zwielichtige Rolle spielt
Duvaliers Frau Micheie,die er 1980heiratete und die inzwischen alle Entscheidungen des Präsidenten maßgeblich beeinflussen soll.
Seit Ende 1979 strömen Tausende von
Flüchtlingen aus Haiti nach Florida und
nach Puerto Rico. Zumeist legen sie in
kleinen Fischerbooten die mehr als tausend Kilometer bis zur amerikanischen
Küste zurück und zahlen dafür an Fluchthelfer bis zu 2000 Dollar. Die wenigsten
werden in den USA als politische Flüchtlinge anerkannt. Über 100000 Haitianer
leben heute illegal in den Vereinigten
Staaten.
Der Tourist auf Haiti bemerkt von alledem nicht sehr viel. Vielleicht fallen ihm
bettelnde Kinder auf oder abgehärmte
Frauen, die hinter dem Fremden herlaufen und in gebrochenem Englisch beständig den Satz wiederholen "Mister, if you
give me money then I go in bed with
you!". Oder er spürt ein wenig von der
Traurigkeit Haitis, wie Graham Greene
sie beschrieben hat: "Haiti bietet die Szene einer klassischen Tragödie, die nicht
zu vergleichen ist mit der schwarzen,
komödiantenhaften Farce so vieler aufstrebender Staaten. Es liegt etwas eigentümlich Römisches in der Luft von Haiti;
römisch in der Grausamkeit, der Korruption und im Heroismus."
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