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Zitierhinweis
Verena von Wiczlinski: Rezension von: Klaus-Jürgen Bremm: Die
Schlacht. Waterloo 1815, Stuttgart: Theiss 2015, in sehepunkte 16
(2016), Nr. 9 [15.09.2016],
URL:http://www.sehepunkte.de/2016/09/27587.html
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sehepunkte 16 (2016), Nr. 9
Waterloo und das Ende Napoleons
Klaus-Jürgen Bremm: Die Schlacht. Waterloo 1815, Stuttgart:
Theiss 2015.
Munro Price: Napoleon. Der Untergang. Aus dem Engl. von Enrico
Heinemann und Heile Schlatterer, München: Siedler 2015.
In den Reigen der Neuerscheinungen zum 200. Jahrestag der Schlacht
bei Waterloo reihen sich die Darstellungen des britischen
Frankreichexperten und Napoleonkenners Munro Price (nun in deutscher
Übersetzung vorliegend) und des deutschen Militärhistorikers Klaus
Jürgen Bremm ein. Während Bremm den Fokus seiner Darstellung auf
den Feldzug von 1815 legt, zeichnet Price Napoleons Scheitern vom
Russlandfeldzug 1812 bis zu seinem Tod im Exil auf St. Helena 1821
nach. Umfassend und kenntnisreich führt er seine eingangs aufgestellte
These aus, dass die Schlacht bei Waterloo keineswegs, wie von der
Öffentlichkeit wahrgenommen, den "entscheidenden Moment" (8) von
Napoleons Untergang darstelle; vielmehr sei der Kaiser der Franzosen zu
diesem Zeitpunkt "kein anerkanntes Staatsoberhaupt mehr [gewesen],
sondern ein Abenteurer, den die übrigen europäischen Mächte zum
Gesetzlosen gestempelt hatten" (ebd.). Price fragt danach, warum
Napoleon die ihm von seinen Gegnern mehrfach angetragenen
Friedensangebote allesamt ausschlug - ob er sie zutreffend als
Täuschungsmanöver einschätzte (was den Krieg zu einem
unausweichlichen Konflikt gemacht hätte), oder ob sie aufrichtig waren
(wodurch Napoleon allein für die Fortführung des Krieges verantwortlich
gewesen wäre).
Zur Beurteilung dieser Friedensangebote zieht Price bislang
unausgewertetes Archivmaterial aus den Pariser Archives Nationales ,
dem Nationalarchiv Prag und dem Staatlichen Regionalarchiv Třeboň in
Tschechien sowie dem Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv und Burg
Clam in Österreich heran, darunter Quellen aus den Nachlässen von
Armand de Coulaincourt, Napoleons Außenminister der Jahre 1813/14,
von Clemens Wenzel Fürst von Metternich, des österreichischen
Außenministers und diplomatischen Gegenspielers Napoleons, und von
Carl Clam-Martinici, des Adjutanten von Karl Philipp Fürst zu
Schwarzenberg, Oberbefehlshaber der Alliierten in der Völkerschlacht
bei Leipzig 1813 bzw. der österreichischen Armee im Feldzug von 1815.
Überdies nutzt Price die seit 1812 durch Napoleon von den französischen
Département-Präfekten geforderten Monatsberichte zur öffentlichen
Meinung, die auch bei der gebotenen Vorsicht dieser Quellengattung
gegenüber ein aufschlussreiches Bild der regionalen Stimmungslage und
Einstellung der Franzosen zum Krieg und dessen Fortführung vermitteln.
In insgesamt 14 Kapiteln stellt Price detailliert nicht nur die
militärischen Kampagnen, sondern auch das diplomatische Ringen
zwischen Napoleon und seinen europäischen Widersachern nach der
Niederlage in Russland 1812 dar, beginnend mit der Konvention von
Tauroggen, durch die sich "die Natur des Krieges [...] veränderte" (63)
und die Allianz zwischen Russland und Preußen herbeigeführt wurde,
über den zum ergebnislosen Friedenskongress bei Prag führenden
Frühjahrs- und den in der Völkerschlacht bei Leipzig kulminierenden
Herbstfeldzug 1813 und den mit dem Ersten Pariser Frieden und dem
Exil Napoleons auf Elba endenden Frankreichfeldzug 1814. Die Rückkehr
Napoleons, seine als "eine der spektakulärsten Schicksalswenden in der
neuzeitlichen Geschichte" (375) bezeichnete Herrschaft der Hundert
Tage sowie die Niederlage in der Schlacht von Waterloo und schließlich
sein Tod auf St. Helena sind hingegen nur noch Teil von Prices Epilog.
Price verknüpft geschickt die außenpolitischen Ereignisse mit der
Stimmung im Innern Frankreichs und geht auf die Anhänger Napoleons
ebenso wie auf seine Gegner, deren Herkunft und Strategien sowie
diverse Komplotte und Verschwörungen ein. Metternich nimmt als
Gegenspieler Napoleons dabei eine zentrale Stellung ein. Price zeichnet
ihn nicht als den zynischen Diplomaten, der Napoleon vernichten wollte,
wie ihn die französische Historiographie ein Jahrhundert lang von Albert
Sorel [ 1 ] bis hin zu Thierry Lentz [ 2 ] beschrieb, sondern sieht den
österreichischen Kanzler während der Feldzüge 1813 "in der Rolle des
Vermittlers" (111) mit dem "aufrichtige[n] Bestreben, einen Frieden zu
erreichen" (71).
Ausführlich stellt Price dar, wie sich die Phasen militärischen und
diplomatischen Ringens ablösten und bedingten. Er zeigt anhand der
oben genannten Präfektenberichte, wie die kriegsmüden Franzosen nach
der Völkerschlacht bei Leipzig auf erneute Konskriptionen und
Sondersteuern teils mit Resignation, teils mit Widerstand reagierten. In
einigen Départements entglitten zum Jahreswechsel 1813/1814
entsprechende Aufstände wochenlang der Kontrolle durch die Behörden.
Der Präfekt des ostfranzösischen Départements Côte d'Or berichtete im
Dezember 1813 an den Innenminister Jean-Pierre Bachasson Montalivet:
"Frieden, Monsieur, Frieden! Das ist der Schrei, in den Städten und auf
dem Land" (264). In seiner Darstellung, die über weite Strecken in der
Tradition der klassischen Diplomatie- und Militärgeschichte steht, kann
Price durch die Berücksichtigung auch solcher Quellen zeigen, dass die
innerfranzösische Unzufriedenheit mit Napoleon über einzelne Kritiker
und oppositionelle Kreise weit hinausging. Nicht nur diplomatische und
militärische Fehler, sondern auch seine "katastrophale Fehleinschätzung"
des französischen Volkes (372), so Price, führten das Ende Napoleons
herbei.
Irrtümer, versäumte Chancen und Missgriffe des Feldzugs von 1815 auf
beiden Seiten sowie schließlich das militärische Ende Napoleons auf dem
Schlachtfeld von Waterloo sind Gegenstand der Studie von Klaus-Jürgen
Bremm. Er stützt sich dabei unter anderem auf Erlebnisberichte
beteiligter Soldaten aller Dienstgrade. In drei sinnvolle Großkapitel
gegliedert, beleuchtet der Band zunächst die Vorgeschichte und die
Schlacht selbst, um dann zu deren Analyse zu kommen. Bremm geht
davon aus, dass es nicht primär die Fehler Napoleons und seiner
Generäle waren, die zur Niederlage führten, sondern "die zahllosen
blutigen Duelle auf Kompanie- und Bataillonsebene, die vielen kleinen
Entscheidungen [...], die sich schließlich zum Untergang einer ganzen
Armee aufsummierten" (12). Nach einer Skizzierung der
frühneuzeitlichen Kriegsführung und ihrer Umbrüche im Zeitalter der
industriell-politischen Doppelrevolution sowie der Beschreibung Belgiens
als europäischer Kriegsregion geht Bremm auf die Rückkehr Napoleons
aus dem Exil auf Elba und die Einigung der Alliierten zu einem
gemeinsamen Vorgehen gegen ihn ein. Napoleon entschloss sich, die
Entscheidung in der Offensive zu suchen, um eine Wiederholung des
Feldzugs von 1814 zu vermeiden, der durch seine Länge und
Erfolglosigkeit zu politischen Intrigen und Verrat geführt hatte; nur
Angriff und rasche Siege "boten dem Kaiser die Chance auf ein
politisches Überleben" (38).
Bremm charakterisiert zunächst mit dem Blick des Militärhistorikers
ausführlich Bewaffnung, Organisation und Zusammensetzung der
entsprechenden Heere, um dann Lebenswege und Charaktere der drei
Kontrahenten Napoleon, Gebhard Leberecht von Blücher und Arthur
Wellesley, des Herzogs von Wellington, bis zum Feldzug von 1815
nachzuzeichnen. Detailliert geht er auf die der Schlacht bei Waterloo
unmittelbar vorangehenden Schlachten bei Quatre Bras und Ligny und
die dortigen Fehleinschätzungen und Versäumnisse ein: Während
Wellington am 15. Juni viel zu spät seine Truppen vor Quatre Bras
zusammenzog und es Blücher trotz einer Überlegenheit von 20.000
Mann einen Tag später nicht gelang, Napoleons Armee bei Ligny zu
schlagen, unterließ Napoleon es seinerseits zuerst, die Preußen nach der
Schlacht von Ligny zu verfolgen und auszuschalten und am 17. Juni dann,
die von den Preußen abgeschnittenen Truppen Wellingtons bei Quatre
Bras zu schlagen. Auch in der von Bremm detailliert nachgezeichneten
Schlacht bei Waterloo am 18. Juni kam es auf beiden Seiten zu einer
Reihe kommunikativer Missverständnisse, nicht befolgter Befehle und
Fehleinschätzungen. Bremm betont als Gründe des alliierten Sieges
unter anderem die Überlegenheit der preußischen Marschleistung sowie
der britischen Disziplin und Feuerkraft einerseits und die
"Betulichkeit" (206) und das nahezu religiöse Vertrauen auf das
militärische Genie Napoleons der Franzosen andererseits. Für den
gesamten Feldzug von 1815 spricht Bremm von einem "Patt der Fehler
und Versäumnisse" (204). Maßgeblich für den abschließenden Erfolg der
Alliierten seien der "Elan und die Initiative der mittleren Führungsebene
und das kämpferische Geschick der gewöhnlichen Soldaten" gewesen
(205). Die Niederlage der Franzosen hingegen sei vor allem auf das
"taktische Ungeschick der französischen Soldaten und ihrer
unmittelbaren Führer" zurückzuführen (207). Bremms Darstellung
schließt nach biographischen Epilogen über die Hauptbeteiligten mit
einem Blick auf die europäische Friedensordnung nach dem Wiener
Kongress und einer Skizze der Entwicklung Waterloos zum europäischen
Erinnerungsort. In England war die Erinnerung am ungebrochensten;
der Sieg Wellingtons bei Waterloo vollendete den zehn Jahre zuvor
errungenen Triumph Nelsons bei Trafalgar. In Preußen wurde vor allem
die Gemeinsamkeit des mit den Briten erfochtenen Sieges betont.
Während sich in Frankreich, basierend auch auf den beschönigenden
Memoiren Napoleons, zunächst die Legende der défaite glorieuse
durchsetzte, die die Niederlage nur auf die Übermacht und das Schicksal
zurückführte, kam es erst in den 1890er Jahren zu kritischeren Tönen.
Spätestens seit den 1970er Jahren, so Bremm, sei Waterloo, "zu einem
Ort europäischer Geschichte geworden, der sich nicht mehr den großen
Entscheidungen der Heerführer widmet, sondern den Erfahrungen der
einfachen Soldaten" (230), was sich etwa an der stetig wachsenden Zahl
von Reenactoren aus zahlreichen europäischen Ländern zeigt.
Beide ansprechend ausgestatteten Bände enthalten viele Abbildungen,
Register, Karten sowie ein bei Price ausführliches, bei Bremm knappes
Quellen- und Literaturverzeichnis. Die bei Bremm durch
militärhistorische Details teilweise stark gedehnte Darstellung gewinnt
durch zahlreiche eingeschobene, mit Bedacht ausgewählte
Quellenpassagen aus Erinnerungen der Schlachtbeteiligten in
gelungener Weise an Anschaulichkeit. Während Prices Darstellung
insbesondere den politischen Weg nach Waterloo analysiert, bietet
Bremm einen detaillierten Blick auf die exakten Verläufe und
militärischen Aspekte des Feldzugs von 1815 und der Schlacht bei
Waterloo. Bremm sieht sich dezidiert nicht einer Kultur- oder
Mentalitätsgeschichte der Schlacht, sondern einer Militärgeschichte im
Sinne John Keegans [ 3 ] verpflichtet, in deren Zentrum das "Kämpfen
und Töten" (235) steht. Im direkten Vergleich mit dem Band von Price
fällt diese Engführung geradezu idealtypisch ins Auge: Während der
gesamte Feldzug von 1815 mit der Schlacht bei Waterloo bei letzterem
im Epilog lediglich zweieinhalb Seiten in Anspruch nimmt, handelt
Bremm seinerseits die politische (Vor-)Geschichte des Feldzugs von 1815
in einem Kapitel auf neun Seiten ab. Beide Bände sind - aus sehr
unterschiedlichen Blickwinkeln verfasst - mit Gewinn zu lesen. Sie
vermitteln durch eine Erweiterung der Perspektive weg von der
obersten, zentralen Führungsebene hin auch zu nachgeordneten
politischen, regionalen und militärischen Ebenen eine differenziertere
Sichtweise des Feldzugs von 1815 und des Scheiterns von Napoleon.
Anmerkungen :
[ 1 ] Albert Sorel: L'Europe et la Révolution Française, Bd. 8: La
coalition, les traités de 1815, 1812-1815, Paris, 1904, 35.
[ 2 ] Thierry Lentz: Nouvelle histoire du Premier Empire, Bd. 2:
L'effondrement du système napoléonien, 1810-1814, Paris 2004, 397.
[ 3 ] John Keegan: Die Schlacht. Azincourt 1415 - Waterloo 1815 - Somme
1915, München 1981.
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