Die Entstehung der Parteiensysteme in der Bundesrepublik

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Nr. 17
Die Entstehung der Parteiensysteme in der
Bundesrepublik Deutschland und in der Indischen Union
- Ein Vergleich Sandu-Daniel Kopp
1
Heidelberg Student Papers
South Asian Series
Editorial Staff
Senior (Executiv) Editor
Siegfried O. Wolf, M.A.
Editor
Siegfried O. Wolf, M.A.
Deputy Editor
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Editorial Board
Bashir Ahmed, MSS.
Nasrullah M. Mirza, M. Phil.
Malte Pehl, M.A.
Editorial Advisary Board
Prof. Subrata K. Mitra, PhD (Rochester)
Dr. Clemens Spieß
2
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Veröffentlicht im Ortner Verlag, Dresden, Juni 2007
Copyright © 2006 by Ortner Verlag, Dresden, Heidelberg
Alle Rechte Vorbehalten
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Druck und Bindung: Alinea, Dresden
Printed in Germany
ISBN 978-3- 86801-032-9 (PDF)
ISBN 978-3- 86801-033-6 (Broschur)
3
Über Heidelberg Student Papers
Die Serien der HSP bieten eine einzigartige Plattform für Studenten, um diese zum schreiben
anzuregen, ihnen die Möglichkeit zu bieten ihre Erfahrungen mit den Bereichen Herausgeben
und Publizieren zu erweitern und Bestätigung für das erarbeitete zu erhalten.
Über die Serie Südasien Studien
Heidelberg Student Papers (HSP) - Südasien ist eine Serie von Arbeiten im Bereich der
Südasien Studien, die primär von Studenten der Universität Heidelberg und Akademischen
Institutionen, welche in Kooperation mit dem Südasien Institut stehen, angefertigt wurden.
Es handelt sich hierbei um ein verifiziertes Journal, welches unter der Aufsicht der Abteilung
der Politischen Wissenschaft am Südasien Institut, sowie der des redaktionellen Ausschusses
der Heidelberg Papers in South Asian and Comparative Politics (HPSACP), unter der
Aufsicht von Professor Subrata K. Mitra, PhD (Rochester) stehen.
Die HSP – Südasien Serie zielt darauf ab die besten Arbeiten von Studenten in den Bereichen
Politik, Ökonomie, Geschichte, Sprachen, Kultur, Religion und Sozialen Angelegenheiten mit
Bezug zur Region Südasien hervorzuheben. Die Einbringung aller disziplinären Perspektiven
wird begrüßt. Die in den Serien dargestellten Meinungen sind ausschließlich die der Autoren
und müssen nicht mit der Meinung der Universität oder der Redaktion übereinstimmen, es sei
denn dieses ist ausdrücklich vermerkt.
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About Heidelberg Student Papers
The HSP series offers a unique platform for students to promote their work. It will, at the
same time, encourage them in their writing, give them recognition and the chance to gain
experience in the process of editing and publishing. Authors from different levels, beginners
as well as advanced students, will be selected by the Editorial Board, based on their academic
performance.
About the Series “South Asian Studies”
Heidelberg Student Papers (HSP) is a working paper series in South Asian Studies by students
primarily at the University of Heidelberg and academic institutions associated with the South
Asia Institute (SAI).
It is a verified journal, under the responsibility of the department of Political Science at the
South Asia Institute as well as the editorial board of the Heidelberg Papers in South Asian
and Comparative Politics (HPSACP) under the patronage of Professor Subrata K. Mitra, PhD
(Rochester).
The HSP - South Asian Series aims to highlight the very best work by students in the fields of
politics, economics, history, language, culture, religious and social issues within the region.
Submissions from all disciplinary perspectives are welcomed. The opinions expressed in the
series are those of the authors of the articles concerned, and do not represent the views of the
university or the editorial staff unless otherwise indicated.
5
Sandu-Daniel Kopp
[email protected]
Der Autor studiert an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Politische Wissenschaft und
Politische Wissenschaft Südasiens.
The author is studying Political Science and Political Science of South Asia at the RuprechtKarls-Universität of Heidelberg.
Heidelberg Student Papers (HSP) begrüßt das Einbringen von Arbeiten jedes Fachbereiches
mit Bezug auf die verschiedenen Serien von HSP. Alle Arbeiten werden vom redaktionellen
Ausschuß geprüft. Der Autor ist dazu verpflichtet seine Arbeit vor der Veröffentlichung
selbstständig auf Fehler und Vollständigkeit zu überprüfen. Der Herausgeber behält sich das
Recht vor Arbeiten abzulehnen.
Heidelberg Student Papers (HSP) welcomes submissions of papers in all fields related to the
different series of HSP. All papers will be verified by the editorial board. The author is
obliged to review his paper and to ensure its completeness and authenticity before publication.
The editor reserves himself the right to reject papers.
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6
Die Entstehung der Parteiensysteme in der
Bundesrepublik Deutschland und in der Indischen Union
- Ein Vergleich -
Sandu-Daniel Kopp
7
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung ........................................................................................................... 9
2 Das Cleavage-Modell von Lipset und Rokkan .................................................. 9
3 Deutschland ...................................................................................................... 11
3.1 Die Hauptcleavages in der Bundesrepublik Deutschland: Arbeit vs.
Kapital und Kirche vs. Staat .................................................................... 11
3.1.1 Arbeit versus Kapital und Kirche versus Staat 1945-1980 ................................ 11
3.1.2 Arbeit versus Kapital und Kirche versus Staat 1980-1990 ................................ 13
3.1.3 Arbeit versus Kapital und Kirche versus Staat nach 1990 ................................. 14
3.2 Zentrum vs. Peripherie und Stadt vs. Land in der Bundesrepublik
Deutschland.............................................................................................. 15
4 Indien................................................................................................................ 16
4.1 Einleitung ................................................................................................. 16
4.2 Der Indische Nationalkongress ................................................................ 17
4.3 Cleavages in der Indischen Union ........................................................... 18
4.3.1 Zentrum vs. Peripherie in der Indischen Union ................................................. 18
4.3.2 Kirche vs. Staat in der Indischen Union............................................................. 19
4.3.3 Stadt vs. Land in der Indischen Union ............................................................... 21
4.3.4 Arbeit vs. Kapital in der Indischen Union.......................................................... 23
5 Schlussbemerkungen und Fazit........................................................................ 25
6 Literatur ............................................................................................................ 27
8
1 Einleitung
In der Vorliegenden Arbeit sollen die Parteilandschaften der Bundesrepublik Deutschland und
der Indischen Union in einem Vergleich gegenübergestellt werden.
Zu diesem Zweck wird das Cleavage-Modell zur Entstehung von Parteiensystemen von Lipset
und Rokkan herangezogen. Dieses Modell verbindet die Entstehung der Parteien in
Westeuropa mit der Ende des 19. Jahrhundert einsetzenden
Modernisierung und
Industrialisierung. Diese hatten nach den Autoren einen gewaltigen Einschlag in die
Gesellschaftsstrukturen, veränderten diese und ließen neue Konflikte aufbrechen, die
ursächlich für die Entstehung von Parteien und Parteiensystemen waren. Das Modell hat sich
insofern als nützlich erwiesen, als dass es ermöglicht, die Entstehung von Parteien nicht nur
historisch, sondern systematisch zu erfassen. Da das Modell jedoch lediglich auf die
historische Rekonstruktion von Geschehnissen in Westeuropa beruht, wird es interessant sein,
inwieweit die Annahmen der Autoren auf ein nichteuropäisches Land, in diesem Fall die
Indische Union, übertragbar sind. Dies ist, neben der Suche nach Gemeinsamkeiten und
Unterschiede grundsätzlicher gesellschaftlicher Konflikte, die zweite Frage, die diese Arbeit
versucht zu beantworten.
Zu diesem Zweck ist die Arbeit in drei Teile untergliedert. Im ersten Teil wird, um das
Verständnis zu fördern, zunächst das Cleavage-Modell im Kern vorgestellt. Im nächsten
Schritt werden die Cleavages der Bundesrepublik Deutschland analysiert.
Der dritte Teil wird mit einer Einführung in die Besonderheiten der Cleavages in der
Indischen Union eingeleitet. Im folgenden Schritt wird auf die herausgehobene Rolle der
Kongresspartei eingegangen. Ohne eine nähere Betrachtung dieser Organisation wäre ein
Verständnis der indischen Parteienlandschaft nicht möglich. Im Hauptteil, der zweiten Hälfte
der Arbeit, werden schließlich die Cleavages der indischen Gesellschaft ausführlich
bearbeitet, um schließlich im Schlussteil Parallelen zwischen der BRD und Indien ziehen
sowie klären zu können, ob eine Übertragbarkeit des Cleavage-Modells in einen
nichteuropäischen Kontext sinnvoll sein kann.
2 Das Cleavage-Modell von Lipset und Rokkan
Lipset und Rokkan sehen vier Trennungslinien in den westeuropäischen Gesellschaften als
zentrale Faktoren für die Parteienbildung im 19. Jahrhundert. Die beiden Autoren benennen
zwei Revolutionen in Europa, die zu dauerhaften Konfliktlinien in der Gesellschaft geführt
haben:
9
1. Die nationale Revolution
2. Die industrielle Revolution
Aus ersterer ergeben sich die Konflikte Zentrum vs. Peripherie und Kirche vs. Staat.
Zentrum vs. Peripherie: Im Zentrum der gesellschaftlichen Macht stehen vor der Revolution
die Interessen der ethnisch oder sprachlich vorherrschenden Mehrheit des jeweiligen Landes.
„Strictly local oppositions to encroachments of the aspiring or the
dominant national elites and their bureaucracies”
(Lipset & Rokkan1967: 5)
Kirche vs. Staat: Im 19. Jahrhundert nimmt der ursprünglich dominante Einfluss der Kirche
auf die Gesellschaft ab und der staatliche Einfluss wächst. Es kommt unweigerlich zum
Konflikt.
Die industrielle Revolution bringt die Konflikte Stadt vs. Land und Arbeit vs. Kapital hervor.
Stadt vs. Land: Die Industrialisierung hat eine Verlagerung der Beschäftigungsverhältnisse
zur Folge. Die größte Beschäftigtengruppe verlagert sich vom primären in den sekundären
Sektor. Ein Konflikt Agrarinteressen vs. industrielle Interessen beginnt. Dieser beinhaltet z.
B. den Kampf um finanzielle Unterstützung.
Arbeit vs. Kapital: Dieser Konflikt meint den Kampf zwischen Arbeitgebern/Unternehmern
und der Arbeiterschaft um angemessene Bezahlung und Arbeitsverhältnisse.
Die Cleavagestruktur ist charakterisiert durch eine dauerhafte Einteilung von Personen in
verschiedene objektiv definierbare Gruppen. Die verschiedenen Gruppen haben nicht nur
unterschiedliche Wertvorstellungen, sondern diese sind auch institutionalisiert.
Die Bedeutung von Cleavages für die Herausbildung eines Parteiensystems beschreiben
Lipset und Rokkan wie folgt:
„Parteien wandeln soziale Spaltungen und Konflikte in Cleavages um,
indem sie die bis dahin ungenauen, fragmentierten Interessen, Werte
& Erfahrungen der Bürger aufgreifen, kanalisieren und die Bürger
somit politisch organisieren bzw. mobilisieren.“
(Vgl. Lipset&Rokkan 1967: 5)
Lipset und Rokkan nehmen an, dass Cleavages sich zwar abschwächen oder mit der Zeit
verändern können, jedoch im Grunde immer vorhanden sind und sich somit auch ein
Parteiensystem erst dann grundlegend ändert, wenn sich die vier traditionellen Konfliktlinien
ändern oder gänzlich verschwinden.
10
3 Deutschland
3.1 Die Hauptcleavages in der Bundesrepublik Deutschland: Arbeit vs.
Kapital und Kirche vs. Staat
Die Parteienlandschaft der Bundesrepublik Deutschland lässt sich anhand des CleavageModells von Lipset und Rokkan nicht mittels eines einzigen Gesamtüberblicks darstellen. Es
wird sich zwar im Verlauf dieser Arbeit herauskristallisieren, dass die Struktur des
bundesdeutschen Parteiensystems bis heute von den Konfliktlinien geprägt ist, welche Lipset
und Rokkan in ihrem Modell herausgearbeitet haben, doch innerhalb dieser führten neue
soziale Werte und Strömungen sowie sich ändernde politische Probleme zu Verschiebungen
der Schwerpunkte. Aus diesem Grunde wird im Folgenden die Betrachtung der beiden
Hauptkonfliktlinien der BRD, Arbeit vs. Kapital und Kirche vs. Staat, in drei Teilabschnitte
der deutschen Nachkriegsgeschichte eingeteilt. Dabei handelt es sich zunächst um den
Teilabschnitt 1945-1980, in welchem beginnend mit der Einführung der 5% Hürde bei der
Bundestagswahl 1953 ein Konzentrationsprozess in der Parteienlandschaft in Gang gesetzt
wurde. Die vielen Splitterparteien, welche teils Assoziationen zu Weimar geweckt hatten,
verschwanden und ein „Zweieinhalb-Parteiensystem“ entstand (Falter 1981: 81). Viele
Konfliktlinien, wie etwa der Verfassungs-, der Regional- und der Vertriebenenkonflikt
gerieten in den Hintergrund (Rudzio 2000: 136). Es blieben der Klassen- und der
Kirchenkonflikt. 1980 und 1990 wiederum beginnt eine erneute Fraktionalisierung des
Parteiensystems. Mit den Grünen bzw. der PDS ziehen neue Parteien in den Bundestag ein.
Diese Daten bilden den Beginn der beiden weiteren Zeitabschnitte zur Betrachtung der
Hauptkonfliktlinien der BRD und ihren Einfluss auf das bundesrepublikanische
Parteiensystem.
3.1.1 Arbeit versus Kapital und Kirche versus Staat 1945-1980
Die Cleavages Arbeit vs. Kapital und Kirche vs. Staat sind zwischen 1945 und 1980 als die
beiden wichtigsten Konfliktlinien der BRD zu benennen. Einerseits war die politische
Auseinandersetzung in dieser Zeit geprägt durch den Interessenskonflikt zwischen in
Gewerkschaften organisierten Arbeitnehmern und einem mittelständischen, oftmals
freiberuflichen Bürgertum, andererseits herrschte ein Konflikt zwischen Bundesbürgern mit
katholischer Kirchenbindung und protestantischen oder konfessionslosen Staatsbürgern bzw.
zwischen Kirche und Säkularisierung im Allgemeinen (Mielke 2001: 86).
11
Die Wurzel des Konfliktes Arbeit vs. Kapital lässt sich, in Bezug auf das Cleavage-Modell
fast idealtypisch, auf die beginnende Industrialisierung im deutschen Kaiserreich in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückführen. Der 1869 beginnenden Sozialdemokratie1,
welche sich zu diesem Zeitpunkt noch am Marxismus orientierte, gelang es z. T. bereits
bestehende Arbeitervereine und Gewerkschaften zu politisieren. Aus dieser Bewegung heraus
bildete sich Ende des 19. Jahrhunderts die erste Koalition zwischen einer gesellschaftlichen
Großgruppe, der Arbeiterschaft mit einer politischen Partei, der SPD.
Auch der Cleavage Kirche vs. Staat ist auf das deutsche Kaiserreich zurückzuführen. Im
ausgehenden 19. Jahrhundert gelang es der Zentrumspartei regelmäßig katholische Bürger
über ihren Glauben zu mobilisieren und diesen gegen progressivere liberalere Parteien zu
instrumentalisieren (Bürklin/Klein 1998: 77). Mit der Gründung der CDU/CSU nach dem
Zweiten Weltkrieg wandelte sich der konfessionelle Konflikt zu einem religiösen. Die
CDU/CSU hatte den Anspruch konfessionsübergreifend konservative Werte zu vertreten(ibid,
78). So finden sich bei den Anhängern der Union im Vergleich zur SPD bis heute deutlich
mehr religiöse Bürger. Deren Religiosität wird wissenschaftlich an der Häufigkeit der
Kirchgänge gemessen und da Katholiken den sonntäglichen Kirchgang regelmäßiger als
Protestanten pflegen, finden sich in Reihen der CDU/CSU auch heute noch mehr Angehörige
dieser Konfession als in anderen Parteien.
Aufgrund dieser Wurzeln versammelt die CDU/CSU im Modell von Lipset und Rokkan nicht
nur die kirchlich orientierte Wählerschaft bei sich, sondern auch Teile des Elektorats, die sich
ausdrücklich nicht zur Arbeitnehmerschaft zählen, also am gegenüberliegenden Pol der
Arbeit-und-Kapital-Achse stehen. Die in Gewerkschaften organisierten Arbeiter sind Klientel
der SPD, die wiederum zusätzlich Wähler bindet, die protestantisch bzw. konfessionslos sind,
also am der CDU/CSU-Wählerschaft gegenüberliegenden Pol der kirchlichen Achse
angesiedelt sind (Mielke 2001: 86).
Auch die Stellung der FDP im deutschen Parteiensystem, welcher v. a. bis 1980 die Rolle des
Mehrheitsbeschaffers zukam, lässt sich durch das Cleavage-Modell plausibel erklären(Ware
1996: 164). Da die FDP auf dem konfessionellen Cleavage der SPD nahe steht und auf der
Ebene des ökonomischen Verteilungskonfliktes der CDU/CSU, war es ihr möglich, sich
zwischen beiden Parteien hin und her zu bewegen und
gegebenenfalls mit beiden
koalitionsfähig zu sein.
1
1869 wird in Eisenach durch August Bebel und Wilhelm Liebknecht die Sozialdemokratische Arbeiterpartei
Deutschlands (SDAP) gebildet aus der 1890 die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) hervorgehen
sollte.
12
Die beiden Hauptcleavages der BRD haben auch heute noch entscheidenden Einfluss auf die
Parteienkonstellation. Die Parteien sind sich wechselnder sozioökonomischer Bedingungen
bewusst und versuchen regelmäßig, sich bei ihrem jeweiligen, aus den gesellschaftlichen
Konfliktlinien erwachsenen, Stammklientel neu zu profilieren, um diese Wähler langfristig an
sich zu binden. Die Cleavages werden in gewisser Weise gepflegt, indem die Parteien in der
politischen Auseinandersetzung traditionelle Standpunkte annehmen und das Elektorat so an
ihre Zugehörigkeit „erinnern“. Beispielsweise wird sich die SPD bei Debatten um die
betriebliche Mitbestimmung in den meisten Fällen auf Seiten der Arbeitnehmer positionieren
und bei der Frage der gesetzlichen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs wird die
CDU/CSU stets einen konservativen Standpunkt einnehmen (ibid).
3.1.2 Arbeit versus Kapital und Kirche versus Staat 1980-1990
Bereits Ende der 60er Jahre deuteten sich in der BRD deutliche sozialstrukturelle
Veränderungen an, die in den Einzug der Grünen in den Deutschen Bundestag 1980 mündete.
Am deutlichsten lassen sich diese Veränderung mit einem Blick auf die Erwerbsstruktur in
der BRD erklären: Der primäre und sekundäre Wirtschaftssektor verloren in dieser Zeit
deutlich an Bedeutung und der tertiäre Dienstleistungssektor wuchs stetig an. In der
Bevölkerung nahm die Zahl der Arbeiter und Selbstständigen rasant ab, während Beamte und
Angestellte, also die Dienstleister, langsam die größte Bevölkerungsgruppe zu stellen
begannen (Bürklin/Klein 1998: 83). Diese Gruppe lies sich nicht mehr in das traditionelle
Cleavage-Modell einordnen und der Konflikt Arbeit vs. Kapital verlor an seiner
ursprünglichen Bedeutung (Winkler 2002: 217).
Den
theoretischen
Unterbau
für
diesen
soziostrukturellen
Wandel
hin
zur
Dienstleitungsgesellschaft lieferte 1977 der Soziologe Roland Inglehart mit seinem
Postmaterialismuskonzept: Er ging davon aus, dass eine moderne Gesellschaft, die durch das
Streben nach Leistung während der Industrialisierung die Armut überwinden konnte sowie
Wohlstand und Sicherheit erlangte, sich nach neuen Werten umschauen müsse. Diese Werte
seien, nach der Befriedigung der Grundbedürfnisse, nun das Streben nach Gemeinschaft und
Selbstverwirklichung (Inglehart 1979: 286).
Damit einher geht ein relativer Bedeutungsverlust des religiös-konfessionellen Cleavages
durch
zunehmende
Säkularisierung.
Dieser
ist
eindeutig
am
Rückgang
der
Kirchenmitgliedschaften und der Kirchgänge zu attestieren.
Im Bewusstsein dieser sozialen Veränderungen und Ingleharts Konzept ist das Aufkommen
der Grünen in der BRD dann auch keine Überraschung mehr. Jens Albers beschrieb eben
13
dieses 1985 als „Ausfluss des ökonomischen Verteilungskampfes zwischen traditionellen
Berufsgruppen
und
Gruppen
des
neuen
Humandienstleistungsbereichs“(Mielke 2001: S. 88).
und
expandierenden
Da das politische Programm der
Grünen linken Ideologien entspringt und bis heute eine wohlfahrtsstaatliche Ausrichtung
aufweist, lässt sich diese Partei durchaus in Lipset und Rokkans Modell einordnen. Dazu passt
auch, dass die Anhänger der Grünen als protestantisch und säkular einzuordnen sind.
Es ist also festzustellen, dass auch nach dem Einzug der Grünen in den Deutschen Bundestag
noch Koalitionen sozialer Großgruppen und Parteien entlang der Cleavages die
Parteienlandschaft in der BRD prägen. Das Aufkommen der Grünen ist weniger ein neuer
Cleavage, als vielmehr eine Transformation im Rahmen eines generellen Gegensatzes
zwischen Traditionalismus und Modernisierung(ibid).
Das Modell von Lipset und Rokkan hat bei der Ausdifferenzierung des deutschen
Parteiensystems Bestand, auch wenn durch eine tendenzielle Abnahme der Größe
gesellschaftlicher Gruppen, die mit einer Partei eng verknüpft sind, ein leichter
Bedeutungsverlust nicht von der Hand zu weisen ist. Dabei ist aber zu beachten, dass Lipset
und Rokkan ihr Modell auf der Grundlage der Beobachtung einer mehr als hundertjährigen
Zeitspanne entwickelten und aktuelle Versuche, die Grünen in das Modell einzuordnen
lediglich auf die Beobachtung weniger Jahrzehnte beruhen. Inzwischen ist von den Grünen
teils als „Generationenpartei“ die Rede(ibid). Es bleibt also abzuwarten und zu beobachten,
bevor man die Bedeutung des Cleavage-Modells empirisch relativieren kann.
3.1.3 Arbeit versus Kapital und Kirche versus Staat nach 1990
Mit
der
deutschen
Wiedervereinigung
im
Jahre
1990
begann
eine
neue
Schwerpunktverschiebung innerhalb der gesellschaftlichen Konfliktlinien in der BRD. Diese
Verschiebung betraf v. a. die Hauptcleavages Arbeit vs. Kapital und Kirche vs. Staat.
Besonders ersterer erlangte nach 1990 neue Aktualität und dadurch eine Aufwertung. Grund
hierfür waren die steigende Staatsverschuldung, die Kürzungen von Sozialleistungen nach
sich ziehen musste und die Massenarbeitslosigkeit, die v. a. im Osten zu spüren war.
In der BRD entwickelte sich eine Debatte um das richtige Ausmaß des Sozialstaates. Eine
Konfliktlinie zwischen Wählern, die den umfassenden Wohlfahrtsstaat, teils aus eigener
Betroffenheit heraus, beispielsweise von Arbeitslosigkeit, bejahten und liberaleren, weniger
betroffenen Wählergruppen, die mehr Selbstverantwortung und weniger Sozialquote
forderten, entstand. Dadurch weitete sich der Konflikt Arbeit vs. Kapital in der BRD, von den
Konfliktparteien Arbeitnehmer und Gewerkschaften vs. Unternehmer und Arbeitgeber
14
ausgehend, auf andere Schichten aus. Schließlich gehören wesentliche Teile der sog.
„Mittelschicht“ weder der Arbeiterklasse an, noch sind sie in Gewerkschaften organisiert und
dennoch sind sie abhängig von vielerlei Leistungen des Wohlfahrtsstaates(Noll 1998: 1967).
Diese neue Konfliktlinie trennt CDU/CSU und FDP programmatisch von SPD und Grüne.
Das Einschnitte bei der Sozialquote unausweichlich sind ist Konsens zwischen allen vier
Parteien, aber über das Ausmaß wird gestritten (Mielke 2001: 90). Hinzu kommt ein Ost –
West–Gegensatz bezüglich der Erwartungen an den Staat. Das System des Sozialismus war
gerade darauf bedacht, Cleavages wie den Klassencleavage zu beseitigen. Daher rührt in der
BRD ein Unterschied in der politischen Kultur zwischen Ost und West. Ein Angleichen
daraus abgeleiteter wohlfahrtsstaatlicher Erwatungen ist vorerst nicht in Sicht.
Auf die besondere Rolle der PDS bzw. der „Linken“ soll im folgenden Kapitel erklärend
eingegangen werden.
3.2 Zentrum vs. Peripherie und Stadt vs. Land in der Bundesrepublik
Deutschland
Die Cleavages Zentrum vs. Peripherie und Stadt vs. Land spielen in der Geschichte der BRD
eine den beschriebenen Hauptkonfliktlinien klar untergeordnete Rolle. Die Teilung
Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg setzte diese Cleavages lange so gut wie
vollständig außer Kraft, auch wenn einzuräumen ist, dass es auch damals einige der
Regierung oppositionelle Regionalismen gab (Alemann 2000: 1997).
Auch die Wurzeln dieser Konflikte lassen sich auf das deutsche Kaiserreich zurückführen.
Nach der Einheit des deutschen Reiches waren es die Preußen, die die Kleinstaaterei
beendeten und den Nationalstaat verwalteten. Zudem repräsentierten die Preußen das
spätfeudale-agrarische Junkertum und galten als Schutzmacht des Protestantismus (kath.
Kirche vs. Staat). Auf der Achse Zentrum vs. Peripherie des Cleavage-Modells ergab sich
daraus für die Preußen als Wahrer der nationalen Einheit der Konflikt mit den (vorwiegend
katholischen) Reichsteilen im Westen und v. a. im Süden mit Bayern. Auf der Achse Stadt vs.
Land entstand ein Konflikt mit den Liberalen, die Verfechter einer modernen und
aufgeklärten Lebensart waren.
Der Konflikt Stadt vs. Land spielt in der jüngeren deutschen Geschichte erst seit 1980 und
dem Einzug der Grünen in den Deutschen Bundestag eine Rolle. Die Anhänger der Grünen
waren damals und sind noch heute vornehmlich in den Städten zu finden, besonders in
Universitätsstädten. Diese Ballung der Wählerschaft ist im Übrigen eine bemerkenswerte
Parallele zu der Wählerschaft der FDP und deutet zumindest darauf hin, dass kein neuer
15
Cleavage benötigt wird, um das Erscheinen der Grünen zu erklären, sondern dieses sich als
Transformationsprozess des Cleavage Traditionalismus vs. Modernisierung, also Stadt vs.
Land, erklären lässt(Mielke 2001: 88).
Der Konfliktlinie Zentrum vs. Peripherie ist es ebenfalls gelungen bis heute zu bestehen. Die
berühmte deutsche Kleinstaaterei setzte sich durch die Übernahme einer föderalen Struktur
nicht nur im Kaiserreich fort, sondern sorgte durch den Föderalismus der BRD stets für
regionale, der Regierung opponierende politische Kulturen, wenn auch kontrollierter und
abgemilderter als im 19. Jahrhundert (ibid: 83).
Darüber hinaus erhielt der Cleavage Zentrum vs. Peripherie durch die Wiedervereinigung eine
neue Bedeutung. Trotz einer gewissen Annäherung zwischen Ost und West, kam es noch
nicht zu einer Deckungsgleichheit der politischen Einstellungen. Ein Großteil des Elektorats
im Osten ist in der ehemaligen DDR durch ein Regierungssystem geprägt worden, welches
die Konfliktlinien des Westens gezielt unterdrückte. Die schwierige wirtschaftliche Lage in
den neuen Bundesländern tut das Übrige, um einen Konflikt zwischen Ost und West entstehen
zu lassen.
Deutlich wird dieser Konflikt durch die im Vergleich zu den alten Bundesländern starke
Position der PDS im Osten. Daneben ist aber auch die schwache Situation der FDP und der
Grünen im Osten Beleg für einen Regionalismus in der BRD, der wiederum Ausdruck des
klassischen Cleavage Zentrum vs. Peripherie ist.
4 Indien
4.1 Einleitung
Im Folgenden Teil dieser Arbeit sollen nun die Hauptkonfliktlinien der Gesellschaft in der
Indischen Union betrachtet werden. Das Cleavage-Modell als Interpretationsinstrument für
die Parteienlandschaft eines Staates wird hierdurch gleichzeitig auf seine Nützlichkeit in
einem außereuropäischen Kontext geprüft.
Indien ist ein Staat, dessen Demokratisierungsprozess gegen ein koloniales Regime gestartet
wurde. Zu dieser Zeit gab es in Indien keinerlei Industrie und allgemein kaum nennenswerte
Modernisierungsprozesse. Diese Prozesse mussten nach dem Erlangen der Unabhängigkeit
von einer Gesamtpartei, der Kongresspartei, angestoßen werden. Gleichzeitig musste diese
Partei die Demokratisierung vorantreiben, auch wenn sie sich dadurch selbst schwächte.
All diese Voraussetzungen sind untypisch für das ausgehende 19. Jahrhundert in Europa, das
Zeitalter der Industrialisierung und Geburtsstunde der westlichen Parteiensysteme, wie wir sie
16
heute kennen. Auch bei der Entstehung des deutschen Parteiensystems lag keine dieser
indischen Voraussetzungen vor.
Das Cleavage-Modell von Lipset und Rokkan zur Entstehung von Parteiensystemen hingegen
leitet sich aus dem europäischen Modernisierungsprozess Ende des 19. Jahrhunderts ab. Die
gesellschaftlichen Konfliktlinien in Europa entstanden also unter ganz anderen als Umständen
als in der Indischen Union. Es wird deshalb interessant sein zu betrachten, inwieweit die
Cleavages dennoch zur Erklärung des indischen Parteiensystems zu verwenden ist.
Für das Verständnis des indischen Parteiensystems ist die herausgehobene Rolle des indischen
Nationalkongresses (im Folgenden auch INC oder „Kongress“) essentiell. Deshalb soll
zunächst die Position des INC in Indien skizziert werden, bevor die Cleavages im Einzelnen
behandelt werden.
4.2 Der Indische Nationalkongress
Der Indische Nationalkongress, auch Kongresspartei genannt, wurde 1885 gegründet und
initiierte zusammen mit der rivalisierenden Muslimliga 1916 den langen Weg Indiens zur
Unabhängigkeit von der britischen Kolonialmacht.
Nach der Unabhängigkeit Indiens avancierte die Kongresspartei zur einzigen landesweit
agierenden Partei mit einer einzigartigen Mobilisierungsfähigkeit.
Sie erreichte die
traditionalistische ländliche Bevölkerung, die liberaleren Städter, verschiedene Ethnien und
Angehörige diverser Religionen. Die INC nutze dies, um die vier für Lipsets und Rokkans
Cleavages grundlegenden Entwicklungen der Nationenbildung, der Manifestierung des
Laizismus, der Industrialisierung und damit einhergehend der Verstädterung anzustoßen
(Rösel/Jürgenmeyer 2001: 297).
Bis 1978 stellte die Partei alle Premierminister des Landes. Aber je komplexer und vielfältiger
die Interessensgegensätze in Indien wurden und je mehr Schichten die Kongresspartei zu
ihren Wählern zählte, desto schwerer wurde es, allen dieser Lobbies gerecht zu werden. Die
INC konnte 1977 zum ersten Mal nicht mehr genügend politische und ideologische
Richtungen abdecken und verlor die Mehrheit an eine Koalition kleinerer Parteien. Dieser
Machtverlust beruht auf einen teils selbstverschuldeten Vertrauensverlust der INC im
Elektorat. So haben beispielsweise sowohl Indira Gandhi durch ihren radikalen Einsatz des
„Presidents Rule“, als auch ihr Sohn Rajiv Gandhi durch seine Darstellung der Muslim- und
Sikhminderheiten als Bedrohung der nationalen Sicherheit, während ihrer Amtszeit als
Premierminister viel Kredit der INC verspielt (ibid: 300).
17
Auch wenn die Kongresspartei 2004 einen überraschenden Wahlsieg landen konnte, gibt es in
Indien einerseits einen Trend zum Hindunationalismus, andererseits einen Trend zur
Regionalisierung
der
Parteienlandschaft,
d.
h.
zu
Koalitionsregierungen.
Nationalkongress hat durch einen erfolgreichen Prozess der Demokratisierung
Der
seine
Monopolstellung verloren.
4.3 Cleavages in der Indischen Union
4.3.1 Zentrum vs. Peripherie in der Indischen Union
In der Indischen Union setzte bereits in den 60er Jahren ein Prozess regionaler Politisierung
ein. Im Verlauf dieses Prozesses ist es in den meisten Gliedstaaten lokalen
Interessensgruppen und Kasten gelungen sich zu organisieren. Es ging eine Vielzahl von
Parteien hervor, welche dem Kongress Wähler abwarben und ihn dadurch beträchtlich
schwächten sowie in der Folge meist aus den regionalen Regierungen drängten. Der Kongress
musste feststellen, dass es ironischerweise die von ihm geschaffene Infrastruktur, Verwaltung
und Bildungsstruktur war, welche den regionalen Parteien zugute kam und welche gegen den
Kongress genutzt wurde. Aus Sicht des demokratischen Prozesses aber ist dieser Prozess als
Erfolg zu bewerten und der beachtlichen Größe Indiens angemessen(Rösel/Jürgenmeyer
2001: 306).
Im Folgenden seien einige der Parteien und die Konflikte aus denen sie entstanden genannt:
-
1967 gelingt es der „dravidischen Fortschrittsfront“, der „Dravida Munnetra
Kazhagam“ (DMK) in Tamil Nadu durch eine Parteienkoalition den Kongress
aus der Regierung zu drängen.
-
In Punjab entwickelte sich Ende der 60er Jahre die „Shiromani Akali Dal“
(SAD) zum größten Konkurrenten für den Kongress. Die Partei wurde von
Anhängern der Sikhismus gegründet und bleibt deshalb regional beschränkt.
-
In der Hauptstadt Maharashtras, Bombay (seit 1995 Mumbai), entstand zum
gleichen Zeitpunkt die Partei Shiv Sena, eine militante Partei, welche
Fremdenhass propagierte und die Menschen auch gegen einheimische Muslime
aufwiegelte. Sie begründete damit den Hindunationalismus. Erst in den 80er
Jahren etablierte sich die hindufundamentalistische Partei endgültig.
-
In Westbengalen, wo es bereits seit den 20er Jahren kommunistische
Organisationen gab, entwickelte sich ein Bengali-Nationalismus, der gegen die
18
Vernachlässigung
der
Region
durch
die
Zentralregierung
protestierte.
Repräsentiert wurde dieses Selbstbewusstsein durch die „Communist Party of
India“. Diese Partei spaltete sich Mitte der 60er Jahre und eine zweite
kommunistische Partei entstand, die „Communist Party of India – Marxist“,
welche sich bis heute zur größten Linkspartei Indiens entwickeln konnte.
Während sich die CPI bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion an Moskau
orientierte, hatte die CPI-M bis zur wirtschaftlichen Öffnung Chinas eher Peking
als Vorbild. Das erstaunliche ist dabei, das beide Parteien stets eindeutig
demokratisch legitimiert agierten (ibid: 304).
Diese Beispiele zeigen, dass durch den Kongress initiierte Entwicklungs- und
Selbstverwaltungsprogramme nach der Unabhängigkeit Indiens dazu führten, dass sich
dieser teilweise selbst entmachtete, die Regionen und Gliedstaaten kulturell und politisch
unabhängiger wurden und ein sehr vielschichtiger Konflikt zwischen Zentrum und
Peripherie entstand. Diese Entwicklung ist der Demokratie in Indien zuträglich, da
entstandene Strömungen zwar für mehr Finanzmittel und Unabhängigkeit streiten, aber
die Indische Union als solche nicht ablehnen. Es bleibt abzuwarten, wie sich die regionale
Parteienlandschaft entwickelt, denn auf gesamtindischer Ebene ist es den regionalen
Parteien bisher nicht gelungen, eine Alternative zum Kongress darzustellen.
4.3.2 Kirche vs. Staat in der Indischen Union
Seit ihrer Unabhängigkeit ist der Laizismus in der Indischen Union stets vom Kongress
verbreitete Staatsraison gewesen. Dieser sah die Säkularisierung als einzigen Weg an, eine
Teilung des Staates, die durch aufkeimende blutige bürgerkriegsartige Konflikte zwischen
Muslimen, Sikh, Hindus und Anhängern anderer Religionen drohte, zu verhindern.
Doch schon 1925, also lange vor der Unabhängigkeit des Landes, gab es in Indien radikale
rassistische Strömungen, die den Laizismus ablehnten und eine Hindu-Nation anstrebten.
Diese Strömungen organisierten sich in der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) im
Glauben, dass Hindus nur all jene seien, die Indien als ihr heiliges Land verehrten, von den
Ariern abstammten und die im Hinduismus wurzelnde Kultur teilten.2 Es waren militante
Anhänger dieser Ideologie denen Mahatma Gandhi zum Opfer fallen sollte.
2
http://www.suedasien.net/laender/indien/staat_politik/bjp.htm, zuletzt am 25.10.2006.
19
In Folge dieses Anschlages wird der RSS 1948 jegliche politische Aktivität untersagt. Durch
die
Gründung
von
Sekundärorganisationen,
wie
Studentenassoziationen
und
Missionsorganisationen, erhält sich die Organisation dennoch beachtlichen Einfluss. 1951
entsteht aus diesen Sekundärorganisationen die Partei Bharatiya Jana Sangh (BJS), der
Vorläufer der heutigen indischen Volkspartei Bharativa Janata Party (BJP). Diese Partei sollte
sich als verantwortlich erweisen, für einen starken konfessionellen Cleavage in Indien, der
noch heute zu identifizieren ist:
Oppositionspolitiker, die unter Indira Gandhis Notstandsregime litten, beschließen 1977 die
Gründung des Janata Bündnisses, in welchem die BJS aufgeht. Noch im selben Jahr gelingt
es, den Kongress zu entmachten und eine Koalitionsregierung zu stellen. Doch diese
Regierung hält aufgrund persönlicher Rivalitäten nicht lange. 1980 kehrt Indira Gandhi an die
Macht zurück und als Reaktion wird von Atal Bihari Vajpayee, mit der Unterstützung der
parteipolitisch nun heimatlosen Hindunationalisten, die BJP gegründet.
Diese Partei schürte schon sehr bald durch den Einsatz religiöser Symbole und ihre, durch die
RSS indirekte, Beteiligung am seit Jahrzehnten schwellenden Streit um die Babri-Moschee3 in
Ayodhya, religiösen Hass zwischen Hindus und Muslimen.
1984, nachdem Indira Gandhi von zwei ihrer Sikh-Leibwächter erschossen wird, richtet der
Hass auch gegen diese Glaubensgruppe und es kommt in Nordindien zu Pogromen an den
Sikhs.
Nach einem erneuten kurzen Zwischenspiel 1989-1990 an der Regierung, schafft die BJP
1991 den endgültigen Durchbruch zur Massenpartei in Nordindien. Der Wahlerfolg von 20%,
welcher die BJP zur stärksten Partei macht, ist auf einen ideologisch gespaltenen Kongress
und auf neue Propagandatechniken der BJP zurückzuführen.
Die BJP sieht in dieser Situation zum ersten Mal die Möglichkeit, die Stellung des
Kongresses zu übernehmen, in Folge den Laizismus zu modifizieren sowie für die neue
Mittelschicht die Wirtschaft zu liberalisieren. Zu diesem Zweck hält sich die Partei nun aus
den anhaltenden Agitationen in Ayodhya heraus. Sie möchte nicht als innenpolitischer
Unruheherd erscheinen(ibid).
Die Strategie zahlt sich aus: Bei den Wahlen 1996 verliert der Kongress weiter Stimmen,
während
die
BJP
konstant
bleibt.
Zwar
wird
das
Weiterregieren
durch
eine
Minderheitsregierung kleinerer Regionalparteien unter der Duldung des Kongresses
3
Ayodhya schwelte seit mehreren Jahrzehnten ein Konflikt um die Babri-Moschee, die angeblich auf den
Ruinen eines von den Moghul-Kaisern geschleiften Tempels zu Ehren des mythischen Gottkönigs Rama gebaut
worden war. Radikale Hindus forderten die Übergabe der Moschee durch die Muslime, um an ihrer Stelle einen
neuen Rama-Tempel zu errichten.
20
verhindert, aber aus den Neuwahlen 1998 geht die BJP wiederum gestärkt hervor. Sie bildet
eine Zentralregierung und zum ersten Mal sind die Koalitionspartner nicht ausschließlich
hindunationale Parteien. 1999 kommt es durch einen knappen Mehrheitsverlust erneut zu
Neuwahlen, die aber zum de facto selben Ergebnis führen. Die BJP bleibt an der Macht und
geriert sich unter dem moderaten Premier Vajpayee als Volkspartei, die Indien nach außen
zuverlässig vertritt und im Inland die Wirtschaft liberalisiert. 2004 gewinnt der Kongress
überraschend wieder die Mehrheit. Zu wenige Menschen profitierten vom Wirtschaftsboom.
Das BJP-Modell vom „Shining India“ ist vorerst gestoppt
Dennoch ist es deutlich, dass sich die BJP als Alternative zum Kongress etabliert hat. Für den
Säkularisierungsprozess hatte dies bisher keine schwerwiegenden Folgen, da die
Stammwählerschaft der BJP lediglich 20% der Gesamtbevölkerung ausmacht. Aber um auf
Dauer den Kongress beerben zu können, geht für die BJP kein Weg an der Anerkennung des
Laizismus vorbei. 80% des Elektorats in Indien besteht aus religiösen Randgruppen, wie den
Sikh und den Muslimen oder aus mittleren, niedrigen Kasten und Stammesgesellschaften, die
das BJP-Kastensystem ablehnen. Diese Gruppen gilt es aber zu erreichen, will man eine echte
Volkspartei sein. Hinzu kommt, dass der Laizismus Verfassungsrang in Indien besitzt. Dessen
scheint sich die BJP bewusst zu sein, denn sie polarisiert zwar gegen einen Kongress, der die
Heterogenität Indiens propagiert und wahltaktisch einsetzt, greift den Laizismus aber erst an
zweiter Stelle an und will diesen dabei lediglich in Richtung einer nebulösen Hindukultur
korrigieren, nicht aber abschaffen (Rösel/Jürgenmeyer 2001:319).
Sollte sich in Indien die Regionalisierung fortsetzen und „(Regional)- Parteienkoalitonen“ die
Regel werden, hätte das eine Stärkung der Säkularisierung zur Folge. Sollte dagegen der
Aufstieg einer moderateren BJP fortschreiten, was zu einer hindunationalisitschen
Zentralregierung mit dem Ziel einer Hindukultur führte, würde das zu einer Verwässerung des
Laizismus führen.
4.3.3 Stadt vs. Land in der Indischen Union
Der Cleavage Stadt vs. Land ist in der Indischen Union, die immernoch ein Entwicklungsland
ist, ein Konflikt, der sich in erster Linie im Agrarsektor abspielt. Das Aufblühen der indischen
Städte durch die finanzielle und kulturelle Förderung durch den Kongress führt zu
wirtschaftlichem Wachstum und sich ausbreitender städtischer Lebensart. Die Kehrseite
dieser Medallie ist, dass in den letzten Jahrzehnten kaum Geld in Sozialprogramme und
Förderung des Agrarsektors investiert wurde.
21
Nach der Unabhängigkeit Indiens führte die „zamindari abolition“4 dazu, dass der Kongress
sich auf lange Sicht auf die Stimmen der begünstigten Kasten verlassen konnte. Die
ausschließliche Förderung der städtischen Wirtschaft hat in den letzten Jahrzehnten diese
Sicherheit jedoch schwinden lassen. Teile der Großgrundbesitzer, wenn auch bisher nur
kleinere, spenden ihre Loyalität der BJP, die eine Liberalisierung der Preise und Märkte in
Aussicht stellt. Sollte sich BJP dazu überwinden können, ihren Hindunationalismus
abzuschwächen, eröffneten sich ihr zudem die Stimmen kleinerer regionaler Protestparteien,
die sich bereits seit den 80er Jahren entwickeln und sich gegen die mit dem Kongress
verbündeten dominanten Kasten der Großzamidare in Position bringen.
Eine dieser Parteien ist die Janata Dal, entstanden 1988, die v. a. in Uttar Pradesh, Haryana,
Bihar und im Süden zu finden ist. Diese Partei ist aus verschiedenen mittleren und niedrigen
Kasten hervorgegangen und ist trotz der, sich daraus ergebenden, Zerstrittenheit in der Lage
sich zu organisieren und zu artikulieren. Die mittleren und unteren Kasten bilden mittlerweile
eine eigene Kraft gegen den Kongress und andere Regionalparteien. Ihre Forderungen zielen
auf mehr soziale und damit, wegen der an die Religion gebundene Kastenordnung,
gleichzeitig religiöse Reformen. Konkret sind damit „faire Preise“, eine Aufhebung der
Preiskontrollen
für
Agrarprodukte,
billige
Kredite,
Düngemittel,
Infrastruktur,
Vermarktungsmechanismen und mehr Stellen in der öffentlichen Verwaltung für niederere
Kasten gemeint (ibid: 312). Ähnliche Parteien haben sich auch in andere Gegenden Indiens
organisiert, auch wenn sie größtenteils noch ineffektiv und korrupt sind. Hinzu kommen
kommunistische Parteien mit ähnlichen Zielen, die v. a. im Nordosten Indiens zu finden sind.
Die überwältigende Mehrheit der Wähler in Indien lebt immer noch in ländlichen Gebieten
und eine politische Landschaft entsteht, in der zunehmend kastenunabhängig alle Parteien
konkurrieren müssen. Vorrangig ist Indien aber immer noch eine bäuerliche Gesellschaft, in
welcher der Konflikt Stadt vs. Land in erster Linie im Agrarbereich sichtbar wird. Es ist nicht
unwahrscheinlich, dass eine Agrarpartei auftreten und diesen Konflikt verschärfen wird.
Der Kongress kann sich in dieser Situation nicht auf die Stimmen der städtischen Mittelklasse
verlassen, er muss sich, neben den Stimmen der Stämme und Unberührbaren, die der
dominanten Kasten und Großgrundbesitzer bewahren. Die BJP hingegen muss um zu
bestehen und eine Volkspartei zu werden, die ländlichen Elitekasten an sich binden sowie mit
den Parteien der mittleren und unteren Kasten koalitionsfähig werden (Rösel/Jürgenmeyer
2001: 315). Darin besteht ihre Chance, wenn auch der Kongress als momentane
4
Der Kongress schichtete die Großgrundbesitze durch die Auflösung von Steuerpachten von einem 1% der
Bevölkerung auf die oberen 20% der Agrarbevölkerung um.
22
Regierungspartei die Möglichkeit hätte, durch Agrar- und Sozialprogramme neue
Wählerschichten zu erreichen.
4.3.4 Arbeit vs. Kapital in der Indischen Union
Die Vormachtstellung des Kongresses nach der Unabhängigkeit Indiens führte zu einer
staatlichen Regulierung der Wirtschaft, zu einer „Kommandowirtschaft“. Der bescheidene
Industrialisierungsprozess in Indien sowie die Größe und Heterogenität der Union boten keine
Basis für die Entstehung von Interessensgruppen oder von, in Europa verbreiteten, landesweit
agierenden Gewerkschaften oder politischen Parteien entlang des Cleavages Arbeit vs.
Kapital.
Das indische Unternehmertum sieht keinen Anlass zur Gründung einer eigenen Partei. Trotz
der Macht des Kongresses hat es genügend Spielraum für Investitionen in allen
Wirtschaftsfeldern, profitiert von dem Protektionismus der Regierung und hat Zugang zu
günstigen Kredite. Dafür wird auch die staatliche Sozialgesetzgebung in Kauf genommen, die
auf Arbeitsplatzsicherung abzielt. Auch hat sich keine unionsweite Partei des Industriekapitals
ergeben, weil die Industrie ihr Gewicht in den „Chambers of Commerce and Industry“ geltend
macht, sowie die Macht des Kongresses ausgleicht, indem sie sich, erscheit es opportun, auf
die Seite der Unabhängigkeitsbewegung stellt (Rösel/Jürgenmeyer 2001: 315).
Der indische „Mittelstand“ (Händler, Basarunternehmer, etc.) wiederum ist v. a. in Kasten
organisiert. Regionale Unterschiede und Interessensvielfalt haben dazu geführt, dass es nur
kleine zerstrittene Gewerkschaften in Indien gibt. Dennoch hat auch der Mittelstand die
Möglichkeit über regionale Institutionen Einfluss auf den Kongress zu nehmen.
Wenn auch auf diesem Wege mittelständische und unternehmerische Interessen Eingang in
die Regierungspolitik nehmen können, beginnen die zahlreicher gewordenen Händler und
Unternehmer damit, mehr Liberalisierung der inländischen Märkte zu fordern. Dies ist eine
Forderung, welcher der Kongress aus der Sicht indischer Finanzexperten und benachteiligter
Mittelständler und kleinerer Unternehmer, nur unzureichend nachgegangen wird. Sollte sich
die BJP weiter in Richtung einer moderaten außen- wie innenpolitisch verlässlichen Partei
entwickeln, wird sie auch die Stimmen dieser Interessensgruppen bündeln können.
Doch noch ist es nicht soweit und der Kongress versucht die sektoral, lokal und personell
geteilten Gewerkschaften durch den „All India Trade Union Congress“ bzw. den „Indian
Trade Union Congress“ zu erfassen.
Weder einer sozialistischen noch einer kommunistischen Partei ist es gelungen die
Arbeiterschaft ganz Indiens hinter sich zu bringen(Chibber 2001: 72). Die Sozialisten, welche
23
bis zur Unabhängigkeit Indiens Teil des Kongresses waren, wollten nach 1947 eigenständig
werden. Da es aber zu keiner einheitlichen Abspaltung vom Kongress, es in der Folge
vielmehr zu weiteren Spaltungen der Sozialisten kam, verloren diese nach und nach an
Bedeutung. Der Kongress praktizierte sozialistische Politik, um sich potentielle Wähler der
Sozialisten einzuvernehmen, während sich diese regionalisierten und 1971 zum letzten Mal
bei einer Lok Sabha Wahl antraten.5
Auch die 1920 gegründete Communist Party of India (CPI) war wenig erfolgreich beim
Versuch im gesamten Indien die Industriearbeiterschaft und deren Gewerkschaft zu
mobilisieren. Es gab zu viele Kasten-, Klassen und Bildungsunterschiede, die gegen die CPI
arbeiteten. Bis 1962 beharrte die Partei bei mäßigen regionalen Erfolgen in Bengalen und
Kerala. Ausgelöst durch innerparteiliche Spannungen um den indochinesischen Grenzkrieg
kam es 1964 gar zur Spaltung der CPI. Die verbleibende CPI orientierte sich in Folge der
strategischen Partnerschaft der Indischen Union mit der Sowjetunion immer mehr an Moskau
und wurde zu einem schwachen Partner für den Kongress (ibid).
Die neu gegründete CPI-M (Marxist) hingegen entwickelt sich zu einer ernstzunehmenden
Konkurrenz für den Gewerkschaftsdachverband des Kongresses im Kampf um die Gunst der
Industriearbeiterschaft. Die CPI-M erringt so 1967 und 1977 die Macht in Westbengalen. Sie
bildet eine Koalition mit anderen regionalistischen Linksparteien und behauptet sich bis heute
and der Regierung. In Gesamtindien spielt jedoch auch die CPI-M eine untergeordnete Rolle
und erreicht bei Lok Sabha Wahlen regelmäßig etwa 5-6%. Die CPI-M in Westbengalen
betreibt eine Politik, die kleinen und mittleren Bauern zugute kommt, wagt sich jedoch nicht
an eine Revolution des Kastensystems heran. Eine Folge hiervon ist die Abspaltung, meist
junger, maoistischer Parteimitglieder, die einen radikaleren Kurs fordern und dabei auch nicht
vor Terroraktionen zurückschrecken. Die Führung der Partei stellt sich gegen solche
Tendenzen, um dem Kongress keinen Anlass für eine Entmachtung in West-Bengalen zu
bieten (Hardgrave 1975: 116).
Die Mobilisierung der Industriearbeiterschaft für eine Partei ist bisher also kläglich
gescheitert.
Und
auch
Reformen
der
Besitzverhältnisse,
welche
der
ländlichen
Lohnarbeiterschaft nutzen könnten, sind an den Kasten und der Ressourcenknappheit
gescheitert. Dies wird wohl so lange so bleiben, bis sich die regionalen Benachteiligten nicht
mehr für Parteien, welche vor Agrarreformen zurückschrecken, mobilisieren lassen werden.
5
http://www.suedasien.net/laender/indien/staat_politik/kommunisten.htm, zuletzt am 26.10.2006.
24
5 Schlussbemerkungen und Fazit
Diese Arbeit zeigt eindeutig, dass das Cleavage-Modell ein plausibles Erklärungsmodell für
die Entstehung des Parteiensystems in der BRD liefert.
Erfolg hatten im bundesrepublikanischen System jene Parteien, welche sich an den
gesellschaftlichen Spannungs- und Konfliktlinien orientierten und ausrichteten. So entstand
ein stabiles Parteiensystem, dessen dauerhafte Stabilität ein weiteres Indiz für den Nutzen des
Cleavage-Modells darstellt, da sich nach diesem die grundsätzlichen gesellschaftlichen
Konfliktlinien nur langsam verändern.
Bei der Betrachtung der Konfliktlinien in der BRD zeigt sich zwar, dass bedingt durch
gesellschaftliche Veränderungen, wie die Ausweitung des Dienstleistungssektors, die
„Stammwählerschaft“ von Parteien abnimmt (Arbeiterschaft bei der SPD z.B.), aber ob
deshalb ein neuer Cleavage, wie etwa der zwischen Trägern neuer und Trägern traditioneller
und religiöser Werte, in der BRD auftreten wird, ist noch nicht zu erkennen. Kurzfristige
Konflikte könnten langfristige Entwicklungen überdecken. Insgesamt ist aber festzustellen,
dass Koalitionen zwischen Gesellschaftsgruppen und Parteien weiter bestehen, diese aber
tendenziell abnehmen.
Zu kritisieren am Cleavage-Modell von Lipset und Rokkan ist allenfalls, dass es überhaupt
von Stammwählerschaft ausgeht. Die Zahl der Wechselwähler wächst stetig.
Weiterhin muss das Urteil über den Erklärungsnutzen des Modells bezüglich der neuen
Bundesländer deutlich skeptischer ausfallen. Hierbei ist als Hauptgrund die internalisierte
politische Kultur der DDR anzubringen. Diese zielte geradezu auf die klassenlose und völlig
säkularisierte Gesellschaft. Das wirkt bis heute nach, auch wenn hier langfristig eine
Anpassung zwischen Ost und West zu erwarten ist. Ein weiterer Unterschied zwischen Ost
und West ist das im Osten ausgeprägtere Problembewusstsein in der Gesellschaft. Dieses lässt
sich teils auf die vom DDR-Regime geprägten überhöhten Erwartungen an den Staat
zurückführen.
Es ist nur folgerichtig, dass sich diese Unterschiede auch in den Wahlergebnissen
niederschlagen. Dennoch, was die Bundesrepublik betrifft, so kann man dem CleavageModell ein respektables analytisches Potential zubilligen.
Die Entstehung von einzelnen Parteien in der indischen Union hingegen lässt ist nicht immer
mit den Cleavages Lipset und Rokkans zu erklären. In der Regel ist das Aufkommen einer
Partei in Indien eine extreme Variante eines Cleavages oder es widerlegt den Cleavage.
Die Kongresspartei dominierte lange die indische Parteienlandschaft, aber diese differenzierte
sich immer weiter auf dessen Kosten aus. Bei dieser Ausdifferenzierung
25
spielten die
Cleavages Zentrum vs. Peripherie und Kirche vs. Staat eine wesentlich größere Rolle als in
der Bundesrepublik Deutschland. Den größten Einfluss auf das bundesdeutsche
Parteiensystem hatte der Cleavage Kapital vs. Arbeit. Dies ist typisch für ein
westeuropäisches Land. Die Rückständigkeit Indiens bei der Industrialisierung führt zur
relativen Unbedeutsamkeit dieses, in Europa so entscheidenden, Cleavages. Die
Unbedeutsamkeit des Klassenkampfes und der Industrie bei der Entstehung der indischen
Parteien könnte den Gedanken aufkommen lassen, dass die Demokratisierung in Indien noch
unvollendet sei, denn in Konfliktlinienmodell folgt Demokratie auf Industrialisierung. Doch
die Demokratisierungsfortschritte des Landes deuten nur darauf hin, dass das CleavageModell für Indien, bzw. den außereuropäischen Kontext, unzureichend geeignet ist.
Während das Parteiensystem in der BRD durchaus mit den vier Cleavages zu erklären ist,
muss es in der Indischen Union eindeutig mit den indischen Sonderbedingungen
(Kastensystem, Heterogenität der Gesellschaft, Kolonialzeit, Umkehrung der Abfolge von
Demokratie und Modernisierung), der anfänglichen Monopolstellung des Kongresses und
den vier Cleavages erklärt werden.
Der Kongress ist beispielsweise Teil des Modernisierungsprozesses, er ist aber v. a. eine
Unabhängigkeitsbewegung. Die Regionalparteien z.B. gewannen an Bedeutung aus Reflex
gegen eine Zentralisierung durch den Kongress, sie sind aber vielmehr auch Ausdruck für die
Heterogenität Indiens.
Es sind daher eindeutig indienspezifische und modernisierungsspezifische, also den
Cleavages entsprechende Ursachen, die das Parteiensystem prägen.
Daraus ergibt sich, dass man anhand des Cleavage-Modells die Entstehung des indischen
Parteiensystems teilweise herleiten und erklären kann. Das Modell läst aber länderspezifische
Sonder- und Rahmenbedingungen völlig außer acht und deshalb ist seine Anwendung
außerhalb des europäischen Kontextes lediglich als Ergänzung denkbar.
26
6 Literatur
Lipset, Seymore M./Rokkan, Stein (Hrsg.) (1967): Party Systems and Voter Alignments,
Cross National Perspectives. New York.
Hardgrave, Robert L. (1975): India. Government and Politics in a Developing Nation.New
York.
Chibber, Pradeep K. (2001): Democracy Without Associations: Transformation of the Party
System and Social Cleavages in India. Michigan.
Mitra, Subrata K. (1999): Democracy and Social Change in India: A Cross-sectional Analysis
of the Indian Electorate. Delhi.
Ware, A. (1996): Political Parties and Party Systems. New York.
Winkler, J. (2002): Parteien und Parteiensysteme. In: Lauth, H-J.(Hrsg): Vergleichende
Regierungslehre: Eine Einführung. Wiesbaden.
Rösel, Jakob/Jürgenmeyer (2001): Die Entstehung des Parteiensystems in der Indischen
Union. In: Ulrich, E./Mielke G. (Hrsg): Gesselschaftliche Konflikte und Parteiensysteme.
Wiesbaden.
Mielke, G. (2001): Die Entstehung des Parteiensystems in der Indischen Union. In: Ulrich,
E./Mielke G. (Hrsg): Gesselschaftliche Konflikte und Parteiensysteme. Wiesbaden.
Lipset, S./Rokkan, S. (1990): Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignment. In:
MAIR, P. (Hrsg.): The West European Party System. Oxford.
Nohlen, D. (2002): Kleines Lexikon der Politik. München.
http://www.suedasien.net/laender/indien/staat_politik/kommunisten.htm,
26.10.2006
zuletzt
http://www.suedasien.net/laender/indien/staat_politik/bjp.htm, zuletzt am 25.10.2006
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