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Analysis
J. Apel
Vorlesung SS 2002
Preliminary version – 3. Juli 2002
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Leistungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
4
2 Topologische Grundbegriffe
2.1 Vollständigkeitseigenschaften der reellen und komplexen Zahlen
2.2 Metrische Räume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.2.1 Umgebungen und Häufungspunkte . . . . . . . . . . .
2.2.2 Abgeschlossene und offene Mengen . . . . . . . . . . .
2.2.3 Innere Punkte, Äußere Punkte, Randpunkte . . . . . .
2.3 Der Satz von Bolzano-Weierstraß . . . . . . . . . . . . . . . .
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5
10
10
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18
19
3 Folgen und Reihen
3.1 Grenzwert einer Zahlenfolge . . . . . . . . . . .
3.2 Grenzwerte spezieller Zahlenfolgen . . . . . . .
3.2.1 F = (an )n≥1 . . . . . . . . . . . . . . . .
n
3.2.2 F = (na
)n≥1 . . . . . . . . . . . . . . .
√
n
3.2.3 F = ( a)n≥1 . . . . . . . . . . . . . . .
3.3 Monotone Zahlenfolgen . . . . . . . . . . . . . .
3.4 Konvergenzkriterien für Zahlenfolgen . . . . . .
3.5 Grenzwertsätze für Zahlenfolgen . . . . . . . . .
3.6 Reihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3.6.1 Unendliche geometrische Reihen . . . . .
3.6.2 Absolute Konvergenz . . . . . . . . . . .
3.6.3 Konvergenzkriterien unendlicher Reihen
3.6.4 Der große Umordnungssatz . . . . . . . .
3.6.5 Multiplikation unendlicher Reihen . . . .
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26
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4 Potenzreihen
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4.1 Konvergenzradius und Konvergenzkreis . . . . . . . . . . . . . 62
4.2 Rechenregeln für Potenzreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
4.3 Elementare Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
5 Stetigkeit reeller Funktionen in einer reellen Variablen
5.1 Grenzwerte von Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2 Stetige Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5.2.1 Zusammengesetzte stetige Funktionen . . . . . . .
5.2.2 Klassen stetiger Funktionen . . . . . . . . . . . .
5.2.3 Klassifikation von Unstetigkeitsstellen . . . . . . .
5.2.4 Sätze über stetige Funktionen . . . . . . . . . . .
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6 Differentiation reeller Funktionen in einer reellen Variablen 93
6.1 Differenzen- und Differentialquotient . . . . . . . . . . . . . . 93
6.2 Beispiele differenzierbarer Funktionen . . . . . . . . . . . . . . 95
6.2.1 f (x) = c . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
6.2.2 f (x) = xn , n ∈ N, n 6= 0 . . . . . . . . . . . . . . . . 95
6.2.3 f (x) = P
exp x . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
n
6.2.4 f (x) = ∞
n=0 an (x − x0 ) . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
6.2.5 f (x) = sin x,
g(x) = cos x . . . . . . . . . . . . . . 98
6.3 Zusammenhang zwischen Stetigkeit und Differenzierbarkeit . . 99
6.4 Höhere Ableitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
6.5 Differentiationsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
6.5.1 Summenregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
6.5.2 Produktregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
6.5.3 Quotientenregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
6.5.4 Kettenregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
6.5.5 Ableitung der Umkehrfunktion f −1 . . . . . . . . . . . 103
6.5.6 Kurzzusammenfassung der Differentiationsregeln . . . . 106
6.5.7 Auswahl wichtiger Ableitungen . . . . . . . . . . . . . 106
6.6 Wichtige Sätze der Differentialrechnung . . . . . . . . . . . . . 108
6.6.1 Satz von Rolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
6.6.2 Mittelwertsatz der Differentialrechnung . . . . . . . . . 109
6.6.3 Quotientenmittelwertsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
6.6.4 Regel von l’Hospital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
6.6.5 Satz von Taylor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
6.7 Kurvendiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
ii
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6.7.1
6.7.2
6.7.3
6.7.4
Monotonie . . . . . .
Lokale Extremwerte .
Wendepunkte . . . .
Beispiele . . . . . . .
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7 Integration reeller Funktionen in einer reellen Variablen
7.1 Das Riemannsche Integral . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.2 Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung . . . . . .
7.3 Uneigentliche Integrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.4 Regeln der unbestimmten Integration . . . . . . . . . . . .
7.4.1 Auswahl von Grundintegralen . . . . . . . . . . . .
7.4.2 Integration einer Summe . . . . . . . . . . . . . . .
7.4.3 Partielle Integration . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.4.4 Subsitutionsregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.5 Anwendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7.5.1 Berechnung von Flächeninhalten . . . . . . . . . . .
7.5.2 Berechnung von Kurvenlängen . . . . . . . . . . . .
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. 125
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. 138
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. 140
. 142
. 144
. 144
. 147
Kapitel 1
Einleitung
Bei der Behandlung der (linearen) Algebra standen strukturelle Untersuchungen im Vordergrund. Dabei nahm die Abgeschlossenheit von Operationen
der Strukturen eine zentrale Rolle ein. So war es in unseren Untersuchungen
ausreichend vorauszusetzen, daß ein Körper und zuweilen auch nur ein Ring
zugrunde lag. Wenigstens aus Sicht der linearen Algebra ist es unerheblich,
ob es sich um den Körper der rationalen, der reellen, der komplexen Zahlen
oder gar um einen Restklassenkörper Zp der ganzen Zahlen modulo einer
Primzahl p handelte. Erst bei der Betrachtung von Polynomen mindestens
zweiten Grades zeichnen sich die komplexen gegenüber den rationalen oder
reellen Zahlen aus. Nämlich dadurch, daß jedes Polynom in einer Variablen
mit komplexen Koeffizienten vom Grad n ≥ 1 mindestens eine komplexe
Nullstelle (bei Zählung der Nullstellen mit geeigneten Vielfachheiten handelt
es sich um genau n Stück) besitzt. Nur am Rande sei erwähnt, daß man
diese Eigenschaft auch schon für kleinere Körper, z.B. den nur abzählbar
unendlichen Körper der algebraischen Zahlen, als den der komplexen Zahlen
erhält.
Während der geschichtliche Ursprung der Algebra in der Lösung algebraischer Gleichungen und Gleichungssysteme begründet war, besteht ein historisches Grundanliegen der Analysis im Ausschöpfen von (endlichen) Flächen
und Körpern, d.h. im Bestimmen von Flächeninhalten und Volumen. Sobald die Begrenzungslinien bzw. -flächen krummlinig sind (z.B. bei einem
Kreis oder einer Kugel), benötigt man zur Inhaltsbestimmung wenigstens im
Prinzip eine immer bessere Approximation durch geradlinig bzw. ebenflächig
begrenzte Körper. Erst durch den Grenzübergang zu immer besseren Approximationen, welche sich der ursprünglichen Figur beliebig genau anschmie2
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gen, gelangt man zur Maßzahl des Inhalts der Figur als dem Grenzwert der
Inhalte der Approximationsfiguren.
Damit ein derartiges Vorgehen überhaupt einen Sinn hat, muß gesichert sein,
daß die Inhalte der Approximationsfiguren gegen eine Zahl streben. Beschränkt man sich auf rationalen Zahlen, so braucht das durchaus nicht der
Fall zu sein. Man denke nur an die Fläche des Einheitskreises, deren Maßzahl
ist π, also keine rationale Zahl.
Die Probleme entstehen bereits bei der einfachsten aller denkbaren Inhaltsuntersuchungen, der Bestimmung der Länge einer Kurve. Bildlich geht man
dabei wie folgt vor, man rektifiziert die Kurve, d.h. man “biegt” sie zu einer Strecke gleicher Länge. Aber nicht einmal die Länge jeder Strecke kann
durch eine rationale Längenmaßzahl quantifiziert werden. Man betrachte
√
dazu einfach die Länge der Diagonalen des Einheitsquadrates, diese ist 2.
Die rationale Zahlengerade ist zwar dicht aber doch nur lückenhaft mit Punkten belegt. Aus Sicht des Ihnen aus der Vorlesung zur Mengenlehre bekannten Mächtigkeitsbegriffes muß man sogar sagen, die rationale Zahlengerade
hat viel mehr (nämlich überabzählbar viele) Lücken als Punkte (nämlich nur
abzählbar unendlich viele). Jede Strecke, die am Nullpunkt beginnt und an
einer Lücke endet, hat demnach keine rationale Länge.
Betrachten wir ein anderes Phänomen, welches bei der Untersuchung von
Grenzübergängen und dem damit verbundenen Übergang zu immer kleineren
bis hin zu unendlich kleinen (infinitesimalen) Quantitäten auftritt. Machen
wir dazu ein kleines Gedankenexperiment. Hase und Igel machen einen Wettlauf. Der etwas arrogante und sich für viel schneller haltende Hase gibt dem
Igel einen kleinen Vorsprung. Die Frage ist nun, kann der Hase das Rennen
gewinnen, wird er also den Igel jemals überholen? Läuft nun der Hase bis
zu dem Punkt, an dem der Igel startete, so ist der Igel in der Zwischenzeit
bereits ein Stück weitergelaufen. Läuft nun der Hase bis dorthin, so ist der
Igel in der Zwischenzeit wieder ein Stück weitergelaufen. Wir können diese
Überlegung unendlich oft wiederholen und immer wird der Igel bereits ein
Stück weiter sein, wenn der Hase an seinem vorherigen Platz angekommen
ist. Also holt der Hase den Igel niemals ein? Die Praxis lehrt uns, das muß
Unsinn sein, denn mittels der gleichen Argumente könnte man natürlich auch
“beweisen”, daß z.B. ein Auto niemals einen vor ihm fahrenden Radfahrer
überholen kann.
Der Denkfehler besteht einfach darin, daß wir zwar unendlich viele Zeitintervalle betrachtet haben ohne dabei jedoch einen unendlichen Gesamtzeitraum
zu überstreichen. Die Zeitintervalle werden im kürzer und der untersuchte
3
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Gesamtzeitraum reicht letztendlich nur vom Start der beiden Kontrahenten
bis zum Einholen des Igels durch den Hasen.
1.1
Leistungsnachweis
Die Vorlesungsreihe zur Analysis ist der zweite Bestandteil der Mathematikgrundausbildung für Informatiker. Wie im vergangenen Semester werden
Übungsaufgaben gestellt, welche jeweils vor der Dienstagsvorlesung abzugeben sind. In mit mir abgesprochenen Ausnahmefällen ist ein Nachreichen bis
spätestens Donnerstag 9.00 Uhr in meinen Briefkasten möglich. Bei Nichtabsprache oder noch späterer Abgabe werden die Aufgaben nicht mehr anerkannt. Die aktuellen Aufgabenstellungen finden Sie auf der Internetseite
http://www.informatik.uni-leipzig.de/~apel/Ana02
In der zweiten Julihälfte findet eine 2-stündige Prüfungsklausur statt, deren
Ergebnis mit 33 % in die Vordiplomsnote Mathematik eingeht. Teilnahmevoraussetzung ist das Erreichen von mindestens 50 % der Punkte aus den
Übungsaufgaben.
4
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Kapitel 2
Topologische Grundbegriffe
Bereits in der Einleitung haben wir festgestellt, daß die Betonung bei analytischen Untersuchungen nicht mehr nur auf der Abgeschlossenheit der Zahlenbereiche gegenüber den Körperoperationen oder der Existenz von Nullstellen
liegt, sondern daß topologische Eigenschaften in den Vordergrund treten, welche in entscheidendem Maße auf Ordnungseigenschaften der reellen Zahlen
basieren.
2.1
Vollständigkeitseigenschaften der reellen
und komplexen Zahlen
An den Anfang wollen wir einige wesentliche Eigenschaften der reellen Zahlen stellen, die im vorangegangen Semester bei der Untersuchung von Vektorräumen noch keine Rolle spielten.
Axiom 1 (Axiom des Dedekindschen Schnittes:) Zu jeder Zerlegung1
der Menge R der reellen Zahlen in zwei Klassen A und B mit der Eigenschaft
∀a ∈ A ∀b ∈ R : b < a =⇒ b ∈ A
gibt es genau eine reelle Zahl s ∈ R, so daß alle reellen Zahlen c < s in A
und alle reellen Zahlen c > s in B enthalten sind. Man nennt (A, B) einen
Dedekindschen Schnitt und s seine Schnittzahl.
1
Zur Erinnerung: Der Begriff der Zerlegung einer Menge wurde im Zusammenhang
mit der Behandlung von Äquivalenzrelationen in der Vorlesungen zur linearen Algebra
eingeführt. Im vorliegenden Fall beinhaltet er gerade die Bedingungen A 6= ∅, B 6= ∅, A ∩
B = ∅ und A ∪ B = R.
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Angemerkt sei, daß die Schnittzahl s eines Dedekindschen Schnittes entweder
größtes Element der Menge A oder kleinstes Element der Menge B ist. Das
Axiom des Dedekindschen Schnittes besagt, daß die reelle Zahlengerade keine
Löcher aufweist.
Man überzeugt sich sofort davon, daß die rationalen Zahlen keine√derartige
Eigenschaft aufweisen. Sei A die Menge
√ aller rationalen Zahlen ≤ 2 und B
die Menge aller rationalen Zahlen > 2, dann ist {A, B} offensichtlich eine
Zerlegung der rationalen Zahlen, die auch die zusätzliche Anforderung, daß
A mit einer rationalen Zahl a auch alle kleineren rationalen Zahlen enthält,
erfüllt. Für diese Zerlegung existiert jedoch keine rationale Schnittzahl.
Definition 1 Eine Teilmenge M ⊆ R der reellen Zahlen heißt beschränkt
nach oben, falls eine reelle Zahl c existiert, so daß m ≤ c für alle m ∈ M .
Man nennt c in diesem Falle eine obere Schranke von M . Entsprechend heißt
M im Falle der Existenz einer reellen Zahl d mit d ≤ m für alle m ∈ M
beschränkt nach unten und d eine untere Schranke von M .
Eine obere Schranke c von M wird obere Grenze (Supremum) von M genannt
(Bezeichnung sup M ), falls es keine reelle Zahl c0 < c gibt, die ebenfalls obere
Schranke von M ist. Entsprechend bezeichnet man eine untere Schranke d als
untere Grenze (Infimum) von M (Bezeichnung inf M ), falls es keine größere
untere Schranke von M gibt.
Gilt sup M ∈ M , so nennt man das Supremum auch Maximum der Menge
M . Im Fall inf M ∈ M bezeichnet man das Infimum auch als Minimum von
M.
Satz 1 Jede nach oben beschränkte nichtleere Menge M reeller Zahlen besitzt genau eine obere Grenze. Ebenso besitzt jede nach unten beschränkte
nichtleere Menge M reeller Zahlen genau eine untere Grenze.
Beweis: Wir konstruieren wie folgt einen Dedekindschen Schnitt (A, B). B
bestehe genau aus allen oberen Schranken von M und A enthalte die restlichen reellen Zahlen. B ist nicht leer, denn M war als nach oben beschränkt
vorausgesetzt. Da M nicht leer ist, gibt es ein m ∈ M und jede reelle Zahl
c < m ist keine obere Schranke von M , also ist auch A nicht leer. A ∪ B = R
und A ∩ B = ∅ ergeben sich unmittelbar aus der Konstruktion der beiden
Mengen. Also handelt es sich zunächst einmal um eine Zerlegung der Menge
der reellen Zahlen. Sei nun a ∈ A. a ist also keine obere Schranke von M
und daher existiert ein m ∈ M mit a < m. Nun gilt aber für jedes a0 < a
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erst recht a0 < m und somit kann also auch a0 keine obere Schranke von M
sein, muß also daher ebenfalls zu A gehören. Damit haben wir nachgewiesen,
daß die oben konstruierten Mengen A und B in der Tat einen Dedekindschen
Schnitt bilden.
Wir werden nun zeigen, daß die Schnittzahl s von (A, B) obere Grenze von
M ist. Angenommen, es existiert ein m ∈ M mit s < m und somit s <
s+m
< m. Aus den Eigenschaften des Dedekindschen Schnittes und der
2
linken Ungleichung folgt s+m
∈ B. Demnach müßte s+m
obere Schranke von
2
2
M sein, was aber der rechten Ungleichung widerspricht. Also gilt m ≤ s für
alle m ∈ M und s ist obere Schranke von M . Da aber alle reellen Zahlen
d mit d < s zur Menge A gehören, welche nach Konstruktion keine oberen
Schranken von M enthält, ist s sogar kleinste obere Schranke also Supremum
von M .
Die Existenz der oberen Grenze ist also gesichert, es bleibt die Eindeutigkeit
nachzuweisen. Seien d und d0 zwei Suprema von M . Der Fall d < d0 würde der
Supremum-Eigenschaft von d0 widersprechen, da d insbesondere auch obere
Schranke von M ist. Analog führt man den Fall d0 < d zum Widerspruch
und folglich kann nur d = d0 gelten.
Analog zeigt man den zweiten Teil des Satzes in Bezug auf das Infimum nach
unten beschränkter nichtleeren Mengen.
2
Definition 2 F = (In )n=1,2,3,... sei eine Folge abgeschlossener Intervalle.
Dabei sei In = [an , bn ] = {x ∈ R | an ≤ x ≤ bn } und Ln = bn − an die
Länge des n-ten Intervalles.
F heißt Intervallschachtelung, falls gilt
1. In ⊆ Im für alle n > m;
2. Zu jeder positiven reellen Zahl ε gibt es eine natürliche Zahl N , so daß
LN < ε.
Satz 2 Jede Intervallschachtelung F = (In )n=1,2,... zieht sichTauf einen Punkt
zusammen, d.h. es existiert eine reelle Zahl a ∈ R, so daß ∞
n=1 In = {a}.
Beweis: Für beliebige positive natürliche n ≤ m gilt aufgrund der Inklusion
Im ⊆ In die Beziehung an ≤ am ≤ bm ≤ bn . Insbesondere ist also jede der
unteren Intervallgrenzen ai , i = 1, 2, . . . , kleiner oder gleich jeder der oberen
Intervallgrenzen bi , i = 1, 2, . . . . Also ist die Menge A := {ai | i = 1, 2, . . . }
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nach oben beschränkt, z.B. sind alle bj , j = 1, 2, . . . , obere Schranken von
A. Daraus entnehmen wir ai ≤ sup A ≤ bj für alle i = 1, 2, . . . und alle
j = 1, 2, . . . . Insbesondere trifft die obige Einschließung natürlich auch im
Spezialfall n = i = j für alle n = 1, 2, . . . zu, was nichts anderes
T als sup A ∈
In für alle n = 1, 2, . . . bedeutet. Demzufolge gilt sup A ∈ ∞
n=1 In und wir
haben gezeigt, daß der Durchschnitt der Intervallschachtelung wenigstens
nicht leer sein kann. T
Nehmen wir an, a, b ∈ ∞
n=1 In sind zwei verschiedene Elemente des Durchschnitts. Wir setzen ε := |b − a|. Aus den Eigenschaften der Intervallschachtelung F folgt, daß es ein Intervall IN mit LN < ε gibt. Dafür kann
T∞ aber
unmöglich {a, b} ⊆ IN gelten, im Widerspruch zur Annahme a, b ∈ n=1 In .
Also ist der Durchschnitt einelementig und die Aussage des Satzes ist bewiesen.
2
Zieht man in Betracht, daß es zu jeder reellen Zahl t eine eindeutig bestimmte
ganze Zahl g mit g ≤ t < g+1 gibt, so zeigt der Satz über die Intervallschachtelung, daß sich jede reelle Zahl als unendlicher Dezimalbruch schreiben läßt.
Will man t darstellen, so geht man wie folgt vor. Wir beginnen mit dem
Fall t ≥ 0. In diesem Falle ist die obige Zahl g eine natürliche Zahl und wir
setzen I1 := [g, g + 1]. Sicher gilt t ∈ I1 und t − g < 1. Weiter bilden wir
t1 := 10(t − g) und suchen g1 mit g1 ≤ t1 < g1 + 1. Wegen 0 ≤ t1 < 10
g1
, g + g110+1 ].
ist g1 eine Dezimalziffer. Unser zweites Intervall ist I2 := [g + 10
g1
Addition von g zur Ungleichung 10
≤ t − g < g110+1 zeigt t ∈ I2 , die Beg1
ziehung I2 ⊂ I1 ist offensichtlich. Wir bilden t2 := 100(t − g − 10
) und
finden g2 mit g2 ≤ t2 < g2 + 1. Analog zu oben überlegt man sich, daß
auch g2 eine Dezimalziffer ist. Fortsetzung dieses Verfahrens liefert eine Intervallschachtelung, die Länge Ln des Intervalls In beträgt 10−n+1 . Die so
konstruierte Intervallschachtelung zieht sich auf t zusammen. Die unteren
g1
g2
gn
+ 100
+ · · · + 10
Intervallgrenzen g + 10
n sind rationale Zahlen. Die Vorkommastellen aller Intervallgrenzen sind genau die der natürlichen Zahl g. Mit
größer werdendem n ändert sich höchstens die Anzahl der von Null verschiedenen Nachkommastellen, ohne daß sich eine derartige Stelle später noch
einmal ändert. Mit anderen Worten, fortgesetztes Anfügen der Nachkommastellen der unteren Intervallgrenzen liefert gerade eine Darstellung von t als
unendlicher Dezimalbruch.
Bemerkung 1 Die obige Konstruktion mag den Anschein erwecken, daß
die unendliche Dezimalbruchdarstellung von t eindeutig bestimmt ist. Das
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stimmt in den meisten Fällen, es gibt aber eine wesentliche Ausnahme. Bei
der oben gewählten Konstruktion war t niemals rechter Randpunkt eines Intervalls In der Intervallschachtelung. Diese Tatsache folgt aus der Bedingung
gi ≤ ti < gi + 1. Wohl aber kann es sein, daß t linker Randpunkt eines Intervalls IN und damit auch linker Randpunkt aller weiteren Intervalle In ,
n ≥ N , ist. In diesem Fall liefert unsere Konstruktion einen Dezimalbruch
mit einer abschließenden Nullperiode.
Alternativ hätten wir durch Verwendung der Bedingung gi < ti ≤ gi + 1
die Intervallschachtelung auch so konstruieren können, daß t sicher niemals
linker möglicherweise aber rechter Randpunkt eines Intervalls In ist. Dann
können wir das Verfahren zum Ablesen der unendlichen Dezimalbruchdarstellung ebenfalls anwenden. Ist t dann aber rechter Randpunkt der Intervalle mit
genügend hohem Index, so erhalten wir eine Darstellung mit abschließender
Neunerperiode.
In allen Fällen, wo t weder linker noch rechter Randpunkt irgendwelcher Intervalle ist, erhalten wir tatsächlich eindeutige Dezimalbruchdarstellungen.
Andernfalls können wir je nach Konstruktion zu zwei verschiedenen Darstellungen gelangen, wovon eine auf eine Nullperiode und die andere auf eine
Neunerperiode endet.
Ebenso wie die reellen Zahlen die Zahlengerade lückenlos ausfüllen, so bedecken die komplexen Zahlen die Zahlenebene lückenlos. An die Stelle der
Intervallschachtelungen treten dabei sogenannte Quadratschachtelungen.
Definition 3 I x = [a, b] und I y = [c, d] seien zwei abgeschlossene Intervalle
reeller Zahlen. Dann versteht man unter dem abgeschlossenen Intervall I x ×
I y komplexer Zahlen die Menge aller komplexen Zahlen mit Realteil in I x
und Imaginärteil in I y . Im Falle gleicher Länge beider reeller Intervalle, d.h.
b−a = d−c, bezeichnet man das komplexe Intervall I x ×I y auch als Quadrat.
Sei F = (Inx ×Iny )n=1,2,3,... eine Folge von Quadraten. Dann nennt man F eine
Quadratschachtelung, falls (Inx )n=1,2,3,... sowie (Iny )n=1,2,3,... Intervallschachtelungen in den reellen Zahlen sind.
Satz 3 Jede Quadratschachtelung F = (Inx × Iny )n=1,2,3,... zieht sich auf einen
Punkt der komplexen
zusammen, d.h. es existiert eine komplexe
T∞ Zahlenebene
x
y
Zahl z ∈ C mit n=1 (In × In ) = {z}.
x
Beweis:
T∞gibty es ein a ∈ R
T∞ (Inx)n=1,2,3,... ist reelle Intervallschachtelung, also
mit n=1 In = {a}. Ebenso existiert ein b ∈ R mit n=1 In = {b}. Also
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T
x
y
gehört die komplexe Zahl z := a + ib zum Durchschnitt ∞
n=1 (In × In ) aller
Quadrate der Quadratschachtelung.
mußTaber der Realteil
T Andersherum
x
y
x
jedes Elementes des Durchschnitts ∞
(I
×
I
)
auch
in ∞
n
n=1 n
n=1 In liegen und
entsprechendes gilt für den Imaginärteil, so daß z auch das einzige Element
des Durchschnitts ist.
2
2.2
2.2.1
Metrische Räume
Umgebungen und Häufungspunkte
Im vergangenen Semester untersuchten wir Euklidische Vektorräume. Dabei
handelt es sich um eine spezielle Klasse sogenannter metrischer Räume auf
die wir jetzt eingehen wollen.
Definition 4 Eine Funktion d : R × R → R wird Metrik der Menge R
genannt, falls sie für alle Elemente x, y, z ∈ R den folgenden Bedingungen
genügt:
1. d(x, y) ≥ 0,
2. d(x, y) = 0 genau dann, wenn x = y,
3. d(x, y) = d(y, x),
4. d(x, y) ≤ d(x, z) + d(z, y) (Dreiecksungleichung)
Ist d eine Metrik in R, so nennt man (R, d) einen metrischen Raum und die
Elemente von R die Punkte des Raumes.
Die Metrik kann als Abstandsfunktion der Punkte des Raumes R aufgefaßt
werden. Die interessanteste Bedingung ist die Dreiecksungleichung, welche
man so deuten kann, daß die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten
stets der direkte Weg ist. Gleichheit gilt gerade für solche Punkte z, die auf
dem direkten Weg von x nach y liegen.
Beispiele metrischer Räume:
1. R = R, d(a, b) = |a − b|,
2. R = C, d(a + ib, c + id) = |(a + ib) − (c + id)| =
10
Preliminary version – 3. Juli 2002
p
(a − c)2 + (b − d)2 ,
3. Für einenp
Euklidischen Vektorraum V = (V, h , i) ist R = V mit
d(v, w) = hv − w, v − wi ein metrischer Raum.
Definition 5 Sei (R, d) ein metrischer Raum. Für jede reelle Zahl ε > 0
und jeden Punkt x ∈ R bezeichnen wir die Punktmenge
Uε (x) := {y ∈ R | d(x, y) < ε}
als die ε-Umgebung des Punktes x. Eine Menge U ⊆ R nennt man Umgebung des Punktes x, wenn es eine reelle Zahl ε > 0 gibt, so daß die εUmgebung von x ganz in U liegt, d.h. Uε (x) ⊆ U .
Ein Punkt x ∈ R heißt Häufungspunkt einer Teilmenge M ⊆ R, wenn sich
in jeder Umgebung U von x wenigstens ein von x verschiedener Punkt aus
M befindet, d.h. (U ∩ M ) \ {x} =
6 ∅.
Ein Punkt y ∈ M , welcher kein Häufungspunkt von M ist, wird isolierter
Punkt von M genannt.
ε-Umgebung in den Beispielräumen:
1. R = R, d(a, b) = |a − b|, : Uε (x) ist das offene Intervall der Länge 2ε
mit Mittelpunkt x.
2. R = C, d(a + ib, c + id) = |(a + ib) − (c + id)|, : Uε (x) ist das Innere
des Kreises des Radius ε um den Mittelpunkt x.
pPn
2
3. R = Rn , d((v1 , . . . , vn ), (w1 , . . . , wn )) =
i=1 (vi − wi ) , : Uε (x) ist
das Innere der n-dimensionalen Kugel des Radius ε um den Mittelpunkt
x.
Für beliebige Punkte x ∈ R und positive reelle Zahlen ε ≤ δ gilt Uε (x) ⊆
Uδ (x). Anschaulich (und später auch wörtlich) ist eine Punktmenge U genau
dann eine Umgebung des Punktes x ∈ R, wenn sie x in ihrem Inneren enthält,
d.h. x ∈ U und x liegt nicht auf dem Rand von U .
Bemerkung 2 Da jede Umgebung von x eine ε-Umgebung von x umfaßt,
ist es sofort klar, daß x bereits dann ein Häufungspunkt von M ist, wenn
jede ε-Umgebung von x einen von x verschiedenen Punkt von M enthält.
Ein Häufungspunkt x der Menge M kann, aber braucht nicht zur Menge M
zu gehören.
Beispiele:
11
Preliminary version – 3. Juli 2002
1. Die Menge M = N der natürlichen Zahlen besitzt keine Häufungspunkt im metrischen Raum (R, d), denn z.B. enthalten die Umgebungen U 1 (n) für jede natürliche Zahl n keine natürlichen Zahlen außer n.
2
Insbesondere sind alle natürlichen Zahlen isolierte Punkte der Menge
N.
2. Die Menge M = { n1 | n ∈ N} besitzt genau einen Häufungspunkt,
nämlich 0 und dieser gehört nicht zu M . Sämtliche Punkte von M sind
isoliert.
3. Jeder Punkt des offenen reellen Intervalles M = (a, b), a < b, ist
Häufungspunkt von M . Darüberhinaus sind aber auch die nicht zu
M gehörigen Randpunkte a und b Häufungspunkte von M .
4. Die Häufungspunkte des abgeschlossenen reellen Intervalles M = [a, b],
a < b, sind gerade die Punkte von M .
Satz 4 M ⊆ R sei eine Teilmenge des metrischen Raumes (R, d) und x ein
Häufungspunkt von M . Dann enthält die Menge (Uε (x) ∩ M ) \ {x} für jedes
reelle ε > 0 unendlich viele Elemente.
Beweis: Angenommen, es gibt ein ε > 0, so daß (Uε (x) ∩ M ) \ {x} nur endlich viele Elemente, sagen wir y1 , . . . , yk enthält. Wir bilden den minimalen
Abstand δ = minki=1 d(x, yi ), den ein von x verschiedener, zur ε-Umgebung
gehöriger Punkt von M vom Punkt x hat. Wegen yi 6= x gilt δ > 0 und offensichtlich gilt (Uδ (x) ∩ M ) \ {x} = ∅, im Widerspruch zur vorausgesetzten
Häufungspunkteigenschaft von x.
2
Eine triviale Folgerung aus diesem Satz ist
Folgerung 1 Jede endliche Teilmenge M von R besitzt keine Häufungspunkte.
Satz 5 Sei H die Menge alle Häufungspunkte der Menge M ⊆ R. Dann ist
jeder Häufungspunkt von H bereits in H enthalten.
Beweis: Sei x ein Häufungspunkt von H und ε > 0 eine beliebige positive
reelle Zahl.
12
Preliminary version – 3. Juli 2002
Dann liegt in der Umgebung U 2ε (x) ein von x verschiedener Punkt y von H.
Dieser ist Häufungspunkt von M , also liegen in U 2ε (y) unendlich viele Punkte
von M , insbesondere auch ein z ∈ M \ {x, y}. Aus der Dreiecksungleichung
folgt
ε ε
d(x, z) ≤ d(x, y) + d(y, z) < + = ε
2 2
und somit z ∈ Uε (x). Also ist x Häufungspunkt von M und damit Element
von H.
2
2.2.2
Abgeschlossene und offene Mengen
Definition 6 Sei (R, d) ein metrischer Raum und M ⊆ R eine Punktmenge
darin. Dann nennt man M genau dann abgeschlossen, wenn jeder Häufungspunkt von M Element von M ist. M heißt genau dann offen, wenn es zu
jedem Punkt x ∈ M eine Umgebung U von x gibt, welche ganz in M liegt,
d.h. U ⊆ M .
Betrachten wir einige Beispiele abgeschlossener und offener Mengen im metrischen Raum (R, d) der reellen Zahlen mit dem gewöhnlichen Abstand d
zweier Punkte.
1. Ein abgeschlossene Intervall [a, b] = {x | a ≤ x ≤ b} ist eine abgeschlossene Menge.
2. Ein offenes Intervall (a, b) = {x | a < x < b} ist eine offene Menge.
3. Für beliebige reelle Zahlen a < b ist das halboffene Intervall [a, b) =
{x | a ≤ x < b} weder eine abgeschlossene noch eine offene Menge.
Zum einen ist b Häufungspunkt von [a, b), gehört der Menge aber nicht
an (also nicht abgeschlossen). Zum anderen gehört keine Umgebung
/ [a, b) für alle positiven reellen Zahlen
von a ganz zu [a, b) da a − 2ε ∈
ε. Damit gilt Uε (a) 6⊆ [a, b) für alle ε > 0 und da jede Umgebung von
a eine solche ε-Umgebung enthält, gilt U 6⊆ [a, b) auch für jede andere
Umgebung U von a. Folglich ist [a, b) auch nicht offen.
Eine analoge Aussage gilt natürlich auch für das halboffene Intervall
(a, b].
4. Die Mengen {x | x < a} und {x | x > a} (Zahlenstrahlen ohne Anfangspunkt) sind für jedes reelle a offen.
13
Preliminary version – 3. Juli 2002
5. Die Mengen {x | x ≤ a} und {x | x ≥ a} (Zahlenstrahlen mit Anfangspunkt) sind für jedes reelle a abgeschlossen.
Für beliebige metrische Räume (R, d) sind die trivialen Teilmengen R und ∅
sowohl offen als auch abgeschlossen.
An den Beispielen erkennen wir, daß die Begriffe der abgeschlossenen und
offenen Menge keineswegs komplementär zueinander sind. Zum einen braucht
eine Menge weder offen noch abgeschlossen zu sein, zum anderen kann sie
aber auch beide Eigenschaften gleichzeitig aufweisen.
Satz 6 Eine Menge M ist genau dann offen, wenn es zu jedem x ∈ M eine
positive reelle Zahl ε mit Uε (x) ⊆ M gibt.
Beweis: Sei M offen und x ∈ M . Dann existiert eine Umgebung U von x
mit U ⊆ M . Zu jeder Umgebung U von x existiert aber ein ε > 0, so daß
Uε (x) ⊆ U ⊆ M und die Richtung (=⇒) ist bewiesen.
Bei Richtung (⇐=) folgt die Offenheit von M unmittelbar aus Definition 6
2
Folgerung 2 Für jeden Punkt x eines metrischen Raumes und jedes reelle
ε > 0 ist die ε-Umgebung Uε (x) eine offene Menge.
Beweis: Wir setzen M = Uε (x). Zu zeigen ist, daß zu jedem y ∈ M ein
δ > 0 mit Uδ (y) ⊆ M existiert. Für y = x kann man δ = ε wählen und die
geforderte Inklusion ist offensichtlich. Sei nun y ∈ M \ {x} beliebig. Wir
setzen δ := ε − d(x, y) und wegen d(x, y) < ε gilt δ > 0. Für beliebiges
z ∈ Uδ (y) gilt d(z, x) ≤ d(z, y) + d(y, x) < δ + (ε − δ) = ε, also z ∈ M .
Somit ist Uδ (y) ⊆ M gezeigt und Anwendung des obigen Satzes liefert die
Behauptung.
2
Satz 7 Sei M ⊆ Pow(R) eine Menge offener Teilmengen des metrischen
Raumes (R, d).
S
1. Dann ist M ebenfalls eine offene Menge.
T
2. Falls die Menge M endlich ist, so ist auch M eine offene Menge.
Beweis:
14
Preliminary version – 3. Juli 2002
S
Zu 1. Für jedes x ∈ M existiert ein M ∈ MSmit x ∈ M . Da M offen ist,
gibt es ein ε > 0, so daß Uε (x) ⊆ M ⊆ M und mit Satz 6 folgt die
Behauptung.
T
Zu 2. Sei nun x ∈ M, also x ∈ M für alle M ∈ M. Zu jeder Menge
M ∈ M existiert ein εM > 0, so daß UεM (x) ⊆ M . Da {εM | M ∈ M}
eine endliche Menge ist, besitzt sie ein Minimum ε und da alle Elemente
der Menge positiv sind ist ε positiv. Wegen
Uε (x) ⊆ UεM (x) für alle
T
M ∈ M ergibt sich schließlich Uε (x) ⊆ M und die Behauptung folgt
wiederum aus Satz 6.
2
Man beachte, die erste Aussage gilt für Mengensysteme M beliebiger Mächtigkeit, d.h. die Vereinigung unendlich und sogar überabzählbar vieler offener
Mengen ist wieder offen. Dagegen ist die Aussage über die Offenheit des
Durchschnitts offener Mengen auf endliche Durchschnitte beschränkt. In der
Tat braucht der Durchschnitt unendlich vieler offener Mengen nicht notwendigerweise wieder offen zu sein. SeienTbeispielsweise a und b feste reellen
Zahlen mit a < b. Der Durchschnitt c<a (c, b) aller offenen Intervalle deren obere Grenze b und deren untere Grenze kleiner als a ist, ist gleich dem
halboffenen Intervall [a, b). Dieses ist aber nicht offen, wie wir in Beispiel 3
gesehen haben. Im obigen Beweis wird das Problem dadurch deutlich, daß
{εM | M ∈ M} für unendliche Mengen zwar nach wie vor ein Infimum, aber
nicht mehr unbedingt ein Minimum besitzt. Obwohl alle Elemente der Menge positiv sind, kann das Infimum auch 0 sein und ist dann nicht als positives
ε zu gebrauchen.
Satz 8 Eine Menge M ⊆ R eines metrischen Raumes (R, d) ist genau dann
offen, wenn ihr Komplement M c = R \ M abgeschlossen ist.
Beweis: (⇒) Sei M offen. Wir betrachten einen beliebigen Häufungspunkt
x ∈ R von M c . Dann liegt in jeder ε-Umgebung Uε (x), ε > 0, wenigstens ein von x verschiedener Punkt von M c . Folglich gilt für jede dieser
ε-Umgebungen Uε (x) 6⊆ M und damit kann x nicht zu M gehören, da daß
der Bedingung der Offenheit widersprechen würde. Folglich gehört jeder
Häufungspunkt x von M c zur Menge M c und somit ist die Menge M c abgeschlossen.
15
Preliminary version – 3. Juli 2002
(⇐) Sei nun M c abgeschlossen. Wir betrachten ein beliebiges x ∈ M . Angenommen, jede ε-Umgebung Uε (x), ε > 0, würde ein Element von M c enthalten, dann wäre x ein außerhalb von M c befindlicher Häufungspunkt der
Menge M c . Das widerspräche der Abgeschlossenheit von M c . Also muß
Uε (x) für wenigstens ein ε > 0 kein Element von M c enthalten, d.h. ganz in
M liegen. Damit ist M nach Satz 6 offen.
2.
Geht man nun in Satz 7 jeweils zu den Komplementen der Mengen M ∈ M
über, so ergibt sich aus dem obigen Satz sofort die Gültigkeit von
Satz 9 Sei M ⊆ Pow(R) eine Menge abgeschlossener Teilmengen des metrischen Raumes (R, d).
T
1. Dann ist M ebenfalls eine abgeschlossene Menge.
S
2. Für endliche Mengensysteme M ist auch M abgeschlossen.
Beweis: Das Mengensystem M∗ := {M cS| M ∈ M} besteht nach dem obigen
Satz nur aus offenen Mengen. AlsoSist M∗ ebenfalls offen und nach dem
obigen Satz ist ihr Komplement ( M∗ )c abgeschlossen. Anwendung der
DeMorganschen Regel liefert
!c
[
c
\
\
[
∗
c
(M c )c =
M.
M
=
M
=
M ∈M
M ∈M
Analog zeigt man die zweite Behauptung
2
Definition 7 Sei M eine Punktmenge des metrischen Raumes (R, d). Die
Menge M 0 aller Häufungspunkte von M nennt man die Ableitung von M .
Die Menge M = M ∪ M 0 heißt abgeschlossene Hülle2 von M .
Bemerkung 3 Da für jede abgeschlossene Menge M die Inklusion M 0 ⊆ M
gilt, ergibt sich für abgeschlossene Mengen M die Gleichheit M = M .
Bemerkung 4 Für beliebige Teilmengen M und N eines metrischen Raumes mit der Eigenschaft M ⊆ N gelten M 0 ⊆ N 0 und M ⊆ N .
Beweis: Übungsaufgabe 3
2
2
zuweilen werden wir die abgeschlossene Hülle auch kurz Abschluß nennen
16
Preliminary version – 3. Juli 2002
Satz 10 Die abgeschlossene Hülle M von M ist die kleinste abgeschlossene
Menge von R die M enthält.
Beweis: Zunächst zeigen wir, daß M eine abgeschlossene Menge ist. Sei x
ein Häufungspunkt von M . Dann existiert zu jeder reellen Zahl δ > 0 ein
Punkt yδ ∈ Uδ (x) ∩ M \ {x}. Aufgrund der Definition von M muß jedes yδ
zu wenigstens einer der beiden Mengen M oder M 0 gehören. Falls ein ε > 0
exisitiert, so daß yδ ∈ M für alle δ < ε, dann ist x Häufungspunkt von M
und gehört somit zu M 0 , also erst recht zu M .
Existiert dagegen zu jedem ε > 0 ein δ < ε mit yδ ∈ M 0 , so folgt wegen
Uδ (x) ⊆ Uε (x), daß (Uε (x) ∩ M 0 ) \ {x} für kein positives ε leer ist, also ist x
ein Häufungspunkt von M 0 . Nach Satz 5 gehört x zu M 0 , also erst recht zu
M.
Der zweite Teil der Aussage, daß es sich bei M um die kleinste, M umfaßende
abgeschlossene Menge handelt, ist trivial. Würde man aus M einen Punkt
von M weglassen, so ist die Enthaltenseinsbedingung verletzt. Läßt man
dagegen einen Punkt aus M 0 weg, so gibt es einen nicht zur Menge gehörigen
Häufungspunkt von M , was der Abgeschlossenheit widerspricht. Also muß
jede M umfaßende abgeschlossene Teilmenge von R wenigstens die Punkte
von M enthalten.
2
Bemerkung 5 Die Menge der reellen Zahlen ist eine abgeschlossene Teilmenge der komplexen Zahlen.
Beweis: Übungsaufgabe 4
2
Übungsaufgaben, Serie 1
1. Ist die Menge M = { n1 + m1 | n, m ∈ N \ {0}} im metrischen Raum
der reellen Zahlen nach oben oder unten beschränkt? Geben Sie gegebenfalls die obere beziehungsweise untere Grenze an. Handelt es sich
dabei sogar um Minimum oder Maximum?
2. Bestimmen Sie die Häufungspunkte der Menge M aus Aufgabe 1!
3. Sei (R, d) ein metrischer Raum und M, N ⊆ R zwei Punktmengen mit
der Eigenschaft M ⊆ N . Zeigen Sie, daß dann für die Ableitungen
und abgeschlossen Hüllen von M und N die Inklusionen M 0 ⊆ N 0
beziehungsweise M ⊆ N gelten. (vgl. Bemerkung 4 aus der Vorlesung)
17
Preliminary version – 3. Juli 2002
2.2.3
Innere Punkte, Äußere Punkte, Randpunkte
Man unterscheidet drei Arten der Lage eines Punktes des metrischen Raumes
(R, d) in Bezug auf eine Teilmenge M ⊆ R.
Definition 8 Sei M eine Punktmenge des metrischen Raumes (R, d). Ein
Punkt x ∈ R heißt
1. innerer Punkt von M , falls es eine Umgebung U von x mit U ⊆ M
gibt,
2. äußerer Punkt von M , falls eine zu M disjunkte Umgebung U von x
existiert, d.h. U ∩ M = ∅ oder äquivalent dazu U ⊆ M c .
3. Randpunkt von M , falls jede Umgebung U von x sowohl Punkte der
Menge M als auch des Komplements M c enthält.
Man überzeugt sich leicht davon, daß für jeden Punkt x ∈ R genau eine der
drei Lagebeziehungen bezüglich M zutrifft, d.h. jeder Punkt von R ist entweder innerer, äußerer oder Randpunkt von M . Ein zu M gehöriger Punkt x
ist niemals äußerer Punkt von M , denn jede seiner Umgebungen enthält wenigstens x und ist damit nicht disjunkt zu M . Analoge Überlegungen zeigen,
daß nicht zu M gehörige Punkte niemals innere Punkte von M sein können.
Dagegen können sowohl M als auch das Komplement M c Randpunkte von
M enthalten.
Satz 11 Sei M eine Punktmenge des metrischen Raumes (R, d).
1. M ist genau dann offen, wenn jeder Punkt von M innerer Punkt von
M ist,
2. M ist genau dann offen, wenn keiner der Randpunkte von M in M
liegt,
3. M ist genau dann abgeschlossen, wenn jeder Randpunkt von M zu M
gehört,
4. ein Punkt x ∈
/ M ist genau dann Häufungspunkt von M , wenn er
Randpunkt von M ist.
Beweis:
18
Preliminary version – 3. Juli 2002
Zu 1. Ist M offen, so gehört mit x stets eine ganze Umgebung Uε (x), ε > 0,
zu M . Daher folgt aus x ∈ M , daß x innerer Punkt von M ist.
Ist umgekehrt jeder Punkt x ∈ M ein innerer Punkt von M , so gibt es
eine Umgebung U von x mit U ⊆ M und folglich ist M offen.
Zu 2. Im Vorfeld hatten wir festgestellt, daß alle zu M gehörigen Punkte
entweder innerer Punkt oder Randpunkt sind. Also ist genau dann
jeder Punkt von M innerer Punkt, wenn keine Randpunkte von M zur
Menge M gehören. Damit folgt die Behauptung aus 1.
Zu 3. Ist M abgeschlossen, so gehört jeder Häufungspunkt von M bereits zu
M . Also existiert zu jedem x ∈
/ M eine Umgebung U , welche keine
Punkte von M enthält. Damit sind alle nicht zu M gehörigen Punkte äußere Punkte, weshalb sämtliche Randpunkte von M nur zu M
gehören können.
Gehört umgekehrt jeder Randpunkt von M zu M , so muß jeder Punkt
x ∈ M c äußerer Punkt von M sein. Folglich existiert eine ganz zu
M c gehörige Umgebung U von x und wegen U ∩ M = ∅ kann x kein
Häufungspunkt von M sein.
Zu 4. Wir betrachten einen Punkt x ∈
/ M.
Sei x Häufungspunkt von M . Dann enthält jede Umgebung U von x
einen Punkt aus M . Andererseits enthält sie aber auch stets den nicht
zu M gehörigen Punkt x. Damit erfüllt x die Anforderungen eines
Randpunktes.
Sei x nun Randpunkt von M . Jede Umgebung U von x muß also
wenigstens einen Punkt von M enthalten. Aufgrund der Voraussetzung
x ∈
/ M kann es sich dabei nicht um x selbst handeln. Also ist x
Häufungspunkt von M .
2
2.3
Der Satz von Bolzano-Weierstraß
Unter einer Zahl wollen wir stets eine komplexe Zahl verstehen. Zahlenmengen sind also stets Teilmengen der komplexen Zahlen. Wir nennen eine
Zahlenmenge M beschränkt, wenn die Menge {|x| : x ∈ M } der Beträge
19
Preliminary version – 3. Juli 2002
der Elemente von M im Sinne von Definition 1 nach oben beschränkt ist.
Mit anderen Worten, M ist genau dann beschränkt, wenn eine positive reelle
Zahl c mit ∀x ∈ M : 0 ≤ |x| ≤ c existiert. Insbesondere ist eine Menge reeller Zahlen genau dann beschränkt, wenn sie im Sinne von Definition 1 nach
oben und nach unten beschränkt ist. Aus Sicht des metrischen Raumes der
komplexen Zahlen mit der gewöhnlichen Abstandsmetrik ist |x| genau der
Abstand d(x, 0) des Punktes x vom Nullpunkt. In diesem Sinne läßt sich der
Beschränktheitsbegriff mittels der Bedingung, daß {d(x, 0) : x ∈ M } nach
oben beschränkt sein soll, auf Teilmengen beliebiger metrischer Vektorräume
ausdehnen.
Satz 12 (Bolzano-Weierstraß) Jede beschränkte unendliche Zahlenmenge M besitzt einen Häufungspunkt.
Beweis: Sei M eine beschränkte unendliche Menge komplexer Zahlen und
c ∈ R so, daß |m| ≤ c für alle m ∈ M . Dann liegen alle Punkte von M in
dem Quadrat [−c, c] × [−c, c] der komplexen Zahlenebene, zur Veranschaulichung dieses hat die Eckpunkte a + ib, a, b ∈ {−c, c}. Wir bezeichnen dieses
Quadrat mit Q1 . Durch Vierteln unterteilen wir Q1 in vier Teilquadrate
[−c, 0] × [−c, 0], [−c, 0] × [0, c], [0, c] × [−c, 0] und [0, c] × [0, c]. Da Q1 unendliche viele (nämlich alle) Zahlen von M enthält, muß wenigstens eines
der vier Teilquadrate ebenfalls unendlich viele Zahlen von M enthalten. Ein
solches wählen wir als Q2 . Dann unterteilen wir Q2 in vier gleich große Teilquadrate und wählen eines welches unendlich viele Zahlen von M enthält
als Q3 . Auf diese Weise fahren wir fort und konstruieren so eine unendliche
Folge (Qi )i=1,2,... von Quadraten. Nach Konstruktion gilt Qi+1 ⊂ Qi für alle
i = 1, 2, . . . . Außerdem wird die Kantenlänge des Quadrates in jedem Schritt
halbiert, also gibt es zu jeder positiven reellen Zahl ε > 0 eine natürliche Zahl
k, so daß die Kantenlänge von Qk kleiner als ε ist. Folglich ist (Qi )i=1,2,...
eine Quadratschachtelung und nach Satz 3 existiert eine (eindeutig bestimmte) komplexe Zahl z, welche Element des Durchschnittes aller Quadrate der
Quadratschachtelung ist. Zu jedem ε > 0 gibt es ein Quadrat Qi , welches
ganz in Uε (z) liegt. In Qi und damit auch in Uε (z) liegen unendlich viele
Punkte von M , also ist z Häufungspunkt von M .
Sind alle Elemente von M reelle Zahlen, so kann man sogar auf die Existenz
eines reellen Häufungspunktes schließen. Nach dem oben gezeigten existiert
zunächst ein komplexer Häufungspunkt von M . Gemäß Bemerkung 5 sind
aber sämtliche Häufungspunkte einer Menge reeller Zahlen ebenfalls reell. 2
20
Preliminary version – 3. Juli 2002
Man beachte, daß der Satz von Bolzano-Weierstraß nicht auf beliebige metrische Räume übertragen werden kann. Wichtig ist die zusätzliche Gültigkeit
einer Abgeschlossenheitsbedingung, welche sich im Beispiel der reellen und
komplexen Zahlen in den Sätzen 2 beziehungsweise 3 widerspiegelt.
21
Preliminary version – 3. Juli 2002
Kapitel 3
Folgen und Reihen
3.1
Grenzwert einer Zahlenfolge
Definition 9 Unter einer (komplexen) Zahlenfolge versteht man eine eindeutige Abbildung F : N → R (f : N → C) der natürlichen in die reellen
(komplexen) Zahlen. Der Funktionswert ai = F (i) wird i-tes Glied der Folge
genannt. Wir vereinbaren die Schreibweisen1 (ai )i≥1 oder noch kürzer (ai )
für die Zahlenfolge F mit den Gliedern a1 = F (1), a2 = F (2), . . . .2
Eine Zahl a heißt Grenzwert der Zahlenfolge F = (ai )i≥1 , falls zu jeder
positiven, reellen Zahl ε eine natürliche Zahl n0 existiert, so daß für alle
natürlichen Zahlen n ≥ n0 die Ungleichung |a − an | < ε erfüllt ist.
Falls a Grenzwert der Folge F = (ai )i≥1 ist, so sagt man die Folge konvergiert
gegen a und schreibt dafür limi→∞ ai = a. Um die bloße Existenz eines
Grenzwertes hervorzuheben, sagt man auch einfach die Folge F konvergiert
oder F ist konvergent.
Besitzt eine Folge F keinen Grenzwert, so sagt man F divergiert oder F ist
divergent.
Beispiele für Zahlenfolgen und Grenzwerte:
1
In der Literatur finden Sie zuweilen die Schreibweise {ai } für Zahlenfolgen. Da die
Folgenglieder a1 , a2 , . . . jedoch einer Reihenfolge unterliegen, haben wir uns hier in Anlehnung an die geordneten Tupel für die Verwendung runder Klammern entschieden, um
nicht den Eindruck einer ungeordneten Menge zu erwecken.
2
Der Einfachheit halber, werden wir manchmal auch nur die natürlichen Zahlen ab
einer Zahl k als Definitionsbereich einer Zahlenfolge wählen, diese schreiben wir dann in
der Form (ai )i≥k .
22
Preliminary version – 3. Juli 2002
1. Die einfachste Zahlenfolge ist vielleicht F = (ai )i≥1 mit ai = i für alle
natürlichen Zahlen i. Diese Zahlenfolge ist divergent, denn zu jeder
reellen Zahl a ∈ R und jeder positiven reellen Zahl ε existiert eine
natürliche Zahl n0 mit a + ε < n0 .
2. Sei c eine beliebige feste komplexe Zahl und F = (ai )i≥0 die konstante
Folge mit ai = c für alle natürlichen Zahlen i. Dann gilt offensichtlich
limi→∞ ai = c, da sogar alle Funktionswerte der Folge F in jeder εUmgebung von c liegen.
3. Wir betrachten die Zahlenfolge F = (ai )i≥1 definiert durch ai := 1i . Es
gilt limi→∞ ai = 0.
4. Die Folge F = (ai )i≥1 mit ai = (−1)i + 1i besitzt keinen Grenzwert, ist
also divergent. Zwar gibt es zu jedem ε > 0 eine natürliche Zahl n, so
daß |1 − an | < ε und ebenso eine natürliche Zahl m mit | − 1 − am | =
|1 + am | < ε. Für alle reellen Zahlen 0 < ε < 1 gilt aber auch die
Implikation ∀n : |1 − an | < ε =⇒ |1 − an+1 | > ε. Damit kann 1 nicht
Grenzwert sein. Analog schließt man −1 als Grenzwert aus.
An der Beispielliste erkennt man, daß die Existenz eines Grenzwertes einer
Zahlenfolge keinesfalls selbstverständlich ist. So ist eine Zahlenfolge F =
(ai ) mit unbeschränktem Bildbereich BildF = {ai : i = 1, 2, . . . } stets
divergent. Der Beweis verläuft analog zum ersten Beispiel. Angenommen, a
wäre Grenzwert. Dann gäbe es zu ε > 0 ein n0 mit |a−an | < ε für alle n ≥ n0 .
Sei nun c das Maximum der endlichen Menge {|a1 |, |a2 |, . . . , |an−1 |} ∪ {|a|}.
Aufgrund der Unbeschränktheit von BildF existiert eine natürliche Zahl m
mit |am | > c + ε ≥ |a| + ε. Folglich |am − a| ≥ |am | − |a| > ε im Widerspruch
zur aus der Konstruktion folgenden Relation m ≥ n0 . Wir halten das eben
bewiesene in einem Satz fest:
Satz 13 Jede konvergente Zahlenfolge ist beschränkt, d.h. ihr Bildbereich ist
eine beschränkte Teilmenge von C.
Die Umkehrung des Satzes ist jedoch falsch, wie das vierte Beispiel zeigt.
Im Falle reeller Zahlenfolgen mit unbeschränktem Bildbereich zeichnet man
noch zwei spezielle divergente Situationen aus:
Definition 10 F = (ai )i≥1 sei eine Folge reeller Zahlen. Man nennt F
bestimmt divergent gegen +∞, falls es zu jeder reellen Zahl K einen Index
n0 gibt, so daß K < an für alle n ≥ n0 . Man schreibt dafür limi→∞ ai = +∞.
23
Preliminary version – 3. Juli 2002
Gibt es zu jeder reellen Zahl K einen Index n0 mit K > an für alle n ≥
n0 so sagt man, F ist bestimmt divergent gegen −∞ und schreibt dafür
limi→∞ ai = −∞.
Eine Übertragung des Begriffes der bestimmten Divergenz auf die komplexen
Zahlen ist nicht üblich. Da auf den komplexen Zahlen keine Ordnungsrelation erklärt ist, könnte man sich nur mit einer Forderung der folgenden Art
behelfen. Zu jeder reellen Zahl K existiert ein n0 mit |an | > K für alle
n ≥ n0 . Damit wird ausgesagt, daß die Folgenwerte in der komplexen Ebene
immer weiter nach außen wandern, ohne allerdings eine Aussage über die
Richtung des Entfernens treffen zu können.
Der folgende Satz wird zum einen aufhellen, wann eine Zahlenfolge einen
Grenzwert besitzt und zum anderen die Einführung der Schreibweise a =
limi→∞ ai nachträglich rechtfertigen.3
Satz 14 Eine Zahlenfolge F = (ai )i≥1 besitzt höchstens einen Grenzwert.
Beweis: Angenommen, a und b wären zwei verschiedene Grenzwerte von
F . Zu ε := |a−b|
muß es dann natürliche Zahlen n0 und m0 geben, so daß
2
|a − an | < ε für alle n ≥ n0 und |b − am | < ε für alle m ≥ m0 gelten.
Für n ≥ max(n0 , m0 ) müßten sogar beide Abschätzungen |a − an | < ε und
|b − an | < ε zutreffen. Das führt aber auf den Widerspruch
|a − b| ≤ |a − an | + |an − b| < ε + ε = |a − b|
und folglich war die Annahme der Existenz zweier Grenzwerte falsch.
2
Satz 15 Der Bildbereich BildF einer konvergenten Zahlenfolge F = (ai )i≥1
besitzt höchstens einen Häufungspunkt, dieser ist in diesem Falle der Grenzwert limn→∞ ai der Folge.
Beweis: Sei a = limn→∞ ai der Grenzwert der Folge und b ein Häufungspunkt
von BildF . Zum einen liegen aufgrund der Grenzwerteigenschaft von a für
genügend großes n0 alle Folgenglieder an , n ≥ n0 , in der Umgebung U |a−b| (a).
2
Demnach können höchstens die endlich vielen Glieder a0 , . . . , an−1 der Umgebung U |a−b| (b) angehören, im Widerspruch zur Häufungspunkteigenschaft
2
von b und Satz 4.
3
Hätte F mehr als einen Grenzwert, so wäre die Einführung eines einzigen Symbols
limi→∞ ai , welches für jeden davon stehen soll, keine gute Vorgehensweise.
24
Preliminary version – 3. Juli 2002
Damit ist gezeigt, wenn der Bildbereich BildF einer konvergenten Zahlenfolge
überhaupt einen Häufungspunkt besitzt, so kann es sich dabei nur um den
Grenzwert der Folge handeln.
2
Beispiel 2 unserer obigen Liste zeigt aber auch, daß der Bildbereich einer
konvergenten Folge auch durchaus keinen Häufungspunkt zu haben braucht.
Das ist genau dann der Fall, wenn für alle i ≥ n0 ab einem bestimmten Index
n0 die Gleichheit ai = ai+1 gilt. Man sagt in diesem Fall auch, die Folge
wird stationär. Ebenso sichert die Beschränktheit des Bildbereiches und
die Existenz eines eindeutig bestimmten Häufungspunktes des Bildbereiches
noch nicht die Konvergenz
einer Zahlenfolge. Beispielsweise ist die Folge (ai )
1 : i gerade
mit den Gliedern ai =
von dieser Bauart und trotzdem
1
: i ungerade
i
divergent. Wenigstens gilt aber
Satz 16 Ist F = (ai )i≥1 eine Zahlenfolge mit paarweise verschiedenen Gliedern, so konvergiert F genau dann gegen x, wenn BildF beschränkt ist und
x einziger Häufungspunkt von BildF ist.
Beweis: (=⇒) Es gelte limi→∞ ai = x. Nach Satz 13 ist BildF beschränkt.
Da alle Glieder ai paarweise verschieden sind, ist BildF eine unendliche beschränkte Menge und besitzt nach dem Satz von Bolzano-Weierstraß (Satz
12) einen Häufungspunkt. Gemäß Satz 15 muß es sich dabei um x handeln.
(⇐=) Sei nun BildF beschränkt und x sein einziger Häufungspunkt. Angenommen x ist nicht Grenzwert von F , dann gibt es eine positive reelle Zahl
ε, so daß zu jeder vorgegebenen natürlichen Zahl n0 eine weitere natürliche Zahl m0 ≥ n0 mit |am0 − x| > ε existiert. Folglich enthält die Menge
BildF \ Uε (x) unendlich viele Glieder der Folge. Da diese Glieder paarweise
verschieden sind, ist BildF \ Uε (x) eine unendliche beschränkte Menge und
besitzt nach dem Satz von Bolzano-Weierstraß einen Häufungspunkt. Dieser
ist natürlich erst recht Häufungspunkt von BildF . Andererseits kann es sich
aber nicht um x handeln, da in der Umgebung Uε (x) kein einziger Punkt der
Menge BildF \ Uε (x) liegt. Das steht im Widerspruch zur Voraussetzung,
daß x einziger Häufungspunkt von BildF ist und folglich gilt limi→∞ ai = x.
2
Ohne Beweis halten wir den folgenden einfachen Sachverhalt fest
25
Preliminary version – 3. Juli 2002
Satz 17 Sei F = (aj )j≥1 eine komplexe Zahlenfolge mit aj = xj + iyj für
j = 1, 2, . . . . Dann gilt
lim aj = x + iy ⇐⇒ lim xj = x und lim yj = y .
j→∞
j→∞
j→∞
Übungsaufgaben, Serie 3
7. Zeigen Sie, daß die Menge der reellen Zahlen eine abgeschlossene Teilmenge der komplexen Zahlen ist. (vgl. Bemerkung 5 aus der Vorlesung)
8. Was sind die Randpunkte der Menge Q der rationalen Zahlen im metrischen Raum R der reellen Zahlen?
9. M sei eine Teilmenge der reellen Zahlen und x ein Häufungspunkt
von M . Zeigen Sie, daß dann eine gegen x konvergierende Zahlenfolge
F = (ai )i≥1 von x verschiedener Elemente aus M , d.h. limi→∞ ai = x
und BildF ⊆ M \ {x}, existiert.
3.2
Grenzwerte spezieller Zahlenfolgen
Anhand einiger Beispiele wollen wir studieren, wie man die Konvergenz einiger wichtiger Zahlenfolgen nachweisen kann.
3.2.1
F = (an )n≥1
a sei eine komplexe Zahl, wir fragen nach dem Grenzwert der Potenzen dieser
Zahl. Im Falle |a| > 1 ist BildF eine unbeschränkte Menge und die Folge
F = (an )n≥1 ist nach Satz 13 divergent.
Im Fall |a| = 1 läßt sich keine allgemeine Aussage treffen. Beispielsweise
besitzt die konstante Folge mit ai = 1 für alle i ≥ 1 den Grenzwert 1. Die
alternierende Folge der Glieder ai = (−1)i für alle i ≥ 1 ist dagegen divergent.
Es bleibt die Betrachtung von |a| < 1. Wir wollen zeigen, daß in diesem Fall
stets die Beziehung
lim an = 0
n→∞
(|a| < 1)
(3.1)
gilt. Im Fall der konstanten Folge mit a = 0 ist die Behauptung offensichtlich
richtig. Wir nehmen also an, 0 < |a| < 1. Sei ε > 0 beliebig. Die Frage ist,
26
Preliminary version – 3. Juli 2002
ob es ein n0 mit |an − 0| < ε für alle n ≥ n0 gibt. Wir setzen p := 1−|a|
.
|a|
1
Diese Zahl ist positiv und Auflösen nach |a| zeigt |a| = 1+p . Mit Hilfe des
binomischen Lehrsatzes weist man leicht für
Zahlen n ≥ 1
Palle natürlichen
die Gültigkeit der Ungleichung (1 + p)n = ni=0 ni pi > np > 0 nach. Wir
berechnen
|an − 0| = |an | = |a|n =
1
1
<
für alle n ≥ 1
n
(1 + p)
np
Bei beliebig vorgegebenem ε > 0 gilt folglich für alle natürlichen Zahlen
1
n ≥ n0 := d pε
e die Beziehung
|an − 0| < ε ,
also ist 0 Grenzwert von (an )n≥1 .
3.2.2
F = (nan )n≥1
a sei wieder eine komplexe Zahl. Für |a| ≥ 1 ist die Menge der Glieder der
Folge sicher unbeschränkt und die Folge divergiert.
Für |a| < 1 werden wir jetzt die Gültigkeit von
lim nan = 0
n→∞
(|a| < 1)
(3.2)
nachweisen. Für a = 0 ist die Aussage offensichtlich, da dann alle Folgenglieder 0 sind. Betrachten wir also den Fall 0 < |a| < 1. Wir gehen ähnlich
. Wir verwenden nun eine andere ebenwie oben vor. p sei wieder gleich 1−|a|
|a|
falls aus dem binomischen Lehrsatz folgende und für alle natürlichen Zahlen
n ≥ 2 gültige Abschätzung von (1 + p)n , nämlich (1 + p)n > n(n−1)
p2 > 0.
2
Dann schätzen wir ab
|nan − 0| = |nan | = n|a|n =
n
2
<
für alle n ≥ 2
(1 + p)n
(n − 1)p2
Bei beliebig vorgegebenem ε > 0 gilt folglich für alle natürlichen Zahlen
n ≥ n0 := 1 + max{2, d p22 ε e} die Beziehung
|nan − 0| < ε ,
also ist 0 Grenzwert von (nan )n≥1 .
27
Preliminary version – 3. Juli 2002
3.2.3
√
F = ( n a)n≥1
Für jede positive reelle Zahl a gilt
√
lim n a = 1
(a > 0, reell)
n→∞
(3.3)
Wir beginnen mit der Untersuchung des Falles a > 1. Aus dem binomischen
Lehrsatz schließen wir auf die Ungleichung
n
n
√
√
√
a = n a + 1 − 1 = 1 + ( n a − 1) > 1 + n( n a − 1) > 0
für alle n ≥ 2. Daraus folgt
√
√
a−1
a
| n a − 1| = n a − 1 <
<
n
n
Zu beliebig vorgegebenem ε > 0 ergibt sich
√
| n a − 1| < ε
für alle n ≥ n0 := d aε e und der eingangs behauptete Grenzwert von 1 ist
gezeigt.
Für a = 1 ist die Gültigkeit von (3.3) trivial und es bleibt noch die Betrachtung des Falles 0 < a < 1. Aus dem oben gezeigten ergibt sich
r
1
n 1
lim √
= lim
=1.
n
n→∞
a n→∞ a
Später werden wir die Gültigkeit von
1
1
√
=
lim √
n
n→∞
a
limn→∞ n a
nachweisen und damit ist dann die Gültigkeit der Gleichung (3.3) auch für
den letzten bisher noch offenen Fall gezeigt.
3.3
Monotone Zahlenfolgen
Definition 11 Eine Zahlenfolge F = (ai )i≥1 mit reellen Gliedern heißt
1. monoton wachsend falls für alle i = 1, 2, . . . die Ungleichung ai+1 ≥ ai
gilt,
28
Preliminary version – 3. Juli 2002
2. streng monoton wachsend falls für alle i = 1, 2, . . . die schärfere Bedingung ai+1 > ai erfüllt ist,
3. monoton fallend falls ai+1 ≤ ai für alle i = 1, 2, . . . und
4. streng monoton fallend falls ai+1 < ai für alle i = 1, 2, . . . .
Satz 18 Eine monotone Zahlenfolge ist genau dann konvergent, wenn sie
beschränkt ist.
Beweis: (=⇒) Die Notwendigkeit der Beschränktheit ergibt sich aus Satz 13.
(⇐=) Wir betrachten nun eine monoton wachsende Folge F = (ai )i≥1 . Aufgrund der Beschränktheit des Bildbereichs von F besitzt dieser eine obere
Grenze a := sup BildF . Sei nun ε > 0 beliebig. Dann folgt aus der Definition
der oberen Grenze, daß wenigstens ein Glied, sagen wir das n0 -te Glied an0 ,
der Folge größer als a − ε sein muß. Unter Ausnutzung der Monotonie folgt
weiter
a − ε < an0 ≤ an ≤ a
für alle n ≥ n0 . Damit erhalten wir 0 ≤ a − an = |a − an | < ε für alle n ≥ n0 ,
also konvergiert F gegen a.
Für monoton fallende Folgen verläuft der Beweis sinngemäß ab.
2
Folgerung 3 Sei ([an , bn ])n≥1 eine reelle Intervallschachtelung. Dann existieren die Grenzwerte limn→∞ an und limn→∞ bn und beide stimmen mit der
Schnittzahl der Intervallschachtelung überein.
Beispiel 1: Die Folge (1 + n1 )n n≥1 ist streng monoton wachsend. Alle Glieder der Folge sind positiv. Wir untersuchen den Quotienten an+1
zweier
an
beliebiger aufeinanderfolgender Glieder, genau dann wenn dieser für alle
n = 1, 2, . . . größer als 1 ist, dann ist die obige Folge streng monoton wachsend. Es gilt
!n+1 !n+1 1
1
1 + n+1
1 + n+1
n+1
1
an+1
(3.4)
=
=
1+
n
n
an
1 + n1
1 + n1
Durch äquivalentes Umformen erhalten wir
!n+1
n+1 n+1
1
1 + n+1
(n + 2)/(n + 1)
(n + 2)n
=
=
(n + 1)/n
(n + 1)2
1 + n1
n+1
1
=
1−
(n + 1)2
29
Preliminary version – 3. Juli 2002
(3.5)
An dieser Stelle verwenden wir ohne Beweis die sogenannte Bernoullische
Ungleichung
(1 + a)m > 1 + ma ,
(3.6)
welche für alle von Null verschiedenen reellen Zahlen a > −1 und alle natürli1
chen Zahlen m ≥ 2 zutrifft. Für a = − (n+1)
2 und m = n + 1 ergibt sich
1
1−
(n + 1)2
n+1
> 1 − (n + 1)
1
1
n
=1−
=
2
(n + 1)
n+1
n+1
Einsetzen in Gleichung (3.4) führt auf
an+1
n
n+1
>
=1
an
n+1
n
(3.7)
und die strenge Monotonie der Folge ist nachgewiesen.
Beispiel 2: Die Folge (1 + n1 )n+1 n≥1 ist streng monoton fallend. Der Beweisgedanke ist ähnlich. Ziel ist es diesmal nachzuweisen, daß der Quotient
an
für alle n = 1, 2, . . . größer als 1 ist.
an+1
1 + n1
1
1 + n+1
an
=
an+1
!n+1
(n + 1)2
n(n + 2)
1
1
1 + n+1
n+1
1
1
1 + n+1
n+1
1
1
=
1+
1
n(n + 2)
1 + n+1
=
(3.8)
Aus der Bernoullischen Ungleichung (3.6) folgt
n+1
1
n+1
n+1
1
1+
>1+
=1+
>1+
2
n(n + 2)
n(n + 2)
(n + 1) − 1
n+1
und Einsetzen in (3.8) zeigt
an
>1
an+1
für alle n ≥ 1, also fällt die Folge streng monoton.
30
Preliminary version – 3. Juli 2002
Wir bezeichnen die Glieder der Folge aus Beispiel 1 mit
n
1
an = 1 +
n
und die Glieder der Folge aus Beispiel 1 mit
n+1
1
bn = 1 +
n
Wegen 1 + n1 > 1 gilt an < an (1 + n1 ) = bn für alle natürlichen Zahlen n ≥ 1.
Daher ist ([an , bn ])n≥1 eine Folge ineinandergeschachtelter abgeschlossener
reeller Intervalle. Insbesondere gilt für alle natürlichen Zahlen n > 1 die
Beziehung 2 = a1 < an < bn < b1 = 4. Sei ε eine beliebige positive reelle
Zahl. Dann gilt für jede natürliche Zahl n > 4ε die Abschätzung
b n − an =
an
4
< <ε,
n
n
also handelt es sich sogar um eine Intervallschachtelung.
Die Schnittzahl der Intervallschachtelung ([an , bn ])n≥1 wird Eulersche Zahl
genannt und mit e bezeichnet. Sie ist irrational, ihre ersten Stellen sind
e = 2, 71828 . . . .
3.4
Konvergenzkriterien für Zahlenfolgen
Wir wollen uns nun mit einigen Methoden beschäftigen, die es erlauben festzustellen, ob eine gegebene Zahlenfolge konvergiert oder divergiert.
Zunächst halten wir einen einfachen Sachverhalt für Teilfolgen einer Folge
fest. Dabei nennen wir G = (bj )j≥1 eine Teilfolge von F = (ai )i≥1 wenn G aus
F durch Auslassen von Gliedern entsteht, d.h. es gibt eine aufsteigende Folge
natürlicher Zahlen 1 ≤ i1 < i2 < . . . , so daß bj = aij für alle j = 1, 2, . . . .
Satz 19 Eine Folge F = (ai )i≥1 konvergiert genau dann gegen die Zahl x,
wenn jede Teilfolge G = (bj )j≥1 von F gegen x konvergiert.
Weiterhin gilt für jede Folge F = (ai )i≥1 und jede natürliche Zahl k ≥ 1,
daß die Teilfolge (ai )i≥k genau dann gegen x konvergiert, wenn F gegen x
konvergiert.
31
Preliminary version – 3. Juli 2002
Beweis: Die Rückrichtung ist klar, da F eine Teilfolge von sich selbst ist.
Gelte also limi→∞ ai = x und sei G = (bj )j≥1 eine beliebige Teilfolge von F .
Dann gibt es zu jedem ε > 0 ein n0 , so daß |x − an | < ε für alle n ≥ n0 .
Zu jedem Glied der Teilfolge G gibt es eine natürliche Zahl k mit bj = aj+k .
Damit ergibt sich |x − bn | = |x − an+k | < ε für alle n ≥ n0 . Also gilt für die
Teilfolge limj→∞ bj = x.
Im zweiten Teil des Satzes wird eine spezielle Teilfolge (bj )j≥1 betrachtet, die
durch Weglassen endlich vieler Anfangsglieder der Folge F entsteht, präziser
gilt bj = ak+j−1 für j = 1, 2, . . . . Aus dem bisher gezeigten folgt bereits,
daß diese im Falle der Konvergenz von F den gleichen Grenzwert wie F
besitzt. Setzen wir nun umgekehrt voraus, daß die Teilfolge (bj )j≥1 gegen
x konvergiert. Dann existiert zu beliebigem ε > 0 eine natürliche Zahl m0
so, daß |x − bm | < ε für alle m ≥ m0 . Wahl von n0 := m0 + k − 1 liefert
|x − an | < ε für alle n ≥ n0 und bestätigt limi→∞ ai = x.
2
Bisher besteht ein wesentliches Problem der Untersuchung einer Zahlenfolge
(ai ) auf Konvergenz darin, daß man eine Vermutung über ihren Grenzwert a
benötigt, um die Größe |a − ai | untersuchen zu können. Dieses Problem läßt
sich mit Hilfe des Cauchyschen Konvergenzkriteriums umgehen.
Satz 20 (Cauchysches Konvergenzkriterium) Die Zahlenfolge F = (ai )i≥1
konvergiert genau dann, wenn zu jeder positiven reellen Zahl ε eine natürliche Zahl n0 existiert, so daß für alle n ≥ n0 und m ≥ n0 die Beziehung
|an − am | < ε gilt.
Beweis: (=⇒) F = (ai )i≥1 konvergiere gegen den Grenzwert a. Dann existiert
zu jeder positiven reellen Zahl ε eine natürliche Zahl n0 , so daß Beziehung
|a − an | < 2ε für alle n ≥ n0 . Seien nun n und m größer oder gleich n0 , dann
haben wir
ε
ε
|a − an | < , |a − am | < .
2
2
Anwendung der Dreiecksungleichung und Verwendung dieser beider Ungleichungen liefert
ε ε
|an − am | ≤ |an − a| + |a − am | < + = ε ,
2 2
also erfüllt F das Cauchy-Kriterium.
(⇐=) Nehmen wir nun umgekehrt an, daß das Cauchy-Kriterium erfüllt ist.
Wir beschränken unsere Betrachtung auf Folgen mit reellen Gliedern, für
komplexe Folgen verläuft der Beweis analog.
32
Preliminary version – 3. Juli 2002
Nach dem Cauchy-Kriterium existiert ein n0 mit |an − am | < 1 für alle
n, m ≥ n0 . Folglich liegen alle Glieder an , n ≥ n0 , im abgeschlossenen
Intervall I1 := [−(|an0 | + 1), |an0 | + 1].4 Wir halbieren I1 , in wenigstens
einem der beiden Teilintervalle liegen unendlich viele Glieder der Folge, ein
solches wählen wir als I2 . Auf diese Weise fahren wir fort und erhalten eine
Intervallschachtelung mit der Eigenschaft, daß jedes der beteiligten Intervalle
unendlich viele Folgenglieder enthält. Wir wollen uns überlegen, daß die
Schnittzahl a dieser Intervallschachtelung Grenzwert von F ist.
Nehmen wir einmal an, es gäbe eine positive reelle Zahl ε, so daß unendlich
viele Folgenglieder außerhalb der Umgebung U2ε (a) liegen. Nach Konstruktion liegen aber auf jeden Fall auch unendlich viele Folgenglieder innerhalb
von Uε (a). Aus an ∈
/ U2ε (a) und am ∈ Uε (a) folgt auf jeden Fall |an −am | > ε.
Es gibt unendlich viele n und unendlich viele m, welche die obige Bedingung
erfüllen, also kann man bei beliebig vorgegebenem n0 auch immer zusätzlich
n > n0 und m > n0 verlangen. Das widerspricht aber der Cauchy-Bedingung
für dieses ε. Folglich liegen für jede positive reelle Zahl ε höchstens endlich
viele Glieder der Folge außerhalb von Uε (a). Damit gibt es ein n0 , so daß
an ∈ Uε (a) für alle n ≥ n0 und daher |a − an | < ε für alle n ≥ n0 . Also
konvergiert F gegen a.
2
n−5
Beispiel: Wir untersuchen die Folge F = 6n+1
auf Konvergenz. Für alle
n≥1
natürlichen Zahlen n und m mit 1 ≤ m ≤ n gilt
n−5
m
−
5
= |31n − 31m|
|an − am | = −
6n + 1 6m + 1 (6n + 1)(6m + 1)
31n
31n
31
<
<
= m−1
(6n + 1)(6m + 1)
36nm
36
31
Zu beliebig vorgegebener positiver reeller Zahl ε und n0 := d 36ε
e gilt also für
alle natürlichen Zahlen n, m mit n0 ≤ m ≤ n die Ungleichung |an − am | < ε.
Damit erfüllt unsere Folge das Cauchy-Kriterium und ist gemäß Satz 20
konvergent.
4
Da die Glieder der Folge reell sind, hätten wir sogar noch einfacher [an0 − 1, an0 + 1]
als erstes Intervall wählen können. Dann ist aber die sinngemäße Übertragung auf die
Konstruktion eines einschließenden Quadrats im komplexen Fall nicht mehr zu erkennen.
Bei dem hier gewählten Intervall ist klar, daß I1 × I1 auch im Fall komplexer Glieder ein
geeignetes Quadrat wäre.
33
Preliminary version – 3. Juli 2002
3.5
Grenzwertsätze für Zahlenfolgen
Zu zwei gegebenen Zahlenfolgen F = (ai )i≥1 und G = (bi )i≥1 kann man die
Zahlenfolgen (ai +bi )i≥1 , (ai bi )i≥1 , (−ai )i≥1 und (a−1
i )i≥1 betrachten und nach
dem Zusammenhang der Konvergenzverhalten der Folgen F und G mit dem
der zusammengesetzten Folgen fragen.
Satz 21 Für konvergente Zahlenfolgen F = (ai )i≥1 und G = (bi )i≥1 gilt:
1. (ai + bi )i≥1 ist konvergent und es gilt limi→∞ (ai + bi ) = limi→∞ ai +
limi→∞ bi
2. (ai bi )i≥1 ist konvergent und es gilt limi→∞ (ai bi ) = (limi→∞ ai ) (limi→∞ bi )
3. die Folge (−ai )i≥1 ist konvergent und für ihren Grenzwert gilt limi→∞ (−ai ) =
− limi→∞ ai
4. falls der Grenzwert a := limi→∞ ai von Null verschieden ist, so gibt es
eine natürliche Zahl k mit ai 6= 0 für alle i ≥ k und die Folge (a−1
i )i≥k
−1
1
1
konvergiert gegen a , d.h. limi→∞ ai = limi→∞ ai .
5. (ai − bi )i≥1 ist konvergent und es gilt limi→∞ (ai − bi ) = limi→∞ ai −
limi→∞ bi
6. falls der Grenzwert a := limi→∞ ai von Null verschieden ist, sogibt
es
bi
eine natürliche Zahl k mit ai 6= 0 für alle i ≥ k und die Folge ai
i≥k
konvergiert gegen limi→∞
bi
ai
=
limi→∞ bi
.
limi→∞ ai
Beweis: Zunächst führen wir die Bezeichungen a := limi→∞ ai und b :=
limi→∞ bi für die Grenzwerte der Folgen F beziehungsweise G ein.
Zu beliebigem ε > 0 exisierten n0 und m0 , so daß |an − a| < ε für alle n ≥ n0
und |bm − b| < ε für alle m ≥ m0 gelten.
1. Für alle n ≥ max(n0 , m0 ) gilt |(an +bn )−(a+b)| = |(an −a)+(bn −b)| ≤
|an − a| + |bn − b| < 2ε, also konvergiert (ai + bi )i≥1 gegen a + b.
2. Für alle n ≥ max(n0 , m0 ) gilt |an bn − ab| = |(an − a)bn + (bn − b)a| ≤
|an − a||bn | + |bn − b||a|. Aufgrund der vorausgesetzten Konvergenz
von G ist die Menge BildG = {bi | i = 1, 2, . . . } beschränkt, also
gibt es ein c > 0 mit |bn | ≤ c für alle n ≥ 1 und wir schätzen weiter
34
Preliminary version – 3. Juli 2002
ab: |an bn − ab| ≤ |an − a|c + |bn − b||a| < ε(c + |a|). Sei ε1 > 0
beliebig vorgegeben, dann liefert Anwendung der obigen Überlegungen
ε1
auf ε = c+|a|
die Ungleichung |an bn − ab| < ε1 für alle n ≥ max(n0 , m0 ),
also konvergiert (ai bi )i≥1 gegen ab.
3. Wegen | − an − (−a)| = |an − a| < ε für alle n ≥ n0 folgt der behauptete
Grenzwert von (−ai )i≥1 unmittelbar aus limi→∞ ai = a.
4. Sei a 6= 0, dann gibt es ein k, so daß |ai −a| < |a|
für alle i ≥ k, also gilt
2
für alle Glieder ai mit i ≥ k die Beziehung |ai | ≥ |a|
. Insbesondere sind
2
die
Glieder alle von Null verschieden, also sind die Glieder der Folge
1
n
wohldefiniert. | a1n − a1 | = | a−a
| = |a − an | |aa1n | ≤ |a|2 2 |a − an | <
ai
aan
i≥k
2
. Also gibt es zu jedem ε1 > 0 ein ε := |a|2 ε1 , so daß | a1n − a1 | < ε1
für alle n ≥ max(n0 , k). Folglich konvergiert die Folge (a−1
i )i≥k gegen
1
den Grenzwert a .
2ε
|a|2
5. und 6. folgen unmittelbar aus den ersten 4 Eigenschaften.
2
Übungsaufgaben, Serie 4
10. Berechnen Sie die Grenzwerte
√
1− n
√
lim
n→∞ 1 +
n
(n + 3)2 (2n − 1) − (5n + 3)3
lim
n→∞
(n + 3)(2n − 1)(5n + 3)
2
n
lim
n→∞ n!
(3.9)
(3.10)
(3.11)
11. Berechnen Sie den Grenzwert
lim
n→∞
1
1+
n
2n+5
12. (an )n≥1 sei eine konvergente komplexe Zahlenfolge. Beweisen Sie, daß
dann die reelle Zahlenfolge (|an |)n≥1 der Beträge ihrer Glieder ebenfalls
konvergiert und die Gleichheit
lim |an | = lim an n→∞
n→∞
35
Preliminary version – 3. Juli 2002
vorliegt.
Hinweis: Für alle komplexen Zahlen a und b gilt die Ungleichung
|a − b| ≥ |a| − |b| .
Diese darf ohne Beweis verwendet werden.
Die Umkehrung von Satz 21 gilt nicht, so kann (ai + bi ) auch dann konvergieren, wenn (ai ) und (bi ) divergieren. Zum Beispiel konvergiert ((−1)i + (−1)i+1 )
gegen 0, obwohl weder ((−1)i ) noch ((−1)i+1 ) konvergent sind. Entsprechendes gilt auch für Differenz, Produkt und Quotient. Wenn jedoch nur eine
der Folgen F oder G konvergiert und die andere divergiert, so sind Summe,
Differenz und Produkt sicher
divergent. Beim Quotienten sind noch weitere
bi
Fälle möglich. So kann ai
auch dann konvergent sein, wenn F divergiert
i≥1
und
nichts über G vorausgesetzt wird. Zum Beispiel kann man die Nullfolge
1
als ein derartiges Beispiel auffassen. Hier divergiert die Nennerfolge
i i≥1
(i)i≥1 . Ein ähnliches Beispiel, aber mit
Zählerfolge ist die eben
divergenter
(−1)i
. Auch wenn sowohl Zählerfalls gegen Null konvergierende Folge
i
i≥1
als auch Nennerfolge den Grenzwert
1 0 haben, kann die Folge der Quotienten
konvergierten, z.B. konvergiert 1i
gegen 1, obwohl der Nenner gegen
i
i≥1
Null konvergiert.
Die übliche Anwendung des Satzes besteht darin, daß man Grenzwerte komplizierter Zahlenfolgen berechnen kann, wenn man die Grenzwerte gewisser
einfacherer Folgen kennt, aus denen sich die komplizierte zusammensetzt.
Beispiele:
1. Da für jedes ε > 0 und alle n > n0 := d 1ε e die Relation | n1 − 0| < ε
zutrifft, gilt limn→∞ n1 = 0. Daraus ergibt sich
1
1
1
lim
= lim
lim
=0
n→∞ n2
n→∞ n
n→∞ n
Mittels vollständiger Induktion über k zeigt man schließlich
k
1
1
lim
= lim
=0
n→∞ nk
n→∞ n
für alle natürlichen Zahlen k ≥ 1.
36
Preliminary version – 3. Juli 2002
2. Sei (an )n≥1 eine konvergente komplexe Zahlenfolge. Dann gilt für jede
natürliche Zahl k die Beziehung
lim akn =
n→∞
lim an
n→∞
k
Sind alle Glieder an und der Grenzwert limn→∞ an von Null verschieden,
so gilt darüberhinaus auch die Gleichheit
lim a−k
n =
n→∞
lim an
n→∞
−k
für beliebige natürliche Zahlen k.
3. Sei (an )n≥1 eine konvergente Folge positiver reeller Zahlen. Dann gilt
für jede natürliche Zahl k ≥ 2 die Beziehung
q
√
lim k an = k lim an
n→∞
Sofern der Grenzwert limn→∞
wegen
n→∞
√
k
an überhaupt existiert, so kann es sich
√
k
k
lim an = lim ( an ) =
n→∞
n→∞
k
√
k
lim an
n→∞
nur um den oben behaupteten handeln. Daß der Grenzwert tatsächlich
existiert, wollen wir hier nur ohne Beweis festhalten.
4. Aus den vorangegangenen beiden Beispielen ergibt sich sofort die Gleichheit
q
q
lim an = lim an
n→∞
n→∞
für jede konvergente Folge (an )n≥1 positiver reeller Zahlen und jede
positive rationale Zahl q. Im Falle limn→∞ an 6= 0 gilt die Gleichheit
sogar für beliebige rationale Zahlen q. Ohne Beweis merken wir an,
daß die Aussagen auch allgemeiner für reelle Exponenten q gelten.
37
Preliminary version – 3. Juli 2002
5.
3n2 +n−5
2
lim n2n−1
n→∞
n2
3 + n1 − n52
= lim
n→∞
1 − n12
limn→∞ 3 + n1 − n52
=
limn→∞ 1 − n12
3n2 + n − 5
lim
=
n→∞
n2 − 1
limn→∞ 3 + limn→∞ n1 − limn→∞
limn→∞ 1 − limn→∞ n12
3+0−0
=
=3
1−0
=
5
n2
Man beachte, die Division von Zähler und Nenner durch die höchste
auftretende n-Potenz war notwendig, damit die Zahlenfolgen der Zähler
und Nenner konvergieren. Ein sofortiger Schritt der Art
3n2 + n − 5
limn→∞ (3n2 + n − 5)
=
n→∞
n2 − 1
limn→∞ (n2 − 1)
lim
ist unzulässig und würde nicht zum Ziel führen, da sowohl (3n2 + n − 5)n≥1
als auch (n2 − 1)n≥1 bestimmt divergent gegen +∞ sind.
6. Auf analoge Weise zeigt man
ak nk + ak−1 nk−1 + · · · + a1 n + a0
lim
=
n→∞ bm nm + bm−1 nm−1 + · · · + b1 n + b0
ak
bm
0
: falls k = m
: falls k < m
für beliebige komplexe Zahlen a0 , . . . , ak , b0 , . . . , bm mit k ≤ m, ak 6= 0
und bm 6= 0. Für a0 , . . . , ak , b0 , . . . , bm wie oben und k > m ist die
Folge
ak nk + ak−1 nk−1 + · · · + a1 n + a0
bm nm + bm−1 nm−1 + · · · + b1 n + b0 n≥1
stets divergent.
Übungsaufgaben, Serie 5
13. Die Zahlenfolge F = (an )n≥1 habe den Grenzwert 0. G = (bn )n≥1 sei
eine zweite Zahlenfolge, wobei für alle natürlichen Zahlen n ≥ 1 gilt,
daß das n-te Glied von G einen höchstens so großen Betrag wie das
n-te Glied von F hat. Beweisen Sie, daß dann limn→∞ bn = 0 gilt.
38
Preliminary version – 3. Juli 2002
14. Beweisen Sie die Gültigkeit von
lim
n→∞
√
n
n=1
Hinweis: Zeigen Sie zunächst unter Verwendung der binomischen
For√
n
n
mel ausgehend von der offensichtlichen Gleichheit n = (1 + ( n − 1))
√
2
die Relation ( n n − 1) ≤ nn ≤ n4 für alle n ≥ 2 und verwenden Sie
(2)
diese Abschätzung
unter
Verwendung
von Aufgabe 13 zur Berechnung
√
n
von limn→∞ ( n − 1).
P
15. F = (an )n≥1 sei eine Zahlenfolge und P = (sn )n≥1 , mit sn = ni=1 ai
für n ≥ 1, die Folge ihrer Partialsummen. Beweisen Sie, daß aus der
Konvergenz von P die Konvergenz von F folgt und daß in diesem Falle
darüberhinaus die Gleichheit limn→∞ an = 0 gilt.
Hinweis: Nutzen Sie bei dem Beweis aus, daß P eine Cauchyfolge ist.
3.6
Reihen
Definition 12 Sei F P
= (ai )i≥0 eine Zahlenfolge5 . Dann nennt man sn :=
a0 + a1 + · · · + an = ni=0 die n-te Partialsumme von F . Die Folge P =
(sn )n≥0 der Partialsummen von F bezeichnet man als unendliche Reihe mit
den Gliedern ai , i ≥ 0. Falls die Folge P konvergiert, so nennt man ihren
Grenzwert P
S := limn→∞ sn die Summe der unendlichen Reihe und schreibt
dafür S = ∞
i=0 ai .
Es ist üblich, sowohl die Reihe P als auch den Grenzwert S mit der Symbolik
P
∞
i=0 ai zu bezeichnen. Zu Verwechselungen kann dieser Bezeichnungskonflikt kaum führen, da aus dem Kontext heraus klar sein wird, über welches
Objekt wir gerade sprechen. P
Aufgrund dieses Doppellebens der Bezeichun∞
gen können wir auch dann
i=0 ai schreiben, wenn die unendliche Reihe
P divergiert. In diesem Fall steht die Symbolik natürlich für die Folge der
Partialsummen und nicht für deren Grenzwert,
welcher gar nicht existiert.
P∞
Weiterhin werden die Sprechweisen,
a
ist
konvergent oder divergent
i=0 i
gerechtfertigt, dabei bezieht sich die Symbolik wieder auf die Folge der Partialsummen. Ein Bezug auf den Grenzwert wäre unsinnig, denn dieser ist,
5
Natürlich gelten die Aussagen sinngemäß auch für Zahlenfolgen F = (ai )i≥k mit k > 0.
39
Preliminary version – 3. Juli 2002
sofern er überhaupt existiert, eine Zahl und eine Zahl kann nicht konvergieren
P∞ ioder 1divergieren. Auf der anderen Seite können wir beispielsweise
i=0 q = 1−q , wobei q eine von Null verschiedene komplexe Zahl vom Betrag kleiner 1 ist, schreiben. In diesem Falle steht die Symbolik offensichtlich
für die Summe der Reihe, denn rechts steht einfach eine Zahl.
P
Eine notwendige Bedingung für die Konvergenz der unendlichen Reihe ∞
i=0 ai
besteht darin, daß die Zahlenfolge F = (ai )i≥0 ihrer Glieder eine Nullfolge
bildet, d.h. limi→∞ ai = 0 (siehe Übungsaufgabe 15).
Man beachte, während das Konvergenzverhalten und der Grenzwert einer
Zahlenfolge sich nicht ändert, wenn man endlich viele Anfangsglieder
der
P∞
Folge wegläßt, so hängt die Summe der unendlichen Reihe i=k ai natürlich
vom Index k des ersten Folgengliedes ab. Für die bloße Beantwortung der
Frage, ob die Summe überhaupt existiert, sind die Anfangsglieder der Folge
jedoch wieder unerheblich und im Falle der Existenz der Summen besteht
der Zusammenhang
∞
X
ai =
i=0
k−1
X
ai +
i=0
∞
X
ai .
(3.12)
i=k
Die obige Gleichheit erscheint sich offensichtlich aus den Rechenregeln der
komplexen Zahlen zu ergeben. Dabei ist allerdings große Vorsicht geboten,
denn die üblichen Rechenregeln des Körpers der komplexen Zahlen beziehen
sich nur auf Ausdrücke mit endlichen vielen Operationen. In der Tat werden
wir später noch sehen, daß im Falle unendlicher Reihen manche scheinbar
offensichtlichen Zusammenhänge verletzt sind.
Fragen wir also nach einem ehrlichen Beweis der obigen Aussage. Aus den
Rechenregeln der komplexen Zahlen folgt
n
X
ai =
i=0
k−1
X
ai +
k−1
X
ai + zn ,
i=0
also
sn =
n
X
ai ,
i=k
i=0
P∞
wobei sn die n-Partialsumme
der
Folge
i=0 ai und zn die n-Partialsumme
P∞
der abgeschnittenen Folge i=k ai bezeichnet. Anwendung des Grenzwert40
Preliminary version – 3. Juli 2002
satzes 21 liefert
lim sn = lim
n→∞
n→∞
k−1
X
ai
!
+ lim zn =
n→∞
i=0
k−1
X
ai + lim zn .
n→∞
i=0
Einsetzen der Summenschreibweise für die auftretenden Grenzwerte ergibt
die behauptete Gleichheit 3.12.
Auf analoge Weise zeigt man mit Hilfe von Satz 21 die Beziehung
∞
X
(λai + µbi ) = λ
i=0
ai + µ
i=0
für beliebige konvergente Reihen
Zahlen λ und µ.
3.6.1
∞
X
P∞
i=0
ai und
∞
X
bi
(3.13)
i=0
P∞
i=0 bi
und beliebige komplexe
Unendliche geometrische Reihen
In Abschnitt 3.2.1 hatten wir den Grenzwert der Zahlenfolge F = (ai )i≥1
für eine beliebige komplexe Zahl a untersucht. Für |a| > 1 war die Folge divergent. Für |a| = 1 konnten wir keine allgemeine Aussage über das
Konvergenzverhalten der Folge treffen. Sicher ist aber, falls die Folge überhaupt konvergiert, so hat ihr Grenzwert den Betrag 1 und es handelt sich
sicher
um eine Nullfolge. Aus diesem Grund kann die Summe der Reihe
P∞ nicht
i
a
bestenfalls
für |a| < 1 existieren, denn nur dann gilt wenigstens die
i=0
notwendige Bedingung, daß die Glieder der Reihe eine Nullfolge bilden. Im
Falle a = 0 sind sämtliche Partialsummen also auch die Summe der unendlichen Reihe 0.
P
i
Betrachten wir nun den Fall 0 < |a| < 1. Man nennt ∞
i=0 a eine unendliche
geometrische
Reihe. Berechnen wir zunächst die n-te Partialsumme sn =
Pn i
i=0 a dieser geometrischen Reihe. In sehr vielen Fällen geht man so vor,
daß man eine Vermutung über den Wert der Partialsumme aufstellt und diese
dann mittels vollständiger Induktion bestätigt. Im vorliegenden Fall kommen
wir auch etwas einfacher zum Ziel. Es gilt
sn = 1 +
n
X
i
a =1+a
i=1
n−1
X
ai = 1 − an+1 + asn
i=0
und Auflösen der Gleichung nach sn zeigt
sn =
1 − an+1
.
1−a
41
Preliminary version – 3. Juli 2002
Damit kommen wir zum Überprüfen der Konvergenz der Folge P = (sn )n≥0
der Partialsummen. Mehrfache Anwendung von Satz 21 liefert:
1 − an+1
limn→∞ (1 − an+1 )
1 − limn→∞ an+1
1
=
=
=
.
n→∞ 1 − a
limn→∞ (1 − a)
1−a
1−a
lim sn = lim
n→∞
Man beachte, die Anwendung der Grenzwertsätze sind tatsächlich erlaubt,
da sämtliche auftretende Grenzwerte tatsächlich existieren und der Nennergrenzwert aufgrund von a 6= 1 von 0 verschieden ist.
Damit haben wir die Gleichung
∞
X
i=0
ai =
1
wobei 0 < |a| < 1
1−a
für die Summe der geometrischen Reihe nachgewiesen.
Die Partialsummen der geometrischen Reihe sollten Ihnen aus der Schule unter dem Namen endliche geometrische Reihen
Pn bekannt sein. Ebenso sollten
Sie auch endliche arithmetische Reihen i=0 ai kennen, diese zeichnen sich
dadurch aus, daß die Differenz zweier aufeinanderfolgender Glieder konstant
ist, es gilt also ai+1 − ai = c für alle i = 0, . . . , n − 1. Betrachten wir nun
eine unendliche Zahlenfolge F = (aj )j≥0 mit der Eigenschaft, daß die Differenz zweier beliebiger aufeinanderfolgender Glieder gleich c ist, so ergibt sich
die Beziehung aj = a0 + jc für das j-te Glied der Folge. Für c 6= 0 ist der
Bildbereich der Folge F unbeschränkt, denn für jede positive reelle Zahl K
0|
und jedes n > K+|a
gilt |an | > K . Damit ist klar, daß ein unendliche arith|c|
metische Reihe
6= 0 stets divergiert. Selbst im Falle c = 0 konvergiert
P mit cP
∞
die Reihe ∞
a
=
i=0 i
i=0 a0 nur im trivialen Fall a0 = 0.
Typische Anwendungen endlicher geometrischer Reihen findet man in der
Finanzmathematik. So berechnet sich das Guthaben, welches aus einem
Anfangskapital K nach
n Jahren bei einem effektiven Jahreszins von p %
p n
entsteht als K 1 + 100 . Nehmen wir nun an, wir legen zum Zeitpunkt 0 ein
Kapital K an und erhöhen unsere Anlage jeweils nach Ablauf eines Jahres
um einen weiteren Betrag K. Die Anlage verläuft also nach dem Schema
der Ansparphase eines Bausparvertrages mit jährlicher Zahlungsweise unter
Vernachlässigung sämtlicher Gebühren.
Dann haben wir nach n Jahren, präziser unmittelbar nach dem erneuten
Einzahlen einer Rate, ein Guthaben von
n
n p n+1
X
X
1 + 100
−1
p i
p i
K 1+
=K
1+
=K
p
100
100
100
i=0
i=0
42
Preliminary version – 3. Juli 2002
angespart.
Fragt man nun nach dem potentiellen Guthaben nach unendlich langer Ansparzeit, so bleibt festzustellen, daß die unendliche geometrische Reihe
∞
X
i=0
p i
K 1+
100
p
aufgrund von 1 + 100
> 1 divergiert. Alles andere wäre aber auch ein deprimierender Zustand, hieße es doch, daß man selbst bei unendlich langem
Sparen nur eine begrenzte Menge Geld sammeln könnte.
Betrachten wir eine andere ähnlich gelagerte Fragestellung, nur mit dem
Unterschied, daß es sich nun bei p nicht um Zinsen, sondern um Depotgebühren handeln soll. K soll für eine Anzahl von Fondanteilen stehen, die
wir jährlich neu erwerben. Mit der Bank wurde vereinbart, daß sie ihre
Depotverwaltungsgebühren durch den jährlichen Verkauf von p % unserer
Fondanteile realisiert. Der Einfachheit halber nehmen wir an, daß im Rahmen unseres Sparvertrages keine Ausgabeaufschläge auf die Fondanteile erhoben werden und daß beim jährlichen Kauf der K neuen Anteile eventuelle
Gewinnausschütungen des Vorjahres voll verrechnet werden, d.h. reicht die
Gewinnauschütung nicht zum Kauf von K neuen Anteilen aus, so schießen
wir das fehlende Geld zu, übersteigt die Ausschütung den Wert von K neuen
Anteilen, so lassen wir uns die Restsumme auszahlen.
Wieviele Fondanteile besitzen wir dann nach n Jahren, wiederum unmittelbar
nach dem Erwerb der neuen Anteile? Es handelt sich gerade um
n
n p n+1
X
X
1 − 1 − 100
p i
p i
K 1−
=K
1−
=K
p
100
100
100
i=0
i=0
Anteile. Bei diesem Vertrag ist die Anzahl der Anteile beschränkt, auch dann
wenn er unendlich lange läuft.
Die Folge der Partialsummen ist monoton wachsend und die Anzahl der
Fondanteile in unserem Depot nähert sich asymptotisch der Zahl
∞
X
i=0
p i 100K
=
K 1−
100
p
an. Auch dieser Sachverhalt ist nicht unbedingt ein Grund zum Verzweifeln.
Falls der Kurswert des Fond tendentiell steigt, so wächst unser Vermögen
43
Preliminary version – 3. Juli 2002
dennoch unbeschränkt an. Zum zweiten kann es durchaus sein, daß wir nach
genügend langer Ansparzeit einen jährliche Gewinn aus unserem Sparvertrag
abschöpfen können. Grob gesprochen tritt letzteres irgendwann ein, wenn die
Dividendenrendite q die prozentualen Depotverwaltungskosten p übersteigt.
In diesem Fall erhalten wir nach genügend langer Zeit ‘fast’ pq K Anteile
jährlich ausgeschüttet, davon legen wir nur K wieder an und können ‘fast’
q−p
Anteile zu Konsumptionszwecken verkaufen.
p
3.6.2
Absolute Konvergenz
P∞
Definition 13 Die unendliche
Reihe
n=0 an heißt absolut konvergent, falls
P
die unendliche Reihe ∞
|a
|
der
Absolutbeträge
der Glieder der Reihe konn
n=0
vergiert.
P
Satz 22 Eine absolut konvergente Reihe ∞
n=0 an ist auch konvergent.
Beweis: Nach dem Cauchyschen Konvergenzkriterium existiert zu beliebig
vorgegebenem ε > 0 ein n0 , so daß für alle n, m ≥ n0 die Relation
n
m
X
X
|ai | −
|ai | < ε
i=0
i=0
gilt. O.B.d.A. sei n ≤ m und p := m − n. Dann können wir die Ungleichung
wie folgt umschreiben:
n+p
n+p
n
X
X
X
|ai | −
|ai | =
|ai | = |an+1 | + · · · + |an+p | < ε
i=0
i=0
i=n+1
Unter Verwendung der Dreiecksungleichung ergibt sich
n+p
n
X
X
a
−
a
i
i = |an+1 + · · · + an+p | ≤ |an+1 | + · · · + |an+p | < ε ,
i=0
i=0
P∞
also bilden auch die Partialsummen
von
n=0 an eine Cauchyfolge und somit
P∞
ist die unendliche Reihe n=0 an konvergent.
2
P∞ i
Man sieht sofort, daß die unendliche geometrische Reihe
i=0 a für jede
komplexe Zahl a
mit
einem
Absolutbetrag
echt
kleiner
als
1
sogar absolut
P∞
i
konvergiert, da i=0 |a| ebenfalls eine konvergente geometrische Reihe ist.
Später werden wir Beispiele für konvergente Reihe kennen lernen, für die
die Summe der Absolutbeträge der Glieder divergiert. Die Umkehrung des
obigen Satzes ist also im Allgemeinen falsch.
44
Preliminary version – 3. Juli 2002
3.6.3
Konvergenzkriterien unendlicher Reihen
Kriterium von Leibniz
Satz 23 (Kriterium von Leibniz) Sei F = (ai )i≥0 eine reelle Zahlenfolge
mit folgenden drei Eigenschaften
1. limi→∞ ai = 0, d.h. F ist eine Nullfolge,
2. es gilt entweder ai = (−1)i |ai | für alle i ≥ 0 oder ai = (−1)i+1 |ai | für
alle i ≥ 0, d.h. die Vorzeichen der Glieder alternieren6 ,
3. |ai+1 | ≤ |ai | für alle i ≥ 0, d.h. die Folge der Beträge der Glieder ist
monoton fallend.
P
Dann konvergiert die unendliche Reihe ∞
i=0 ai .
Beweis: F seiPeine Folge mit den 3 genannten Eigenschaften. Wir wollen die Reihe ∞
i=0 ai mittels des Cauchyschem Kriteriums auf Konvergenz
untersuchen,
dazu
brauchen wir zunächst eine Abschätzung des Ausdrucks
Pm
Pn
| i=0 ai − i=0 ai | für zwei beliebige natürlichen Zahlen m, n mit 0 ≤ n <
m.
Unter Verwendung von Bedingung 2 erhalten wir
m
n
X
X
ai −
ai = |an+1 +. . .+am | = |an+1 | − |an+2 | + · · · + (−1)m−n+1 |am |
i=0
i=0
Der äußere Betrag auf der rechten Seite kann weggelassen werden, denn mit
Bedingung 3 ergibt sich für p := m − n und R := |an+1 | − |an+2 | + . . . +
(−1)p+1 |an+p | die Abschätzung


(|an+1 | − |an+2 |) + (|an+3 | − |an+4 |)+




 · · · + (|a

für p gerade
n+p−1 | − |an+p |)
R =
≥0


(|an+1 | − |an+2 |) + (|an+3 | − |an+4 |)+




· · · + (|an+p−2 | − |an+p−1 |) + |an+p | für p ungerade
(3.14)
6
Die vorangegangene Beschreibung läßt die Möglichkeit ai = 0 zu. In diesem Falle
müßte 0 immer das gerade passende Vorzeichen zugewiesen werden. Die nächste Bedingung erzwingt allerdings, daß aus ai = 0 auch aj = 0 für alle j ≥ i folgt. Es handelt sich
dann also in Wirklichkeit nur um eine endliche Summe. Diesen Trivialfall wollen wir im
Weiteren ausschließen und setzen ai 6= 0 für alle i ≥ 0 voraus.
45
Preliminary version – 3. Juli 2002
Eine ähnliche Überlegung zeigt

|an+1 | − (|an+2 | − |an+3 |) + (|an+4 | − |an+5 |)+



· · · + (|an+p−2 | − |an+p−1 |) + |an+p |
R =

|a | − (|an+2 | − |an+3 |) + (|an+4

| − |an+5 |)+
 n+1
· · · + (|an+p−1 | − |an+p |)
für p gerade




für p ungerade



Zusammenfassend haben wir für alle natürlichen Zahlen n, m mit n < m die
Gültigkeit von
m
n
X
X
ai −
ai ≤ |an+1 |
i=0
i=0
nachgewiesen. Voraussetzung 1 sichert, daß zu jeder positiven reellen Zahl ε
ein n0 mit |an | < ε für alle n ≥ n0 exisiert. Folglich gilt
m
n
X
X
ai −
ai ≤ |an+1 | < ε
i=0
i=0
P
für alle n0 ≤ n ≤ m, also erfüllt die Reihe ∞
i=0 ai die Voraussetzungen des
Cauchyschen Kriteriums und ist somit konvergent.
2
Aus dem Beweis des obigen Satzes können wir sogar noch eine Abschätzung
für die Abweichung der n-ten Partialsumme von der Summe der unendlichen
Reihe ablesen.
Satz 24 Sei F = (ai )i≥0 eine den Voraussetzungen des Leibniz-Kriteriums
genügende reelle Zahlenfolge und S der Grenzwert der unendlichen Reihe
(si )i≥0 der Partialsummen von F .
Dann hat der “Reihenrest” S − sn für alle natürlichen Zahlen n ≥ 0 das
gleiche Vorzeichen wie an+1 und es gilt
|S − sn | ≤ |an+1 | .
Für p ≥ 0 definieren wir
Rp := |an+1 | − |an+2 | + . . . + (−1)p+1 |an+p | .
Falls an negativ ist, so ist an+1 positiv und es ergibt sich
Rp := an+1 − an+2 + . . . + (−1)p+1 an+p = sn+p − sn .
46
Preliminary version – 3. Juli 2002
(3.16)
≤ |an+1 |
(3.15)
Abschätzung (3.14) liefert schließlich sn+p ≥ sn für alle natürlichen Zahlen
p ≥ 0. Die Menge der Partialsummen Pn = {sm | m ≥ n} ist also nach
unten durch sn beschränkt. Wenn aber die Menge der Glieder einer reellen
Zahlenfolge nach unten durch beschränkt ist, so ist auch ihr Grenzwert, sofern
er überhaupt existiert, größer oder gleich jeder unteren Schranke der Menge.
Wegen S = limi→∞ si erhalten wir also S ≥ sn und damit S − sn ≥ 0, das
Vorzeichen stimmt also mit dem von an+1 überein.
Ist an positiv, so können wir die Untersuchung durch Übergang zur Folge
(−ai )i≥0 auf den obigen Fall zurückführen. Bei diesem Übergang ändern sich
gerade die Vorzeichen der Summe der unendlichen Reihe und der Partialsummen. Somit erhalten wir (−S) − (−sn ) ≥ 0, also S − sn ≤ 0 und die
Vorzeichengleichheit zu an+1 ist wiederum gezeigt.
Kommen wir zum Nachweis der Ungleichung (3.16). Wir beginnen wieder
mit dem Fall, daß an negativ ist. Aus (3.15) und dem eben gezeigten ergibt
sich 0 < sn+p − sn = |sn+p − sn | ≤ |an+1 | = an+1 . Es folgt sn+p ≤ an+1 + sn
und daher ist die rechte Seite an+1 +sn obere Schranke der Menge Pn = {sm |
m ≥ n}. Analog zu oben folgt S ≤ an+1 + sn , also
|S − sn | = S − sn ≤ an+1 = |an+1 | .
Sei nun an positiv. Durch Übergang zu (−ai )i≥0 ergibt sich aus dem eben
gezeigten die Ungleichung
|S − sn | = −S − (−sn ) ≤ −an+1 = |an+1 | .
Ungleichung (3.16) gilt also für jede natürliche Zahl n ≥ 0 unabhängig vom
Vorzeichen von an .
2
Beispiel: Das klassische Beispiel für das Leibniz-Kriterium ist die sogenannte
Leibnizsche Reihe
∞
X
(−1)n+1
n=1
n
=1−
1 1 1
+ − + −···
2 3 4
Man überzeugt sich leicht davon, daß die Folge der Glieder der Leibnizschen
Reihe alle Voraussetzung von Satz 23 erfüllt, also ist sie konvergent.
Satz 24 erlaubt es uns darüberhinaus, Angaben über die Größe der Summe
n+1
S zu gewinnen. Alle Glieder an = (−1)n
mit ungeradem Index sind positiv
und die Glieder mit geradem Index sind negativ. Damit ist jede an einem
47
Preliminary version – 3. Juli 2002
P
(−1)n+1
ungeraden Index endende Partialsumme 2k+1
größer oder gleich S
n=1
n
P
(−1)n+1
und jede an einem geraden Index endende Partialsumme 2k
kleiner
n=1
n
oder gleich S.
Beispielsweise erhalten wir für k = 2 die Abschätzung
0, 583 <
7
1 1 1
7
1
47
=1− + − ≤S ≤
+ =
< 0, 784
12
2 3 4
12 5
60
Beachten Sie, wenn sie die Intervallgrenzen einer derartigen Einschließung
gerundet angeben wollen, so dürfen Sie für die untere Grenze nur abrunden
und für die obere Grenze nur aufrunden.
Durch Vergrößern der natürlichen Zahl k erhält man immer engere Einschließungen des Grenzwertes, präzise ausgedrückt kann man sagen, [s2k , s2k+1 ]k≥1
ist eine Intervallschachtelung mit der Schnittzahl S. Ohne Beweis merken
wir S = ln 2 an.
Im folgenden werden wir nachweisen, daß die Leibnizsche Reihe nicht absolut
konvergiert.
Die Reihe
∞
X
1
1 1
= 1 + + ···
n
2 3
n=1
der Absolutbeträge der Leibnizschen Reihe nennt man harmonische Reihe.
Um zu zeigen, daß die harmonische Reihe divergiert, werden wir nachweisen,
daß die Folge ihrer Partialsummen keine Cauchyfolge bildet.
Für jede natürliche Zahl k ≥ 2 gilt
k
|s2k − s2k−1 | = s2k − s2k−1 =
2
X
i=2k−1 +1
>
k−1
2X
i=1
k−1
2
1 X
1
=
k−1
i
2
+i
i=1
1
2k−1
1
=
=
k
k
2
2
2
Da es zu natürlichen jeder Zahl n0 eine natürliche Zahl k mit 2k−1 > n0
gibt, existiert z.B. für ε = 12 kein n0 mit |sm − sn | < ε für alle m, n ≥ n0 .
Damit ist nachgewiesen, daß die Partialsummen der harmonischen Reihe
keine Cauchyfolge bilden.
Satz 25 Eine Reihe, deren Glieder alle nichtnegativ reell sind, konvergiert
genau dann, wenn die Partialsummenfolge beschränkt ist.
48
Preliminary version – 3. Juli 2002
Beweis: Da die alle Glieder der Reihe nichtnegativ sind, wächst die Folge der
Partialsummen monoton und die Behauptung folgt sofort aus Satz 18.
2
Beispiel: q sei
eine rationale Zahl größer als 1. Dann konvergiert die unendP∞
liche Reihe n=1 n1q .
Für k ≥ 2 gilt
2k−1
X−1
1
+ i)q
i=0
k−1
2k−1
X−1
1
2k−1
1
<
= k−1 q =
k−1 )q
(2
(2 )
2q−1
i=0
|s2k −1 − s2k−1 −1 | = s2k −1 − s2k−1 −1 =
(2k−1
Sogar unabhängig von der konkreten Reihe gilt:
k
X
(s2i −1 − s2i−1 −1 ) = −s22−1 −1 + s2k −1 = s2k −1 − s1
i=2
Weiter folgt
s2k −1 =
k
X
(s2i −1 − s2i−1 −1 ) + s1
i=2
i−1
i 1 − 1
k−1 k X
X
1
1
(2q−1 )k
+
1
=
=
<
1
2q−1
2q−1
1 − 2q−1
i=2
i=0
<
1
1−
1 q−1
2
Wegen q > 1 haben wir 1 −
1 q−1
2
> 0, also ist
1
q−1
1−( 12 )
eine von k un-
abhängige positive reelle Zahl. Zu jeder natürlichen Zahl m gibt es eine
natürliche Zahl k mit m < 2k − 1, damit folgt unter Beachtung ihrer Monotonie die Beschränktheit der
und mit Satz 25 ergibt sich
PPartialsummenfolge
∞
1
die Konvergenz der Reihe n=1 nq .
Majoranten- und Minorantenkriterium
Satz 26 (Majorantenkriterium)PF = (ai )i≥0 sei eine Zahlenfolge. Falls
eine konvergente unendliche Reihe ∞
i=0 bi mit positiven reellen Glieder existiert, so daß für alle i ≥ 0 die Ungleichung |ai | ≤ bi gilt7 , so konvergiert die
7
In diesem Fall nennt man
P∞
i=0 bi
eine Majorante von
49
Preliminary version – 3. Juli 2002
P∞
i=0
|ai |.
Reihe
P∞
i=0
ai absolut.
P∞
Beweis: Es ist die Konvergenz
von
i=0 |ai | nachzuweisen.
P
P∞Wir bezeichnen
die n-te Partialsumme von ∞
|a
|
mit
s
und
die
von
i
n
i=0
i=0 bi mit zn .
Die Folgen (sn )n≥0 und (zn )n≥0 sind beide monoton wachsend. Für beliebige
natürliche Zahlen n, m mit n < m gilt
|sm − sn | = sm − sn =
m
X
|ai | ≤
i=n+1
m
X
bi = zm − zn = |zm − zn |
i=n+1
P∞
Aus der
P Cauchyfolgeneigenschaft von i=0 bi folgt damit unmittelbar, daß
auch ∞
2
i=0 |ai | eine Cauchyfolge ist.
P∞ 1
Beispiel: Die unendliche
Reihe
Wir untersuchen
n=0 n! ist
P∞ 1
P∞konvergent.
1
zunächst die Reihe n=4 n! . Für diese ist n=4 n2 eine Majorante, denn für
alle n ≥ 4 gilt
n! ≥ n(n − 1)(n − 2) ≥ 2n(n − 1) > n2 .
P∞ 1
P∞ 1
Aus der oben bewiesenen
Konvergenz
von
folgt
die
von
2
n=4 n2 und
n=1
P∞ 1
P∞ 1 n
damit
die
von
und
schließlich
.
Am
Rande
sei
die
Gültigkeit
n=4 n!
n=0 n!
P∞ 1
von n=0 n! = e angemerkt.
Mit ähnliche Weise kann man zuweilen auch auf die Divergenz einer Reihe
schließen.
Satz 27 (Minorantenkriterium) F = (ai )i≥0 und G = (bi )i≥0 seien zwei
Folgen positiver
mit der Eigenschaft
P reeller Zahlen
P∞ai ≥ bi für alle i ≥ 0.
8
Falls dann ∞
b
divergiert
,
so
divergiert
auch
i=0 i
i=0 ai .
P
P∞
Beweis: Da ∞
i=0 ai Majorante
P∞von i=0 bi ist, würde ihre Konvergenz nach
SatzP
26 die Konvergenz von i=0 bi zur Folge
P∞ haben. Da aber die Divergenz
von ∞
b
vorausgesetzt
ist,
muß
auch
2
i=0 i
i=0 ai divergieren.
P
n2 −1
Beispiel: Die Reihe ∞
n=2 n3 −2n2 +n divergiert. Es gilt
n2 − 1
n2 − 1
1
=
>
n3 − 2n2 + n
n(n2 − 2n + 1)
n
P∞ 1
für alle n ≥ 2. Also ist die harmonische Reihe n=2 n eine divergente MinoP
n2 −1
rante von ∞
n=2 n3 −2n2 +n , weshalb letztere ebenfalls divergieren muß.
8
Man nennt
P∞
i=0 bi
eine Minorante von
P∞
i=0
ai
50
Preliminary version – 3. Juli 2002
Wurzelkriterium
Satz 28 (Wurzelkriterium) Es sei
plexen Gliedern.
P∞
i=0
ai eine unendliche Reihe mit kom-
1. Gibt
es ein ϑ mit 0 < ϑ < 1 und eine natürliche Zahl n0 ≥ 1,P
so daß
p
n
|an | ≤ ϑ für alle natürlichen Zahlen n ≥ n0 , so konvergiert ∞
i=0 ai
absolut.
p
2. Gibt es eine natürliche P
Zahl n0 ≥ 1, so daß n |an | ≥ 1 für alle n ≥ n0 ,
so divergiert die Reihe ∞
i=0 ai .
3. Falls
es zu jeder natürlichen Zahl n0 eine
p
P∞natürliche Zahl n ≥ n0 mit
n
|an | ≥ 1 gibt, so divergiert die Reihe i=0 ai .
p
Beweis: 1) Sei also n |an | ≤ ϑ für alle n ≥ n0 und 0 < ϑ < P
1. Dann gilt
∞
n
i
|an | ≤ ϑ für alle n ≥ n0 . Daher
P∞ ist die geometrische Reihe i=n0 ϑ eine
konvergente
Majorante von i=n0 |ai | und es folgt die absolute Konvergenz
P∞
von i=0 aip
.
2) Sei nun n |an | ≥ 1 für alle n ≥ n0 . Dann gilt |an | > 1 für alle nP≥ n0 .
Damit sind (|an |)n≥1 und (an )n≥1 sicher keine Nullfolgen, weshalb ∞
i=0 ai
nicht konvergieren kann.
3) Diese Eigenschaft ist etwas schwächer als 2). Sie sagt aus, daß es Glieder
mit beliebig hohem Index gibt, deren Betrag größer als 1 ist. Das reicht
natürlich bereits aus, um auszuschließen, daß (an )n≥1 Nullfolge ist.
2
P
−n
Beispiel: Die Reihe ∞
ist konvergent, denn für alle n ≥ 2 gilt
n=1 n
s n
√
1
1
1
n
n−n = n
= ≤ .
n
n
2
p
p
Die Bedingung n |an | ≤ ϑ < 1 aus 1) kann nicht einfach durch n |an | < 1
ersetzt werden. Diese Bedingung wäre eine echte Abschwächung und der
Satz
q würde mit ihr nicht mehr gelten, wie das folgende Beispiel zeigt. Es gilt
1
< 1 für alle n
n
P∞ 1
n=1 n divergiert.
n
≥ 2, aber wir wissen bereits, daß die harmonische Reihe
51
Preliminary version – 3. Juli 2002
Quotientenkriterium
P
Satz 29 (Quotientenkriterium) Es sei ∞
i=0 ai eine unendliche Reihe mit
von Null verschiedenen komplexen Gliedern.
1. Gibt es ein ϑ mit 0 < ϑ < 1 und eine natürliche Zahl n0 , so daß
P∞
an+1 an ≤ ϑ für alle natürlichen Zahlen n ≥ n0 , so konvergiert i=0 ai
absolut.
P
an+1 2. Gilt an > 1 für alle n ≥ 0, so divergiert ∞
i=0 ai .
Beweis: 1) O.B.d.A. können wir n0 = 0 annehmen. Gegebenenfalls lassen
wir die ersten Glieder der Reihe weg und numerieren die verbleibenden Glieder neu bei Null beginnend. Aus der absoluten Konvergenz der Restsumme
folgt dann natürlich die absolute Konvergenz der Gesamtsumme inklusive
der ersten
Glieder.
an+1 Sei an ≤ ϑ für alle n ≥ 0. Dann gilt |an+1 | ≤ |an |ϑ und weiter |an+2 | ≤
|an+1 |ϑ ≤ |an |ϑ2 für alle n ≥ 0. Durch vollständige Induktion zeigt man
schließlichP
|an | ≤ |a0 |ϑn für alle n ≥ 0.
P∞
∞
n
Damit
ist
|a
|ϑ
eine
Majorante
von
0
n=0
n=0 |an |. Die geometrische
P∞ n
P
P∞ nReihe
∞
n
n=0 ϑ konvergiert, also konvergiert auch
n=0 |a0 |ϑ = |a0 |
n=0 ϑ und
P
∞
schließlich folgt die absolute Konvergenz von n=0 an .
2) Die Folge der Glieder der Reihe (|an |)n≥0 sind monoton wachsend. Eine
monoton wachsende
P Folge positiver reeller Zahlen kann aber niemals Nullfolge sein, also ist ∞
2
n=0 an divergent.
Beispiel: Aus dem Quotientenkriterium folgt die Konvergenz der unendlichen
Reihe
∞
X
2n
,
n!
i=0
denn für alle n ≥ 2 gilt
an+1 an+1
2n+1 n!
2
2
=
=
=
≤ <1.
an n
an
(n + 1)!2
n+1
3
Ähnlich
dem Wurzelkriterium können die Voraussetzungen auch hier nicht
an+1 zu an < 1 abgeschwächt werden.
52
Preliminary version – 3. Juli 2002
Die Bedingungen des Wurzel- oder des Quotientenkriteriums sind durchaus
nicht notwendig für die KonvergenzPeiner Reihe. So haben wir früher bereits
∞ 1
daß die unendliche Reihe i=0 n2 absolut konvergiert. Es gilt aber
gezeigt,
an+1 n2
Die Folge dieser Quotienten ist monoton wachsend und
an = (n+1)
2.
hat den Grenzwert 1. Aus diesem Grund übersteigen die Quotienten für
genügend große n jede vorgegebene Zahl ϑ < 1.
Übungsaufgaben, Serie 6
16. Untersuchen Sie die folgenden Reihen auf Konvergenz
(a)
∞
X
(n + 1) an , wobei a ∈ C mit |a| < 1
n=1
(b)
∞
X
(−1)n
n=2
n2
n
−1
(c)
∞
X
an , wobei an =
n=0
1
2n
− 31n
falls n ungerade
falls n gerade
17. Zeigen Sie, daß die unendliche Reihe
∞
X
(an − an+1 )
n=0
genau dann konvergiert, wenn die Zahlenfolge (an )n≥0 konvergent ist.
Zeigen Sie weiterhin, daß im Fall der Konvergenz die Gleichheit
∞
X
(an − an+1 ) = a0 − lim an
n→∞
n=0
zutrifft.
53
Preliminary version – 3. Juli 2002
18. Berechnen Sie unter Verwendung von Aufgabe 17 die Summen der folgenden unendlichen Reihen:
(a)
∞
X
n=2
1
1
1
1
Hier noch eine kleine Hilfe:
=
−
n(n − 1)
n(n − 1)
n−1 n
(b)
∞ X
√
2n+1
2n+1 −
√ 2n
2n
n=1
(c)
∞
X
n
(−1)
n=1
1
1
+
2n + 3 2n + 1
(d)
∞
X
n=1
3.6.4
2
n(n + 1)(n + 2)
Der große Umordnungssatz
Wir wollen uns nun der Frage zuwenden, inwieweit man die Summanden
einer
Punendlichen Reihe zusammenfassen bzw. umordnen
P∞ darf.
P∞
Sei ∞
a
eine
unendliche
Reihe.
Dann
sagt
man,
i=0 i
i=0 bi geht aus
i=0 ai
durch Klammersetzung hervor, wenn es eine streng
Pn0 monoton wachsende
Pnj Folge
(nj )j≥0 natürlicher Zahlen gibt, so daß b0 = i=0 ai und bj = i=nj−1 +1 ai
für alle j ≥ 1 gelten. Das folgende Bild veranschaulicht diese Sprechweise:
(a0 + a1 + · · · + an0 ) + (an0 +1 + · · · an1 ) + (an1 +1 + · · · an2 ) + · · ·
|
{z
} |
{z
} |
{z
}
b0
b1
b2
P∞
Falls die unendliche
Reihe
ai konvergiert, so konvergiert auch jede uni=0 P
P∞
endliche Reihe i=0 bi , die aus ∞
i=0 ai durch Klammersetzung hervorgeht.
Darüberhinaus gilt
∞
∞
X
X
ai =
bi .
i=0
i=0
54
Preliminary version – 3. Juli 2002
Der
von
P∞ Beweis dieser Aussage ist einfach, denn die Folge der
PPartialsummen
∞
i=0 bi ist eine Teilfolge der Partialsummenfolge von
i=0 ai und aus Satz
19 folgt die Behauptung.
Die
der Konvergenz von
P∞ Umkehrung ist im allgemeinen falsch, d.h.Paus
∞
b
braucht
keinesfalls
die
Konvergenz
von
a
i=0 i
i=0 i zu folgen. Ein einP∞
i
faches Beispiel ist die Reihe i=0 (−1) . Ihre Glieder bilden nicht einmal
eine Nullfolge, daher ist sie divergent. Klammern wir nun gemäß der Folge
(2j + 1)j≥0 , d.h.
(1 − 1) + (1 − 1) + (1 − 1) + · · · ,
| {z } | {z } | {z }
b0 =0
b1 =0
b2 =0
P∞
so gelangen
wir zur konvergenten Reihe i=0 0.
P∞
Sei
i=0 ai eine unendliche Reihe und π : N → N eine bijektive Abbildung der natürlichen Zahlen auf sich,P
d.h. eine Permutation der
P∞Menge der
∞
natürlichen Zahlen, dann P
sagt man
i=0
i=0 ai durch
Pa∞π(i) entsteht aus
∞
Umordnung. Wenngleich i=0 aπ(i) aus i=0 ai nur dadurch entsteht, daß
man das Kommutativgesetz der komplexen Zahlen anwendet, so brauchen
die beiden Summen keineswegs gleich zu sein.
Eine positive Aussage gilt aber doch:
Satz 30 Wenn eine Reihe absolut konvergiert, so konvergiert auch jede aus
ihr durch Umordnung entstehende Reihe mit der gleichen Summe.
Auf den Beweis des Satzes wollen wir verzichten. Aus einer Reihe, die konverP (−1)n+1
,
giert aber nicht absolut konvergiert, z.B. die Leibnizsche Reihe ∞
i=1
n
können durch Umordnung Reihen mit anderen Summen entstehen. Man
spricht daher auch von bedingt konvergenten Reihen.
P (−1)n+1
Beispiel: Sei S = ∞
die Summe der Leibnizschen Reihe. Durch
i=1
n
Klammersetzung enstehen die Reihen
∞
X
an =
n=1
und
∞
X
n=1
bn =
∞ X
n=1
∞ X
n=1
1
1
−
2n − 1 2n
1
1
1
1
−
+
−
4n − 3 4n − 2 4n − 1 4n
welche ebenfalls die Summe S haben.
55
Preliminary version – 3. Juli 2002
,
Betrachten wir nun die Reihe
∞
X
cn =
n=1
∞ X
n=1
1
1
1
+
−
4n − 3 4n − 1 2n
Für alle n ≥ 1 gilt cn = 12 an + bn und daher gilt unter Anwendung von
Gleichung (3.13) die Beziehung
∞
∞ ∞
∞
X
X
X
1
1X
3
cn =
an + b n =
an +
bn = S .
2
2 n=1
2
n=1
n=1
n=1
P
Andererseits entsteht aber ∞
n=1 cn selbst einfach durch Umordnung aus der
Leibnizschen Reihe. Die Umordnung bewirkte ein Ändern der Summe von S
auf 23 S.
Eine Anwendung des vorangegangenen Satz ist
Satz 31 (Großer Umordnungssatz) Sei (ai,j )i,j≥0 eine Doppelfolge. Mittels einer bijektiven Abbildung ϕ : N × N → N kann man der Doppelfolge
eine gewöhnliche Zahlenfolge P
(bk )k≥0 , wobei bk = ai,j für alle i, j ≥ 0 und
k = ϕ(i, j), zuordnen. Falls ∞
k=0 bk absolut konvergiert, so gelten die folgenden Aussagen:
P∞
1. P
für jedes feste i ≥ 0 konvergiert
j=0 ai,j absolut, wir setzen Zi =
∞
a
,
j=0 i,j
P∞
2. P
für jedes feste g ≥ 0 konvergiert
i=0 ai,j absolut, wir setzen Sj =
∞
i=0 ai,j ,
P
P∞
3. die Reihen ∞
j=0 Zi und
i=0 Sj konvergieren absolut und ihre Summen
sind gleich:
!
!
∞
∞
∞
∞
∞
∞
∞
X
X
X
X
X
X
X
Zi =
ai,j =
bk =
ai,j =
Sj
i=0
i=0
j=0
k=0
j=0
i=0
j=0
Die Elemente einer Doppelfolge (ai,j )i,j≥0 lassen sich als Einträge der unendlich reihigen Matrix
a0,0 a0,1 a0,2 · · ·
a1,0 a1,1 a1,2 · · ·
a2,0 a2,1 a2,2 · · ·
..
..
..
.
.
.
56
Preliminary version – 3. Juli 2002
auffassen. Zi entspricht der Summe der i-ten Zeile, analog ist Sj die Summe
der j-ten Spalte. Der große Umordungssatz besagt, daß es egal ist, ob man die
Elemente zeilenweise oder spaltenweise aufsummiert. Voraussetzung dafür
ist allerdings, daß eine Reihe, die alle Matrixeinträge als Glieder hat, absolut
konvergieren muß.
3.6.5
Multiplikation unendlicher Reihen
In Gleichung (3.13) hatten wir gezeigt, wie sich Summen und Linearkombinationen unendlicher Reihen berechnen lassen. Für Produkte haben wir
eine derartige Formel bisher noch nicht. Wünschenswert wäre natürlich eine
Beziehung der Art
∞
X
ai
i=0
!
∞
X
bj
j=0
!
=
∞
∞
X
X
i=0
ai b j
!
=
j=0
∞
∞
X
X
j=0
b j ai
!
(3.17)
i=0
Die Überlegungen zum großen
zeigen allerdings, daß die
P∞ Umordnungssatz
P∞
Konvergenz der Reihen
a
und
b
dafür
sicher nicht ausreicht.
i=0 i
j=0 j
Die Produkte ai bj bilden eine Doppelfolge (ai bj )i,j≥0 . Nur wenn sich die
Elemente der Doppelfolge so linear numerieren lassen, daß die Reihe mit
diesen Gliedern absolut konvergiert, dann können wir uns sicher sein, daß
Gleichung (3.17) gilt.
Allerdings ist die Überprüfung der absoluten Konvergenz einer linearen Anordnung der Doppelfolge ein schwer handhabbares Problem.
Es läßt
P∞sich
P∞
aber zeigen, daß die absolute Konvergenz der Reihen i=0 ai und j=0 bj
hinreichend dafür ist. Wir halten also fest:
P∞
Satz
32
(Cauchysche
Produktreihe)
Die
unendlichen
Reihen
P∞
P∞ i=0 ai und
P∞
i=0 ai und B =
j=0 bj . Weij=0 bj seien absolut konvergent mit A =
terhin sei ϕ : N × N → N eine bijektive
Abbildung
und
c
:=
ai bj für alle
k
P∞
i, j ≥ 0 und k = ϕ(i, j). Dann ist k=0 ck ebenfalls absolut konvergent und
es gilt
! ∞ !
!
!
∞
∞
∞
∞
∞
∞
X
X
X
X
X
X
X
A·B =
=
ck =
ai b j =
b j ai
ai
bj
i=0
j=0
i=0
k=0
=
∞
X
m=0
m
X
j=0
bn am−n
n=0
57
Preliminary version – 3. Juli 2002
!
j=0
i=0
(3.18)
Der Ausdruck (3.18) wird Cauchysche Produktreihe genannt. Ein entscheidender Vorteil dieser Darstellung gegenüber den beiden darüberstehenden
Doppelsummen besteht darin, daß hier nur die äußere Summe eine unendliche Reihe ist.
P∞
P∞
Beweis: Wir betrachten die Doppelfolge (ai bj )i,j≥0 .
j=0 (ai bj ) = ai
j=0 bj
ist die i-te Zeilenreihe
dieser
Doppelfolge.
Die
Zeilenreihen
sind
absolut
konP∞
P∞
P∞
vergent, denn j=0 |ai bj | = |ai | j=0 |bj | =: Zi und die Reihe j=0
P|bj | konvergiert aufgrund der vorausgesetzten absoluten Konvergenz von ∞
j=0 bj .
Darüberhinaus konvergiert auch die Summe
!
! ∞
!
∞
∞
∞
∞
X
X
X
X
X
Zi =
|ai |
|bj | =
|bj |
|ai | .
i=0
i=0
j=0
j=0
i=0
P
Dabei wurde ausgenutzt, daß die Summe ∞
j=0 |bj | eine feste Zahl ist, welche
gemäß der RechenregelP(3.13) für Linearkombinationen vor die Summe
P∞gezo∞
gen werden kann. Da i=0 ai absolut
P∞ konvergiert, konvergiert auch i=0 Zi .
Untersuchen wir
P∞ck auf absolute Konvergenz. Zu jeder
P nun die Reihe k=0
|c
|
der
Reihe
Partialsumme m
k
k=0 |ck | gibt es eine natürliche Zahl M ,
k=0 P
Pm
M PM
so daß
j=0 |ai bj |, M braucht nur groß genug gewählt
i=0
k=0 |ck | ≤
zu werden, so daß aus ϕ(i, j) ≤ m die Ungleichungen iP
≤ M und j ≤ M
folgen. Damit sind die Partialsummen nach oben durch ∞
i=0 Zi beschränkt
P
und aufgrund der Monotonie der Partailsummenfolge konvergiert ∞
k=0 |ck |.
Somit ist der große Umordnungssatz auf die Doppelfolge (ai bj )i,j≥0 anwendbar und es ergibt sich
!
!
!
∞
∞
∞
∞
∞
m
∞
X
X
X
X
X
X
X
ck =
ai b j =
b j ai =
bn am−n .
k=0
i=0
j=0
j=0
i=0
m=0
n=0
Die letzte Gleichheit ergibt sich daraus, daß die Cauchysche Produktreihe
durch
P∞ Umordnung und Klammerung aus der absolut konvergenten Reihe
k=0 ck entsteht, dabei werden die Elemente der unendlichen Matrix
a0 b 0 a0 b 1 a0 b 2 · · ·
a1 b 0 a1 b 1 a1 b 2 · · ·
a2 b 0 a2 b 1 a2 b 2 · · ·
..
..
..
.
.
.
58
Preliminary version – 3. Juli 2002
entlang der Nebendiagonalen durchlaufen und die zur selben Nebendiagonale
gehörigen Elemente geklammert.
Es fehlt noch der Nachweis der Gleichheit der Summen zum Produkt A · B.
Diese folgt unter Anwendung von Gleichung (3.13) beispielsweise folgendermaßen:
!
!
!
∞
∞
∞
∞
∞
∞
X
X
X
X
X
X
ai b j =
bj
ai =
bj · A = A ·
bj = A · B .
j=0
i=0
j=0
i=0
j=0
j=0
2
59
Preliminary version – 3. Juli 2002
Kapitel 4
Potenzreihen
Potenzreihen stellen eine Verallgemeinerung von Polynomen dar. Ähnlich
wie die Polynome haben auch Potenzreihen ein Doppelleben. Wir wollen
uns hier auf den Fall komplexer Koeffizienten beschränken.
Zum einen ist eine (formale) Potenzreihe eine Abbildung f : N → C der
natürlichen in die komplexen Zahlen. Die f (i) =: ai , i = 0, 1, . . . , sind
die Koeffizienten der Potenzreihe. Man führt eine Unbestimmte x ein und
verwendet die formale Schreibweise
f=
∞
X
ai xi = a0 + a1 x + a2 x2 + · · · .
i=0
Im Gegensatz zu den Polynomen verzichtet man auf die Forderung, daß die
Abbildung f nur an endlich vielen Stellen von Null verschiedene Werte annehmen darf.
Die zweite Natur der Polynome besteht in der Deutung als Polynomfunktion.
Durch die Abbildungsvorschrift
F (α) := a0 + a1 α + a2 α2 + · · · an αn für alle α ∈ C
definiert das Polynom a0 + a1 x + a2 x2 + · · · + an xn eine (totale) komplexe
Funktion F : C → C.
Die naheliegende Übertragung des Funktionscharakters auf Potenzreihen besteht in der Zuordnungsvorschrift
F (α) :=
∞
X
ai αi für alle α ∈ C
i=0
60
Preliminary version – 3. Juli 2002
zur formalen Potenzreihe
f=
∞
X
ai xi .
i=0
P∞
i
Dabei ist der Ausdruck P
i=0 ai α als Summe einer unendlichen Reihe zu ver∞
stehen. Falls die Summe i=0 ai αi aufgrund der Divergenz der unendlichen
Reihe nicht existiert, so gehört α nicht dem Definitionsbereich der Funktion
F an.
In der Analysis steht die Auffassung einer Potenzreihe als (partielle) komplexe Funktion im Vordergrund. Man definiert:
Definition 14 (an )n≥0 sei eine Zahlenfolge und a und x seien komplexe Zahlen. Unter der Potenzreihe in x − a mit den Koeffizienten an , n ≥ 0, versteht
man die unendliche Reihe
∞
X
an (x − a)n
.
n=0
Hierbei treffen wir die Vereinbarung, daß auch im Falle x = a die Gleichung
(x − a)0 = 1 gelten soll.
Die Koeffizientenfolge (an )n≥0 und die Zahl a werden als fest vorgegeben
angesehenPund man interessiert sich für das Konvergenzverhalten der Pon
tenzreihe ∞
n=0 an (x − a) in Abhängigkeit von der Zahl x. Man betrachtet
die Potenzreihe also als eine komplexe Funktion in der Variablen x und fragt
nach ihrem Definitionsbereich. Im Fall a = 0 sind die hier definierten Potenzreihen den oben eingeführten formalen Potenzreihen optisch gleich. Auf
die Bedeutung derPZahl a wird später noch eingegangen.
n
Jede Potenzreihe ∞
n=0 an (x − a) konvergiert wenigstens für x = a, denn in
diesem Falle verschwinden alle Glieder an (x − a)n der ReihePfür n ≥ 1.
n
Es gibt Potenzreihen, die nur für x = a konvergieren, z.B. ∞
n=0 n!(x − a) .
Wenden wir für eine beliebige komplexe Zahl x 6= a das Quotientenkriterium
an, so stellen wir
(n + 1)!(x − a)n+1 = |(n + 1)(x − a)| > 1
n!(x − a)n
P
1
für alle n ≥ |x−a|
fest und folglich divergiert die unendliche Reihe ∞
n=0 n!(x−
n
a) nach Satz 29(2).
61
Preliminary version – 3. Juli 2002
Auf der anderen Seite
es auch
Potenzreihen, die für jede komplexe Zahl x
P∞gibt(x−a)
n
konvergieren, z.B. n=0 n! . Anwendung des Quotientenkriteriums liefert
(x − a)n+1 n! x − a 1
(n + 1)!(x − a)n = n + 1 < 2
für alle n ≥ 2|x − a|. Anwendung von Satz 29(1) bestätigt unsere Behauptung.
Neben den beschriebenen Extremfällen, daß die Potenzreihe nur für x = a beziehungsweise für beliebige x konvergiert können natürlich noch Zwischenfälle
auftreten.
P
n
Beispiel: Die Potenzreihe ∞
für alle komplexen Zahlen
n=0 (x−a)
P∞konvergiert
x mit |x − a| < 1 absolut, da dann n=0 |x − a|n eine konvergente geometrische Reihe ist. Dagegen ist die obige Potenzreihe für alle komplexen Zahlen
x mit |x − a| ≥ 1 sicher divergent, denn ihre Glieder bilden dann nicht einmal eine Nullfolge. Das Konvergenzgebiet dieser Potenzreihe hat eine sehr
einfache Gestalt, die Menge aller derjenigen komplexen Zahlen x für die die
Potenzreihe konvergiert ist gerade das Innere des Kreises der komplexen Zahlenebene mit dem Radius 1 um den Mittelpunkt a. Der nächste Satz zeigt,
daß diese einfache Gestalt des Konvergenzgebietes in diesem Beispiel nicht
nur zufällig auftritt.
4.1
Konvergenzradius und Konvergenzkreis
P
n
Satz 33 Die Potenzreihe ∞
n=0 an (x − a) möge nicht nur für x = a aber
auch nicht für alle
Dann existiert eine positive reelle
P∞x ∈ C konvergieren.
n
Zahl ρ, so daß
n=0 an (x − a) für alle x ∈ C mit |x − a| < ρ absolut
konvergiert und für alle x ∈ C mit |x − a| > ρPdivergiert. Diese Zahl ρ nennt
n
man den Konvergenzradius der Potenzreihe ∞
n=0 an (x − a) .
Zum Beweis des Satzes benötigen wir zwei Lemmata.
P
n
Lemma 1 Falls die Potenzreihe ∞
n=0 an (x−a) für x = x0 6= a konvergiert,
so konvergiert sie für alle komplexen Zahlen x ∈ C mit |x − a| < |x0 − a|
absolut.
Beweis: Für x = a ist die absolute Konvergenz der Potenzreihe klar, betrachten wir also ein beliebiges x mit 0 < |x − a| < |x0 − a|. Dann ist der Quotient
ϑ := |x|x−a|
eine reelle Zahl mit 0 < ϑ < 1.
0 −a|
62
Preliminary version – 3. Juli 2002
Untersuchen wir nun die Reihe
Für alle n ≥ 0 gilt
P∞
n=0
an (x − a)n auf absolute Konvergenz.
|an (x − a)n | = |an | |(x − a)n | ≤ |an ||x0 − a|n ϑn
P
n
Aufgrund der Konvergenz der unendlichen Reihe ∞
n=0 an (x0 − a) bilden
ihre Glieder an (x0 − a)n eine Nullfolge. Bereits die Konvergenz der Folge
der Glieder impliziert aber, daß die Absolutbeträge der Glieder nach oben
beschränkt sind, sei also K eine positive reelle Zahl mit |an (x0 − a)n | =
|an | |(x0 − a)n | ≤ K für alle n ≥ 0. Einsetzen in die obige Abschätzung
ergibt
|an (x − a)n | ≤ Kϑn
P
P∞
n
Also ist ∞
Reihe
|an (x − a)n |.
n=0 Kϑ eine Majorante der unendlichen
n=0
P∞
P
∞
n
Die Konvergenz der Majorante folgt wegen Pn=0 Kϑn = K P
n=0 ϑ sofort
∞
∞
aus der Konvergenz der geometrischen Reihe n=0 ϑn . Also ist n=0 an (x −
a)n für alle x ∈ C mit |x − a| < |x0 − a| absolut konvergent.
2
Umgekehrt gilt
P
n
Lemma 2 Falls die Potenzreihe ∞
n=0 an (x − a) für x = x0 6= a divergiert,
so divergiert sie für alle komplexen Zahlen x ∈ C mit |x − a| > |x0 − a|.
Beweis: Angenommen,
x ∈ C mit |x − a| > |x0 − a|, für welches
P∞ es gäbe ein
n
die Potenzreihe n=0 an (x − a) konvergiert. Dann müßte die Potenzreihe
wegen |x0 − a| < |x − a| nach dem vorangegangenen Lemma für x0 absolut
konvergieren.
Das steht aber im Widerspruch zur vorausgesetzten Divergenz
P∞
2
von n=0 an (x0 − a)n .
Beweis von SatzP
33. Sei D ⊂ C die Menge aller komplexen Zahlen x für die
n
die Potenzreihe ∞
n=0 an (x − a) konvergiert und B := {|x − a| : x ∈ D} die
Menge der Abstände der Elemente von D von a. Da die Potenzreihe nach
Voraussetzung nicht für alle komplexen Zahlen x konvergieren sollte, gibt
es eine Zahl x = x0 , für die die Potenzreihe divergiert. Nach Lemma 2 ist
r := |x − x0 | eine obere Schranke der Menge B. Nach Satz 1 besitzt B eine
obere Grenze ρ. Sei nun x ∈ C so, daß |x − a| < ρ. Dann existiert aufgrund
der Eigenschaften der oberen Grenze ein x0 ∈P
D mit |x − a| < |x0 − a| < ρ.
0
0
n
x ∈ D bedeutet, daß die unendliche Reihe ∞
n=0 an (x − a) konvergiert,
also folgt aus Lemma 1 wegen |x − a| < |x0 − a| die absolute Konvergenz der
Potenzreihe für x. Damit ist gezeigt, daß die obere Grenze der Menge B alle
63
Preliminary version – 3. Juli 2002
Anforderungen an den Konvergenzradius der Potenzreihe
erfüllt.
P∞
n=0
an (x − a)n
2
Für die in Satz 33 ausgeschlossenen Fälle legt man formal den Konvergenzradius ρ = 0 für Potenzreihen fest, die nur für x = a konvergieren, und den
Konvergenzradius ρ = ∞ für Potenzreihen fest, die in jedem Punkt x ∈ C
konvergieren.
Die
Menge D aller komplexen Zahlen, für die die Potenzreihe
P∞ Struktur der
n
a
(x
−
a)
konvergiert,
legt die Einführung des Begriffes Konvergenzn=0 n P
∞
n
kreis von n=0 an (x − a) für D nahe.
Gemäß Satz 33 konvergiert die Potenzreihe für jeden inneren Punkt ihres
Konvergenzkreises absolut und sie divergiert für jeden äußeren Punkt ihres
Konvergenzkreises. Das Konvergenzverhalten in den Randpunkten des Konvergenzkreises hängt von den konkreten Koeffizienten an der Potenzreihe ab.
P
n
Beispiel 1: Die oben untersuchte Potenzreihe ∞
n=0 (x − a) hat den Konvergenzradius 1 und sie divergiert für alle Randpunkte ihres Konvergenzkreises.
P
(x−a)n
Beispiel 2: Betrachten wir nun die Potenzreihe ∞
. Die Zahlenfolge
n=1
n2
(qn )n≥0 der Quotienten
2
n (x − a)n+1 n2
=
qn := |x − a|
(n + 1)2 (x − a)n (n + 1)2
ist monoton wachsend und hat den Grenzwert limn→∞ qn = |x − a|. Im Falle
P
(x−a)n
|x − a| < 1 ist ∞
nach dem Quotientenkriterium absolut konvern=1
n2
gent. Für |x − a| > 1 gibt es eine natürliche Zahl n0 , so daß qn > 1 für
P
(x−a)n
alle n ≥ n0 , also divergiert ∞
nach dem Quotientenkriterium. Der
n=1
n2
Konvergenzradius der Reihe ist somit 1.
P∞ 1
(x−a)n 1 Im Fall |x − a| = 1 ist n=1 n2 wegen n2 ≤ n2 eine konvergente MajoP
(x−a)n
, also konvergiert die Potenzreihe für alle Randpunkte
rante von ∞
n=1
n2
ihres Konvergenzkreises.
P
(x−a)n
. Analog
Beispiel 3: Betrachten wir abschließend die Potenzreihe ∞
n=1
n
zu oben weist man durch Untersuchung der Folge
n(x − a)n+1 = n |x − a|
qn := n
(n + 1)(x − a) n + 1
64
Preliminary version – 3. Juli 2002
nach, daß die Potenzreihe den Konvergenzradius 1 besitzt. Im Randpunkt
x = a + 1 des Konvergenzkreises geht die Potenzreihe in die divergente harmonische Reihe über. Im Randpunkt x = a − 1 des Konvergenzkreises wird
sie bis auf das Vorzeichen in die konvergente Leibnizsche Reihe überführt.
Die vorangegangenen Überlegungen zeigen einen Weg zum Ermitteln des
Konvergenzradiuses einer Potenzreihe auf.
P
n
Satz 34 Für den Konvergenzradius ρ einer Potenzreihe ∞
n=0 an (x−a) gilt:
|
1. Falls |a|an+1
eine Nullfolge ist, so gilt ρ = ∞, d.h. die Potenzreihe
n|
n≥0
konvergiert für alle x ∈ C.
2. Im Falle der Konvegrenz der Zahlenfolge
|an+1 |
|an |
gegen einen posin≥0
|
tiven Grenzwert 0 < l = limn→∞ |a|an+1
gilt ρ = 1l .
n|
|an+1 |
3. Falls die Zahlenfolge |an |
bestimmt divergent gegen +∞ ist, so
n≥0
konvergiert die Potenzreihe nur für x = a, d.h. ρ = 0.
p
4. Falls n |an |
eine Nullfolge ist, so ist ρ = ∞ der Konvergenzradius
n≥2
der Potenzreihe.
p
5. Falls die Zahlenfolge n |an |
gegen einen positiven Grenzwert 0 <
n≥2
p
l = limn→∞ n |an | konvergiert, so ist ρ = 1l der Konvergenzradius der
Potenzreihe.
p
6. Falls die Zahlenfolge n |an |
unbeschränkt ist, so ist ρ = 0 der
n≥2
Konvergenzradius der Potenzreihe.
p
n
7. Ist die Zahlenfolge
|an |
beschränkt aber nicht konvergent, so
n≥2
ergibt sich der Konvergenzradius als ρ = 1l , wobei l die obereGrenzeder
p
Menge der Grenzwerte aller konvergenten Teilfolgen von n |an |
n≥2
ist.
65
Preliminary version – 3. Juli 2002
Beweis: Die Behauptungen (1)-(3) ergeben sich aus dem Quotientenkriterium
29 für Reihen. Für den Quotient der Beträge zweier aufeinander folgender
Glieder der Potenzreihen haben wir
an+1 (x − a)n+1 |an+1 |
(4.1)
an (x − a)n = |an | |x − a|
|
|an+1 |
eine
Nullfolge,
so
ist
auch
(1) Ist |a|an+1
|x
−
a|
eine Nullfolge,
|an |
n|
n≥0
n≥0
also existiert zu jeder komplexen Zahl x eine natürliche Zahl n0 , so daß der
Quotient (4.1) für alle n ≥ n0 kleiner als ε = 21 ist. Damit ist die Potenzreihe
für jedes x ∈ C konvergent.
|
(2) Sei nun 0 < l = limn→∞ |a|an+1
und x ∈ C mit 0 < |x − a| < 1l . Einsetzen
n|
von 0 < δ := 1l − |x − a| < 1l in Gleichung (4.1) ergibt
an+1 (x − a)n+1 |an+1 | 1
=
−δ
an (x − a)n |an |
l
und
0 < lim
n→∞
Also gibt es zu ε =
δl
2
|an+1 |
|an |
1
−δ
l
= 1 − δl < 1
eine natürliche Zahl n0 , so daß
an+1 (x − a)n+1 2 − δl
an (x − a)n < 2 < 1
für alle n ≥ n0 , was die absolute Konvergenz der Potenzeihe für diese x
beweist.
|an+1 |
(3) Die bestimmte Divergenz der Folge |an |
impliziert die bestimmte
n≥0
Divergenz der Folge der Quotienten (4.1), daher übersteigen alle Quotienten
ab einem gewissen n0 die Zahl 1 und Anwendung des Quotientenkriteriums
liefert die Behauptung.
Analog verfährt man in (4)-(6) unter Bezug auf das Wurzelkriterium 28.
Bedingung (7) zeigt man mit dem Wurzelkriterium 28(3).
2
Die auf dem Wurzelkriterium fußenden Bedingungen (4)-(7) haben den Vorteil, daß sie eine vollständige Fallunterscheidung darstellen. D.h. für eine
beliebige Potenzreihe trifft stets eine dieser vier Bedingungen zu.
66
Preliminary version – 3. Juli 2002
Die Anwendung der Regeln (1)-(3)
ist manchmal einfacher als die der Wur|an+1 |
zelregeln. Wenn die Folge |an |
allerdings weder konvergiert noch ben≥0
stimmt divergiert, so bietet das Quotientenkriterium keine Möglichkeit zur
Bestimmung des Konvergenzradius der Potenzreihe. Darüberhinaus verlangt
die Anwendung des Quotientenkriteriums, daß wenigstens ab einem n0 sämtliche Koeffizienten an , n ≥ n0 , von Null verschieden sind.
Übungsaufgaben, Serie 6
16. Berechnen Sie die Summe:
∞
X
(n + 1)an
wobei a ∈ C, 0 < |a| < 1
n=0
P
Hinweis: Für alle natürlichen Zahlen n gilt (n + 1)an = ni=0 ai an−i .
Schreiben Sie damit die obige Reihe zunächst in die Cauchysche Produktreihe zweier absolut konvergenter Reihen um.
17. Beweisen Sie, daß die Reihe
∞
X
n=0
a2n
(1 + a2 )n−1
für jede reelle Zahl a konvergiert und berechnen Sie die Summe der
Reihe.
18. Bestimmen Sie die Konvergenzradien der folgenden Potenzreihen in x:
(a)
∞
X
nn
n=1
n!
(x − 1)n
(b)
2
∞
X
(n + 1)2n
n2n2
n=1
xn
(c)
∞ X
1
2
n=1
n
x − 3 + 4i
67
Preliminary version – 3. Juli 2002
4.2
Rechenregeln für Potenzreihen
P∞
P∞
n
n
Satz 35
n=0 an (x − a) und
n=0 bn (x − a) seien zwei Potenzreihen mit
den Konvergenzradien ρ1 beziehungsweise ρ2 . Dann gilt für der Konvergenzradius ρ der Potenzreihe
∞
X
(λan + µbn ) (x − a)n
n=0
die Beziehung ρ ≥ min {ρ1 , ρ2 }.
P
Beweis: Aus Gleichung 3.13 folgt sofort, daß ∞
) (x−a)n für jen=0 (λan + µbn
P
n
des xP∈ C konvergiert, für das auch die beiden Potenzreihen ∞
n=0 an (x − a)
∞
n
und n=0 bn (x−a) konvergieren. Die Konvergenzkreise beider Potenzreihen
sind konzentrische Kreise um den Punkt a, also besteht ihr Durchschnitt aus
dem Kreis mit dem kleineren Radius und nach der obigen
P Überlegungen ist
dieser Durchschnitt im Konvergenzkreis der Potenzreihe ∞
n=0 (λan + µbn ) (x−
n
a) enthalten, was die behauptete Relation zwischen den Konvergenzradien
zur Folge hat.
2
P
n
Der Konvergenzradius der Potenzreihe ∞
n=0 (λan + µbn ) (x−a) kann durchaus auch größer als min {ρ1 , ρ2 } sein.
P
P
n!−1
n!+2
n
So haben die beiden Potenzreihen ∞
a)n und ∞
n=0 n! (x
n=0 n! (x − a)
P−
∞
n!−1
n!+2
beide
Konvergenzradius 1, aber die Reihe n=0 − n! + n! (x−a)n =
P∞ den
3
n
n=0 n! (x − a) konvergiert für jedes x ∈ C, hat also den Konvergenzradius
∞.
P
n
Satz 36 (Multiplikation von Potenzreihen) Seien ∞
n=0 an (x−a) und
P
∞
n
mit den Konvergenzradien ρ1 beziehungsn=0 bn (x − a) zwei Potenzreihen P
Pk
k
weise ρ2 . Dann hat die Potenzreihe ∞
k=0 ck (x−a) , wobei ck :=
n=0 an bk−n
für alle k ≥ 0, mindestens den Konvergenzradius min{ρ1 , ρ2 } und für alle
x ∈ C mit |x − a| < min{ρ1 , ρ2 } gilt
! ∞
!
∞
∞
X
X
X
n
n
an (x − a)
bn (x − a)
=
ck (x − a)k .
n=0
n=0
k=0
Beweis: Unter Berücksichtigung der absoluten Konvergenz der Potenzreihen
in jedem inneren Punkt des Konvergenzkreises folgt die Behauptung sofort
aus Satz 32
2
68
Preliminary version – 3. Juli 2002
P∞
n
Satz 37 (Umordnung einer Potenzreihe)
n=0 an (x − a) sei eine Potenzreihe vom Konvergenzradius
daß |b − a| < ρ.
P ρ > 0 und mb ∈ C sei so, P
∞
n
Dann besitzt die Potenzreihe ∞
b
(x
−
b)
,
wobei
b
=
m
m=0 m
n=m an m (b −
a)n−m für alle m ≥ 0, mindestens den Konvergenzradius τ = ρ − |b − a| und
für alle x ∈ C mit |x − b| < τ gilt die Gleichheit
∞
X
an (x − a)n =
n=0
∞
X
bm (x − b)m .
m=0
Beweisskizze: Wir schreiben die Ausgangsreihe in die Form
∞
X
an (x − a)n =
n=0
∞
X
an ((x − b) + (b − a))n
n=0
∞
X
n X
n
(x − b)m (b − a)n−m
m
n=0
m=0
∞
∞
X X n
=
an
(x − b)m (b − a)n−m
m
n=0 m=0
∞
∞
XX
n
an
=
(x − b)m (b − a)n−m
m
m=0 n=m
=
=
∞
X
an
(4.2)
(4.3)
bm (x − b)n
m=0
um. In Schritt (4.2) darf die obere
Summationsgrenze auf ∞ erhöht werden,
n
da die Binomialkoeffizienten m für alle m > n als 0 definiert sind. Dann
hat man sich davon zu überzeugen, daß der große Umordnungssatz für alle
x mit |x − b| < τ auf die Doppelfolge
n
m
n−m
an
(x − b) (b − a)
m
n,m≥0
anwendbar ist, aber auf diesen Beweisschritt wollen wir hier verzichten, weisen aber darauf hin, daß hierbei die Bedingung |b − a| < ρ benötigt wird.
Man vertauscht die Summationen und darf die untere
Summationsgrenze der
n
inneren Summe in Schritt (4.3) auf m setzen, da m für alle n < m Null ist.
2
69
Preliminary version – 3. Juli 2002
P
m
Den Übergang zur Potenzreihe ∞
bezeichnet man auch als
m=0 bm (x − b)
Umordnung nach Potenzen von x − b. In der Einführung dieses Kapitels
hatten wir bereits einmal darauf hingewiesen, daß man sich bei der
PUntersun
chung der formalen Potenzreihen auf Darstellungen der Gestalt ∞
n=0 an x
beschränken darf. Wir sehen, daß ein derartiges im Zusammenhang mit der
Untersuchung der durch eine Potenzreihe beschriebenen komplexen Funktion gewissen Einschränkungen unterliegt. Bedenkenlos kann man die Umordnung nach Potenzen von x − 0 nur dann vornehmen, wenn die Potenzreihe
den Konvergenzradius ∞ hat. Ist 0 wenigstens innerer Punkt des Konvergenzkreises der betrachteten Potenzreihe, so kann man die Potenzreihe nach
Potenzen von x − 0 umordnen und die umgeordnete Potenzreihe nimmt wenigstens in einer Umgebung des Nullpunktes die gleichen Werte wie die Ausgangsreihe an. Man beachte aber, daß die Ausgangspotenzreihe und die
umgeordnete Potenzreihe als Funktionen nicht mehr gleich sind, denn sie
haben unterschiedliche Definitionsbereiche.
Liegt 0 auf dem Rand oder gar außerhalb des Konvergenzkreises, so haben die
Potenzreihen betrachtet als Abbildungsvorschriften komplexer Funktionen
nichts mehr miteinander zu tun.
In diesen Sachverhalten ist der Grund dafür zu suchen, daß man Potenzreihen
in der Analysis bezüglich der Potenzen in x − a untersucht.
P∞
n
Satz
38
(Identit
ätssatz
f
ür
Potenzreihen)
Es
seien
n=0 an (x−a) und
P∞
n
n=0 bn (x − a) zwei Potenzreihen mit den positiven Konvergenzradien ρ1
beziehungsweise ρ2 . Darüberhinaus sei (xi )i≥0 eine Zahlenfolge mit 0 <
|xi − a| < min{ρ1 , ρ2 } für alle i ≥ 0 und limi→∞ xi = a. Falls
∀i ≥ 0 :
∞
X
an (xi − a)n =
n=0
∞
X
bn (xi − a)n ,
n=0
so gilt an = bn für alle natürlichen Zahlen n ≥ 0.
P
n
Beweisskizze: Für eine beliebige Potenzreihe ∞
n=0 cn (x − a) des Konvergenzradius ρ und eine beliebige Zahlenfolge (yi ) mit 0 < P
|yi − a| < ρ für
n
alle i ≥ 0 und limi→∞ yi = a konvergiert die Potenzreihe ∞
n=0 cn (x − a)
für jedes
P∞x = yi , i ≥n 0, absolut. Damit ist jedes Glied der Zahlenfolge
(zi := n=0 cn (yi − a) )i≥0 eine wohldefinierte komplexe Zahl. Das zentrale
Problem des Beweises besteht im Nachweis der Gleichheit
lim zi = c0 .
i→∞
70
Preliminary version – 3. Juli 2002
(4.4)
P
n
Dann betrachtet man die Differenz ∞
n=0 (an − bn )(x − a) . Nach Voraussetzung hat diese für jedes x = xi , i ≥ 0, die Summe 0. Mit (4.4) folgt
0 = lim
i→∞
∞
X
(an − bn )(xi − a)n = a0 − b0 .
n=0
Auf diese Weise erhält man a0 = b0 . Mittels vollständiger Induktion zeigt
man dann, daß auch an = bn für alle n ≥ 1 gelten muß. Sei die Gleichheit
an = bn bereits für alle n < m + 1 gezeigt. Dann erhalten wir
0 =
∞
X
(an − bn )(xi − a)n
n=0
∞
X
(an − bn )(xi − a)n
n=m+1
= (xi − a)m+1
∞
X
(an − bn )(xi − a)n−(m+1) für alle i ≥ 0
n=m+1
und wegen (xi − a)m+1 6= 0 muß für alle i ≥ 0 die Gleichheit
0=
∞
X
n−(m+1)
(an − bn )(xi − a)
=
n=m+1
∞
X
(an+m+1 − bn+m+1 )(xi − a)n
n=0
vorliegen. Wendet man nun darauf (4.4) an, so zeigt sich am+1 = bm+1 .
Damit ist der Induktionsbeweis abgeschlossen und es folgt die Gleichheit
an = bn für alle n ≥ 0.
2
Betrachten wir ein einfaches Beispiel fürP
den obigen Satz.
n Wenn für alle
∞
1
natürlichen Zahlen i ≥ 1 die Gleichheit n=0 an i − a = 0 vorliegt, so
muß für alle n ≥ 0 die Gleichheit an = 0 gelten.
P∞
n
Allgemeiner gilt, wenn die Menge {yP
∈C :
n=0 an (y − a) = c} aller Stel∞
n
len x = y, an denen die Potenzreihe n=0 an (x−a) einen bestimmten festen
Wert c ∈ C annimmt, den Punkt a als Häufungspunkt hat, dann gilt a0 = c
und an = 0 für alle n ≥ 1.
SchließlichPkann man auch folgende Frage betrachten. Die Summe der Pon
tenzreihe ∞
n=0 an (x − a) , a ∈ R, sei für alle dem Konvergenzkreis der Potenzreihe angehörigen reellen x eine reelle Zahl, dann sind P
alle Koeffizienten
n
an reell. Durch Konjugation erhält man die Potenzreihe ∞
n=0 an (x − a) .
Da der Konvergenzradius nur von den Beträgen der Glieder abhängt, hat
71
Preliminary version – 3. Juli 2002
diese Potenzreihe den gleichen Konvergenzradius ρ wie die Ausgangsreihe.
Darüberhinaus gilt für alle x ∈ C mit |x − a| < ρ die Gleichheit
∞
X
an (x −
a)n
∞
X
=
n=0
an (x − a)n
n=0
und da die Summe auf der linken Seite als reell vorausgesetzt war folgt weiter
∞
X
∞
X
n
an (x − a) =
n=0
an (x − a)n
n=0
Mit Hilfe des obigen Satzes schließt man auf
an = an
für alle n ≥ 0, das bedeutet aber, daß alle an , n ≥ 0, reelle Zahlen sind.
4.3
Elementare Funktionen
Neben den Polynomfunktionen, den rationalen Funktionen und den Wurzelfunktionen spielen vor allem die Exponentialfunktionen, die Logarithmusfunktionen, die trigonometrischen Funktionen (auch Winkelfunktionen genannt) und die Hyperbelfunktionen eine wichtige Rolle.
Durch die Zuordnungsvorschriften
exp(x) =
sin(x) =
∞
X
xn
n=0
∞
X
n!
(−1)n
x2n+1
(2n + 1)!
(−1)n
x2n
(2n)!
n=0
cos(x) =
∞
X
n=0
definiert man Funktionen exp : R → R, sin : R → R und cos : R → R,
welche man als Exponential-, Sinus- beziehungsweise Cosinusfunktion bezeichnet. Alle drei Funktionen haben die gesamte Menge der reellen Zahlen
als Definitionsbereich.
72
Preliminary version – 3. Juli 2002
Nun sind Ihnen aus der Schule bereits Funktionen gleichen Namens bekannt.
Natürlich wurde diese Namensgleichheit nicht zufällig gewählt, der folgende
Satz faßt einige der wichtigsten Eigenschaften der oben definierten Funktionen zusammen.
Satz 39 Für alle x, y ∈ R und q ∈ Q gelten die folgenden Gleichungen und
Ungleichungen:
exp 0 = 1
exp 1 =
lim
n→∞
(4.5)
1+
1
n
n
=e
exp q = (exp 1)q
1
exp (−x) =
exp x
exp (x + y) = exp x exp y
π
sin 0 = cos
= 0
2
π
sin = cos 0 = 1
2
sin (−x) = − sin x
cos (−x) = cos x
sin (x + y) = sin x cos y + cos x sin y
cos (x + y) = cos x cos y − sin x sin y
x−y
x+y
sin x − sin y = 2 sin
· cos
2
2
x−y
x+y
cos x − cos y = −2 sin
· sin
2
2
sin2 x + cos2 x = 1
sin (x + 2π) = sin x
cos (x + 2π) = cos x
| sin x| ≤ 1
| cos x| ≤ 1
(4.6)
(4.7)
(4.8)
(4.9)
(4.10)
(4.11)
(4.12)
(4.13)
(4.14)
(4.15)
(4.16)
(4.17)
(4.18)
(4.19)
(4.20)
(4.21)
(4.22)
Man beachte, alle aufgeführten Eigenschaften können direkt aus den Potenzreihen abgeleitet werden, dabei ist keine Bezugnahme auf die aus der Schule
bekannten Funktionen erforderlich.
Im Nachhinein stellt man aber fest (siehe (4.6) und (4.7)), daß für alle rationalen Zahlen q die Gleichheit exp q = eq zutrifft. Bei Beschränkung auf
73
Preliminary version – 3. Juli 2002
rationale Argumente wirkt die Funktion exp also tatsächlich wie die aus der
Schule bekannt e-Funktion. Die hier eingeführte Exponentialfunktion erlaubt
es darüberhinaus, das Potenzieren mittels der Definition ex := exp x auf
beliebige reelle Exponenten auszudehnen. Die Gleichungen (4.8) und (4.9)
zeigen, daß die üblichen Rechenregeln auch für beliebige reelle Exponenten
gültig bleiben.
Zu den die Winkelfunktionen betreffenden Aussagen ist anzumerken, daß
die hier auftretende Zahl π wie folgt definiert ist. Man kann zeigen, daß
die cos-Reihe im offenen Intervall (0, 2) genau eine Nullstelle besitzt, das
Doppelte dieser Nullstelle bezeichnet man mit π. Damit ist zunächst noch
nicht klar, ob es sich tatsächlich um die üblicherweise mit π bezeichnete reelle
Zahl (≈ 3, 1415 . . . ) handelt, welche den Proportionalitätsfaktor zwischen
Durchmesser und Umfang eines Kreises angibt.
Gleichung (4.18) zeigt jedoch, daß das Paar (cos x, sin x) die Koordinaten
eines auf dem Einheitskreis liegenden Punktes der reellen Ebene ist. Mit
Hilfe der Integralrechnung kann man zeigen, daß x genau der Länge des
entgegen des Uhrzeigersinnes zwischen den Punkten (1, 0) und (cos x, sin x)
verlaufenden Bogens auf dem Einheitskreis entspricht. Aus diesem Grund
ist x tatsächlich das Bogenmaß des Öffnungswinkels dieses Kreisbogens und
unser hier verwendetes π ist tatsächlich das gewöhnliche π.
Aus diesen drei Grundfunktionen lassen sich weitere elementare Funktionen
ableiten. Da wären zum einen die Umkehrfunktionen. Aus dem vorigen
Semester ist Ihnen bekannt, daß es zu einer Funktion genau dann eine inverse
Funktion gibt, wenn sie bijektiv ist.
exp ist streng monoton wachsend und der Bildbereich besteht aus der Menge
R+ der positiven reellen Zahlen. Also ist exp : R → R+ bijektiv. Die inverse
Abbildung nennt man die natürliche Logarithmusfunktion und bezeichnet sie
mit ln. Der Definitionsbereich von ln ist die Menge R+ , der Bildbereich ist
ganz R und es gilt exp (ln x) = x für alle x ∈ R+ sowie ln (exp x) = x für alle
x ∈ R.
Betrachtet über den gesamten Definitionsbereich sind sin und cos nicht monoton, die Abbildungen sind also nicht injektiv. Das größte die Zahl 0 enthaltende abgeschlossene Intervall, auf welchem sin streng monoton wächst,
ist [− π2 , π2 ]. Der Wertebereich der sin-Funktion ist [−1, 1] und diesen Wertebereich hat auch die Einschränkung der sin-Funktion auf das Intervall
[− π2 , π2 ]. Also ist die Einschränkung sin : [− π2 , π2 ] → [−1, 1] eine bijektive Abbildung. Die Umkehrung dieser Abbildung bezeichnet man mit
arcsin und nennt sie Arcussinus. Es gelten demnach Def(arcsin) = [−1, 1]
74
Preliminary version – 3. Juli 2002
und Bild(arcsin) = [− π2 , π2 ] sowie die Gleichungen sin (arcsin x) = x für alle
−1 ≤ x ≤ 1 und arcsin (sin x) = x für alle − π2 ≤ x ≤ π2 .
Analog definiert man den Arcuscosinus arccos als die inverse Abbildung der
Einschränkung der Cosinusfunktion auf das maximale 0 umfaßende Intervall
[0, π], auf dem die Funktion streng monoton fällt.
Weitere abgeleitete elementare Funktionen sind
tan(x) =
cot(x) =
sinh(x) =
cosh(x) =
tanh(x) =
coth(x) =
sin(x)
π
, x 6= + kπ, k ∈ Z, (Tangens)
cos(x)
2
cos(x)
, x 6= kπ, k ∈ Z, (Cotangens)
sin(x)
1
(exp(x) − exp(−x)) (Sinus hyperbolicus)
2
1
(exp(x) + exp(−x)) (Cosinus hyperbolicus)
2
sinh(x)
(Tangens hyperbolicus)
cosh(x)
cosh(x)
, x 6= 0, (Cotangens hyperbolicus)
sinh(x)
sowie die Umkehrfunktionen arctan, arccot, arsinh, arcosh, artanh und arcoth
geeigneter Einschränkungen dieser Funktionen. Die Namen der Umkehrfunktionen der Hyperbelfunktionen sind Areasinus, Areacosinus, Areatangens und
Areacotangens. Die folgende Tabelle gibt Definitions- und Wertebereiche der
Funktionen an, insbesondere sind die Wertebereiche jeweils der Definitionsbereich auf den die zu invertierende Funktion eingeschränkt wird.
Funktion
arctan
arccot
arsinh
arcosh
artanh
arcoth
Definitionsbereich
R
R
R
[1, ∞)
(−1, 1)
{x ∈ R : |x| > 1}
Wertebereich
− π2 , π2
(0, π)
R
[0, ∞)
R
R \ {0}
75
Preliminary version – 3. Juli 2002
Übungsaufgaben, Serie 7
19. Zeigen Sie, daß die unendliche Reihe
∞
X
sin
n=1
2π
n2
konvergiert.
Hinweis: Weisen Sie zunächst die Gültigkeit von 0 ≤ sin x ≤ x für alle
0 ≤ x ≤ 1 nach.
P
n
20. Gibt es eine Potenzreihe ∞
n=0 an x , welche der Gleichung
(x2 − 2) ·
∞
X
an x n = 1
n=0
genügt? Falls ja, so berechnen Sie die Koeffizienten an , n ≥ 0, und den
Konvergenzradius dieser Potenzreihe.
Stellen Sie eine Vermutung über Existenz und Konvergenzradius der
Reihe auf, wenn man anstelle von x2 − 2 ein anderes Polynom p ∈ R[x]
betrachten würde!
21. Die Tangens-Funktion läßt sichPin einer Umgebung des Nullpunktes
n
durch eine Potenzreihe tan x = ∞
n=0 an x mit positivem Konvergenzradius darstellen. Bestimmen Sie die ersten 8 Koeffizienten a0 , a1 , . . . , a7
dieser Potenzreihe.
Hinweis: Vergleichen Sie die Koeffizienten der Cauchyschen Produktreihe von tan (x) · cos (x) mit denen der Potenzreihe sin (x).
76
Preliminary version – 3. Juli 2002
Kapitel 5
Stetigkeit reeller Funktionen in
einer reellen Variablen
In diesem Kapitel wollen wir einstellige Funktionen f untersuchen, deren
Definitionsbereich und Wertebereich Teilmengen der reellen Zahlen sind, d.h.
f : A → R, wobei A ⊆ R. Man spricht auch von reellen Funktionen in
einer reellen Variablen. Durch “Funktion in einer reellen Variablen” bringt
man zum Ausdruck, daß die Funktion nur ein Argument hat, d.h. einstellig
ist, und daß dieses Werte aus der Menge der reellen Zahlen annimmt. Die
Sprechweise reelle Funktion weist auf die reellen Zahlen als Wertebereich hin.
Es sei daran erinnert, daß der im vorigen Semester eingeführte Funktionsbegriff erfordert, daß Vorbereich und Definitionsbereich der Abbildung gleich
sind, mit anderen Worten es handelt sich um eine Abbildung von - in. Derartige Funktionen nennt man oft auch totale Funktionen und verwendet daneben noch den abgeschwächten Begriff der partiellen Funktion als Synonym
für eindeutige Abbildung f : A → B. Im Falle partieller Funktionen ist
die Unterscheidung zwischen dem Vorbereich A und dem Definitionsbereich
Deff := {a ∈ A | ∃b ∈ B : f (a) = b} von f erforderlich. Für totale
Funktionen fallen beide Begriffe zusammen.
In der Analysis ist es üblich, die Begriffe Funktion und partielle Funktion synonym zu verwenden, was auch wir für den Rest der Vorlesungsreihe vereinbaren. Aus diesem Grund können wir eine Funktion in einer reellen Variable
durch f : R → R kennzeichnen, dennoch gilt nur Deff ⊆ R. BildF bezeichnet in der üblichen Weise die Menge Bildf := {b ∈ R : ∃a ∈ Deff : f (a) = b}.
Zu Beginn unserer Untersuchungen wollen wir einige häufig verwendete Sprechweisen einführen. Man nennt eine Funktion f nach oben (unten) beschränkt,
77
Preliminary version – 3. Juli 2002
wenn ihr Bildbereich Bildf gemäß Definition 1 nach oben (unten) beschränkt
ist. Entsprechend heißt f beschränkt, wenn die Menge {|f (a)| : a ∈ Deff }
nach oben beschränkt ist.
Ist M ⊆ Deff eine Teilmenge des Definitionsbereiches von f , dann beziehen
sich die Begriffe Infimum, Supremum, Minimum und Maximum von f auf M
auf die entsprechenden Größen der Menge {f (a) : a ∈ M } ⊆ Bildf .
5.1
Grenzwerte von Funktionen
Definition 15 Sei f : R → R eine reelle Funktion in einer reellen Variablen. D sei der Definitionsbereich von f und x0 ∈ R ein Häufungspunkt
von D. Dann sagt man, f hat im Punkt x0 den Grenzwert a (Schreibweise:
limx→x0 f (x) = a), wenn zu jeder positiven reellen Zahl eine positive reelle
Zahl δ existiert, so daß für alle x ∈ D mit 0 < |x − x0 | < δ die Relation
|f (x) − a| < gilt.1
Natürlich braucht der Grenzwert limx→x0 f (x) imallgemeinen nicht zu exi1 für x < 0
stieren. Beispielsweise hat die Funktion f (x) =
im Punkt
0 für x ≥ 0
x0 = 0 keinen Grenzwert, denn in jeder δ-Umgebung Uδ (0) von x0 gibt es
negative und positive reelle Zahlen, also nimmt f in jeder δ-Umgebung von
x0 sowohl den Wert 1 als auch den Wert 0 an. Damit kann es natürlich keine
Zahl a geben, für welche alle Funktionswerte, die f auf Uδ (0) annimmt, in
der Umgebung U 1 (a) von a liegt. Für = 12 existiert demzufolge für kein a
2
ein δ mit den geforderten Eigenschaften.
Analog zu Satz 14 zeigt man, daß eine Funktion in einem Punkt x0 höchstens
einen Grenzwert a besitzen kann. Dabei ist von Bedeutung, daß Grenzwerte
von f nur in Häufungspunkten des Definitionsbereiches betrachtet werden
dürfen. Auf diese Weise ist ausgeschlossen, daß die Menge der x ∈ D mit
0 < |x − x0 | < δ leer wird. Andernfalls könnte die Forderung |f (x) − a| < irrelevant werden.
Weiterhin merken wir an, daß die Bedingung |f (x) − a| < nur für Punkte
x 6= x0 gestellt wurde. limx→x0 f (x) kann also auch dann existieren, wenn
x0 nicht dem Definitionsbereich D angehört. Selbst im Falle x0 ∈ D wird
1
Alternativ kann man zu jeder positiven reellen Zahl die Existenz einer positiven
reellen Zahl δ fordern, so daß |f (x0 + h) − a| < für alle h ∈ R mit x0 + h ∈ D und
0 < |h| < δ. Die Äquivalenz beider Definition ist offensichtlich.
78
Preliminary version – 3. Juli 2002
nicht limx→x0f (x) = f (x0 ) verlangt. Man betrachte zum Beispiel die Funk1 für x 6= 0
tion f (x) =
. Für diese Funktion gilt limx→0 f (x) = 1 aber
0 für x = 0
f (0) = 0.
Definition 16 Sei f : R → R eine reelle Funktion in einer reellen Variablen. D sei der Definitionsbereich von f und x0 ∈ R ein Häufungspunkt
von Dr (x0 ) := D ∩ {x ∈ R : x > x0 }. Dann sagt man, f hat im Punkt x0
den rechtsseitigen Grenzwert a (Schreibweise: limx→x0 +0 f (x) = a), wenn zu
jeder positiven reellen Zahl eine positive reelle Zahl δ existiert, so daß für
alle x ∈ Dr (x0 ) mit 0 < |x − x0 | = x − x0 < δ die Relation |f (x) − a| < gilt.
Entsprechend führt man linksseitige Grenzwerte limx→x0 −0 f (x) unter Bezugnahme auf die Menge Dl (x0 ) := D ∩ {x ∈ R : x < x0 } ein.
Bemerkung 6 Für eine reelle Funktion f in einer reellen Variablen und
einen Punkt x0 , welcher sowohl Häufungspunkt von Dr (x0 ) als auch Häufungspunkt von Dl (x0 ) ist, existiert der Grenzwert limx→x0 f (x) genau dann, wenn
die beiden einseitigen Grenzwerte limx→x0 +0 f (x) und limx→x0 −0 f (x) existieren und übereinstimmen. In diesem Falle gilt
lim f (x) = lim f (x) = lim f (x) .
x→x0
x→x0 +0
x→x0 −0
Beweis: (⇒) Es existiere der Grenzwert a := limx→x0 f (x). Dann existiert
zu ε > 0 eine δ > 0 mit |f (x) − a| < für alle x ∈ D mit 0 < |x − x0 | < δ,
also erst recht für alle x ∈ Dr (x0 ) ⊆ D mit 0 < |x − x0 | < δ. Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß x0 als Häufungspunkt von Dr (x0 ) vorausgesetzt
wurde, ergibt sich die Gleichheit limx→x0 +0 f (x) = a = limx→x0 f (x) unmittelbar aus Definition 16. Entsprechendes gilt für den linksseitigen Grenzwert
limx→x0 −0 f (x).
(⇐) x0 sei Häufungspunkt von Dr (x0 ) und von Dl (x0 ) und es gelte die Gleichheit a := limx→x0 +0 f (x) = limx→x0 −0 f (x). Dann existieren zu vorgegebenem ε > 0 zwei positive reelle Zahlen δ1 und δ2 mit |f (x) − a| < für alle
x ∈ Dr (x0 ) mit 0 < x − x0 < δ1 und für alle x ∈ Dl (x0 ) mit 0 < x0 − x < δ2 .
Trivialerweise ist x0 auch Häufungspunkt von D und es gilt |f (x) − a| < für
alle x ∈ D 0 < |x − x0 | < δ := min{δ1 , δ2 }. Folglich gilt limx→x0 f (x) = a. 2
79
Preliminary version – 3. Juli 2002
1 für x > 1
. Für diese Funktion
0 für x < 0
gilt limx→1 f (x) = limx→1+0 f (x) = 1, aber limx→1−0 f (x) existiert nicht, da
1 kein Häufungspunkt der Menge Dl (1) = {x : x < 0} ist. Analog gilt
limx→0 f (x) = limx→0−0 f (x) = 0 aber limx→0+0 f (x) existiert nicht.
Betrachten wir nun die auf ganz R definierte Funktion
1 für x ∈ {q ∈ Q : q > 0}
f (x) =
.
0 sonst
Wir betrachten die Funktion f (x) =
Für x0 < 0 existieren stets alle drei Grenzwerte von f im Punkt x0 und alle
sind 0. Im Punkt x0 = 0 existiert nur der linksseitige Grenzwert limx→0−0 f (x) =
0. Für positive x0 existiert keiner der drei Grenzwerte.
Auf die folgende Weise lassen sich Grenzwerte von Funktionen auf Grenzwerte von Zahlenfolgen zurückführen.
Bemerkung 7 Sei f eine Funktion und x0 ein Häufungspunkt ihres Definitionsbereiches. Dann gilt genau dann limx→x0 f (x) = a, wenn für jede
Zahlenfolge (xi )i≥0 mit xi ∈ Deff für alle i ≥ 0 und limi→∞ xi = x0 die
Gleichheit limi→∞ f (xi ) = a vorliegt.
Entsprechende Aussagen gelten für einseitige Grenzwerte, anstelle aller Zahlenfolgen (xi )i≥0 mit xi ∈ Deff für alle i ≥ 0 und limi→∞ xi = x0 werden
dann nur noch die Zahlenfolgen (xi )i≥0 mit xi ∈ Dr (x0 ) beziehungsweise
xi ∈ Dl (x0 ) für alle i ≥ 0 und limi→∞ xi = x0 betrachtet.
Für Funktionen mit unbeschränktem Definitionsbereich kann man den Grenzwertbegriff wie folgt ausweiten.
Definition 17 Sei f : R → R eine reelle Funktion in einer reellen Variablen mit nach oben unbeschränktem Definitionsbereich. Falls es eine reelle Zahl a gibt, für die zu jedem ε > 0 eine relle Zahl K existiert, so daß
für alle x ∈ Deff mit x ≥ K die Ungleichung |f (x) − a| < ε gilt, dann
nennt man a den Grenzwert der Funktion f für x → +∞ und schreibt dafür
limx→∞ f (x) = a.
Entsprechend führt man für Funktionen f mit nach unten unbeschränktem
Definitionsbereich den Grenzwert limx→−∞ f (x) = a von f für x → −∞
ein. Im Falle der Existenz des Grenzwertes von f für x → ∞ gilt für jede
bestimmt divergente Zahlenfolge (xi )i≥1 mit limi→∞ xi = +∞ die Beziehung
lim f (x) = lim f (xi ) .
x→∞
i→∞
80
Preliminary version – 3. Juli 2002
Entsprechendes gilt für Grenzwerte von f für x → −∞.
Die bestimmte Divergenz beschreibenden Ausdrucke wie z.B. limx→x0 f (x) =
+∞ oder limx→∞ f (x) = −∞ werden in naheliegender Weise auf Grenzwerte
von Funktionen übertragen.
5.2
Stetige Funktionen
Definition 18 Eine reelle Funktion f in einer reellen Variablen x heißt im
Punkt x0 ∈ Deff stetig, wenn zu jeder positiven reellen Zahl ε eine positive
reelle Zahl δ existiert, so daß |f (x) − f (x0 )| < ε für alle x ∈ Deff mit
|x − x0 | < δ.
f wird in x0 ∈ R unstetig genannt, wenn x0 ∈
/ Deff oder wenn x0 ∈ Deff
aber f ist nicht stetig in x0 .
Die Funktion f wird auf der Menge M ⊆ R stetig genannt, wenn f in jedem
Punkt von M stetig ist. Man nennt f auf M gleichmäßig stetig, wenn zu
jeder positiven reellen Zahl ε eine nur von ε abhängige2 positive reelle Zahl
δ existiert, so daß |f (x) − f (x0 )| < ε für alle x0 ∈ M und x ∈ Deff mit
|x − x0 | < δ.
Schließlich nennt man f eine stetige Funktion, wenn f in jedem Punkt ihres
Definitionsbereiches stetig ist. Ist f auf ihrem Definitionsbereich gleichmäßig
stetig, so spricht man von einer gleichmäßig stetigen Funktion.
Analog zu den einseitigen Grenzwerten führt man die Begriffe der linksseitigen und der rechtsseitigen Stetigkeit ein, indem man zusätzlich x ≤ x0
beziehungsweise x ≥ x0 fordert.
Für Häufungspunkte x0 des Definitionsbereiches von f bedeutet die Stetigkeit
von f im Punkt x0 gerade
lim f (x) = f (x0 ) .
x→x0
In dieser Gleichung sind drei Aussagen enthalten. Zum ersten muß der Grenzwert von f im Punkt x0 existieren, zum zweiten muß x0 dem Definitionsbereich von f angehören und zum dritten müssen Grenzwert und Funktionswert
von f im Punkt x0 übereinstimmen.
Fragen wir nun noch danach, was Stetigkeit in einem isolierten Punkt x0 des
Definitionsbereiches Deff bedeutet. Zunächst einmal existiert limx→x0 f (x)
2
δ ist also von x0 unabhängig!
81
Preliminary version – 3. Juli 2002
für ein derartiges x0 nicht, da x0 kein Häufungspunkt von D ist. Letzteres
kann man auch dadurch ausdrücken, daß man feststellt, es gibt ein δ > 0 mit
Uδ (x0 )∩Deff = {x0 }. Nun kann man zu jedem ε > 0 ein derartiges δ wählen
und erfüllt damit auf alle Fälle die Stetigkeitsbedingungen. Wir halten also
fest, eine Funktion ist in jedem isolierten Punkt ihres Definitionsbereiches
stetig.
Hierbei handelt es sich allerdings um eine eher exotische Eigenschaft, da
die Definitionsbereiche der uns interessierenden Funktionen keine isolierten
Punkte besitzen werden. Zwar sollte man Gleichung (5.1) nicht gleich als
Definition der Stetigkeit verwenden, da man sich dann von vornherein auf
die Untersuchung von Funktionen, deren Definitionsbereich keine isolierten
Punkte besitzt, beschränken müßte. Häufig kann man sich aber bei Stetigkeitsaussagen auf den folgenden Satz beziehen:
Satz 40 f sei eine reelle Funktion in einer reellen Variablen x und der Definitionsbereich Deff möge keine isolierten Punkte aufweisen. Dann ist f
genau dann im Punkt x ∈ Deff stetig, wenn die Gleichheit
lim f (x) = f (x0 )
x→x0
(5.1)
gilt.
Der folgende Satz erweist sich bei der Berechnung von Grenzwerten als nützlich.
Satz 41 Sei (ai )i≥0 eine konvergente Zahlenfolge mit reellen Gliedern und
limi→∞ ai = a. Weiterhin sei f eine in a stetige reelle Funktion in einer
reellen Variablen, wobei ai ∈ Deff für alle i ≥ 0. Dann ist die reelle Zahlenfolge (f (ai ))i≥0 konvergent und es gilt
lim f (ai ) = f lim ai = f (a) .
i→∞
i→∞
Beweis: Zunächst folgt aus Bemerkung 7 die Gleichheit limi→∞ f (ai ) =
limx→a f (x). Aufgrund der Stetigkeit von f an der Stelle a folgt weiter
limx→a f (x) = f (a) und der Satz ist bewiesen.
2
Solch wichtige Funktionen wie Exponentialfunktionen, Logarithmusfunktionen oder Winkelfunktionen sind stetig. Daher können Grenzwertberechnungen in sie hineingezogen werden, sofern alle dabei auftretenden Grenzwerte
82
Preliminary version – 3. Juli 2002
existieren. So gelten beispielsweise
n
1
lim ln 1 +
= ln e = 1
n→∞
n
n+1
π
lim sin
π
= sin = 1
n→∞
2n − 3
2
5.2.1
Zusammengesetzte stetige Funktionen
Definition 19 Die Summe, die Differenz, das Produkt und der Quotient
zweier Funktionen f : R → R und g : R → R werden wie folgt definiert:
(f ± g)(x) = f (x) ± g(x) und Def(f + g) = Deff ∩ Defg
(f · g)(x) = f (x) · g(x)
und Def(f · g) = Deff ∩ Defg
f (x)
f
( g )(x) = g(x)
und Def fg = Deff ∩ {x ∈ Defg : g(x) 6= 0}
Satz 42 Die Summe, die Differenz und das Produkt zweier in x0 stetiger
Funktionen f und g sind in x0 stetige Funktionen.
Beweis: f und g seien in x0 stetige Funktionen. Insbesondere gilt x0 ∈
Deff ∩ Defg = Def(f ± g) = Def(f · g).
Wir beginnen mit der Untersuchung der Summe f + g. Wir geben ε > 0
beliebig vor und fragen nach einem δ > 0, so daß |(f +g)(x)−(f +g)(x0 )| < ε
für alle x ∈ Def(f + g) mit |x − x0 | < δ.
Aufgrund der Stetigkeit von f und g in x0 existieren reelle Zahlen δ1 > 0
und δ2 > 0, so daß |f (x) − f (x0 )| < 2ε für alle x ∈ Deff ⊇ Def(f + g) und
0 < |x − x0 | < δ1 , sowie |g(x) − g(x0 )| < 2ε für alle x ∈ R mit x ∈ Defg ⊇
Def(f + g) und 0 < |x − x0 | < δ2 .
Sei nun δ := min{δ1 , δ2 }. Für jedes x ∈ Def(f + g) = Deff ∩ Defg mit
|x − x0 | < δ gelten dann |f (x) − f (x0 )| < 2ε und |g(x) − g(x0 )| < 2ε , also
|(f + g)(x) − (f + g)(x0 )| = |(f (x) − f (x0 )) + (g(x) − g(x0 ))| ≤ |f (x) −
f (x0 )| + |g(x) − g(x0 )| < ε und die Stetigkeit von f + g in x0 ist bewiesen.
Analog weist man die Stetigkeit von f − g in x0 nach.
Kommen wir nun zur Untersuchung der Stetigkeit des Produktes f · g in x0 ,
d.h. wir fragen zu beliebig vorgegebenem ε > 0 nach einem δ > 0, so daß
|(f · g)(x) − (f · g)(x0 )|n< ε für alle xo∈ Def(f · g) mit |x − x0 | < δ.
Wir setzen ε1 := min 1, 3(|g(xε0 )|+1) und ε2 := 3(|f (xε0 )|+1) . Es existieren
δ1 > 0 und δ2 > 0, so daß |f (x) − f (x0 )| < ε1 für alle x ∈ Deff ⊇ Def(f · g)
83
Preliminary version – 3. Juli 2002
und 0 < |x − x0 | < δ1 , sowie |g(x) − g(x0 )| < ε2 für alle x ∈ R mit x ∈
Defg ⊇ Def(f · g) und 0 < |x − x0 | < δ2 .
Mit δ := min{δ1 , δ2 } ergibt sich für alle x ∈ Def(f · g) = Deff ∩ Defg mit
|x − x0 | < δ die Abschätzung
|(f · g)(x) − (f · g)(x0 )| = |(f (x) − f (x0 )) g(x) + (g(x) − g(x0 )) f (x0 )|
= (f (x) − f (x0 )) (g(x) − g(x0 )) +
(f (x) − f (x0 )) g(x0 ) + (g(x) − g(x0 )) f (x0 )
≤ |f (x) − f (x0 )| · |g(x) − g(x0 )| +
|g(x0 )| |f (x) − f (x0 )| + |f (x0 )| |g(x) − g(x0 )|
< ε1 ε2 + |g(x0 )|ε1 + |f (x0 )|ε2
|g(x0 )|
ε
|f (x0 )|
ε
≤ ε2 +
· +
· <ε
|g(x0 )| + 1 3 |f (x0 )| + 1 3
2
Satz 43 Ist f eine in x0 stetige Funktion mit f (x0 ) 6= 0, dann ist auch der
Quotient f1 eine in x0 stetige Funktion.
Beweis: Sei ε > 0 beliebig vorgegeben und ε1 := min 12 |f (x0 )|, 2ε |f (x0 )|2 .
Wegen f (x0 ) 6= 0 gilt ε1 6= 0 und aufgrund der Stetigkeit von f in x0 gibt es
ein δ > 0, so daß |f (x) − f (x0 )| < ε1 für alle x ∈ Deff mit |x − x0 | < δ. Für
alle derartigen x gilt folglich
|f (x)| = |f (x0 ) + f (x) − f (x0 )| ≥ |f (x0 )| − |f (x) − f (x0 )| ≥ |f (x0 )| − ε1
1
1
≥ |f (x0 )| − |f (x0 )| = |f (x0 )| > 0
2
2
Zunächst einmal gilt aufgrund von f (x0 ) 6= 0 die Enthaltenseinsrelation x0 ∈
{y ∈ Deff : f (y) 6= 0} = Def f1 Weiterhin gilt
1
1
f (x0 ) − f (x) 1
1
(x) − (x0 ) = f
f (x) − f (x0 ) = f (x)f (x0 ) f
ε
|f (x0 )|2
ε1
2
≤ 1
≤
=ε
1
|f (x0 )|2
|f (x0 )|2
2
2
für alle x ∈ Def f1 mit |x − x0 | < δ. Also ist
1
f
in x0 stetig.
84
Preliminary version – 3. Juli 2002
2
Folgerung 4 Sind f und g in x0 stetige Funktionen und g(x0 ) 6= 0, dann ist
der Quotient fg ebenfalls in x0 stetig.
Satz 44 Ist die Funktion f im Punkt x0 und die Funktion g im Punkt f (x0 )
stetig, so ist die Hintereinanderausführung3 f ◦ g im Punkt x0 stetig.
Beweis: Zu vorgegebenem ε > 0 gibt es ein δ 0 > 0, so daß für alle x ∈ R mit
f (x) ∈ Defg und |f (x) − f (x0 )| < δ 0 die Ungleichung
|(f ◦ g)(x) − (f ◦ g)(x0 )| = |g(f (x)) − g(f (x0 ))| < ε
gilt. Weiter gibt es zu 0 = δ 0 eine positive reelle Zahl δ > 0 mit |f (x) −
f (x0 )| < 0 für alle x ∈ Deff mit |x − x0 | < δ. Zuordnung von δ zu ε zeigt
die Stetigkeit der Hintereinanderausführung f ◦ g im Punkt x0 .
2
Übungsaufgaben, Serie 8
22. Berechnen Sie
(a)
2x3 − x + 1
x→3 x4 − 2x3 + x − 1
lim
(b)
lim
x→2
1
4
− 2
x−2 x −4
(c)
lim
x→−1
23. Berechnen Sie
1
1
−
x + 1 (x + 1)(x + 3)
xn − 1
,
x→1 xm − 1
n, m ∈ N \ {0} .
lim
24. Zeigen Sie, daß die Funktion
f (x) =
√
x,
x ≥ 0,
gleichmäßig stetig ist.
Hinweis: Eine geeignete Wahl ist δ(ε) = ε2 .
3
Wir halten an der im vorigen Semester getroffenen Vereinbarung (f ◦ g)(x) = g(f (x))
fest.
85
Preliminary version – 3. Juli 2002
5.2.2
Klassen stetiger Funktionen
Eine unmittelbare Folgerung aus den Ergebnissen des vorangegangenen Abschnitts ist, daß jede einer Abbildungsvorschrift f (x) = a0 + a1 x + · · · + an xn
genügende Funktion, man nennt derartige Funktionen auch Polynomfunktionen oder ganze rationale Funktionen, in jedem Punkt x0 ∈ R stetig ist.
Allgemeiner gilt für rationale Funktionen f : R → R, d.h. die Abbildungsvorschrift hat die Gestalt
a0 + a1 x + · · · + an xn
f (x) =
,
b0 + b1 x + · · · + bm x m
daß sie in jedem Punkt x0 ∈ R, für welchen b0 + b1 x0 + · · · + bm x0 m 6= 0 gilt,
stetig ist.
Für jede natürliche Zahl k ≥ 1 ist die Funktion f : R → R mit dem
Definitionsbereich
Deff = {x ∈ R : x ≥ 0} und der Abbildungsvorschrift
√
k
f (x) = x in jedem Punkt ihres Definitionsbereiches stetig. Gleiches trifft
auf die auf ganz
R definierte Funktion g : R → R mit der Abbildungsvorp
k
schrift g(x) = |x| zu.
Auf Seite 37 in Abschnitt 3.5 hatten wir die Existenz des Grenzwertes
√
lim k an
n→∞
für eine konvergente Folge (an )n≥1 positiver reeller Zahlen ohne Beweis festgehalten. Wir können diesen Existenzbeweis nun nachreichen,
er ergibt sich
√
k
unmittelbar aus der Stetigkeit der Funktion f (x) = x und Satz 41.
Weiterhin ist jede durch eine Potenzreihe beschriebene Funktion in jedem
inneren Punkt des Konvergenzkreises stetig.
P
n
Satz 45 Sei ∞
n=0 an (x − a) eine Potenzreihe mit dem Konvergenzradius
ρ > 0. Dann ist die auf dem
der Potenzreihe durch die
P∞Konvergenzkreis
n
Abbildungsvorschrift f (x) = n=0 an (x − a) definierte reelle Funktion f :
R → R in einer reellen Variablen in jedem Punkt x0 ∈ (a − ρ, a + ρ) stetig.
Beweisidee: Man zeigt zunächst die Stetigkeit von f im Punkt a. Für jedes
x ∈ (a − ρ2 , a + ρ2 ) gilt |x − a| ≤ ρ2 und weiter
!
∞
∞
X
X
n
n−1 |f (x) − f (a)| = an (x − a) − a0 = |x − a| · an (x − a) n=0
n=1
∞
ρ n−1
X
≤ |x − a| ·
|an |
= |x − a| · M < ε
2
n=1
86
Preliminary version – 3. Juli 2002
für alle x mit |x − a| < δ := min ρ2 , Mε bei beliebig vorgegebenem ε > 0.
Man beachte, da x = a+ ρ2 im Inneren des Konvergenzkreises der Potenzreihe
liegt, konvergiert sie in diesem Punkt
die Existenz
absolut. Es folgt
der
P∞
P∞
ρ n
ρ n−1
ρ n P∞
=
Summen n=0 |a
n | 2 , n=1 |an | 2 und damit auch n=1 |an | 2
P∞
ρ n
2
· n=1 |an | 2 . Die letztgenannte Summe ist eine positive reelle Zahl,
ρ
diese nennen wir M .
Um die Stetigkeit von f in einem Punkt b ∈ (a − ρ, a + ρ) mit b 6= a nachzuweisen, ordnet man die Potenzreihe zunächst nach Potenzen von x − b um.
Die dabei entstehende Potenzreihe
∞
X
bn (x − b)n
n=0
hat einen positiven Konvergenzradius ρ0 ≥ ρ−|b−a|. g bezeichne die auf dem
offenen Intervall
(b − ρ0 , b + ρ0 ) definierte Funktion mit der AbbildungsvorP∞
schrift g(x) = n=0 bn (x − b)n . Anwendung der obigen Überlegungen zeigt,
daß g in b stetig ist, also existiert zu beliebig vorgegebenem ε > 0 ein δ > 0,
so daß |g(x) − g(b)| < ε für alle x ∈ (b − ρ0 , b + ρ0 ) mit |x − b| < δ. Aufgrund
von f (x) = g(x) für alle x ∈ (b − ρ + |b − a|, b + ρ − |b − a|) ergibt sich daraus
|f (x) − f (b)| = |g(x) − g(b)| < ε für alle x mit |x − b| < min{ρ − |b − a|, δ}.
2
Aus diesem Satz folgt insbesondere die Stetigkeit der exp-, sin- und cosFunktion. Damit ergibt sich für die weiteren in Abschnitt 4.3 eingeführten
elementaren Funktionen die Stetigkeit in allen inneren Punkten ihres Definitionsbereichs.
5.2.3
Klassifikation von Unstetigkeitsstellen
Definition 20 Eine Funktion f hat in einem Häufungspunkt x0 ihres Definitionsbereiches eine hebbare Unstetigkeit, falls der Grenzwert limx→x0 f (x)
existiert.
Eine hebbare Unstetigkeit liegt also dann vor, wenn entweder f an der
Stelle x0 nicht definiert ist oder der Funktionswert f (x0 ) nicht mit dem
Grenzwert
limx→x0 f (x) übereinstimmt.
So besitzen die beiden Funktionen
1 für x 6= 0
1 für x 6= 0
g(x) =
und h(x) =
in 0 eine hebbare Un⊥ für x = 0
0 für x = 0
stetigkeit. Allgemein gilt für eine Funktion f mit hebbarer Unstetigkeit in
87
Preliminary version – 3. Juli 2002
x0 , daß die durch f¯(x) =
Funktion f¯ in x0 stetig ist.
f (x)
für x ∈ Deff \ {x0 }
definierte
limx→x0 f (x) für x = x0
Definition 21 Eine Funktion f hat in einem Häufungspunkt x0 ihres Definitionsbereiches einen Sprung, wenn die beiden einseitigen Grenzwerte limx→x0 −0 f (x)
und limx→x0 +0 f (x) existieren, aber nicht gleich sind. Man spricht auch
von einem Sprung der Größe |al − ar |, wobei al = limx→x0 −0 f (x) sowie
ar = limx→x0 +0 f (x).
1
für x < 0
Beispiel: Die Funktion g(x) =
hat in 0 einen Sprung der
−1 für x > 0
Größe 2. Gleiches träfe auch dann zu, wenn 0 dem Definitionsbereich von g
angehören und g dort einen beliebigen Wert annehmen würde.
Definition 22 Hat f in einem Häufungspunkt x0 ihres Definitionsbereiches
eine hebbare Unstetigkeit oder einen Sprung, dann spricht man von einer
Unstetigkeit 1. Art in x0 .
Existiert wenigstens einer der beiden einseitigen Grenzwerte limx→x0 −0 f (x)
oder limx→x0 +0 f (x) nicht, so sagt man f hat in x0 eine Unstetigkeit 2. Art.
Bei den in der Praxis am häufigsten anzutreffenden Unstetigkeiten 2. Art ist
wenigstens ein einseitiger Grenzwert, oft auch beide, uneigentlich. Beispiels1
weise hat die Funktion x1 wegen limx→0−0 x1 = −∞ und limx→0+0
= +∞ in
x
x für x ≤ 0
x0 = 0 eine Unstetigkeit 2. Art. Für die Funktion g(x) =
1
für x > 0
x
gilt limx→0−0 g(x) = 0 sowie limx→0+0 g(x) = +∞. Auch hier liegt in x0 = 0
eine Unstetigkeit 2. Art vor. Derartige Unstetigkeiten 2. Art haben das Aussehen eines unendlichen Sprunges. Eine weitere Form der Unstetigkeit 2. Art
findet man bei x12 , wo beide einseitigen Grenzwerte gleichartig uneigentlich
sind, nämlich limx→0−0 x12 = +∞ und limx→0+0 x12 = +∞. Im Unterschied
zu den beiden obigen Beispielen ist hier auch der Grenzwert limx→0 x12 uneigentlich, nämlich limx→0 x12 = +∞.
Eine Stelle x0 an der beide einseitigen Grenzwerte von f uneigentlich sind
nennt man auch einen Pol von f .
In exotischen Fällen können sogar dann Unstetigkeiten 2. Art auftreten,
wenn der Wertebereich der Funktion beschränkt ist. In diesem Fall sind
natürlich keine uneigentlichen Grenzwerte möglich. Ein Beispiel für eine
88
Preliminary version – 3. Juli 2002
derartige Funktion ist die characteristische Funktionder Menge der rationa1 falls x ∈ Q
len Zahlen als Teilmenge der reellen Zahlen, χ(x) =
. Diese
0 sonst
Funktion χ ist auf ganz R definiert, ihr Wertebereich ist nach oben und unten
beschränkt. Die Funktion χ hat in jedem Punkt x0 ∈ R eine Unstetigkeit 2.
Art, denn für kein x0 existiert auch nur einer der einseitigen Grenzwerte.
5.2.4
Sätze über stetige Funktionen
Satz 46 Jede auf einer abgeschlossenen beschränkten Menge M stetige Funktion f ist gleichmäßig stetig auf M .
Beweisskizze: Wir geben ε > 0 beliebig vor. Aufgrund der Stetigkeit existiert
zu jedem Punkt x0 ∈ M eine positive reelle Zahl δ(x0 ) > 0, so daß
|f (x) − f (x0 )| <
ε
2
für alle x ∈ Deff mit |x − x0 | < δ(x0 ). Es muß nachgewiesen werden, daß
man sogar ein von x0 unabhängiges δ > 0 finden kann.
Die
Hauptidee bestehtdarin, daß von den unendlich vielen offenen Intervallen
x0 − δ(x20 ) , x0 + δ(x20 ) , x0 ∈ M , bereits endlich viele ausreichen, um ganz
M zu überdecken (Heine-Borelscher Überdeckungssatz), d.h. es existieren
Punkte x1 , x2 , . . . , xk ∈ M , so daß
M⊆
k [
i=1
δ(xi )
δ(xi )
, xi +
xi −
2
2
.
Wir setzen δ := minki=1 δ(x2 i ) .
Sei nun
x0 ∈ M beliebig und x ∈ (x0 − δ, x0 + δ). Es gibt eine 1 ≤ l ≤ k mit
x ∈ xl − δ(x2 l ) , xl + δ(x2 l ) . Wir schätzen ab
|x0 − xl | = |x0 − x + x − xl | ≤ |x0 − x| + |x − xl | < δ +
δ(xl )
≤ δ(xl ) .
2
Aus
diesem Grund gilt |f (x0 ) − f (xl )| < 2ε und ebenso gilt wegen x ∈
xl − δ(x2 l ) , xl + δ(x2 l ) auch |f (x) − f (xl )| < 2ε . Daraus ergibt sich
|f (x)−f (x0 )| = |f (x)−f (xl )+f (xl )−f (x0 )| ≤ |f (x)−f (xl )|+|f (x0 )−f (xl )| < ε .
89
Preliminary version – 3. Juli 2002
Zusammenfassend haben wir gezeigt, daß für alle x0 ∈ M und x ∈ M mit
|x − x0 | < δ die Beziehung |f (x) − f (x0 )| < ε gilt und dabei hängt δ nur von
ε aber nicht von x0 ab. Also ist f auf M gleichmäßig stetig.
2
Anmerkung: Die Anforderungen an M können nicht abgeschwächt werden.
Betrachten wir zum Beispiel den Verzicht auf die Abgeschlossenheit. Die
Funktion f (x) = x1 ist auf (0, 1) nicht gleichmäßig stetig. Für zwei beliebige
Punkte 0 < x < y < 1 gilt |f (x) − f (y)| = x1 − y1 = y−x
< 1. Für ein
xy
den Anforderungen der Stetigkeitsdefinition 18 genügendes δ für ε = 1 und
den Punkt xn = n1 ergeben sich daraus die Bedingungen δ ≤ xn (xn + δ) und
x2n
1
= n(n−1)
. Keine positive reelle Zahl δ kann diese Bedingung
weiter δ ≤ 1−x
n
für alle natürlichen Zahlen n erfüllen, also ist f im offenen Intervall (0, 1)
nicht gleichmäßig stetig.
Das abgeschlossene Intervall [0, 1] kann man nicht als M verwenden, da dieses
Intervall keine Teilmenge des Definitionsbereiches von f ist. Dagegen kann
man den obigen Satz für jede Zahl 0 < ω < 1 auf das abgeschlossene Intervall
[ω, 1] anwenden. Auf jedem derartigen Intervall liegt gleichmäßige Stetigkeit
vor.
Satz 47 Eine auf einer abgeschlossenen beschränkten Menge M stetige Funktion f hat auf M einen beschränkten Wertebereich.
Beweisskizze: Nach dem vorangegangenen Satz ist f auf M absolut stetig.
Zu ε = 1 existiert also eine positive reelle Zahl δ so, daß |f (x0 ) − f (x)| <
1 für alle x, x0 ∈ M mit |x − x0 | < δ. Analog zu oben folgert man aus
dem Heine-Borelschen Überdeckungssatz
die Existenz endlich vieler Zahlen
Sk
x1 , . . . , xk , so daß M ⊆ i=1 (xi − δ, xi + δ). Zu jedem x ∈ M existiert
ein i, so daß |x − xi | < δ und daher folgt |f (x) − f (xi )| < ε. Also gilt
|f (x)| < maxki=1 (|f (xi )| + 1) und maxki=1 (|f (xi )| + 1) ist eine obere Schranke
für die Beträge der Funktionswerte, die f auf M annimmt.
2
Auch hier reicht die Voraussetzung der Stetigkeit auf einer beschränkten
Menge M nicht aus. Man überzeugt sich leicht von der bestimmten Divergenz
limx→0 x12 = +∞, also ist f (x) = x12 trotz Stetigkeit auf dem offenen Intervall
(0, 1) nicht beschränkt.
Satz 48 (Weierstraß) Für jede auf einer abgeschlossenen beschränkten Menge M stetige Funktion f existieren das Maximum G = maxx∈M f (x) und das
Minimum g = minx∈M f (x) der Menge der Funktionswerte die f auf der
Menge M annimmt.
90
Preliminary version – 3. Juli 2002
Beweis: Nach Satz 1 und Satz 47 existieren Supremum und Infimum der
Menge {f (x) : x ∈ M }. Angenommen das Supremum G dieser Menge
gehörte dieser Menge nicht an, dann würde für alle x ∈ M die Beziehung
f (x) < G gelten. Dann ist die Funktion h(x) = G−f1 (x) auf ganz M definiert und stetig. Folglich ist die Menge der Werte die h auf M annimmt
beschränkt. Sei also K so, daß h(x) < K für alle x ∈ M . Es folgt weiter
1
< K, also auch f (x) < G − K1 für alle x ∈ M . Das steht im WiderG−f (x)
spruch zu den Eigenschaften der oberen Grenze G. Also gilt für mindestens
ein x ∈ M die Gleichheit f (x) = G und das Supremum ist sogar Maximum.
Analog zeigt man, daß das Infimum sogar Minimum ist.
2
Lemma 3 Sei f im Punkt x0 stetig und f (x0 ) > 0. Dann gibt es eine
positive reelle Zahl δ, so daß f (x) > 0 für alle x ∈ Deff mit |x − x0 | < δ.
Entsprechend folgt aus der Ungleichung f (x0 ) < 0 die Existenz einer ganzen
Umgebung Uδ0 (x0 ) in der f nur negative Werte annimmt.
Beweis: Zu ε = f (x0 ) gibt es ein δ > 0, so daß |f (x0 ) − f (x)| < f (x0 ) für alle
x ∈ Deff mit |x − x0 | < δ. Im Falle f (x) ≤ 0 würde sich der Widerspruch
f (x0 ) > |f (x0 ) − f (x)| = f (x0 ) + |f (x)| ≥ f (x0 ) ergeben.
2
Satz 49 (Bolzano) Sei f auf dem abgeschlossenen Intervall [a, b] stetig und
es gelte f (a) < 0 sowie f (b) > 0. Dann hat f im offenen Intervall (a, b) eine
Nullstelle, d.h. es gibt eine Zahl ξ ∈ (a, b) mit f (ξ) = 0.
Beweis: Die Menge A = {x ∈ [a, b] : ∀y ∈ [a, x] : f (y) < 0} ist
wegen a ∈ A nicht leer und durch b nach oben beschränkt. Also existiert
das Supremum ξ = sup A. Unser Ziel ist es, die Gültigkeit von f (ξ) = 0
nachzuweisen. Würde f (ξ) > 0 gelten, so müßte es aufgrund der Stetigkeit
von f im Punkt ξ nach Lemma 3 eine Umgebung Uδ (ξ) geben, in der f nur
positive Werte annimmt. Dann wäre aber beispielsweise ξ − 2δ eine obere
Schranke für A im Widerspruch zu sup A = ξ. Den Fall f (x) < 0 schließt
man auf ähnliche Weise aus, denn dann müßte f in einer Umgebung Uδ (ξ)
von ξ nur negative Werte annehmen, weshalb auch ξ + 2δ zu A gehören müßte.
Das widerspricht aber ebenfalls der Supremumeigenschaft von ξ. Also kann
nur f (ξ) = 0 gelten.
2
Natürlich gilt die Aussage des Satzes auch im Fall f (a) > 0 und f (b) < 0.
Dann betrachtet man die ebenfalls auf [a, b] stetige Funktion −f , diese erfüllt
die Voraussetzungen des Satzes und hat daher eine Nullstelle ξ ∈ (a, b).
91
Preliminary version – 3. Juli 2002
Natürlich gilt auch f (ξ) = −(−f )(ξ) = −0 = 0. Eine Verallgemeinerung des
Satzes von Bolzano ist der folgende Zwischenwertsatz:
Satz 50 (Zwischenwertsatz) Sei f auf dem abgeschlossenen Intervall [a, b]
stetig. Ferner gelte G = maxx∈M f (x) > g = minx∈M f (x). Dann gibt es zu
jedem c ∈ R mit g < c < G eine Stelle ξ ∈ (a, b) mit f (ξ) = c.
Beweis: Nach dem Satz von Weierstraß existieren Zahlen y1 und y2 aus dem
Intervall [a, b] mit f (y1 ) = g und f (y2 ) = G. Wir beschränken uns auf
die Untersuchung des Falles y1 < y2 . y2 < y1 behandelt man analog. Die
Funktion h(x) = f (x) − c ist nach Satz 42 auf [y1 , y2 ] stetig und h(y1 ) < 0
sowie h(y2 ) > 0. Also existiert nach dem Satz von Bolzano ein ξ ∈ (y1 , y2 )
mit h(ξ) = 0, also f (ξ) = h(ξ) + c = c.
2
Übungsaufgaben, Serie 9
25. Untersuchen Sie die Funktion
π
x cos 2x
für x 6= 0
f (x) =
0
für x = 0
auf Stetigkeit im Intervall [−1, 1].
26. Weisen Sie die Gültigkeit von
exp x − 1
=1
x→0
x
lim
nach.
Hinweis: Stellen Sie die Funktion f (x) = expxx−1 als Potenzreihe dar
und nutzen Sie deren Stetigkeit zum Nachweis der obigen Beziehung
aus.
27. Man zeige, daß die Gleichung
x2 + 1 x4 + 1
+
= 0 (α < β)
x−α
x−β
mindestens eine Lösung x ∈ (α, β) hat.
92
Preliminary version – 3. Juli 2002
Kapitel 6
Differentiation reeller
Funktionen in einer reellen
Variablen
6.1
Differenzen- und Differentialquotient
Definition 23 (Differenzenquotient) Sei f eine im offenen Intervall (a, b)
definierte reelle Funktion in einer reellen Variablen und x0 ∈ (a, b). Man
nennt die durch
f (x0 + h) − f (x0 )
ϕ(h) =
h
definierte Funktion ϕ : R → R mit Defϕ = {h 6= 0 : a < x0 + h < b} den
Differenzenquotienten von f in x0 .
Inhaltlich kann man den Differenzenquotient als Anstieg der Geraden deuten,
welche die auf dem Graphen von f liegenden Punkte P0 = (x0 , f (x0 )) und
P1 = (x0 + h, f (x0 + h)) verbindet. Man spricht auch von der durch P0 und
P1 verlaufenden Sekante des Graphen von f . Unter dem Anstieg einer (nicht
zur y-Achse parallelen) Geraden verstehen wir den Tangens des Winkels,
welcher entgegen des Uhrzeigersinnes vom positiven Teil der x-Achse und
der in Richtung steigender x-Werte verlaufenden Halbgeraden der Sekante
eingeschlossen wird.
Bei den oben beschriebenen Sekanten von f handelt es sich um ein durch
den Punkt (x0 , f (x0 )) verlaufendes Geradenbüschel. Wenigstens für “gutartige” Funktionen f kann man sich vorstellen, daß sich die Lage der durch
93
Preliminary version – 3. Juli 2002
(x0 , f (x0 )) verlaufenden Sekante bei Verkleinern der Größe h stabilisiert. Mit
anderen Worten, ihr Anstieg ändert sich bei Verkleinern von h “fast nicht
mehr”.
Definition 24 (Differentialquotient) Sei f im offenen Intervall (a, b) definiert. f heißt an der Stelle x0 ∈ (a, b) differenzierbar, wenn der Grenzwert
f (x0 + h) − f (x0 )
h→0
h
lim ϕ(h) = lim
h→0
des Differenzenquotienten für h gegen 0 existiert. Im Falle seiner Existenz
bezeichnet man diesen Grenzwert als Differentialquotient (oder auch Ableitung) von f an der Stelle x0 und führt dafür die Bezeichnungen f 0 (x0 ) ein:
f (x0 + h) − f (x0 )
.
h→0
h
f 0 (x0 ) = lim
Mittels der einseitigen Grenzwerte limh→0+0 ϕ(h) und limh→0−0 ϕ(h) des Differenzenquotienten erklärt man die Begriffe in x0 rechtsseitig beziehungsweise
linksseitig differenzierbarer Funktionen. Im Gegensatz zu Definition 24, wo
x0 innerer Punkt des Definitionsbereichs sein mußte, benötigt man für die
einseitige Differenzierbarkeit nur, daß f in einem halboffenen Intervall [x0 , b)
(rechts) beziehungsweise (a, x0 ] (links) definiert ist.
Wir halten fest, daß weder die Existenz noch der Wert des Differentialquotienten von der Wahl der Intervallgrenzen a und b abhängen.
Sofern der Differentialquotient f 0 (x0 ) von f an der Stelle x0 existiert, so
bezeichnet man die durch (x0 , f (x0 )) verlaufende Gerade mit dem Anstieg
f 0 (x0 ) als Tangente in x0 an den Graphen von f . Mit Hilfe der linearen
Algebra ermittelt man die implizite Darstellung
y − f (x0 ) = f 0 (x0 )(x − x0 )
(6.1)
der Tangente.
Definition 25 Sei f eine reelle Funktion in einer reellen Variablen. Die
Funktion f 0 : R → R mit dem Definitionsbereich Deff 0 = {x ∈ Deff :
f ist in x0 differenzierbar} und der Abbildungsvorschrift
f (x + h) − f (x)
h→0
h
f 0 (x) = lim
nennt man die (erste) Ableitung von f . Eine alternative Symbolik für die
df
Ableitung ist dx
.
94
Preliminary version – 3. Juli 2002
Man beachte, der Differentialquotient ist im Falle seiner Existenz eine Zahl,
die erste Ableitung ist eine reelle Funktion in einer reellen Variablen. Die
Ähnlichkeit in der Wahl der Bezeichnungen ist natürlich gewollt, denn für alle
x0 ∈ Deff 0 ist der Differentialquotient f 0 (x0 ) tatsächlich gerade der Funktionswert der Ableitung f 0 an der Stelle x0 . Dieser Sachverhalt begründet auch
die in Definition 24 eingeführte alternative Bezeichnung für den Differentialdf
quotient. Die Verwendung der alternativen Symbolik dx
ist beispielsweise
dann vorteilhaft, wenn die Variable der Funktion f von eventuell auftretenden Parametern zu unterscheiden ist oder wir es mit mehreren Funktionen
in verschiedenen Variablen oder gar einer Funktion in mehreren Variablen zu
tun haben.
6.2
6.2.1
Beispiele differenzierbarer Funktionen
f (x) = c
Wir betrachten eine Konstante c ∈ R und die Funktion f (x) = c, die jeder
reellen Zahl x ∈ R die Zahl c als Funktionswert zuordnet. Für die Ableitung
f 0 von f gilt
f 0 (x) = 0
für alle x ∈ R.
Der Nachweis ist trivial, denn der Differenzenquotient ϕ(h) =
c−c
= 0 ist für jedes x0 ∈ R und jedes reelle h 6= 0 gleich 0.
h
6.2.2
f (x) = xn ,
f (x0 +h)−f (x0 )
h
=
n ∈ N, n 6= 0
Wir betrachten die Ableitung der Funktion f (x) = xn . Für alle x0 ∈ R und
h 6= 0 gilt
f (x0 + h) − f (x0 )
(x0 + h)n − xn0
=
h
Pn nh n−i i
n
i=0 i x0 h − x0
=
Pn n hn−i i
n X
n n−i i−1
i=1 i x0 h
=
x h
=
h
i 0
i=1
ϕ(h) =
P
i−1
p(h) = ni=1 ni xn−i
ist ein Polynom in der Variablen h und als solches
0 h
auf ganz R stetig. Darüberhinaus zeigen die obigen Rechnungen, daß für alle
95
Preliminary version – 3. Juli 2002
h ∈ Defϕ die Beziehung p(h) = ϕ(h) gilt. Übergang zum Differentialquotient
liefert
n X
n n−i i−1
n n−1
lim ϕ(h) = lim p(h) = p(0) =
x0 0 =
x0 = nx0n−1 .
h→0
h→0
i
1
i=1
Also hat die Funktion f (x) = xn die Ableitung
f 0 (x) = nxn−1 .
6.2.3
f (x) = exp x
Später werden wir sehen, daß man die Ableitung der Exponentialfunktion
einfach durch Ableitung der sie definierenden Potenzreihe bestimmen kann.
Im Moment fehlt uns allerdings noch die Rechtfertigung für diesen Schritt
und wir wollen uns einer anderen Methode bedienen.
Berechnen wir zunächst den Differenzenquotient von f in x0 .
exp (x0 + h) − exp x0
f (x0 + h) − f (x0 )
=
h
h
(exp h − 1) exp x0
=
h
ϕ(h) =
Übergang zum Differentialquotienten an der Stelle x0 liefert
(exp h − 1) exp x0
exp h − 1
lim
= lim
exp x0 = exp x0
h→0
h→0
h
h
Dabei kam neben dem Grenzwertsatz 21(2) für Produkte (unter Beachtung
von Bemerkung 7 läßt sich dieser leicht von Zahlenfolgen auf Funktionen
übertragen) der in Übungsaufgabe 26 gezeigte Grenzwert limh→0 exphh−1 = 1
zum Einsatz. Zusammenfassend haben wir gezeigt
f 0 (x) = exp(x) .
6.2.4
f (x) =
P∞
n=0 an (x
− x0 )n
Für Potenzreihen gilt
96
Preliminary version – 3. Juli 2002
P
n
Satz 51 Die Potenzreihe ∞
n=0 an (x−x0 ) habe den Konvergenzradius ρ > 0
und f : R → R sei die auf dem offenen Intervall (x0 − ρ, x0 + ρ) durch die
Abbildungsvorschrift
∞
X
f (x) =
an (x − x0 )n
n=0
definierte reelle Funktion in einer reellen Variablen. Dann ist f für jedes
x ∈ (x0 − ρ, x0 + ρ) differenzierbar und es gilt
f 0 (x) =
∞
X
nan (x − x0 )n−1 .
n=1
Die Potenzreihe
P∞
n=1
nan (x − x0 )n−1 hat ebenfalls den Konvergenzradius ρ.
Beweis: Beginnen wir mit dem Berechnen des Differenzenquotienten von f
in x0 . Für alle h mit |h| < ρ gilt
f (x0 + h) − f (x0 )
h
!
∞
X
1
=
an hn − a0
h n=0
!
∞
1 X
=
an hn
h n=1
ϕ(h) =
=
∞
X
an hn−1
n=1
p
p
Wegen n−1 |an | ≤ n |an | für alle natürlichen Zahlen n ≥ 2 und alle Glieder
|an | < 1, was aufgrund der Nullfolgenbedingung
für genügend großes n erfüllt
P
n−1
sein muß, hat die Potenzreihe P∞
a
x
nach
Satz 34 einen mindestens so
n=1 n
∞
n
großen Konvergenzradius wie n=0 an (x − x0 ) . Aus diesem Grund stimmt
der Differenzenquotient
ϕ(h) für alle 0 < |h| < ρ mit dem Wert der FunkP∞
n−1
tion P (h) =
a
h
überein. Eine Potenzreihe ist im inneren ihres
n=1 n
Konvergenzkreises stetig, also
f 0 (x0 ) = lim ϕ(h) = lim P (h) = P (0) = a1
h→0
h→0
Zur Berechnung der Ableitung f 0 (x1 ) an einer Stelle x1 6= x0 mit x1 ∈ (x0 −
ρ, x0 + ρ) ordnen wir die Potenzreihe zunächst nach Potenzen von (x − x1 )
97
Preliminary version – 3. Juli 2002
um und erhalten für alle x mit |x − x1 | < ρ − |x0 − x1 | die Beziehung
f (x) =
∞
X
n
bn (x − x1 )
n=0
∞
X
n
, wobei bm =
an
(x1 − x0 )n−m .
m
n=m
Aus den obigen Betrachtungen folgt schließlich
∞
X
∞
X
n
n−1
f (x1 ) = b1 =
an
(x1 − x0 )
=
nan (x1 − x0 )n−1 .
1
n=1
n=1
0
Schließlich bleibt noch der Nachweis der Behauptung über den
PKonvergenzradius. Offensichtlich ist zunächst nur, daß die Potenzreihe ∞
n=1 nan (x −
n−1
x0 )
mindestens den Konvergenzradius ρ hat, denn für alle x ∈ (x0 −ρ, x0 +
ρ) haben wir gerade die Existenz der Summe gezeigt. Größer
der
P∞ als ρ kann n−1
Konvergenzradius aber ebenfalls nicht sein, denn würde n=1 nan (y −x0 )
für ein y mit |y − x0 | > ρ konvergieren, so würde die Reihe
!
∞
∞
X
X
nan (y − x0 )n = (y − x0 )
nan (y − x0 )n−1
n=1
n=1
ebenfalls
konvergieren und für jedes y1 mit ρ < |y1 − x0 | < |y − x0 | wäre
P∞
n
sogar absolut konvergent. Nach dem Majorantenkrin=1 nan (y1 − x0 ) P
∞
n
terium müßte auch
n=0 an (y1 − x0 ) konvergieren, im Widerspruch zu
ρ < |y1 − x0 |. Also sind die beiden Konvergenzradien tatsächlich gleich.
2
6.2.5
f (x) = sin x,
g(x) = cos x
Mit Hilfe des obigen Satzes ergibt sich sofort
f 0 (x) =
∞
X
∞
(−1)n
n=0
(2n + 1)x2n X
x2n
=
(−1)n
= cos x .
(2n + 1)!
(2n)!
n=0
Analog überzeugt man sich von
g 0 (x) =
∞
X
n=1
(−1)n
∞
X
(2n)x2n−1
x2n+1
=−
(−1)n
= − sin x .
(2n)!
(2n
+
1)!
n=0
98
Preliminary version – 3. Juli 2002
6.3
Zusammenhang zwischen Stetigkeit und
Differenzierbarkeit
Satz 52 Eine Funktion f ist in x0 ∈ Deff genau dann differenzierbar, wenn
es eine Konstante a ∈ R und eine im Nullpunkt stetige Funktion R : R → R
mit R(0) = 0 gibt, so daß
f (x0 + h) − f (x0 ) = ah + hR(h) .
(6.2)
Beweis: (⇐=) Nehmen wir zunächst an, a und R existieren. Dann gilt
lim
h→0
f (x0 + h) − f (x0 )
= lim (a + R(h)) = a .
h→0
h
Also existiert der Differentialquotient von f in x0 und es gilt f 0 (x0 ) = a.
(=⇒) Sei nun f in x0 differenzierbar. Wir setzen a = f 0 (x0 ) und
f (x0 +h)−f (x0 )
− f 0 (x0 ) für h 6= 0, x0 + h ∈ Deff
h
R(h) =
.
0
für h = 0
Die vorausgesetzte
Differenzierbarkeit
von f in x0 sichert wegen limh→0 R(h) =
f (x0 +h)−f (x0 )
0
limh→0
− f (x0 ) = 0 die Stetigkeit von R in h = 0. Weiterhin
h
gilt für alle h 6= 0 mit x0 + h ∈ Deff die Beziehung
f (x0 + h) − f (x0 )
0
ah + hR(h) = ah + h
− f (x0 ) = f (x0 + h) − f (x0 ) .
h
a und R erfüllen damit alle im Satz gestellten Anforderungen.
2
Folgerung 5 Sei f eine in x0 differenzierbare Funktion. Dann existiert eine
in h = 0 stetige Funktion R mit R(0) = 0, so daß
f (x0 + h) = f (x0 ) + hf 0 (x0 ) + hR(h)
für alle h mit x0 + h ∈ Def(f ).
Beweis: Die Aussage folgt sofort aus dem obigen Satz unter Berücksichtigung,
daß im Falle der Differenzierbarkeit von f in x0 stets a = f 0 (x0 ) galt.
2
99
Preliminary version – 3. Juli 2002
Folgerung 6 Ist f in x0 differenzierbar, so ist f auch in x0 stetig.
Beweis: Für a und R wie in (6.2) gilt
lim f (x0 + h) = lim (ah + hR(h) + f (x0 )) = f (x0 ) ,
h→0
h→0
also ist f in x0 stetig.
2
Die Umkehrung der Folgerung gilt dagegen keineswegs. So ist f (x) = |x| auf
ganz R sogar gleichmäßig stetig (mit δ(ε) = ε). Dennoch ist f an der Stelle
x0 = 0 nicht differenzierbar.
Betrachten wir einmal den linksseitigen und den rechtsseitigen Grenzwert des
Differenzenquotienten in x0 = 0 für h gegen 0.
f (x0 + h) − f (x0 )
|h|
−h
= lim
= lim
= −1 wegen h < 0
h→0−0
h→0−0 h
h→0−0 h
h
lim
f (x0 + h) − f (x0 )
|h|
= lim
= 1 wegen h > 0
h→0+0
h→0+0 h
h
Die beiden einseitigen Grenzwerte stimmen nicht überein, also existiert der
beidseitige Grenzwert, d.h. der Differentialquotient von f in x0 = 0, nicht.
Es gibt sogar auf ganz R stetige Funktionen, die in keinem Punkt differenzierbar sind. Beispielsweise kommt die Bahn der Bewegung eines Moleküls in
einem Gas einer derartigen Kurve nahe. Bei jedem Zusammenstoß mit einem
anderen Molekül ändert das Molekül seine Bewegungsrichtung schlagartig, so
daß die Kurve an dieser Stelle ähnlich der Absolutbetragsfunktion bei 0 nicht
differenzierbar ist. Ist das Gas genügend dicht, so stößt das Molekül nahezu
zu jedem Zeitpunkt mit anderen Molekülen zusammen. Einschränkend ist
hier noch anzumerken, daß die Bahn des Moleküls als Funktion der Zeit angesehen werden muß, der Funktionswert ist der Punkt des Raumes, wo sich
das Molekül gerade befindet. Der Wertebereich sind also nicht einfach die
reellen Zahlen, so daß die beschriebene Funktion streng genommen nicht in
das hier behandelte Konzept paßt.
lim
6.4
Höhere Ableitungen
Da die Ableitung f 0 einer Funktion wieder eine reelle Funktion in einer reellen Variablen ist, liegt es nahe auch nach deren Ableitung zu fragen. Man
definiert
100
Preliminary version – 3. Juli 2002
Definition 26 Sei f differenzierbar in jedem Punkt einer Umgebung U (x0 ).
Ist dann die Ableitung f 0 in x0 differenzierbar, dann nennt man (f 0 )0 (x0 ) die
zweite Ableitung von f an der Stelle x0 . Man schreibt dafür (f 0 )0 (x0 ) =
2
f 00 (x0 ) = ddxf2 (x0 ). Man sagt, f ist in x0 zweimal differenzierbar. Durch induktives Fortsetzen dieser Methode erklärt man die n-te Ableitung f (n) (x0 ) =
dn f
(x0 ) von f in x0 als (f (n−1) )0 (x0 ), sofern die (n − 1)-te Ableitung von f
dxn
in einer gewissen Umgebung Û (x0 ) existiert.
Selbst wenn eine Funktion überall differenzierbar ist, so brauchen die höheren
Ableitungen dennoch nicht notwendigerweise zu existieren. Es ist also durchaus sinnvoll davon zu sprechen, daß eine Funktion k-mal differenzierbar ist
oder zu fordern, daß sie es sein soll.
Die in Abschnitt 6.2 behandelten Funktionen sind alle beliebig oft differenzierbar, d.h. für jede natürliche Zahl n gilt, daß die Funktionen n-mal differenzierbar sind.
6.5
Differentiationsregeln
Kommen wir nun zur Fundierung der Ihnen weitgehend bereits aus der Schule
bekannten Differentiationsregeln.
6.5.1
Summenregel
Satz 53 f und g seien zwei in x0 differenzierbare Funktionen. Dann ist
auch die Summe f + g in x0 differenzierbar und für die Ableitung gilt
(f + g)0 (x0 ) = f 0 (x0 ) + g 0 (x0 )
Der Beweis verbleibt als Übungsaufgabe 30.
6.5.2
Produktregel
Satz 54 Das Produkt f · g zweier in x0 differenzierbarer Funktionen f und
g ist ebenfalls in x0 differenzierbar. Für die Ableitung gilt
(f · g)0 (x0 ) = f 0 (x0 )g(x0 ) + f (x0 )g 0 (x0 )
101
Preliminary version – 3. Juli 2002
Beweis: Wir fragen nach dem Grenzwert
(f · g)(x0 + h) − (f · g)(x0 )
h→0
h
lim
des Differenzenquotienten von f · g an der Stelle x0 . Es gilt
(f · g)(x0 + h) − (f · g)(x0 )
h→0
h
f (x0 + h)g(x0 + h) − f (x0 )g(x0 )
lim
h→0
h
g(x0 + h) (f (x0 + h) − f (x0 )) + f (x0 ) (g(x0 + h) − g(x0 ))
lim
h→0
h
f (x0 + h) − f (x0 )
g(x0 + h) − g(x0 )
lim g(x0 + h)
+ lim f (x0 )
h→0
h→0
h
h
0
0
g(x0 )f (x0 ) + f (x0 )g (x0 )
(f · g)0 (x0 ) = lim
=
=
=
=
Dabei wurden die Differenzierbarkeit von f und g in x0 sowie die sich daraus
ergebende Stetigkeit von g an der Stelle x0 verwendet.
2
6.5.3
Quotientenregel
Satz 55 f und g seien in x0 differenzierbare Funktionen und g(x0 ) 6= 0.
Dann ist der Quotient fg in x0 differenzierbar und besitzt dort die Ableitung
0
f
f 0 (x0 )g(x0 ) − f (x0 )g 0 (x0 )
(x0 ) =
g
g(x0 )2
Beweis: Untersuchung des Differentialquotienten liefert:
0
f
(x0 ) = lim
h→0
g
f (x0 +h)
g(x0 +h)
−
f (x0 )
g(x0 )
h
1
f (x0 + h)g(x0 ) − f (x0 )g(x0 + h)
= lim
h→0 g(x0 + h)g(x0 )
h
1
g(x0 ) (f (x0 + h) − f (x0 )) − f (x0 ) (g(x0 + h) − g(x0 ))
= lim
h→0 g(x0 + h)g(x0 )
h
0
0
f (x0 )g(x0 ) − f (x0 )g (x0 )
=
g(x0 )2
2
102
Preliminary version – 3. Juli 2002
6.5.4
Kettenregel
Satz 56 f sei eine in x0 und g eine in f (x0 ) differenzierbare Funktion. Dann
ist die Komposition f ◦ g an der Stelle x0 mit der Ableitung
d
0
(f ◦ g) (x0 ) =
g(f (x)) (x0 ) = g 0 (f (x0 ))f 0 (x0 )
dx
differenzierbar.
Beweis: Untersuchen wir den Differentialquotienten
(f ◦ g)0 (x0 ) = lim
h→0
g(f (x0 + h)) − g(f (x0 ))
h
(6.3)
Aus Folgerung 5 ergibt sich die Existenz einer in h = 0 stetigen Funktion R
mit R(0) = 0, so daß für alle h aus einer Umgebung von 0 die Gleichung
f (x0 + h) − f (x0 ) = h (f 0 (x0 ) + R(h))
gilt. Im Falle h 6= 0 folgt weiter
h=
f (x0 + h) − f (x0 )
f 0 (x0 ) + R(h)
und Einsetzen in (6.3) führt auf
(f ◦ g)0 (x0 ) = lim (f 0 (x0 ) + R(h))
h→0
g(f (x0 + h)) − g(f (x0 ))
f (x0 + h) − f (x0 )
= f 0 (x0 )g 0 (f (x0 ))
2
6.5.5
Ableitung der Umkehrfunktion f −1
Satz 57 f sei eine in x0 differenzierbare Funktion, welche in einer Umgebung U (x0 ) eine Umkehrfunktion f −1 besitzt. Dann ist f −1 in y0 = f (x0 )
mit der Ableitung
0
f −1 (y0 ) =
1
f 0 (x
0)
=
1
f 0 (f −1 (y
differenzierbar.
103
Preliminary version – 3. Juli 2002
0 ))
Beweis: Der Differentialquotient hat die Gestalt
f −1 (y0 + h) − f −1 (y0 )
.
h→0
h
lim
Für alle y aus einer gewissen Umgebung U (y0 ) gilt f −1 (y) ∈ U (x0 ) und
f (f −1 (y)) = y. Folglich gilt für kleine h die Beziehung h = f (f −1 (y0 + h)) −
f (f −1 (y0 )). Einsetzen in den Differentialquotient ergibt
f
−1 0
f −1 (y0 + h) − f −1 (y0 )
(y0 ) = lim
h→0
h
f −1 (y0 + h) − f −1 (y0 )
= lim
h→0 f (f −1 (y0 + h)) − f (f −1 (y0 ))
1
=
f (f −1 (y0 +h))−f (f −1 (y0 ))
limh→0 f −1 (y0 +h)−f −1 (y0 )
1
=
0
f (x0 )
Hier sind zwei Hinweise angebracht. Zunächst sind f in U (x0 ) und f 0 in
U (y0 ) bijektiv, also insbesondere streng monoton. Sonst würde die jeweilige
Umkehrfunktion nicht existieren. Aus diesem Grund folgt aus h 6= 0 auch
f −1 (y0 + h) − f −1 (y0 ) 6= 0, daher ist im vorletzten Schritt das Invertieren
möglich. Außerdem geht aufgrund der Stetigkeit von f 0 in y0 mit h auch die
Differenz f −1 (y0 + h) − f −1 (y0 ) gegen 0, also handelt es sich unter Berücksichtigung von f −1 (y0 ) = x0 im Nenner der vorletzten Zeile tatsächlich um
den Differentialquotient von f in x0 .
2
Wir schließen diesen Abschnitt mit einem Beispiel ab und betrachten die
Logarithmusfunktion ln. Deren Umkehrfunktion ist die Exponentialfunktion
exp. Mit der Notation des Satzes haben wir f = exp, f −1 = ln und f 0 = exp.
Damit folgt die bekannte Beziehung
0
d ln
1
1
f −1 (y0 ) =
(y0 ) =
=
dy
exp ln y0
y0
104
Preliminary version – 3. Juli 2002
Übungsaufgaben, Serie 10
28. Berechnen Sie die Ableitungen der folgenden Funktionen f, g und h
(a)
f (x) = sin(x) cos(x) − exp(x)2
(b)
g(x) = tan(exp(x2 + 3x − 2))
(c)
h(x) = cos
2πx
x2 − 3
29. Was muß für die reellen Zahlen α1 , α2 , β1 , β2 , γ1 , γ2 gelten, damit die
Funktion
α1 x2 + β1 x + γ1 für x ≥ 0
f (x) =
α2 x2 + β2 x + γ2 für x < 0
(a) stetig,
(b) differenzierbar
ist.
30. Beweisen Sie die Summenregel der Differentiation. (Satz 53)
105
Preliminary version – 3. Juli 2002
6.5.6
Kurzzusammenfassung der Differentiationsregeln
Wir stellen die gerade erarbeiteten Regeln in einer Übersicht zusammen. Dabei sind jedoch in jedem Falle die in den Sätzen gemachten Voraussetzungen
an die Funktionen f und g zu berücksichtigen!
d(f + g)
(x)
dx
d(f · g)
(x)
dx
d fg
(x)
dx
d(f ◦ g)
(x)
dx
df −1
(x)
dx
df
dg
(x) + (x)
dx
dx
df
dg
=
(x) g(x) + f (x)
(x)
dx
dx
=
df
(x)
dx
dg
g(x) − f (x) dx
(x)
=
2
g(x)
d
dg
df
=
g(f (x)) =
(f (x))
(x)
dx
dx
dx
1
= df
(f −1 (x))
dx
Unter Bezugnahme auf die Funktionen selbst, nicht deren Funktionswerten
an der Stelle x, kann man noch kompakter formulieren:
(f + g)0
(f · g)0
0
f
g
(f ◦ g)0
0
f −1
6.5.7
= f 0 + g0
= f 0 · g + f · g0
f 0 · g − f · g0
=
g2
= (f ◦ g 0 ) · f 0
1
=
−1
f ◦ f0
Auswahl wichtiger Ableitungen
Mit Hilfe der obigen Differentiationsregeln und der Beziehungen zwischen
den elementaren Funktionen rechnet man die folgenden Ableitungen aus.
Dabei sind gegebenenfalls Einschränkungen an die Definitionsbereiche der
106
Preliminary version – 3. Juli 2002
Funktionen hinzuzuziehen.
∞
∞
X
d X
n
an (x − x0 ) =
nan (x − x0 )n−1
dx n=0
n=1
d
exp x
dx
d
sin x
dx
d
cos x
dx
d
tan x
dx
d
cot x
dx
d
ln x
dx
d
arcsin x
dx
d
arccos x
dx
d
arctan x
dx
d
arccotx
dx
d √
n
x
dx
d a
x
dx
d x
a
dx
d
loga x
dx
d x
x
dx
= exp x
= cos x
= − sin x
=
=
=
=
=
=
=
=
1
= 1 + tan2 x
cos2 x
1
− 2 = −(1 + cot2 x)
sin x
1
x
1
√
1 − x2
1
−√
1 − x2
1
1 + x2
1
−
1 + x2
1
√
n
n xn−1
= axa−1
, für beliebige a ∈ R
= ax ln a
, für beliebige positive a ∈ R
1
x ln a
, für beliebige positive a ∈ R
=
= (ln x + 1)xx
107
Preliminary version – 3. Juli 2002
6.6
6.6.1
Wichtige Sätze der Differentialrechnung
Satz von Rolle
Satz 58 (Satz von Rolle) f sei im abgeschlossenen Intervall [a, b] stetig
und im offenen Intervall (a, b) differenzierbar. Falls f (a) = f (b) = 0 gilt, so
existiert eine Zahl ξ ∈ (a, b) mit f 0 (ξ) = 0.
Beweis: 1. Fall: Gilt f (ξ) = 0 für alle a < ξ < b, so gilt auch f 0 (ξ) = 0 für
alle a < ξ < b und die obige Behauptung ist erfüllt.
2. Fall: Es existiert ein a < x0 < b mit f (x0 ) > 0. Sei G das Supremum der
Funktionswerte {f (x) | a ≤ x ≤ b}. Dieses Supremum ist positiv und nach
Satz 48 von Weierstraß handelt es sich sogar um ein Maximum, es gibt also
ein ξ ∈ (a, b) mit f (ξ) = G. Betrachten wir nun den Differenzenquotienten
(ξ)
ϕ(h) = f (ξ+h)−f
von f an der Stelle ξ. Aufgrund von f (ξ +h)−f (ξ) ≤ 0 für
h
alle h ∈ R mit a < ξ + h < b ergibt sich ϕ(ξ) ≤ 0 für h > 0 und ϕ(ξ) ≥ 0 für
h < 0. Wegen der vorausgesetzten Differenzierbarkeit von f in ξ existieren
der linksseitige, der rechtsseitige und der beidseitige Grenzwert des Differenzenquotienten. Aus den obigen Ungleichungen ergibt sich darüberhinaus
limh→0−0 ϕ(h) ≥ 0 und limh→0+0 ϕ(h) ≤ 0. Da beide einseitigen Grenzwerte
gleich sein müssen folgt
lim ϕ(h) = lim ϕ(h) = lim ϕ(h) = 0 = f 0 (ξ)
h→0−0
h→0+0
h→0
und wir sind fertig.
3. Fall: Es existiert ein a < x0 < b mit f (x0 ) < 0. Wir betrachten die
Funktion −f . Diese erfüllt ebenfalls die Voraussetzungen des Satzes und
fällt unter den 2. Fall. Also gibt es ein ξ ∈ (a, b) mit (−f )0 (ξ) = −f 0 (ξ) = 0
und die Behauptung ist gezeigt.
2
Eine einfache Folgerung aus dem obigen Satz ist
Folgerung 7 Ist f im abgeschlossenen Intervall [a, b] stetig und im offenen
Intervall (a, b) differenzierbar und gilt f (a) = f (b), so existiert eine Zahl
ξ ∈ (a, b) mit f 0 (ξ) = 0.
Ein Beispiel für eine Anwendung des Satzes besteht in der Feststellung, daß
sich ein schwingendes Pendel nicht ständig in Bewegung befinden kann. Zum
Zeitpunkt des Umkehrens muß sich das Pendel in Ruhe befinden.
108
Preliminary version – 3. Juli 2002
6.6.2
Mittelwertsatz der Differentialrechnung
Satz 59 (Mittelwertsatz der Differentialrechnung) f sei im abgeschlossenen Intervall [a, b] stetig und im offenen Intervall (a, b) differenzierbar.
Dann existiert ein ξ ∈ (a, b) mit
f (b) − f (a)
= f 0 (ξ)
b−a
Beweis: Wir definieren die Funktion
g(x) = f (x) − (x − a)
f (b) − f (a)
b−a
Diese ist ebenfalls auf [a, b] stetig und auf (a, b) differenzierbar. Darüberhinaus gelten g(a) = f (a) und g(b) = f (b) − (f (b) − f (a)) = f (a). Also ist
Folgerung 7 anwendbar und wir schließen auf die Existenz eines ξ ∈ (a, b)
mit g 0 (ξ) = 0.
(a)
Mit g 0 (x) = f 0 (x) − f (b)−f
folgt
b−a
f 0 (ξ) =
f (b) − f (a)
b−a
2
Inhaltlich läßt sich der Satz so formulieren, daß es im Intervall (a, b) eine
Stelle gibt, an der die Tangente an den Graph von f parallel zur durch
(a, f (a)) und (b, f (b)) bestimmten Sekante des Graphen verläuft.
Der Satz läßt sich beispielsweise nutzen, um die Ungleichung
∀x, y ∈ R : | sin x − sin y| ≤ |x − y|
zu beweisen. Die Funktion sin erfüllt in jedem Intervall [x, y], x 6= y, die
Voraussetzungen des Mittelwertsatzes. Folglich existiert ein ξ ∈ [x, y], so
x−sin y|
x−sin y
daß sin x−y
= cos ξ. Also | sin|x−y|
= | cos ξ| ≤ 1 und die Behauptung folgt
sofort.
6.6.3
Quotientenmittelwertsatz
Satz 60 (Quotientenmittelwertsatz) f und g seien zwei im abgeschlossenen Intervall [a, b] stetige und im offenen Intervall (a, b) differenzierbare
109
Preliminary version – 3. Juli 2002
Funktionen und es sei g 0 (x) 6= 0 für alle a < x < b. Dann existiert ein
ξ ∈ (a, b) mit
f (b) − f (a)
f 0 (ξ)
= 0
.
g(b) − g(a)
g (ξ)
Beweis: Auf den ersten Blick mag es scheinen, daß man einfach Satz 59 auf
f und g anwendet und dann die beiden Gleichungen dividiert. So einfach ist
der Beweis allerdings nicht, da man in diesem Fall unterschiedliche Zwischenstellen ξ1 und ξ2 für die beiden Ableitungen auf der rechten Seite erhalten
würde.
Zunächst gilt g(b) 6= g(a), andernfalls müßte die Ableitung von g an einer
Stelle des Intervalls (a, b) gemäß Satz 59 verschwinden, was aber nach Voraussetzung nicht der Fall sein soll. Damit ist die Funktion
h(x) = f (x) − f (a) −
g(x) − g(a)
(f (b) − f (a)) ,
g(b) − g(a)
in [a, b] stetig und in (a, b) differenzierbar. Außerdem gilt h(a) = h(b) = 0.
Anwendung des Satzes von Rolle (Satz 58) zeigt die Existenz eines ξ ∈ (a, b)
mit h0 (ξ) = 0 und aus
0 = h0 (ξ) = f 0 (ξ) − g 0 (ξ)
f (b) − f (a)
g(b) − g(a)
folgt die Behauptung.
6.6.4
2
Regel von l’Hospital
Den Quotientenmittelwertsatz kann man nun wiederum ausnutzen, um eine
weitere Regel zur Berechnung von Grenzwerten von Funktionen abzuleiten.
Satz 61 (Regel von l’Hospital) Die Funktionen f und g seien im halboffenen Intervall [x0 , x0 + l) stetig und im offenen Intervall (x0 , x0 + l) differenzierbar, wobei l eine positive reelle Zahl ist. Darüberhinaus gelte f (x0 ) =
g(x0 ) = 0 sowie g 0 (x) 6= 0 für alle x ∈ (x0 , x0 + l).
Dann folgt aus der Gültigkeit von
f 0 (x)
lim
=A
x→x0 +0 g 0 (x)
110
Preliminary version – 3. Juli 2002
auch die Gültigkeit der Beziehung
f (x)
=A.
x→x0 +0 g(x)
lim
Erfüllen f und g die entsprechenden Bedingungen auf einem Intervall (x0 −
l, x0 ], so gilt die Implikation
f 0 (x)
f (x)
= A =⇒ lim
=A
0
x→x0 −0 g (x)
x→x0 −0 g(x)
lim
für die linksseitigen Grenzwerte.
Beweis: Für beliebige Intervallgrenzen a = x0 und b = x0 + h mit 0 < h < l
erfüllen f und g die Voraussetzungen des Quotientenmittelwertsatzes 60.
Also existiert ein (von h abhängiges) θ ∈ (0, 1), so daß
f (x0 + h)
f 0 (x0 + θh)
= 0
.
g(x0 + h)
g (x0 + θh)
Aus der Voraussetzung
f 0 (x)
lim
=A
x→x0 +0 g 0 (x)
folgt zu beliebig vorgegebenem ε > 0 die Existenz eines δ > 0, so daß
0
f (x0 + h)
<ε
−
A
g 0 (x0 + h)
für alle 0 < h < δ. Aufgrund von 0 < θh < h ergibt sich erst recht
0
f (x0 + h)
f (x0 + θh)
=
<ε
−
A
−
A
g(x0 + h)
g 0 (x0 + θh)
für alle 0 < h < δ, also gilt auch die Beziehung
f (x)
=A.
x→x0 +0 g(x)
lim
Die Behauptung für linkseitige Grenzwerte folgt analog.
Im Hinblick auf zweiseitige Grenzwerte leiten wir daraus ab:
111
Preliminary version – 3. Juli 2002
2
Folgerung 8 Die Funktionen f und g seien auf einer Umgebung U (x0 )
stetig und in jedem von x0 verschiedenen Punkt der Umgebung differenzierbar. Darüberhinaus gelte f (x0 ) = g(x0 ) = 0 und g 0 (x) 6= 0 für alle
0 (x)
x ∈ U (x0 ) \ {x0 }. Falls dann der Grenzwert limx→x0 fg0 (x)
existiert, so existiert auch der Grenzwert limx→x0
sem Falle überein, d.h.
f (x)
g(x)
und beide Grenzwerte stimmen in die-
f (x)
f 0 (x)
lim
= lim 0
.
x→x0 g(x)
x→x0 g (x)
Ohne Beweis halten wir fest, daß die Regel von l’Hospital sinngemäß auch
im Fall x0 = ±∞ gilt. Ebenso läßt sie sich auf den Fall zweier uneigentlicher
Grenzwerte limx→x0 f (x) = ±∞ und limx→x0 g(x) = ±∞ anwenden.
Beispiele:
cos x − 1
− sin x
− cos x
1
= lim
= lim
=−
2
x→0
x→0
x→0
x
2x
2
2
ln(1 + x)
1
lim
= lim
=1
x→0
x→0
x
1+x
π − 2x
−2
2
= limπ
= limπ
=2
limπ (π − 2x) tan x = limπ
2
x→ 2
x→ 2 cot x
x→ 2 −(1 + cot x)
x→ 2 1 + cot2 x
lim
lim x ln x =
x→0+0
ln x
=
x→+∞ x
lim
6.6.5
lim
x→0+0
ln x
1
x
= lim
x→0+0
1
x
− x12
= lim −x = 0
x→0+0
1
=0
x→+∞ x
lim
Satz von Taylor
Der folgende Satz zeigt, wie man eine genügend oft differenzierbare Funktion
in einer kleinen Umgebung U (x0 ) einer Stelle x0 durch ein Polynom in einer
den Abstand des Funktionswertes x von x0 beschreibenden Variablen h, d.h.
x = x0 + h, approximieren kann.
Derartige Approximationen sind insbesondere für numerische Rechnungen
bedeutsam, da man so beispielsweise Berechnungen transzendenter Funktionen auf die vier Grundrechenoperationen reduzieren kann.
Satz 62 (Satz von Taylor) Es sei f eine im Intervall (x0 −l, x0 +l), wobei
l > 0, (mindestens) (n + 1)-mal differenzierbare Funktion. Dann gibt es zu
112
Preliminary version – 3. Juli 2002
jedem x ∈ R mit x0 − l < x < x0 + l ein θ ∈ (0, 1), so daß
f 0 (x0 )
f 00 (x0 )
(x − x0 ) +
(x − x0 )2 + · · ·
(6.4)
1!
2!
f (n) (x0 )
f (n+1) (x0 + θ(x − x0 ))
+
(x − x0 )n +
(x − x0 )n+1
n!
(n + 1)!
f (x) = f (x0 ) +
(n+1)
(x0 +θ(x−x0 ))
Die Funktion Rn (x) = f
(x − x0 )n+1 heißt Lagrangsches Rest(n+1)!
glied des Taylorschen Satzes.
Beweis: Wir konstruieren zunächst die Funktionen
f 0 (x0 )
f (n) (x0 )
g(x) = f (x) − f (x0 ) −
(x − x0 ) − · · · −
(x − x0 )n und
1!
n!
h(x) = (x − x0 )n+1
Für die Ableitungen dieser Funktionen gelten die Beziehungen
g(x0 ) = g 0 (x0 ) = · · · = g (n) (x0 ) = 0 und g (n+1) (x0 ) = f (n+1) (x0 )
beziehungsweise
h(x0 ) = h0 (x0 ) = · · · = h(n) (x0 ) = 0 und h(n+1) (x0 ) = (n + 1)!
Wenden wir nun den Quotientenmittelwertsatz 60 auf g und h an, so erhalten
wir
g(x)
g(x) − g(x0 )
g 0 (x0 + θ1 (x − x0 ))
=
= 0
h(x)
h(x) − h(x0 )
h (x0 + θ1 (x − x0 ))
Auf die rechte Seite können wir wieder den Quotientenmittelwertsatz anwenden und gelangen zu
g(x)
g 0 (x0 + θ1 (x − x0 ))
g 0 (x0 + θ1 (x − x0 )) − g 0 (x0 )
g 00 (x0 + θ2 θ1 (x − x0 ))
= 0
= 0
=
h(x)
h (x0 + θ1 (x − x0 ))
h (x0 + θ1 (x − x0 )) − h0 (x0 )
h00 (x0 + θ2 θ1 (x − x0 ))
Nach insgesamt (n + 1)-maligem Anwenden des Quotientenmittelwertsatzes
erhalten wir schließlich
g(x)
g (n+1) (x0 + θ(x − x0 ))
f (n+1) (x0 + θ(x − x0 ))
= (n+1)
=
,
h(x)
h
(x0 + θ(x − x0 ))
(n + 1)!
113
Preliminary version – 3. Juli 2002
wobei θ = θn+1 θn · · · θ1 eine reelle Zahl aus dem Intervall (0, 1) ist. Einsetzen
der definierenden Ausdrücke für g und h und Auflösen der Gleichung nach
f (x) führt auf Gleichung (6.4).
2
Setzt man h = x − x0 , so nimmt die obige Gleichung die Gestalt
f (x0 + h) = f (x0 ) +
f 0 (x0 )
f (n) (x0 ) n f (n+1) (x0 + θh) n+1
h + ··· +
h +
h
1!
n!
(n + 1)!
an und für kleine Zahlen h gilt die Näherung
f (x0 + h) ≈ f (x0 ) +
f 00 (x0 ) 2
f (n) (x0 ) n
f 0 (x0 )
h+
h + ··· +
h .
1!
2!
n!
Ist f in einer Umgebung U (x0 ) von x0 sogar beliebig oft differenzierbar, so
kann man den Taylorschen Satz mit immer größerem n betrachten. Gilt dann
limn→∞ Rn (x) = 0 für alle x ∈ U (x0 ), dann kann man f auf U (x0 ) in eine
sogenannte Taylorreihe
f (x) =
∞
X
f (n) (x0 )
n=0
n!
(x − x0 )n
entwickeln. Auf diese Weise hätte man die Übungsaufgaben 20 und 21 ebenfalls lösen können.
114
Preliminary version – 3. Juli 2002
Übungsaufgaben, Serie 11
31. Berechnen Sie die Ableitungen der Funktionen
f (x)
g(x)
k(x)
h(x)
=
=
=
=
sinh x
cosh x
loga x,
xsin x
a ist eine positive reelle Zahl
32. Zeigen Sie
d
1
arctan x =
dx
1 + x2
d
Hinweis: Weisen Sie zunächst dx
tan x = cos12 x = 1 + tan2 x nach und
verwenden Sie dann den Satz über die Ableitung der Umkehrfunktion.
33. Berechnen Sie die erste Ableitung
d arsinh
dx
der Funktion arsinh.
Hinweis: Die Berechnung verläuft ähnlich der in der vorigen Aufgabe. Als Zwischenschritt benötigen sie das Additionstheorem cosh2 x −
sinh2 x = 1.
6.7
6.7.1
Kurvendiskussion
Monotonie
Zum Abschluß des Kapitels zur Differentialrechnung wollen wir einige Sätze
darüber zusammenstellen, wie die Ableitung einer reellen Funktion f in einer
reellen Variablen Rückschlüsse auf den Verlauf des Graphen von f erlaubt.
Satz 63 f sei in (a, b) differenzierbar. Dann ist f genau dann monoton
wachsend in (a, b), wenn f 0 (x) ≥ 0 für alle a < x < b.
Darüberhinaus ist f genau dann streng monoton wachsend, wenn f 0 (x) ≥ 0
für alle a < x < b gilt und auf keinem Teilintervall (c, d) ⊆ (a, b) sogar für
alle c < x < d die Gleichheit f 0 (x) = 0 vorliegt.
(x0 )
Beweis: Sei f monoton wachsend. Dann ist der Differenzenquotient f (x0 +h)−f
h
für alle x0 ∈ (a, b) und jedes h mit x0 + h ∈ (a, b) nichtnegativ. Damit ist der
115
Preliminary version – 3. Juli 2002
Differentialquotient, also die Ableitung f 0 (x0 ) (welche nach Voraussetzung
existiert), ebenfalls ≥ 0.
Betrachten wir nun den umgekehrten Fall, daß also für alle a < x < b die
Ungleichung f 0 (x) ≥ 0 gilt. Angenommen, f wächst nicht monoton auf ganz
(a, b). Dann gibt es zwei Stellen c, d ∈ (a, b) mit c < d und f (c) > f (d).
Anwendung des Mittelwertsatzes 59 liefert die Existenz eines ξ ∈ (c, d) mit
(d)
f 0 (ξ) = f (c)−f
< 0. Das steht im Widerspruch zur Voraussetzung.
c−d
Kommen wir nun zur Untersuchung der strengen Monotonie. Sei also f
streng monoton wachsend und angenommen, es gibt ein Teilintervall (c, d) ⊆
(a, b) mit f 0 (x) = 0 für alle c < x < d. Dann müßte f auf ganz (c, d) den
gleichen Wert annehmen, im Widerspruch zur strengen Monotonie.
Nehmen wir nun umgekehrt an, es gilt f 0 (x) ≥ 0 für alle a < x < b aber es
gibt kein Intervall (c, d) ⊆ (a, b) mit f 0 (x) = 0 für alle c < x < d. Bereits oben
haben wir gezeigt, daß f dann monoton wächst. Nehmen wir an, es gibt zwei
Stellen c, d mit f (c) = f (d). Aufgrund der Monotonie gilt dann sogar f (x) =
f (c) = f (d) für alle c < x < d. Dann ist aber der Differentialquotient für
jedes c ∈ (c, d) gleich Null, im Widersprcuh zur vorausgesetzten Nichtexistenz
eines Intervalles auf dem f 0 überall den Wert Null annimmt. Also wächst f
streng monoton.
2
Analoge Aussagen treffen für monoton fallende Funktionen zu.
6.7.2
Lokale Extremwerte
Definition 27 Sei f eine auf einem Intervall (a, b) definierte Funktion. Man
sagt, f hat an der Stelle x0 ∈ (a, b) ein lokales Maximum (Minimum), falls
eine Umgebung U (x0 ) existiert, so daß f (x) < f (x0 ) (f (x) > f (x0 )) für alle
x ∈ U (x0 ) \ {x0 }.
Satz 64 (Notwendige Bedingung für lokale Extremwerte) f sei in x0
differenzierbar und f habe an der Stelle x0 einen lokalen Extremwert. Dann
gilt f 0 (x0 ) = 0.
(x0 )
von f an der Stelle x0 weißt für
Beweis: Der Differenzenquotient f (x0 +h)−f
h
negative h ein anderes Vorzeichen auf, als für positive h (welches Vorzeichen
wo auftritt, hängt davon ab, ob es sich um ein lokales Maximum oder ein
lokales Minimum handelt). Daher kann der Differentialquotient nur 0 sein.
2
116
Preliminary version – 3. Juli 2002
Bemerkung 8 f sei in [a, b] stetig und f 0 besitze nur endlich viele Nullstellen in [a, b]. Dann nimmt f das Maximum seiner Funktionswerte auf [a, b] in
einer der beiden Intervallgrenzen a oder b oder in einem lokalen Maximum
an.
Analog nimmt f das Minimum seiner Funktionswerte auf [a, b] in einer der
beiden Intervallgrenzen a oder b oder in einem lokalen Minimum an.
Satz 65 (Hinreichende Bedingung für lokale Extremwerte) Ist f in
einer Umgebung U (x0 ) zweimal differenzierbar und gilt f 0 (x0 ) = 0 sowie
f 00 (x) > 0 (f 00 (x) < 0) für alle x 6= x0 aus U (x0 ), dann besitzt f an der Stelle
x0 ein lokales Minimum (Maximum).
Beweis: Sei f 0 (x0 ) = 0 und f 00 (x) > 0 für alle x ∈ U (x0 ) \ {x0 }.
Wir schreiben den Taylorschen Satz für n = 1 auf. Zu jedem x ∈ U (x0 )
existiert ein θ ∈ (0, 1), so daß
f (x) = f (x0 ) + f 0 (x0 )(x − x0 ) + f 00 (x0 + θ(x − x0 ))
(x − x0 )2
> f (x0 ) .
2!
Also hat f in x0 ein lokales Minimum.
2
Eine Folgerung aus dieser hinreichenden Bedingung ist das aus der Schule
bekannte Kriterium (k = 2).
Satz 66 k sei eine positive gerade natürliche Zahl. f sei in einer Umgebung
U (x0 ) k-mal differenzierbar mit f 0 (x0 ) = f 00 (x0 ) = · · · = f (k−1) (x0 ) = 0 und
f (k) (x0 ) 6= 0. Ist f (k) stetig in x0 , dann gilt:
f (k) (x0 ) > 0 =⇒ f hat lokales Minimum in x0
f (k) (x0 ) < 0 =⇒ f hat lokales Maximum in x0
Beweis: Die Stetigkeit von f (k) sichert, daß f (k) (x0 ) in einer ganzen Umgebung von x0 das gleiche Vorzeichen wie in x0 hat (Lemma 3). Damit ergibt
sich die Behauptung analog zu oben aus dem Taylorschen Satz.
2
6.7.3
Wendepunkte
Definition 28 F sei in (a, b) differenzierbar. f hat in x0 ∈ (a, b) einen
Wendepunkt genau dann, wenn f 0 in x0 einen lokalen Extremwert hat.
117
Preliminary version – 3. Juli 2002
Ein Wendepunkt zeichnet sich dadurch aus, daß die Tangente an den Graph
von f an der Stelle x0 den Graph im Punkt (x0 , f (x0 )) “durchsetzt”, d.h.
für h > 0 beziehungsweise h < 0 liegen die Punkte (x0 + h, f (x0 + h)) auf
verschiedenen Seiten der Tangente.
Hat f 0 in x0 ein lokales Minimum, so liegt der linke Teil des Graphen unter
und der rechte Teil des Graphen über der Tangente. Man spricht von einem
Rechts/Links-Wendepunkt. Für ein lokales Maximum von f 0 spricht man
von einem Links/Rechts-Wendepunkt, der linke Teil des Graphen liegt über,
der rechte Teil unter der Tangente.
6.7.4
Beispiele
Abschließend wollen wir die Graphen einiger spezieller Funktionen studieren.
Beispiel 1: f (x) = x3 − 2x + 1
Die Funktion f (x) ist auf ganz R definiert und stetig. Es gilt limx→−∞ f (x) =
−∞ und lim
der Funktion sind x1 = 1,
qx→∞ f (x) = ∞. Die Nullstellen
q
x2 = − 21 +
5
4
≈ 0, 62 und x3 = − 12 −
5
4
≈ −1, 62. Die erste Ableitung ist
q
q
f 0 (x) = 3x2 − 2, ihre Nullstellen sind x4 = 23 ≈ 0, 82 sowie x5 = − 23 ≈
−0, 82, nur an diesen beiden Stellen können lokale Extremwerte
q vorliegen.
Die zweite Ableitung ist f 00 (x) = 6x, also gilt f 00 (x4 ) = 6 23 > 0 sowie
q
00
f (x5 ) = −6 23 < 0. Daran erkennen wir, an der Stelle x4 hat f ein lokales
Minimum und an der Stelle xq
5 eine lokales Maximum. Der Funktionswert
4
des Maximum ist f (x5 ) = 3 23 + 1 ≈ 2, 09, der des Minimum f (x4 ) =
q
− 43 23 + 1 ≈ −0, 09.
x6 = 0 ist einzige Nullstelle der zweiten Ableitung, also kann höchstens dort
ein Wendepunkt auftreten. Wegen f 000 (x) = 6 liegt tatsächlich ein Wendepunkt vor, nämlich ein Rechts/Links-Wendepunkt. Der Funktionswert an
der Stelle x6 ist 1.
118
Preliminary version – 3. Juli 2002
Beispiel 2: f (x) =
x+2
x2 −1
Der Definitionsbereich der Funktion sind die reellen Zahlen außer −1 und +1,
da dieses die Nullstellen des Nenners sind. Für die einseitigen Grenzwerte
119
Preliminary version – 3. Juli 2002
an den Unstetigkeitsstellen gilt
x+2
x2 − 1
x+2
lim
x→−1+0 x2 − 1
x+2
lim 2
x→1−0 x − 1
x+2
lim 2
x→1+0 x − 1
lim
x→−1−0
= +∞
= −∞
= −∞
= +∞
Weiterhin gilt im Unendlichen
x+2
x+2
= lim 2
=0.
2
x→+∞ x − 1
x→−∞ x − 1
lim
Einzige Nullstelle der Funktion ist x1 = −2. Die erste Ableitung der Funktion
ist
1(x2 − 1) − 2x(x + 2)
x2 + 4x + 1
f 0 (x) =
=
.
(x2 − 1)2
(x2 − 1)2
√
√
Also kommen nur x2 = −2 + 3 ≈ −0, 27 und x3 = −2 − 3 ≈ −3, 73 für
lokale Extremwerte in Frage. Aus der zweiten Ableitung
f 00 (x) =
(2x + 4)(x2 − 1) − 4x(x2 + 4x + 1)
(x2 − 1)3
erkennen wir f 00 (x2 ) < 0 und f 00 (x3 ) > 0. Damit liegen tatsächlich lokale
Extremwerte, nämlich in x2 ein Maximum und in x√3 ein Minimum
vor. Die
√
Funktionswerte an diesen Stellen sind f (x2 ) = (√3−2)3 2 −1 = 6−43√3 ≈ −1, 87
√
3
sowie f (x3 ) = − (−√3−2)
2 −1 ≈ −0, 13. Die Bestimmung der Wendepunkte
bedarf der Lösung einer Gleichung dritten Grades, welche nachweislich keine
rationale Nullstelle besitzt. Ein Lösungsverfahren für derartige Gleichungen
haben wir im Rahmen der Vorlesungsreihe nicht behandelt, wir müssten
also numerische Methoden zur Lösung einsetzen, worauf wir an dieser Stelle
allerdings verzichten wollen.
120
Preliminary version – 3. Juli 2002
Beispiel3: f (x) =
sin x·ln x
x2 −1
x
Untersuchen wir nun die Funktion f (x) = sinx2x·ln
. Der Zähler ist nur für
−1
positive reelle Zahlen definiert und der Nenner besitzt die Nullstellen 1 und
−1. Daher ist der Definitionsbereich Deff = {a ∈ R : a > 0, a 6= 1} gleich
der Menge der von 1 verschiedenen positiven reellen Zahlen. Untersuchen
wir also zunächst den Typ der Unstetigkeit von f an der Stelle 1.
x
Zur Berechnung von limx→1 f (x) = limx→1 sinx2x·ln
ist die Regel von l’Hospital
−1
anwendbar:
cos x · ln x + sinx x
sin x · ln x
sin 1
lim
= lim
=
≈ 0, 42
2
x→1
x→1
x −1
2x
2
121
Preliminary version – 3. Juli 2002
Wir haben es also nur mit einer hebbaren Unstetigkeit zu tun. Für den
einseitigen Grenzwert limx→0+0 f (x). Problematisch ist allein das Verhalten
des Zählers, denn während sin x gegen Null konvergiert ist ln x bestimmt
divergent gegen −∞, wieder ist die Regel von l’Hospital einsetzbar:
lim sin x · ln x =
x→0+0
=
lim
x→0+0
lim
x→0+0
ln x
1
sin x
−
1
x
x→0+0 − cos2 x
sin x
= lim
sin x
tan x
x
= lim −
x→0+0
sin2 x
x cos x
=0
Damit ergibt sich sofort limx→0+0 f (x) = 0.
Schließlich fragen wir nach dem Verhalten des Graphen im Unendlichen. Dazu untersuchen wir zunächst mittels der Regel von l’Hospital den Grenzwert
1
ln x
x
= lim
=0
lim
x→+∞ 2x
x→+∞ x2 − 1
Aufgrund der Beschränktheit von | sin x| folgt daraus (siehe dazu auch Übungsaufgabe 13):
sin x ln x
lim
=0
x→+∞ x2 − 1
Die Nullstellen der Funktion f ergeben sich aus den Nullstellen der Sinusfunktion, es handelt sich um die Stellen x = kπ mit positiver natürlicher
Zahl k.
Zur Suche nach den lokalen Extremstellen muß man die Nullstellen der ersten
Ableitung
2
sin x
cos
x
ln
x
+
(x − 1) − 2x (sin x ln x)
x
f 0 (x) =
(x2 − 1)2
berechnen. Dazu benötigt man ebenso numerische Verfahren wie für die
Bestimmung der Wendepunkte. Wir wollen an dieser Stelle auf beides verzichten.
122
Preliminary version – 3. Juli 2002
Übungsaufgaben, Serie 12
34. Berechnen Sie die Taylorreihe der Funktion f (x) =
x0 = 1.
√
x an der Stelle
35. Gegeben ist die Funktion
f (x) = ln
x+2
x2 − 1
.
Bestimmen Sie den Definitionsbereich und untersuchen Sie die Funktion auf Nullstellen und lokale Extremwerte.
123
Preliminary version – 3. Juli 2002
36. Bestimmen und klassifizieren Sie die lokalen Extremwerte und Wendepunkte der Funktion
f (x) = e−x sin x .
124
Preliminary version – 3. Juli 2002
Kapitel 7
Integration reeller Funktionen
in einer reellen Variablen
Es gibt zwei prinzipiell verschiedene Zugänge zur Integralrechnung. Zum
einen kann man nach einer Möglichkeit zur Berechnung des Inhalts der von
einer Kurve und gewissen achsenparallelen Geraden eingeschlossenen
Fläche
Rb
fragen, dabei gelangt man zum bestimmten Integral a f (x)dx. Der andere Zugang untersucht die Umkehroperation
des Differenzierens und führt
R
auf das unbestimmte Integral f (x)dx. Schließlich stellt der Hauptsatz der
Differential- und Integralrechnung die Verbindung der beiden Ansätze her.
7.1
Das Riemannsche Integral
Wir beginnen mit der Einführung des Riemannschen oder auch bestimmten
Integrals. Sei f eine reelle Funktion in einer reellen Variablen, welche auf dem
abgeschlossenen Intervall [a, b] definiert ist und dort überall positive Werte
annimmt, d.h. f (x) > 0 für alle a ≤ x ≤ b. Wir fragen nach dem Inhalt der
Fläche, die vom Graphen der Funktion f , der x-Achse und den beiden zur
y-Achse parallelen Geraden x = a und x = b eingeschlossen wird.
125
Preliminary version – 3. Juli 2002
Eine Näherungslösung des Flächeninhaltes kann man gewinnen, indem man
das Intervall [a, b] in Teilintervalle zerlegt und die Rechtecke betrachtet, die
durch die x-Achse, die Parallelen zur y-Achse durch die Randpunkte eines
Teilintervalls und eine Parallele zur x-Achse durch einen Punkt des Graphen
mit Argument innerhalb des Teilintervalls begrenzt werden. Die Berechnung
des Flächeninhaltes der Rechtecke ist klar und der gesuchte Gesamtflacheninhalt ist etwa so groß wie die Summe der Inhalte aller Teilrechtecke.
126
Preliminary version – 3. Juli 2002
Die approximierte Fläche hängt von der Zerlegung in Teilintervalle und der
Auswahl der Zwischenwerte von f zur oberen Begrenzung der Rechtecke ab.
Intuitiv ist klar, daß die Gefahr eines Fehlers umso größer ist, je mehr der
Funktionswert innerhalb eines Teilintervalles variiert. Wenigstens für stetige
Funktionen nimmt die Streuung der Funktionswerte innerhalb eines Teilintervalls mit sinkender Länge des Teilintervalls ab. Um also den Flächeninhalt zu
ermitteln, muß man einen Grenzübergang betrachten, bei dem die maximale
Länge der Teilintervalle gegen Null konvergiert.
Die Voraussetzung, daß f auf ganz [a, b] positive Werte annehmen sollte,
lassen wir von nun an wieder fallen. Diese war nur der inhaltlichen Vorstellung der Suche nach einem Flächeninhalt geschuldet. Läßt man beliebige
Funktionswerte zu, so kann man unsere Aufgabe so deuten, daß wir nach der
Differenz des Inhalts der oberhalb der x-Achse liegenden Teilfläche minus des
Inhalts der unterhalb der x-Achse liegenden Teilfläche suchen.
Definition 29 Sei [a, b] ⊂ R ein abgeschlossenes endliches Intervall und
x1 , . . . , xk+1 eine aufsteigende Folge reeller Zahlen mit der Eigenschaft a =
x1 < x2 < . . . < xk+1 = b.
Dann nennen wir die Menge Z = {I1 , . . . , Ik } der Intervalle [xi , xi+1 ], i =
1, . . . , k, eine Zerlegung von [a, b] und die x1 , . . . , xk+1 die Teilpunkte der
Zerlegung.
127
Preliminary version – 3. Juli 2002
Wir sagen die durch die aufsteigende Folge a = y1 < y2 < . . . < yn+1 =
b beschriebene Zerlegung {J1 , . . . , Jn } verfeinert die Zerlegung {I1 , . . . , Ik },
falls zu jedem Index i ∈ {1, . . . , k + 1} ein Index j ∈ {1, . . . , n + 1} mit
xi = yj existiert.
Eine Verfeinerung einer Zerlegung Z eines Intervalls [a, b] entsteht also durch
eventuelle Hinzunahme weiterer Teilpunkte, d.h. durch Zerlegung der Teilintervalle.
Definition 30 Sei f eine auf dem abgeschlossenen endlichen Intervall [a, b]
definierte Funktion, Z = {I1 , . . . , Ik } eine Zerlegung von [a, b] und T =
{ξ1 , . . . , ξk } eine Menge von Zwischenwerten mit der Eigenschaft ξi ∈ Ii =
[xi , xi+1 ] für alle i = 1, . . . , k.
Dann heißt
k
X
σf (Z, T ) =
f (ξi )(xi+1 − xi )
i=1
die Zwischensumme der Funktion f zu der Zerlegung Z und den Zwischenwerten T .
Die Zahl S heißt Grenzwert aller Zwischensummen, falls zu jedem ε > 0 eine
Zerlegung Z0 existiert, so daß für alle Z0 verfeinernden Zerlegungen Z und
alle Mengen von Zwischenwerten T von Z die Abschätzung
|σf (Z, T ) − S| < ε
zutrifft.
Man beachte einerseits die Ähnlichkeit zur Definition gewöhnlicher Grenzwerte aber auch die Unterschiede. Hier haben wir es nicht mit einer natürlichzahligen oder komplexen Größe zu tun, die gegen unendlich oder eine Zahl läuft,
sondern hier werden Zerlegungen und Mengen von Zwischenwerten variiert.
Entscheidend ist, daß dieser Prozeß auch hier gerichtet verläuft, nämlich in
Richtung immer feinerer Zerlegungen.
Wie bei den gewöhnlichen Grenzwerten, kann es nur höchstens einen Grenzwert aller Zwischensummen geben. Denn hätte man zwei, sagen wir S1 und
S2 , dann gäbe es zu vorgegebenem 2ε zwei Zerlegungen Z1,0 und Z2,0 , so daß
|σf (Z1 , T1 ) − S1 | <
ε
ε
und |σf (Z2 , T2 ) − S2 | <
2
2
128
Preliminary version – 3. Juli 2002
für alle Verfeinerungen Z1 von Z1,0 und alle Verfeinerungen Z2 von Z2,0 und
alle Mengen T1 beziehungsweise T2 von Zwischenwerten. Die Zerlegung Z
deren Teilpunktmenge gerade die Vereinigung der Teilpunktmengen von Z1,0
und Z2,0 ist, verfeinert beide Zerlegungen Z1,0 und Z2,0 . Für eine beliebige
Zwischenwertmenge T von Z gilt also sowohl
|σf (Z, T ) − S1 | <
ε
ε
als auch |σf (Z, T ) − S2 | <
2
2
und somit |S1 − S2 | < ε. Da ε > 0 beliebig gewählt werden kann, bedeutet
daß jedoch S1 = S2 .
Das rechtfertigt die Begriffsbildung:
Definition 31 Sei f eine auf dem abgeschlossenen endlichen Intervall [a, b]
definierte Funktion. Im Falle der Existenz des Grenzwertes S aller Zwischensummen von f , nennt man diesen das bestimmte (oder auch Riemannsche)
Integral von f über das Intervall [a, b] und schreibt dafür
S=
b
Z
f (x)dx .
a
Man sagt, f ist über [a, b] im Riemanschen Sinne integrierbar oder einfach
über [a, b] R-integrierbar.
Bisher läßt sich einzig für eine Funktion f (x) = c, wobei c eine reelle KonRb
stante ist, das Riemannsche Integral a f (x)dx leicht bestimmen. In diesem
Fall gilt nämlich σf (Z, T ) = (b − a)c für alle Zerlegungen Z und alle ZwiRb
schenwertmengen T , also a cdx = (b − a)c.
Wenn man bereits weiß, daß f über [a, b] R-integrierbar ist, dann kann man
Rb
die Berechnung von a f (x)dx auf eine gewöhnliche Grenzwertberechnung
zurückführen. Man kann sich eine beliebige ausgezeichnete Folge Z1 , Z2 , . . .
von Zerlegungen des Intervalls [a, b] vorgeben, ausgezeichnet soll heißen, die
maximale Länge der an Zn beteiligten Teilintervalle konvergiert für n → ∞
gegen 0. Bei beliebiger Wahl der Zwischenwertmengen Tn zu Zn gilt dann
Z b
f (x)dx = lim σf (Zn , Tn ) .
a
n→∞
Wie bereits eingangs erwähnt, muß dafür allerdings die Existenz des Grenzwertes bereits bekannt sein. Andernfalls könnte eine konkrete Wahl der
129
Preliminary version – 3. Juli 2002
Z1 , Z2 , . . . und T1 , T2 , . . . auf eine konvergente Zwischensummenfolge führen,
wohingegen eine andere Wahl einen anderen Grenzwert oder gar Divergenz
zur Folge haben könnte.
Satz 67 f und g seien über [a, b] R-integrierbare Funktionen. Dann ist für
beliebige reelle Zahlen λ und µ auch λf +µg R-integrierbar mit dem bestimmten Integral
Z b
Z b
Z b
(λf + µg)(x)dx = λ
f (x)dx + µ
g(x)dx
a
a
a
Beweis: Sei Z eine Zerlegung von [a, b] und T eine Menge von Zwischenwerten. Einsetzen von (λf + µg)(x) = λf (x) + µg(x) in die Zwischensumme
σλf +µg (Z, T ) zeigt σλf +µg (Z, T ) = λσf (Z, T ) + µσg (Z, T ) für alle Z und T ,
also auch für die Grenzwerte.
2
Satz 68 Für reelle Zahlen a,b,c mit a < b < c gilt, ist f über [a, b] und über
[b, c] R-integrierbar, so ist f auch über [a, b] R-integrierbar mit
Z
c
f (x)dx =
a
Z
b
f (x)dx +
a
Z
c
f (x)dx .
b
Beweis: Es besteht ein bijektiver Zusammenhang zwischen der Menge aller
Zerlegungen von [a, c] mit der Eigenschaft, daß b einer ihrer Teilpunkte ist,
und der Menge der geordneten Paare bestehend aus einer Zerlegung von [a, b]
und einer Zerlegung von [b, c]. Jede Verfeinerung einer Zerlegung von [a, c]
mit Teilpunkt b enthält b ebenfalls als Teilpunkt. Sind also Z1,0 und Z2,0 so,
daß
Z b
ε
|σf (Z1 , T1 ) −
f (x)dx| <
2
a
und
|σf (Z2 , T2 ) −
Z
c
f (x)dx| <
b
ε
2
für alle Verfeinerungen von Z1,0 beziehungsweise Z2,0 und alle Zwischenwertmengen T1 und T2 , so gilt
Z b
Z c
σf (Z, T ) −
f (x)dx +
f (x)dx < ε
a
b
130
Preliminary version – 3. Juli 2002
für alle Verfeinerungen der vom Paar (Z1,0 , Z2,0 ) bestimmten Zerlegung Z0
Rb
Rc
von [a, c] und alle Zwischenwertmengen T . Also ist a f (x)dx + b f (x)dx
der Grenzwert aller Zwischensummen von f über [a, c] und folglich
Z
a
c
f (x)dx =
Z
b
f (x)dx +
a
Z
c
f (x)dx .
b
2
Satz 69 Ist f über [a, b] R-integrierbar, dann ist f auch über jedem Teilintervall [c, d] ⊆ [a, b] R-integrierbar.
Beweisidee: Wir können wieder die Grenzwertbedingung durch ein Analogon zum Chauchy-Kriterium ersetzen, d.h. zu ε > 0 existiert eine Zerlegung
Z0 von [a, b] mit |σf (Z1 , T1 ) − σf (Z2 , T2 )| < ε für alle Verfeinerungen Z1
und Z2 von Z0 und Zwischenwertmengen T1 und T2 . O.B.d.A. können wir
annehmen, daß c und d Teilpunkte der Zerlegung Z sind, nötigenfalls könnten wir diese Teilpunkte einfach hinzunehmen. Insbesondere gilt die obige
Abschätzung auch, wenn Z1 und Z2 in allen Teilpunkten kleiner c und größer
d übereinstimmen und T1 sowie T2 gleiche Zwischenwerte in den außerhalb
von [c, d] liegenden Intervallen aufweisen. Im weiteren seien die Zerlegungen Z1 , Z2 und Zwischenwertmengen T1 und T2 beliebig. Dann hängt die
Differenz |σf (Z1 , T1 ) − σf (Z2 , T2 )| nur von den Teilpunkten und Zwischenwerten im Inneren von [c, d] ab, wir haben also |σf (Z01 , T10 ) − σf (Z02 , T20 )| < ε
für alle Zerlegungen Z01 und Z02 von [c, d], die das ‘Innere’ von Z verfeinern
und alle passenden Zwischenwertmengen T10 und T20 . Also ist f über [c, d]
R-integrierbar.
2
Eine in [a, b] R-integrierbare Funktion f braucht auf [a, b] nicht stetig zu sein.
Eine notwendige Bedingung der R-Integrierbarkeit ist jedoch die Beschränktheit auf [a, b]. Wir halten ohne Beweis fest:
Satz 70 f sei auf [a, b] beschränkt und an höchstens endlich vielen Stellen
von [a, b] unstetig. Dann ist f über [a, b] R-integrierbar.
Eine Folge aus diesem Satz ist, daß für Funktionen f mit höchstens endlich vielen Unstetigkeitsstellen im Intervall a, b eine ausgezeichnete Folge
Z1 , Z2 , . . . von Zerlegungen und dazu passende Zwischenwertmengen T1 , T2 , . . .
131
Preliminary version – 3. Juli 2002
beliebig vorgegeben werden können und dann die Integration mittels der Formel
Z
b
f (x)dx = lim σf (Zn , Tn )
a
n→∞
ausgeführt werden kann.
Beispielsweise kann man Zn durch äquidistante Zerlegung von [a, b] in n Teilintervalle [a + (i − 1) b−a
, a + i b−a
], i = 1, . . . , n, welche alle die Länge b−a
n
n
n
haben, gewinnen. Als Zwischenwert jedes Intervalles von Zn könnte man die
b−a
Intervallmitte ξi = a + 2i−1
festlegen und erhält
2
n
Z b
n
n
X
X
b−a
b−a
b−a 1b−a
f (x)dx = lim
f (ξi ) = lim
f a+i
−
n→∞
n→∞
n
n
n
2 n
a
i=1
i=1
Das gleiche Ergebnis erhält man auch bei der Wahl der jeweiligen linken
beziehungsweise rechten Intervallgrenze als Zwischenwerte:
Z b
n
n
X
X
b−a
b−a
b−a
b−a
f (x)dx = lim
f a + (i − 1)
= lim
f a+i
.
n→∞
n→∞
n
n
n
n
a
i=1
i=1
Damit haben wir endlich die Möglichkeit auch ein Beispiel praktisch auszurechnen. Wir betrachten die Funktion f (x) = x. Diese hat keine Unstetigkeitsstellen, also ist sie über jedem Intervall [a, b] R-integrierbar und es
gilt
Z b
n
X
b−a
b−a
xdx = lim
a+i
n→∞
n
n
a
i=1
2
n
X
(b − a)a
b−a
= lim
+i
n→∞
n
n
i=1
2 n
n
(b − a)a X
b−a X
= lim
1 + lim
i
n→∞
n→∞
n
n
i=1
i=1
2
b − a n(n − 1)
= (b − a)a + lim
n→∞
n
2
2
(b − a)
1
= (b2 − a2 )
= (b − a)a +
2
2
Unsere bisherigen Untersuchungen galten zunächst nur für Intervalle [a, b]
mit a < b. Mittels der Definitionen
Z a
f (x)dx := 0 für alle a ∈ R
a
132
Preliminary version – 3. Juli 2002
und
Z
a
f (x)dx := −
b
b
Z
f (x)dx für alle a < b
a
läßt sich das bestimmte Integral auch auf den Fall a ≥ b ausdehnen. Dabei
bleiben alle bisherigen Sätze gültig.
7.2
Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung
Sei f eine in [a, b] stetige, also insbesondere R-integrierbare, Funktion. Halten
wir die untere Intervallgrenze fest und wählen eine obere Intervallgrenze x
mit a ≤ x ≤ b, dann ist f auch über jedem Intervall [a, x] R-integrierbar und
wir können die auf dem Intervall [a, b] definierte reelle Funktion
Z x
F (x) =
f (t)dt
a
in der reellen Variablen x betrachten.
Satz 71 Sei f eine
R x in [a, b] stetige Funktion und x0 0∈ (a, b). Dann ist die
Funktion F (x) = a f (t)dt in x0 mit der Ableitung F (x0 ) = f (x0 ) differenzierbar.
Beweis: Für den Differenzenquotienten ϕ(h) =
ϕ(h) =
=
=
=
=
F (x0 +h)−F (x0 )
h
Z x0 +h
Z x0
1
f (t)dt −
f (t)dt
h
a
a
Z
1 x0 +h
f (t)dt
h x0
Z
1 x0 +h
[f (x0 ) + (f (t) − f (x0 ))]dt
h x0
Z
hf (x0 ) 1 x0 +h
+
[f (t) − f (x0 )]dt
h
h x0
Z
1 x0 +h
f (x0 ) +
[f (t) − f (x0 )]dt
h x0
133
Preliminary version – 3. Juli 2002
von F gilt
(7.1)
Aufgrund der Stetigkeit von f an der Stelle x0 existiert zu jedem ε > 0 ein
δ > 0, so daß |f (ξ) − f (x0 )| < ε für alle ξ ∈ [a, b] mit |ξ − x0 | < δ. Sei g
die auf dem Intervall [a, b] durch g(x) = f (x) − f (x0 ) definierte Funktion.
Dann gilt für |h| < δ die Abschätzung |g(ξ)| = |f (ξ) − f (x0 )| < ε für alle
R x +h
ξ, die als Zwischenwert in einer Zwischensumme des Integrals x00 [f (t) −
R x +h
f (x0 )]dt = x00 g(t)dt auftreten können. Sei nun h > 0. Für beliebige
Zerlegungen Z des Intervalls [x0 , x0 + h] und beliebige Zwischenwertmengen
T folgt |σg (Z, T )| ≤ hε, analog ergibt sich im Falle h < 0 die Beziehung
|σg (Z, T )| ≤ |h|ε
Z des Intervalls [x0 +h, x0 ]. Damit
R für beliebige Zerlegungen
x0 +h
können wir x0 [f (t) − f (x0 )]dt < |h|ε abschätzen und für alle h mit
0 < |h| < δ ergibt sich schließlich
Z x0 +h
1
|ϕ(h) − f (x0 )| ≤ [f (t) − f (x0 )]dt < ε .
h x0
Das heißt nichts anderes als F 0 (x0 ) = f (x0 ).
2
Definition 32 Sei f eine auf einem Intervall (a, b) definierte reelle Funktion. Eine auf (a, b) definierte und differenzierbare Funktion F mit der Eigenschaft F 0 (x) = f (x) für alle x ∈ (a, b) nennt man eine Stammfunktion von
f.
Aus den Differentiationsregel folgt, daß die Stammfunktion von f wegen
F 0 = (F +c)0 nur bis auf einen konstanten Summanden c bestimmt sein kann.
Andererseits können sich zwei Stammfunktionen F1 und F2 von f höchstens
um einen konstanten Summanden unterscheiden, denn wegen F10 = F20 = f
gilt F10 − F20 = (F1 − F2 )0 = 0, weswegen F1 − F2 eine Konstante sein muß.
Wir fassen zusammen:
Satz 72 Wenn eine reelle Funktion f überhaupt eine Stammfunktion F besitzt, dann ist {F + c : c ∈ R} die Menge aller reellen Stammfunktionen
von f .
Definition 33 Eine Funktion f heißt (unbestimmt) integrierbar, wenn sie
eine Stammfunktion besitzt. Man nennt eine Stammfunktion F von f auch
ein unbestimmtes Integral von f .
Zu einer unbestimmt integrierbaren Funktion f und x0 ∈ Deff gibt es genau
eine Stammfunktion Fx0 von f , welche an der Stelle x0 den Wert 0 annimmt,
134
Preliminary version – 3. Juli 2002
diese bezeichnet man auch mit
Fx0 =
Z
f (t)dt .
x0
Mit
Z
f (t)dt
bezeichnet man eine allgemeine Stammfunktion, d.h. sie enthält einen reellen
Parameter c, durch dessen Wahl man jede Stammfunktion
erhalten kann. Ist
R
also F irgendeine Stammfunktion von f , so gilt f (t)dt = F + c.
Der hier vorgestellte Zugang zur Integration als Umkehroperation des Differenzierens kann natürlich völlig unabhängig vom Riemannschen Integral
betrachtet werden. Wie uns Satz 71 bereits zeigt, besteht jedoch für stetige
Funktionen f ein enger Zusammenhang zwischen unbestimmter und Riemannscher Integration. Der folgende Satz präzisiert diesen Zusammenhang.
Satz 73 (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung) Für eine in [a, b] stetige Funktion f gilt
Rx
1. F (x) = a f (t)dt ist diejenige Stammfunktion von f , die an der Stelle
a den Wert 0 hat.
2. Für eine beliebige Stammfunktion Φ von f gilt
Z b
f (t)dt = Φ(b) − Φ(a) .
a
Die zweite Aussage begründet die gebräuchlichen Schreibweisen
Z b
f (t)dt = Φ(t)|ba = [Φ(t)]ba .
a
Beweis des
R a Satzes: Teil 1 ergibt sich sofort aus Satz 71 und der Tatsache
F (x) = a f (t)dt = 0.
Kommen wir zum Beweis des zweiten Teiles des Satzes.
R x Eine beliebige
Stammfunktion Φ von f unterscheidet sich von F (x) = a f (t)dt durch eine additive Konstante c ∈ R, d.h. F (x) = Φ(x) + c für alle x ∈ [a, b].
Insbesondere haben wir Φ(a) = −c und somit
Z b
Φ(b) − Φ(a) = F (b) − c − (−c) = F (b) =
f (t)dt
a
und wir sind fertig.
2
135
Preliminary version – 3. Juli 2002
7.3
Uneigentliche Integrale
Sofern gewisse Grenzwerte existieren, läßt sich das bestimmte Integral für
stetige Funktionen f auf Intervallgrenzen ±∞ ausdehnen. Man spricht dann
von uneigentlichen Integralen und definiert im Falle der Existenz der auftretenden Grenzwerte:
Z a
f (t)dt := F (a) − lim F (x) ,
x→−∞
−∞
+∞
Z
f (t)dt := lim F (x) − F (a) sowie
x→+∞
a
Z
+∞
f (t)dt := lim F (x) − lim F (x)
x→+∞
−∞
x→−∞
Betrachten wir dazu folgendes Beispiel:
Z ∞
Z
−t
e dt = lim
0
x→∞
x
e−t dt
0
Durch Differenzieren überzeugt man sich leicht davon, daß F (t) = −e−t eine
Stammfunktion von f (t) = e−t ist, also ergibt sich weiter
Z ∞
x
e−t dt = lim −e−t 0 = lim −e−x − (−1) = 1
0
x→∞
x→∞
Ähnlich kann man vorgehen, wenn f nur im halboffenen Intervall [a, b) definiert ist. Falls dann f für jedes positive h in [a, b − h] R-integrierbar ist und
R b−h
der Grenzwert limh→0+0 a f (x)dx existiert, so bezeichnet man diesen mit
Rb
f (x)dx. Analoge Aussagen gelten für Definitionsbereiche (a, b] und (a, b).
a
Betrachten wir auch dazu wieder ein Beispiel.
Z b−h
Z b
1
1
√
√
dx = lim
dx
h→0+0 a
b−x
b−x
a
√
Nachrechnen belegt, daß F (x) = − 21 b − x eine Stammfunktion des Integranden ist, also:
b−h
Z b
1
1√
1√
1√
1√
√
dx = lim −
b−x
= lim −
h+
b−a =
b−a
h→0+0
h→0+0
2
2
2
2
b−x
a
a
136
Preliminary version – 3. Juli 2002
Man beachte aber, hier handelt es sich in der Tat nicht um ein Riemannsches
Integral. Um wenigstens die Voraussetzungen eines Riemannschen Integrales
zu erfüllen, definieren wir den Integrand an der Stelle x = b mittels einer beliebigen Setzung. Gibt man irgendeine Zerlegung Z0 von [a, b] vor, und legt
eine Menge T0 von Zwischenwerten fest. Die Menge aller Zwischensummen
σf (Z, T ), mit Z verfeinert Z0 und T sind Zwischenwerte zu Z, ist auf jeden
Fall unbeschränkt, denn bereits bei festgehaltener Zerlegung Z und festgehaltenen Zwischenwerten aller Teilintervalle mit Ausnahme des letzten führt
auf eine unbeschränkte Menge von Zwischensummen, indem man nur den
Zwischenwert des letzten Intervalles gegen b wandern läßt.
Die zunächst notwendige Einschränkung auf stetige Funktionen zur Anwendbarkeit von Satz 73 zur Berechnung bestimmter Integrale können wir im Falle
von Funktionen mit nur endlich vielen Unstetigkeitsstellen dadurch umgehen, daß wir das Intervall [a, c] an denRUnstetigkeitsstellen in Teilintervalle
c
zerlegen und das bestimmte Integral a f (x)dx in eine Summe von Integralen stetiger Funktionen zerlegen. Ist f wenigstens beschränkt, so treten
höchstens Unstetigkeiten vom Typ 1, d.h. hebbar oder endlicher Sprung, auf.
In diesem Falle sind die einzelnen Summanden und das Summenintegral sogar
Riemannsch.Ist f dagegen unbeschränkt, so muß zu uneigentlichen Integralen übergegangen werden. Wenn alle uneigentlichenRSummanden existieren,
c
so existiert auch das uneigentliche Summenintegral a f (x)dx.
Betrachten wir
Beispiel zur Zerlegung des Integrationsintervalles die Funk als
ex für x ≥ 0
tion f (x) =
im Intervall [−2, 1]. Die Funktion ist stetig in
x für x < 0
diesem Intervall, mit Ausnahme der Stelle 0, wo sie einen Sprung der Größe
1 hat.
0
Z 1
Z 0
Z 1
1 2
x
e dx = x
xdx +
+ [ex ]10
f (x)dx =
2
−2
−2
0
−2
= 0−2+e−1=e−3.
Auf dem Definitionsbereich (−2, 1)
f keine Stammfunktion. Eine
 besitzt
x
 e − c für x > 0
d
für x = 0 haben und an der
solche müßte die Gestalt F (x) =
 1 2
x
für x < 0
2
Stelle x0 = 0 wenigstens stetig sein. Andernfalls kann F keinesfalls überall in
(−2, 1) mit F 0 (x) = f (x) differenzierbar
Aus der Stetigkeitsforderung
sein.
ex − 1 für x ≥ 0
folgern wir c = −1 und d = 0. F (x) =
ist aber an der
1 2
x
für x < 0
2
137
Preliminary version – 3. Juli 2002
Stelle x0 = 0 dennoch nicht differenzierbar, denn der linksseitige Grenzwert
des Differenzenquotienten ist 0 und der rechtseitige 1. Also ist Satz 73 nicht
direkt, d.h. ohne Aufspalten des Intervalles, anwendbar.
Ändernwir das obige Beispiel geringfügig ab und betrachten die Funktion
ex
für x ≥ 0
g(x) =
im Intervall [−2, 1]. g ist im gesamten Intervall
x + 1 für x < 0
[−2, 1] stetig, der Hauptsatz ist also
anwendbar. Allerdings ist dennoch
direkt
x
e
für x ≥ 0
keine StammfunkVorsicht geboten. So ist G(x) =
1 2
x
+
x
für x < 0
2
tion von g, denn G ist an der Stelle x0 = 0 nicht stetig und erst recht nicht
differenzierbar. Folgerichtig liefert G(1) − G(−2) = e − (2 − 2) = e auch nicht
das korrekte Integral
0
Z 1
Z 0
Z 1
1 2
x
g(x)dx =
(x + 1)dx +
e dx = x + x
+ [ex ]10
2
−2
−2
0
−2
= 0−0+e−1=e−1.
x
e −1
für x ≥ 0
Eine korrekte Stammfunktion ist G−2 (x) =
Diese ist
1 2
x
+
x
für x < 0
2
an der Stelle x0 = 0 sowohl stetig als auch differenzierbar. Daher liefert
G−2 (1) − G−2 (−2) = e − 1 − (2 − 2) = e − 1 auch den korrekten Wert des
Integrals.
Diese Überlegung zeigt, daß es ratsam ist, ein bestimmtes Integral gelegentlich auch bei stetigem Integranden zu zerlegen, wenn die Stammfunktion eine
stückweise Definition aufweist.
7.4
Regeln der unbestimmten Integration
Wir wollen uns nun mit einer Reihe von Rechenregeln für das unbestimmte
Integrieren vertraut machen. Über den Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung erhalten wir dadurch auch die Möglichkeit der Lösung einer
Vielzahl geometrischer Problemstellungen durch Riemannsches Integrieren.
7.4.1
Auswahl von Grundintegralen
Beginnen wir mit einer Auswahl von Grundintegralen, deren Stammfunktionen man sofort aus den in Abschnitt 6.5.7 aufgelisteten Ableitungen erkennt.
138
Preliminary version – 3. Juli 2002
Z
Z
1dx = x + c
1
xn+1 + c , n = 1, 2, . . .
n+1
Z
1
xa dx =
xa+1 + c , a ∈ R \ {−1} und x > 0
a+1
Z
1
dx = ln |x| + c , x 6= 0
x
Z
1
√
dx = arcsin x + c , −1 < x < 1
2
1
−
x
Z
1
dx = arctan x + c
1 + x2
Z
exp xdx = exp x + c
Z
1 x
ax dx =
a + c , a > 0 und a 6= 1
ln a
Z
sin xdx = − cos x + c
Z
cos xdx = sin x + c
Z
1
π
π
dx = tan x + c , − + kπ < x < + kπ, k ∈ Z
2
cos x
2
2
Z
1
dx = − cot x + c , kπ < x < (k + 1)π, k ∈ Z
sin2 x
7.4.2
xn dx =
Integration einer Summe
Satz 74 F und G seien Stammfunktionen der auf dem Intervall (a, b) ∈ R
definierten Funktionen f beziehungsweise g. Dann ist λF + µG für beliebige
reelle Zahlen λ und µ eine Stammfunktion von λf + µg. Darüberhinaus gilt
für x0 ∈ (a, b) die Beziehung
Z
Z
Z
(λf (x) + µg(x)) dx = λ
f (x)dx + µ
g(x)dx .
x0
x0
x0
Beweis: Differenzieren belegt
(λF + µG)0 = λF 0 + µG0 = λf + µg .
139
Preliminary version – 3. Juli 2002
Sind F und G diejenigen Stammfunktionen mit F (x0 ) = G(x0 ) = 0, dann
verschwindet auch (λF + µG)(x0 ), womit auch die Gleichung für die in x0
verschwindenden Stammfunktionen nachgewiesen ist.
2
Etwas lax kann man die Summenregel der Integration in der Form
Z
Z
Z
(λf (x) + µg(x)) dx = λ f (x)dx + µ g(x)dx
schreiben. In diesem Falle stehen links und rechts allgemeine, einen reellen Parameter c enthaltende, Stammfunktionen. Bei geeigneter Wahl dieser
Parameter ensteht eine echte Gleichung zwischen Funktionen.
Man kann diesen Satz als Gegenstück zur Summenregel der Differentiation
auffassen. Das Analogon dieses Satzes für Riemann-Integrale ist Satz 68.
7.4.3
Partielle Integration
Die partielle Integration ist das Gegenstück zur Produktregel der Differentiation.
Satz 75 f und g seien in (a, b) differenzierbare Funktionen. Falls f 0 g eine
Stammfunktion besitzt, so besitzt auch f g 0 eine Stammfunktion und für x0 ∈
(a, b) gilt
Z
Z
0
f (x)g (x)dx = f (x)g(x) − f (x0 )g(x0 ) −
f 0 (x)g(x)dx .
x0
x0
Beweis: Differenzieren der rechten Seite nach x ergibt f 0 (x)g(x)+f (x)g 0 (x)−
f 0 (x)g(x) = f (x)g 0 (x). Also ist die rechte Seite in der Tat eine Stammfunktion von f (x)g 0 (x). Setzt man nun x = x0 auf der rechten Seite, so erhält
man 0, also
es sich tatsächlich gerade um die links stehende StammR handelt
0
funktion x0 f (x)g (x)dx.
2
Etwas lax kann man die Regel der partiellen Integration in der Form
Z
Z
0
f (x)g (x)dx = f (x)g(x) − f 0 (x)g(x)dx
schreiben. Gewissermaßen kann man sich vorstellen, daß man die Regel der
partiellen Integration durch beidseitige unbestimmte Integration der Produktregel der Differentiation erhält.
140
Preliminary version – 3. Juli 2002
Es ergibt sich
Z
0
(f · g) (x)dx =
Z
(f 0 (x)g(x) + f (x)g 0 (x)) dx
Auf der linken Seite steht eine allgemeine Stammfunktion H von (f ·g)0 , diese
genügt einerR Abbildungsvorschrift
H(x) = (f ·g)(x)+c = f (x)g(x)+c.
Rechts
R
R 0
0
0
erhält
man f (x)g(x)dx+ f (x)g (x)dx, also f (x)g(x)+c
= f (x)g(x)dx+
R
R
0
0
f (x)g
R 0 (x)dx und durch Umstellen ergibt sich sofort f (x)g (x)dx = f (x)g(x)+
c − f (x)g(x)dx, wobei der Parameter c Rauf der rechten Seite weggelassen
werden kann, da er mit dem im Integral f 0 (x)g(x)dx ‘enthaltenen’ Parameter zusammengefaßt werden kann.
Beispiele: Wir suchen eine Stammfunktion
Z
xex dx .
Um die Regel der partiellen Integration anwenden zu können, müssen wir xex
in ein Produkt zerlegen, so daß wir einen Faktor als Funktion f (x) und den
anderen als Ableitung g 0 (x) auffassen können. Setzen wir also f (x) = x und
g 0 (x) = ex . Weiterhin benötigen wir die Ableitung von f , diese ist f 0 (x) = 1,
und eine beliebige Stammfunktion von g 0 (x) = ex , wählen wir g(x) = ex .
Einsetzen in die Formel der partiellen Integration führt auf
Z
Z
x
x
xe dx = xe − 1ex dx = xex − ex + c = (x − 1)ex + c
Die Probe
d
((x − 1)ex + c) = ex + (x − 1)ex = xex
dx
zeigt die Richtigkeit unserer Rechnung.
Betrachten wir nun
Z
sin2 xdx .
Wir setzen f (x) = sin x, g 0 (x) = sin x. Mit f 0 (x) = cos x und der Wahl
g(x) = − cos x für die Stammfunktion von g 0 (x) = sin x erhält man mittels
141
Preliminary version – 3. Juli 2002
partieller Integration
Z
Z
2
sin xdx = − sin x cos x − − cos2 xdx
Z
= − sin x cos x +
1 − sin2 x dx
Z
= − sin x cos x + x − sin2 xdx
R
Auflösen der erhaltenen Gleichung nach sin2 xdx und berücksichtigen der
Integrationskonstante ergibt schließlich
Z
1
sin2 xdx = (x − sin x cos x) + c
2
Von der Richtigkeit des Resultats kann man sich wieder durch Ableiten der
rechte Seite überzeugen. Am Rande sei angemerkt, daß
R im konkreten Falle eine nochmalige partielle Integration des Integrals cos2 xdxR keinen Erfolg
hätte, diese hätte nur auf die triviale Gleichheit sin2 xdx =
R gebracht
2
sin xdx geführt.
Untersuchen wir schließlich noch das Integral
Z
ln xdx
für x > 0. Wir wählen f (x) = ln x und g 0 (x) = 1. Mit f 0 (x) =
g(x) = x erhalten wir
Z
Z
x
ln xdx = x ln x −
dx = x(ln x − 1) + c .
x
7.4.4
1
x
sowie
Subsitutionsregel
Die Substitutionsregel der Integration kehrt die Kettenregel der Differentiation um.
Satz 76 f und g seien auf den Intervallen (a, b) beziehungsweise (α, β) definierte Funktionen mit Bildg ⊆ (a, b). Wenn f in (a, b) integrierbar und g in
(α, β) differenzierbar ist, dann ist die Funktion (g ◦ f )g 0 in (α, β) integrierbar
und für alle x0 , x ∈ (α, β) gilt
Z x
Z g(x)
0
f (g(t))g (t)dt =
f (s)ds
x0
g(x0 )
142
Preliminary version – 3. Juli 2002
Anmerkung: Die obigen Integrale mögen wie bestimmte Integrale anmuten.
Natürlich ist die Gleichung auch für bestimmte Integrale mit Integrationsgrenzen in (α, β) richtig, wenn man allerdings x als Variable ansieht, so
handelt es sich in der Tat auch um Stammfunktionen, also unbestimmte Integrale. Man kann im vorliegenden Fall nicht ganz auf die obere Integrationsschranke verzichten, da auf der rechten Seite nach Ausführen der Integration
noch eine Subsitution der Funktionsvariablen durch g(x) erfolgen muß. Man
kann die Substitutionsregel also auch lax in der Form
Z
Z
0
f (g(t))g (t)dt = g ◦ f (s)ds
schreiben.
Beweis der Substitutionsregel: Wegen g(x0 ), g(x) ∈ (a, b) besitzt f in diesen
Grenzen
R eine Stammfunktion F , diese ist
R bis auf eine additive Konstante
gleich g(x0 ) f (s)ds. Die Stammfunktion g(x0 ) f (s)ds hat an der Stelle g(x0 )
den Wert 0, also gilt für den Wert der Stammfunktion F an der Stelle g(x)
die Beziehung
Z
Z g(x)
f (s)ds (g(x)) = F (g(x0 )) +
f (s)ds
F (g(x)) = F (g(x0 )) +
g(x0 )
g(x0 )
R g(x)
f (s)ds = F (g(x))−F (g(x0 )) nach x ist F 0 (g(x))g 0 (x) =
R g(x)
f (g(x))g 0 (x). Demnach ist g(x0 ) f (s)ds eine Stammfunktion von f (g(x))g 0 (x)
R g(x )
und ihr Wert an der Stelle x = x0 ist g(x00) f (s)ds = 0, was schließlich die
Richtigkeit der behaupteten Gleichung belegt.
2
Die Ableitung von
g(x0 )
Beispiele: Betrachten wir
Z
tan xdx
für − π2 < x < π2 . Wir wählen f (s) = 1s und g(x) = cos x. Dann läßt sich das
obige Integral in der Form
Z
Z
Z
1
tan xdx =
sin x = − f (g(x))g 0 (x)dx
cos x
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schreiben und folglich gilt
Z
tan xdx = − ln |cos x| + c = − ln(cos x) + c
Allgemeiner gilt für x ∈ (a, b) die Beziehung
Z 0
f (x)
dx = ln |f (x)| + c
f (x)
für eine beliebige auf (a, b) differenzierbare Funktion f mit f (x) 6= 0 für alle
x ∈ (a, b).
Wir wollen das bestimmte Integral
Z b
2
xex dx
a
dy
berechnen. Mittels der Substitution y = g(x) = x2 und dx
= g 0 (x) = 2x
erhalten wir
b2
Z b
Z b2
1 s
1 y
1 2 1 2
x2
xe dx =
e ds = e
= eb − ea .
2 a2
2
2
a
a2 2
Wählt man die obere Integrationsgrenze als Variable x, dann erhält man für
das unbestimmte Integral die Beziehung
Z
1 2
2
xex dx = ex + c .
2
7.5
Anwendungen
Zum Abschluß wollen wir noch zwei Anwendungen der Integralrechnung betrachten.
7.5.1
Berechnung von Flächeninhalten
Zunächst kommen wir noch einmal auf das ursprüngliche Anliegen des Riemannschen Integrals zurück. Seien a und b zwei reelle Zahlen mit a < b und
f eine in [a, b] R-integrierbare Funktion. Dann gibt
Z b
|f (x)|dx
a
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den Inhalt der vom Graphen der Funktion, der x-Achse und den durch a
und b verlaufenden Parallen
R b zur y-Achse eingeschlossenen Fläche an. Es
ist ratsam, das Integral a |f (x)|dx an den Nullstellen von f im Intervall
[a, b] aufzuspalten, da sich an diesen Stellen die Abbildungsvorschrift der
Stammfunktion von |f | ändern kann.
Beispiel: Wir fragen nach der Fläche unterm Graph der Funktion f (x) =
x3 + 2x2 − 5x − 6 im Intervall [−2, 2].
Die Nullstellen von f sind −1, 2, −3, −3 liegt außerhalb des betrachteten
Bereiches, 2 ist ohnehin Rand des betrachteten Bereiches, also ist nur bei −1
eine Aufspaltung des Intervalls notwendig, damit ergibt sich die Fläche
Z −1
Z 2
3
2
A=
|x + 2x − 5x − 6|dx +
|x3 + 2x2 − 5x − 6|dx
−2
−1
Als nächstes ist das Vorzeichen von f (x) in den beiden Intervallen zu überprüfen. Aufgrund der Stetigkeit reicht es dafür aus, das Vorzeichen von f (x)
für ein beliebiges x aus dem Inneren des jeweiligen Teilintervalls zu testen.
Im Bereich (−2, −1) ist f (x) positiv und in (−1, 2) negativ. Damit ergibt
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Preliminary version – 3. Juli 2002
sich
A =
Z
−1
3
2
(x + 2x − 5x − 6)dx +
−2
Z
2
−(x3 + 2x2 − 5x − 6)dx
−1
−1
2
1 4 2 3 5 2
1 4 2 3 5 2
− x + x − x − 6x
=
x + x − x − 6x
4
3
2
4
3
2
−2
−1
1 2 5
16
16
1 2 5
= ( − − + 6) − (4 −
− 10 + 12) − (4 +
− 10 − 12) + ( − − + 6)
4 3 2
3
3
4 3 2
≈ 18, 17
Auf
und
d.h.
und
ähnliche Weise kann man auch ein zweites Problem angehen. Seien f
g zwei Funktionen, die sich an den Stellen x1 = a und x2 = b schneiden,
f (a) = g(a) und f (b) = g(b). Dann erhält man den Inhalt A der von f
g zwischen a und b eingeschlossenen Fläche als
Z b
A=
|f (x) − g(x)|dx .
a
Beispiel: Wir betrachten zwei Parabeln f (x) = −x2 + x + 3 und g(x) =
x2 + 3x − 1 und fragen nach dem Inhalt der eingeschlossenen Fläche.
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Preliminary version – 3. Juli 2002
Die Schnittpunkte der Parabeln ergeben sich als Lösungen der Gleichung
−x2 + x + 3 = x2 + 3x − 1, also 2(x2 + x − 2) = 0. Es handelt sich demnach
um a = −2 und b = 1 und wir erhalten den Flächeninhalt
Z 1
Z 1
A =
(f (x) − g(x))dx = −2
(x2 + x − 2)dx
−2
−2
1
1 3 1 2
x + x − 2x
3
2
−2
1 1
8
= −2 ( + − 2) − (− + 2 + 4) = 9
3 2
3
= −2
7.5.2
Berechnung von Kurvenlängen
Wir betrachten eine durch eine Parameterdarstellung gegebene Kurve in der
Ebene. Bei einer Parameterdarstellung einer Kurve hat man einen Parameter
t, der ein Intervall [a, b] durchläuft, und die Kurve besteht aus allen Punkten
P (t) = (x(t), y(t)), a ≤ t ≤ b. Zusätzlich verlangt man, daß die Koordinatenfunktionen x(t) und y(t) stetig sind und die Zuordnung t → P (t) eineindeutig ist. Eine Parameterdarstellung des Einheitskreises ist P (t) = (cos t, sin t),
0 ≤ t < 2π.
Wir stellen uns die Frage, wie lang ist das Kurvenstück im Paramerbereich
t ∈ [c, d] mit a ≤ c < d ≤ b. Im Falle glatter Kurven, d.h. ‘gutartiger
’Kurven, halten wir ohne Beweis die Formel
s
Z d Z d 2 2
dP dx
dy
dt =
l=
+
dt
dt dt
dt
c
c
für die Kurvenlänge l fest. Eine Parameterdarstellung einer glatten Kurve
zeichnet sich dadurch aus, daß die Koordinatenfunktionen x(t) und y(t) im
Intervall (a, b) differenzierbar mit stetiger Ableitung sind und daß für kein
t0 ∈ (a, b) die Ableitungen beider Koordinatenfunktionen verschwinden, d.h.
für kein t0 ∈ (a, b) trifft die Gleichheit x0 (t0 ) = y 0 (t0 ) = 0 zu.
Berechnen wir nun die Länge des Einheitskreisbogens für den Parameterbereich 0 ≤ t ≤ ϕ mit ϕ < 2π.
Z ϕ
Z ϕp
2
2
l=
(− sin t) + (cos t) dt =
1dt = ϕ
0
0
Der Parameterbereich 0 ≤ t < 2π ergibt sich aus der kleinsten Periode 2π
von Sinus und Kosinus. Bis zu diesem Parameterwert erhält man vorher noch
147
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nicht durchlaufene Punkte des Einheitskreises, für größere Parameterwerte,
würde man die selbe Kurve erneut durchlaufen. Hierbei handelt es sich also
um das π, welches in Abschnitt 4.3 mit Hilfe der kleinsten positiven Nullstelle der Kosinusfunktion eingeführt wurde. Das obige Längenintegral zeigt
aber auch, daß der Umfang des Einheitskreises genau 2π in Bezug auf diese
Zahl π beträgt, also handelt es sich gleichzeitig um die Konstante π, welche
Proportionalitätsfaktor zwischen Umfang und Durchmesser eines Kreises ist.
Die Bedingung der Eineindeutigkeit der Zuordnung von Parameterwerten
und Kurvenpunkten sichert ab, daß nicht Teile der Kurve mehrfach durchlaufen werden. Wird die Eineindeutig nur an endlich vielen Stellen gestört, so
entsteht die Kurve als Zusammensetzung endlich vieler glatter Kurvenstücke
und die Länge kann durch Addition der Längen der Teilstücke erhalten werden.
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Übungsaufgaben, Serie 13
37. Berechnen Sie die Integrale:
(a)
Z
sinh xdx
(b)
Z
(x2 − 1) ln(x + 1)dx
(c)
Z
1
2
0
√
2x3
dx
1 − x2
38. Wie groß ist der Inhalt der von den Kurven
f (x) = sinh x
und
g(x) = −5 + 2 cosh x
zwischen ihren beiden Schnittpunkten eingeschlossenen Fläche?
Hinweis: Die Koordinaten der Schnittpunkte dürfen auf zwei Nachkommastellen gerundet werden.
39. Wie lang ist die Kurve mit der Paramterdarstellung P (t) = (t + 1; 1 −
2t), 0 ≤ t ≤ 1?
149
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Literaturverzeichnis
[1] Blatter. Analysis 1, Springer-Lehrbuch, Berlin, 1991.
[2] Bronstein, Semendjajew. Taschenbuch der Mathematik, Teubner, Leipzig, 1981.
[3] Günther et. al. Grundkurs Analysis Teil 1 und Teil 2. BSB B.G. Teubner,
Leipzig, 1972.
[4] Kiyek, Schwarz. Mathematik für Informatiker 1,2. Teubner, Stuttgart,
1991.
[5] Piehler et. al. Mathematik zum Studieneinstieg. 2. Auflage, Springer,
Berlin, 1992.
[6] Zeidler (Hrsg). Teubner-Taschenbuch der Mathematik (Band 1), Teubner, Leipzig, 1996. (überarbeitete und erweiterte Ausgabe von [2]).
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