KIT: Wie Pflanzen ihre Gestalt ändern

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KIT: Wie Pflanzen ihre Gestalt ändern
Wegrennen oder Anpassen. Diese zwei Möglichkeiten haben Lebewesen, wenn ihre Umwelt
unwirtlich wird. Weil Pflanzen keine Beine haben, müssen sie sich schnell an instabile
Umweltbedingungen anpassen können. Die hohe Flexibilität der pflanzlichen Gestalt wird
unter anderem durch das Zytoskelett von Pflanzenzellen ermöglicht. Die Forschungsgruppe
von Prof. Dr. Peter Nick am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) untersucht, mit welchen
molekularen Mechanismen die Pflanzenzelle dieses Gerüst aus spezialisierten Filamenten
dynamisch umbauen kann.
Wofür haben Pflanzen zum Beispiel ein Protein, das bei Tieren der Muskelkontraktion dient?
Jede Zelle muss sich in Form halten. Bei Pflanzen ist dafür, anders als bei Tieren, die Zellwand
zuständig, ein relativ starres äußeres Korsett aus Zellulose. Im Inneren der Zelle gibt es aber
auch ein dynamisches formgebendes Gerüst aus Proteinpolymeren, das Zytoskelett. Diese
Proteinpolymere finden sich auch in tierischen Zellen: Aus dem Protein Tubulin werden winzige
Röhren, die Mikrotubuli, aufgebaut, aus Aktin die zugfesten Aktinfilamente. Sowohl Tubulin als
auch Aktin sind in der Evolution stark konserviert, bei Tier und Pflanze also fast identisch. Aber
die Aufgaben der Polymere, zu denen sie sich zusammenlagern, unterscheiden sich zum Teil
grundlegend. „Für mich ist es faszinierend, wie flexibel die Morphologie der Pflanzen auf die
Umwelt reagiert“, sagt Prof. Dr. Peter Nick vom Institut für Botanik des Karlsruher Instituts für
Technologie (KIT). „Pflanzen müssen ganz anderen Herausforderungen trotzen als Tiere, die
einfach wegrennen können, wenn Fressfeinde kommen oder die Sonne zu stark scheint.“
„Eine Pflanze hinterfragt ständig, wo oben und wo unten ist.“
Teilung einer Tabakzelle. Die Tochterkerne (blau) sind schon verteilt, die Mikrotubuli (gelb) sind dabei, die neue
Zellwand zu bilden. © Prof. Dr. Peter Nick
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Nick leitet die Arbeitsgruppe für Molekulare Zellbiologie. Zusammen mit rund dreißig
Mitarbeitern untersucht er die Aufgaben der verschiedenen Skelettkomponenten in
Pflanzenzellen sowie die Mechanismen, die dahinter stehen. Vor allem das Signalgeschehen
rund um das Zytoskelett von Reis, Weizen und anderen Grünlingen ist für die Forscher
interessant. Unter Verwendung der Mikrotubuli baut die Zelle nach einer Teilung die Zellwände
der zwei Tochterzellen auf. Aber sie reguliert mit ihrer Hilfe zum Beispiel auch die Richtung des
Wachstums, nachdem sie den Einfall des Lichts, Richtung der Schwerkraft oder Befall mit
Krankheitserregern wahrgenommen hat. Aktinfilamente sind in spezialisierten Zellen wie dem
Pollenschlauch oder den Wurzelhaaren bei der Formgebung beteiligt. Aber auch sie haben in
normalen pflanzlichen Zellen, anders als in tierischen, eine ausgeprägte sensorische Funktion.
„Pflanzen müssen ständig wissen, woher die Sonne kommt oder in welche Richtung sie gerade
wachsen“, sagt Nick. „Eine Pflanze hinterfragt ständig, wo oben und wo unten ist.“
Nick und sein Team konnten bereits einige spezielle Funktionen des pflanzlichen Zytoskeletts
aufklären. In einem Projekt mit chinesischen Forschungspartnern untersuchen sie zum
Beispiel, wie man mithilfe der Mikrotubuli die Architektur von Reis verändern kann. Die
Pflanzenzelle kann die Richtung der Mikrotubuli abhängig von Licht und anderen Reizen
regulieren. Über winzige molekulare Motoren, sogenannte Kinesine, werden dann die Zellulose
herstellenden Enzyme an den Mikrotubuli entlang gezogen. Je nachdem, in welcher Richtung
dies geschieht, ändert sich die Richtung des Wachstums. Manipuliert man dieses System, dann
ändern Reispflanzen ihre Blattstellung. Wenn die Blätter sich in einem spitzeren Winkel an die
Pflanze anschmiegen, dann können die Reispflanzen enger gesät werden, ohne sich
gegenseitig in den Schatten zu stellen; der Ertrag steigt.
Eine lebensrettende Errungenschaft
Ein anderes Beispiel für die Bedeutung von Mikrotubuli stellt der Winterweizen dar. Die
Kultivierung dieser Weizenlinie war für die industrielle Revolution möglicherweise noch
wichtiger als die gern zitierte Dampfmaschine, denn diese Weizensorten sind anders als ihre
sommerlichen Verwandten in der Lage, Temperaturen bis minus sieben Grad auszuhalten.
Landwirte können sie damit schon im späten Winter aussähen und im Frühjahr ernten, bevor
der Sommerweizen Früchte trägt. Damit war es möglich, für die zahlreichen Arbeitskräfte die
zuvor unvermeidliche Hungerzeit im April zu überbrücken. „Weil Mikrotubuli mechanisch an die
Zellmembran gekoppelt sind, können sie wahrnehmen, wenn sich die Membran bei Abkühlung
versteift“, sagt Nick. „Damit sind sie so etwas wie das Thermometer der Pflanzenzelle.“ Das
Karlsruher Team verglich extrem winterharten sibirischen Winterweizen mit empfindsameren
Sorten. Die Forscher lösten in den Zellen der „Weicheier“ durch Zugabe bestimmter
Hemmstoffe die Mikrotubuli für eine kurze Zeit in ihre Bestandteile auf und schalteten damit
das „Thermometer“ an. Damit konnten sie auch die Kälteresistenz aktivieren. Genau der
gleiche Prozess läuft in den Zellen des Winterweizens im Laufe der herbstlichen Abkühlung ab.
Aber Mikrotubuli nehmen nicht nur abiotischen Stress wahr. In dem jüngsten Projekt
untersuchte das Nick-Labor zusammen mit Partnern vom Weinbauinstitut in Freiburg, warum
sich manche wilden Weinarten besser an Schädlinge wie Pilze angepasst haben als unsere
Kulturreben. Es stellte sich heraus, dass auch hier das Gerüst aus Mikrotubuli eine zentrale
Rolle spielt. Die Hypothese von Nick: „Mikrotubuli stehen mit Ionenkanälen in der Membran
einer Pflanzenzelle in Verbindung und können gleichzeitig über Hilfsproteine wahrnehmen,
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wenn zum Beispiel ein Angriff durch den Falschen Mehltau erfolgt. Entsprechend regulieren sie
den Öffnungsgrad der Kanäle, woraufhin Signalkaskaden in Gang kommen, die Abwehrgene im
Zellinneren einschalten.“
Wie eine Spinne im Netz
Die Anforderungen der Evolution haben spezielle Anpassungen des pflanzlichen Zellskeletts
begünstigt. Aber wie kann das Gerüst andere Funktionen ausüben als bei tierischen Zellen,
wenn doch die Filamente selbst fast identisch sind? Seine besonderen Aufgaben erfüllt das
pflanzliche Zytoskelett, weil es mit ganz anderen Hilfsproteinen interagiert als sein tierisches
Pendant. Nick und seine Mitarbeiter entdeckten zum Beispiel jüngst ein Motorprotein aus der
Familie der Kinesine, das Aktinfilamente und Mikrotubuli in Pflanzenzellen verknüpft und eine
besondere Rolle bei der Zellteilung spielt. Motorproteine sind in der Lage, sich an den
Filamenten entlang zu bewegen und dadurch Frachten zu transportieren oder ein Filament
gegen ein anderes zu verschieben (das ist die Grundlage der Kontraktion in einer Muskelzelle).
Das bisher unbekannte Kinesin verspannt den Zellkern in ein Netz aus Aktinfilamenten und
Mikrotobuli. Wie die Spinne im Spinnennetz kann der Zellkern die Kräfteverteilung in der Zelle
messen und so feststellen, wo genau die Mitte der Zelle liegt, was für die Zellteilung
unabdingbar ist.
Mithilfe eines chemischen Trojanischen Pferds gelang es den Forschern um Prof. Dr. Peter Nick vom Karlsruher
Institut für Technologie (KIT), die „Muskeln“ der Pflanzenzelle sichtbar zu machen, ohne dafür Gentechnik einsetzen
zu müssen. © Prof. Dr. Peter Nick
Die Erforschung des pflanzlichen Zytoskeletts ist heute, auch im Hinblick auf die Anwendungen
im landwirtschaftlichen Bereich, ohne enge interdisziplinäre Kooperationen nicht mehr
möglich. Die Zellbiologen um Nick arbeiten mit Chemikern, Ingenieuren oder
Materialwissenschaftlern aus aller Welt zusammen. In den letzten Jahren sind auch immer
engere Kooperationen mit Nanowissenschaftlern aus Freiburg und Karlsruhe gewachsen.
Jüngst experimentierten die Karlsruher Forscher zum Beispiel an sogenannten Trojanischen
Peptoiden und Zellpermeations-Peptiden und sind damit mitten drin im Gebiet des Chemical
Engineering. Bei den neuen Versuchsobjekten handelt es sich um kleine Polymere aus
Aminosäuren, die sich in eine Zelle einschleusen können. Man kann sie so umbauen, dass sie in
der Zelle bestimmte Ziele, zum Beispiel die Aktinfilamente, den Zellkern oder die Mitochondrien
binden. Koppelt man sie mit leuchtenden Markern, dann lässt sich das Zytoskelett im
Fluoreszenzmikroskop in seiner dynamischen Umstrukturierung beobachten. „Unser nächster
Schritt wird es sein, die Peptide mit selektiven Hemmstoffen zu beladen, die bestimmte
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Orientierungen des Skeletts verhindern“, sagt Nick. Damit wären Manipulationen möglich, wie
sie bisher nur auf genetischer Ebene zu bewerkstelligen waren. Und die komplexen
molekularen Vorgänge rund um das pflanzliche Zytoskelett würden vielleicht noch genauer
verstanden werden.
Fachbeitrag
20.06.2011
mn (08.06.11)
BioRegion Freiburg
© BIOPRO Baden-Württemberg GmbH
Weitere Informationen
Prof. Dr. Peter Nick
Molekulare Zellbiologie
Botanisches Institut
Kaiserstr. 2, Gbd. 10.40
76128 Karlsruhe
Tel.: +49 721/ 608 - 42144 oder
Tel.: +49 721/ 608 - 42142 (Sekretariat)
E-Mail: peter.nick(at)bio.uni-karlsruhe.de
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