Leseprobe - Carl Hanser Verlag

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Leseprobe
Harry M. Sneed, Richard Seidl, Manfred Baumgartner
Software in Zahlen
Die Vermessung von Applikationen
ISBN: 978-3-446-42175-2
Weitere Informationen oder Bestellungen unter
http://www.hanser.de/978-3-446-42175-2
sowie im Buchhandel.
© Carl Hanser Verlag, München
1
1 Softwaremessung
1.1
Das Wesen von Software
Software ist Sprache. Sie dient der Kommunikation zwischen den Menschen und Rechnern
ebenso wie zwischen Rechnern und Rechnern und zwischen Menschen und Menschen
(siehe Abb. 1.1). Programmcode ist jene Sprache, in der der Mensch der Maschine Anweisungen erteilt. Der Mensch schreibt den Code, der Rechner liest ihn. Er muss sowohl von
den Menschen als auch vom Rechner, in diesem Fall dem Compiler, verstanden werden
[DeLi99].
Manager
Doku
Analytiker
Doku
Programmierer
Doku
Prüfer
Doku
Benutzer
Abbildung 1.1
Software als
Kommunikation
zwischen
Mensch und
Maschine
Anforderungsspezifikationen und Entwurfsdiagramme sind ebenfalls Software, also auch
Sprachen. Sie dienen der Kommunikation zwischen Menschen. Der eine Mensch schreibt
sie, z.B. der Analytiker, der andere Mensch – der Programmierer – liest sie. Wenn sie nicht
für beiden Seiten verständlich sind, haben sie ihren Zweck verfehlt. Eine Spezifikation, die
von einem Rechner interpretiert werden kann, z.B. eine domänenspezifische Sprache, ist
1
1 Softwaremessung
zugleich eine Kommunikation zwischen Mensch und Rechner, ähnlich dem Programmcode.
Kommunikationsprotokolle wie XML-Dateien und Web-Service SOAP-Nachrichten sind
desgleichen Software. Sie dienen der Kommunikation zwischen Rechnern. Der eine Rechner schreibt sie, der andere liest sie. Sie muss daher von beiden Rechnern verstanden werden. Ein Protokoll ist eine Vereinbarung zwischen zwei Rechnerarten, wie sie sich verständigen wollen, ebenso wie eine Sprache eine Vereinbarung zwischen Menschen ist, die
sich verständigen wollen. Natursprachen sind aus dem Zusammenleben der Menschen heraus erwachsen. Programmier-, Spezifikations- und Testsprachen sind wiederum aus dem
Zusammenleben der Menschen mit Computern hervorgegangen [Rose67].
Wenn es nun um die Messung und Erforschung von Software geht, geht es also um die
Analyse und Bewertung von Sprachen und den in diesen Sprachen geschriebenen Werken.
Eine Rechnersprache besteht genauso wie eine Sprache der Menschen aus Begriffen und
Regeln für die Zusammensetzung jener Begriffe. Der Umfang einer Sprache wird an der
Anzahl ihrer Begriffe bzw. Wörter gemessen. Oft legen Schüler Wörterbücher zweier unterschiedlicher Sprachen nebeneinander, um zu sehen, welches dicker ist. Dies ist in der Tat
eine sehr grobe Messung des Sprachumfangs und setzt voraus, dass die Seitenaufteilung
und die Schriftgröße gleich sind, aber sie ist nichtsdestotrotz eine Messung. Genauer wäre
es, die Worteinträge zu zählen und zu vergleichen, aber auch hier ist die Messung ungenau,
denn wer weiß, ob in den Wörterbüchern alle möglichen Wörter in beiden Sprachen berücksichtigt sind? Die Zählung der Wörter ist auf jeden Fall genauer als der Vergleich der
beiden Wörterbücher. Das Gleiche gilt für Softwaresprachen. Ihr Umfang in vereinbarten
Begriffen bzw. Symbolen lässt sich grob und fein vergleichen [LiGu88].
Aber nicht nur die Sprachen selbst können gemessen und miteinander verglichen werden.
Auch die Ergebnisse von Sprache wie zum Beispiel Theaterstücke, Bücher, Essays etc.
können nach unterschiedlichen Kriterien und zu unterschiedlichen Zwecken gemessen
werden. Ist die Schularbeit lang genug? Durch Zählung der Wörter erhält man die Antwort. Warum ist „Buddenbrooks“ von Thomas Mann schwerer zu lesen als Astrid Lindgrens „Pipi Langstrumpf“ und kann man den Unterschied messen? Der Umfang alleine
scheint dafür nicht der Grund zu sein und die Zählung der Seiten oder Worte wohl eine zu
einfache Erklärung. Sind die Sätze durchschnittlich länger? Haben die beiden Werke einen
unterschiedlichen Wortschatz? Wenn jedes Wort, welches mehrfach vorkommt, nur einmal
gezählt wird, hätten wir das Vokabular des Schriftstücks. Ähnlich verfuhr M. Halstead, als
er begann, Programmcode zu messen [Hals77]. Er zählte alle Wörter, also Operatoren und
Operanden, um die Programmlänge zu ermitteln, und zählte jedes verwendete Wort, um
das Programmvokabular zu bestimmen. Daraus berechnete er einen Wert für die Schwierigkeit, ein Programm zu verstehen.
Wäre eine Sprache nur eine beliebige Aneinanderreihung von Begriffen, könnte man sich
mit der Messung der Größe zufriedengeben. Aber eine Sprache hat auch eine Grammatik.
Darin befinden sich die Regeln für die Zusammensetzung der Wörter. Den Wörtern werden Rollen zugewiesen. Es gibt Hauptwörter, Eigenschaftswörter, Zeitwörter usw. Ähnliche Regeln gibt es auch in der Software. Für jede Sprache – Spezifikationssprache, Ent-
2
1.1 Das Wesen von Software
wurfssprache, Programmiersprache und Testsprache – gibt es Regeln, wie die Wörter und
Symbole verwendet werden können. Man spricht hier von der Syntax der Sprache. Mit der
Syntax kommt die Komplexität. Je nachdem, wie umfangreich die Regeln sind, ergeben
sich mehr oder weniger mögliche Wortkonstrukte. Je mehr Wortkonstrukte möglich sind,
desto komplexer ist die Sprache.
Durch den Vergleich der Grammatik bzw. der Sprachregel ist es möglich, die Komplexität
der Sprachen zu vergleichen. Dies trifft für Deutsch, Englisch und Latein ebenso zu wie
für COBOL, Java, UML und VDM. Erschwert wird dies allerdings durch die informale
Definition der Regeln und den vielen erlaubten Ausnahmen für die Sprache. In der Softwarewelt wird der Vergleich durch die vielen herstellerspezifischen Abweichungen erschwert. Es gibt kaum eine bekannte Softwaresprache, von der es nicht eine Reihe von
Derivaten, sprich Dialekte gibt, die sich mehr oder weniger stark unterscheiden [Jone01].
In natürlichen Sprachen gibt es das Kunstwerk Satz: Das ist eine Zusammensetzung von
Wörtern nach einem geregelten Muster. Ein Satz hat ein Subjekt, ein Objekt und ein Prädikat. Subjekt und Objekt sind Operanden bzw. Hauptwörter. Sie können durch Eigenschaftswörter ergänzt werden. Die Prädikate, sprich Zeitwörter, können gleichfalls Eigenschaftswörter haben, welche die Handlung ergänzen. Diese Wortarten müssen in einem
gewissen Satzmuster vorkommen, um einen sinnvollen Satz zu bilden. Je mehr Muster
zugelassen sind, desto komplexer die Satzbildung.
In Softwaresprachen entspricht der Satz einer Anweisung. Auch hier gibt es Syntaxregeln
für die Satzbildung. Es gibt Operanden (= Objekte) und Operatoren (= Prädikate). Das
Subjekt fehlt. Es wird impliziert als die ausführende Maschine. Der Rechner oder das System liest eine Datei, errechnet Datenwerte, vergleicht zwei Werte oder sendet Nachrichten.
Je nachdem, wie viele Anweisungsarten eine Sprache hat, ist sie mehr oder weniger komplex. Die Zahl der einzelnen Anweisungen ist wie die Zahl der Sätze im Prosatext ein Größenmaß. Die Zahl der verschiedenen Anweisungsarten ist wiederum ein Komplexitätsmaß.
Sie deutet auf die Komplexität der Sprache bzw. der jeweiligen Sprachanwendung hin.
Sprachen lassen sich in Form von Syntaxbäumen oder Netzdiagrammen darstellen. Peter
Chen hat bewiesen, dass sich jeder Sprachtext, auch in einer natürlichen Sprache, mit einem „Entity/Relationship-Diagramm“ abbilden lässt [Chen76]. Die Begriffe sind die Entitäten, die Zusammensetzung der Begriffe ergeben die Beziehungen. Ursprünglich war das
E/R Model für die Datenmodellierung gedacht, wobei die Entitäten die Datenobjekte sind.
Es lässt sich jedoch genauso gut für die Funktionsmodellierung verwenden, wobei hier die
Entitäten die Funktionen sind. Die Zahl der Entitäten bestimmt die Größe einer Beschreibung. Die Zahl der Beziehungen bestimmt deren Komplexität. Je mehr Beziehungen es
zwischen Entitäten relativ zur Anzahl der Entitäten gibt, desto komplexer ist die Beschreibung.
Sprachen sind Beschreibungsmittel. Ihr Umfang hängt von der Zahl ihrer Begriffe, sprich
den Entitäten ab. Ihre Komplexität hängt wiederum von der Zahl ihrer erlaubten Konstrukte bzw. möglichen Beziehungen zwischen ihren Begriffen ab. Eine Sprachanwendung ist
eine ganz bestimmte Beschreibung. Softwaresysteme sind letztendlich nur Beschreibungen. Die Anforderungsspezifikation ist die Beschreibung einer fachlichen Lösung zu ei-
3
1 Softwaremessung
nem Zielproblem. Der Systementwurf, z.B. ein UML-Modell, ist die Beschreibung einer
rechnerischen Lösung zum Zielproblem, die an die fachliche Beschreibung angelehnt werden sollte [ErPe00]. Der Programmcode ist ebenfalls nur eine Beschreibung, allerdings
eine sehr detaillierte Beschreibung der technischen Lösung eines fachlichen Problems, das
mehr oder weniger der Entwurfsbeschreibung und der Anforderungsbeschreibung entspricht. Schließlich ist die Testspezifikation nochmals eine Beschreibung dessen, wie sich
die Software verhalten sollte.
Alle diese Beschreibungen ähneln den Schatten in Platons Höhlengleichnis [Plat06]. Sie
sind nur abstrakte Darstellungen eines Objekts, das wir in Wahrheit gar nicht wahrnehmen
können. Zum einen handelt es sich um abstrakte Darstellungen konkreter Vorstellungen
und Anforderungen seitens eines Kunden an ein Softwaresystem, zum anderen um Beschreibungen von Rechenvorgängen auf unterschiedlichsten Abstraktionsebenen. Da wir
das eigentliche Objekt selbst nicht messen können, messen wir die Beschreibungen des
Objekts und damit die Sprachen, in denen die Beschreibungen formuliert sind. Was wir
bekommen, sind nur die Größe und die Komplexität einer Beschreibung. So gesehen ist
jedes Softwaremaß ein Maß für eine Darstellung und kann nur so zuverlässig sein wie die
Darstellung selbst.
Eine Beschreibung bzw. eine Darstellung hat nicht nur eine Quantität und eine Komplexität, sie hat außerdem noch eine Qualität, und diese soll auch messbar sein. Die Frage stellt
sich, was die Qualität einer Beschreibung ist. Man könnte genauso gut nach der Qualität
der Schatten in Platons Höhle fragen. Wir würden gerne antworten, die Qualität eines
Schattens sei der Grad an Übereinstimmung mit dem Objekt, das den Schatten wirft. Demnach müsste die Qualität des Programmcodes am höchsten sein, weil diese Beschreibung
am nächsten an den eigentlichen Rechenvorgang herankommt. Dies entspricht der Behauptung von DeMillo und Perles, die besagt, „die einzige zuverlässige Beschreibung eines
Programms ist der Code selbst“ [DePL79]. Lieber würde der Mensch sich mit den Entwurfsbildern befassen, aber diese sind verzerrte Darstellungen der Wirklichkeit. Je leichter
verständlich eine Darstellung ist, desto weiter ist es von der Wirklichkeit entfernt.
Aber was ist die Wirklichkeit? Was ist, wenn das real existierende System nicht dem entspricht, was der Auftraggeber haben wollte? Wie sollen wir wissen, ob die verwirklichte
Funktionalität mit der gewünschten Funktionalität samt allen Eigenschaften übereinstimmt. Auch Platon unterscheidet zwischen den sichtbaren Schatten, die wir sehen können, und den projektierten Schatten, die wir sehen wollen. Ein Abgleich kann nur stattfinden, wenn wir zwei Beschreibungen vergleichen: die Beschreibung, die dem wahren Rechenvorgang am nächsten kommt, mit der Beschreibung, die den Vorstellungen des Auftraggebers am ehesten entspricht. In der Welt der Softwarekonstruktion wäre dies die Anforderungsspezifikation. Um diese Beschreibung mit der Beschreibung Programmcode zu
vergleichen, müssen die beiden Beschreibungen einander begrifflich und syntaktisch zuordenbar sein. Das heißt, sie müssen sich in etwa auf der gleichen semantischen Ebene befinden. Eine grobe Anforderungsbeschreibung ist jedoch mit einer feinen Codebeschreibung nicht vergleichbar. Die Anforderungsbeschreibung müsste fast so fein sein wie die
des Codes. Da dies mit Ausnahme der formalen Spezifikationssprachen wie Z, VDM und
4
1.1 Das Wesen von Software
SET selten der Fall ist, wird die Anforderungsbeschreibung stellvertretend über die Testfälle mit dem echten Systemverhalten verglichen. Dabei darf nicht übersehen werden, dass
die Testfälle zur Bestätigung der Erfüllung der Anforderungen auch in einer Sprache verfasst sind und als solche allen Unzulänglichkeiten jener Sprache ausgesetzt sind [Fetz88].
Der statische Zustand von Softwareprodukten, also Struktur und Inhalt ihrer Beschreibungen, kann entsprechend einer Vielzahl von Qualitätseigenschaften bewertet werden. So
sollte z.B. der Programmcode als Beschreibung modular aufgebaut, flexibel, portabel,
wiederverwendbar, testbar und vor allem verständlich sein. Dieses sind alles Kriterien, die
sich unmittelbar auf die Beschreibung beziehen. Um sie messen zu können, werden Richtlinien und Konvention benötigt. Diese können in Form einer Checkliste, eines Musterbeispiels oder einer Soll-Metrik vorliegen. Auch hier handelt es sich um einen Soll-IstVergleich. Die eigentliche Softwarebeschreibung wird gegen die Sollbeschreibung abgeglichen. Jede Abweichung vom Soll wird als Mangel oder als Regelverletzung betrachtet.
Die statische Qualität der Software wird anhand der Anzahl gewichteter Mängel relativ zur
Größe gemessen. Je mehr Mängel eine Softwarebeschreibung hat und je schwerer diese
Mängel wiegen, desto niedriger ist die statische Qualität [ZWNS06].
Softwareprodukte haben aber nicht nur einen statischen Zustand, sondern auch ein dynamisches Verhalten. Das alles erschwert die Messung der Systemqualität. Der Grad der dynamischen Qualität ist der Grad, zu dem das tatsächliche Systemverhalten mit dem erwarteten Systemverhalten übereinstimmt. Jede Abweichung zwischen Soll und Ist wäre als
Abweichung zu betrachten, egal ob es sich um die Nichterfüllung einer funktionalen AnforNominalskala:
Bezeichnungen, z.B.
Ordinalskala:
Stufen z. B.
Ranking
Benotung
Intervallskala:
aufsteigende Wertskala z.B.
Die Roten
Die Grünen
Die Schwarzen
hoch, mittel, niedrig
A>B>C
ausgezeichnet, gut , ausreichend, ungenügend
Thermometer mit Temperatur in Celsius
oder Kalenderzeit oder Punktzahl
A = 50,
Abstand = 20
B = 30,
C = 20
Abstand = 10
Verhältnisskala
Relation zum Festpunkt z.B. Länge, Laufzeit
gleiches Verhältnis mit „natürlicher“ Null
Absolutskala
Auszählungen z.B. Anzahl Größeneinheiten
Statements
Function-Points
Defects
Deficiencies
Person Days
Ist = 60
Soll = 90
Erfüllungsgrad = Ist/Soll = 0,67
= 24.000
= 480
= 21
= 756
= 520
Abbildung 1.2 Messskalen nach Zuse
5
1 Softwaremessung
forderung, um die falsche Erfüllung einer solchen Anforderung oder um die Nichterfüllung
einer nichtfunktionalen Anforderung handelt. Mit jedem zusätzlich festgestellten Fehler
sinkt die Qualität. Die konventionelle Art, Softwarequalität zu messen, ist anhand der Anzahl der Fehler gewichtet durch die Fehlerschwere relativ zur Softwaregröße.
Es ist jedoch zu betonen, dass in beiden Fällen – der statischen Qualitätsmessung wie auch
der dynamischen Qualitätsmessung – der Begriff Qualität relativ zu einer Beschreibung,
nämlich der Beschreibung der erwarteten Qualität ist. Ohne eine derartige Beschreibung
lässt sich Qualität nicht messen. Die Messung von Qualität impliziert den Vergleich einzelner Ist-Eigenschaften mit entsprechenden Soll-Eigenschaften. Es gibt keinen Weltstandard für Fehlerhaftigkeit – ebenso wenig wie es einen Weltstandard für Wartbarkeit oder
Testbarkeit gibt. Hinter jedem Qualitätsmaß steckt eine heuristische Regel, die zu einer
lokalen Norm erhoben wurde. Wie wir später sehen werden, kann jede Qualitätsnorm
quantifiziert und auf eine Werteskala gebracht werden. Hinter jeder solchen Werteskala
steckt jedoch eine heuristisch begründete oder willkürliche Vereinbarung, was gut und was
schlecht ist (siehe Abb. 1.2).
1.2
Sinn und Zweck der Softwaremessung
Ein wesentlicher Zweck der Softwaremessung ist, die Software besser zu verstehen. Dazu
dienen uns die Zahlen. Zahlen helfen uns, die Zusammensetzung eines komplexen Gebildes wie ein Softwaresystem zu begreifen: „Comprehension through Numbers“ [Sned95].
Durch sie erfahren wir, wie viele verschiedene Bauelemente es gibt und wie viele Ausprägungen jedes hat, wir erhalten Informationen über deren komplexen Beziehungen und
Maßzahlen über die Qualität der Softwaresysteme.
Ein weiterer Zweck ist die Vergleichbarkeit. Zahlen geben uns die Möglichkeit, Softwareprodukte mit anderen Softwareprodukten zu vergleichen bzw. verschiedene Versionen ein
und desselben Produktes zu vergleichen. Nicht nur Produkte, auch Projekte und Prozesse
lassen sich vergleichen – allerdings nur, wenn sie in Zahlen abbildbar sind.
Ein dritter Zweck ist die Vorhersage. Um planen zu können, müssen wir die Zukunft vorhersagen, z.B. schätzen können, was ein Projekt kosten wird. Dazu brauchen wir Zahlen
aus der Vergangenheit, die wir in die Zukunft projizieren können.
Ein vierter Zweck ist, Zahleninformationen für die Steuerung von Projekten und Produktentwicklungen zu erhalten: Ein Projekt hat z.B. bisher 20 Mannjahre verbraucht oder weist
beispielsweise bisher 100 Fehler auf. Es gilt, diese Istwerte mit den Sollwerten zu vergleichen, um festzustellen, wo das Projekt bzw. das Produkt steht.
Der letzte Zweck ist eher abstrakt. Es geht darum, die Kommunikation zwischen Menschen zu verbessern. Wir kennen alle die Unzulänglichkeiten der natürlichen Sprachen. Es
gibt viele uneindeutige Begriffe und solche, die nichtssagend sind. Die zwischenmenschliche Kommunikation leidet an Missverständnissen und Fehlinterpretationen. Die natürliche
Sprache stößt schnell an ihre Grenzen, wenn es darum geht, komplexe technische Gebilde
6
1.2 Sinn und Zweck der Softwaremessung
exakt zu beschreiben. Zahlen sind eine eindeutige Sprache. Primitive Völker kannten keine
Zahlen. Sie konnten nur sagen, dass es einen Löwen gibt, wenige Löwen oder viele Löwen. Entwickelte Völker können sagen, es gibt drei Löwen oder dass der Weltumfang etwa 40.000 Kilometer beträgt. Das ist eine andere Aussage als die, dass die Welt groß ist.
So gesehen tragen Zahlen dazu bei, die zwischenmenschliche Kommunikationsfähigkeit zu
steigern. Wie Lord Kelvin es so trefflich formuliert hat: „Erst wenn wir etwas in Zahlen
ausdrücken können, haben wir es wirklich verstanden. Bis dahin ist unser Verständnis oberflächlich und unzulänglich“ [Kelv67]. Das heißt, erst wenn wir Software quantifizieren
können, haben wir sie wirklich im Griff. Der englische Professor Norman Fenton behauptet, dass es ohne Metrik kein Software Engineering geben kann. Messung ist die Voraussetzung für jegliche Engineering-Disziplin [Fent94].
Zusammenfassend ist der Zweck der Softwaremessung fünferlei:
Sie dient dem Softwareverständnis.
Sie dient der Vergleichbarkeit.
Sie dient der Vorhersage.
Sie dient der Steuerung.
Sie dient der zwischenmenschlichen Verständigung.
1.2.1
Zum Verständnis (Comprehension) der Software
Wenn wir Software verstehen wollen, müssen wir wissen, wie sie zusammengesetzt ist,
d.h. aus welchen Bausteintypen sie besteht und welche Beziehungen zwischen jenen Bausteintypen existieren. Die Eigenschaften der Bausteintypen helfen, diese Typen zu klassifizieren. Am besten lassen sich diese Eigenschaften in Zahlen ausdrücken wie z.B. die Größe in Zeilen oder Wörtern oder Symbole. Die Zahl der Beziehungen zwischen den Bausteinen hilft uns, den Zusammenhang der Softwareelemente zu verstehen. Zahlen sind neben Sprache und Grafik ein weiteres Verständigungsmittel. Sie sind genauer als die anderen beiden Mittel.
1.2.2
Zum Vergleich der Software
Gesetzt den Fall, ein IT-Anwender muss zwischen zwei Softwareprodukten entscheiden,
welche die gleiche Funktionalität haben. Wie soll er sie vergleichen? Ohne Zahlen wird
der Vergleich schwer möglich oder sehr subjektiv sein. Mit Zahlen lassen sich Größe und
Komplexität, ja sogar Qualität vergleichen. Er kann z.B. feststellen, dass das eine Produkt
mit der Hälfte des Codes dasselbe leistet oder dass das eine Produkt um 20 % komplexer
ist als das andere. Durch einen Performanztest kann er die Laufzeiten und die Antwortzeiten vergleichen. Das Gleiche gilt für den Vergleich von Versionen desselben Systems.
Durch die Messung der Unterschiede wird erkennbar, ob ein System sich verbessert oder
verschlechtert hat. Für den Vergleich sind Zahlen Grundvoraussetzung.
7
1 Softwaremessung
1.2.3
Zur Vorhersage
Solange Softwareentwicklung und -wartung Geld und Zeit kosten, wird der Käufer der
Software wissen wollen, was diese kostet und wie lange ein Vorhaben dauern wird. Außerdem will der Käufer wissen, was er für sein Geld bekommt, also welche Funktionalität
zu welcher Qualität. Damit wir diese verständlichen Wünsche erfüllen können, brauchen
wir Zahlen. Die Dauer eines Projekts in Tagen oder Monaten ist eine Zahl, die jeder Auftraggeber wissen will, ebenso die Anzahl der Personentage, die er bezahlen muss. Falls es
zu lange dauert oder zu viel kostet, wird er bereit sein, auf das Projekt zu verzichten, oder
er wählt eine andere Lösung. Wenn er sieht, dass die Funktionalität zu wenig und die Qualität zu gering sein wird, wird er sich nach Alternativen umsehen. Der Kunde braucht Informationen für seinen Entscheidungsprozess. Durch die Softwaremessung erhält er nicht
nur Zahlen zur Projektabwicklung, sondern auch detaillierte und objektive Informationen
über das Softwaresystem und dessen Entwicklung selbst. Zahlen über Zahlen sind die beste Information, die er bekommen kann. Nur mit Zahlen ist eine fundierte Aussage möglich,
alles andere ist reine Spekulation.
1.2.4
Zur Projektsteuerung
Ist ein Projekt einmal genehmigt und gestartet, sind Zahlen erforderlich, um den Stand des
Projektes festzustellen. Die Projektleitung soll wissen, welcher Anteil der Software bereits
fertig ist und was noch zu entwickeln ist. Sie soll auch wissen, wie es um die Qualität des
fertigen Anteils bestellt ist. Entspricht diese der vereinbarten Qualität und wenn nicht, wie
weit ist sie davon entfernt? Hierzu braucht man Zahlen: über den Umfang der gefertigten
Software sowie Zahlen über den Qualitätszustand. Ohne Zahlen hat die Projektleitung
kaum eine Chance, die Entwicklung oder Wartung von Software zu verfolgen und nach
Bedarf einzugreifen. Wie Tom DeMarco es formulierte: „You cannot control what you
cannot measure“ [DeMa82]. Messung ist die Vorbedingung für Steuerung; und zur Messung gehört eine Metrik. Das Wort „Metrik“ kommt aus dem Altgriechischen und bezeichnet im Allgemeinen ein System von Kennzahlen oder ein Verfahren zur Messung
einer quantifizierbaren Größe [Wik07].
1.2.5
Zur zwischenmenschlichen Verständigung
Die Menschen haben genug Schwierigkeiten, sich über Alltagsprobleme wie den Kauf eines neuen Autos oder den Anbau einer neuen Garage zu verständigen. Zahlen wie die der
Pferdestärke, Höchstgeschwindigkeit und Hubraum erleichtern die Verständigung. Software ist eine unsichtbare Substanz – desto schwerer ist es deshalb, sich darüber zu verständigen. Niemand kann wissen, was der andere meint, wenn er sagt, die Software ist
„groß“ oder die Aufgabe ist „komplex“. Man fragt sich sofort: Relativ zu was? Was bedeutet groß oder komplex? Man sucht nach einer Maßskala für Größe oder Komplexität. Das
Gleiche gilt für Qualität: Wenn einer sagt, das System wäre fehlerhaft, was meint er damit?
Kommt ein Fehler bei jeder Nutzung oder bei jeder zehnten Nutzung vor? Damit sind wir
8
1.3 Dimensionen der Substanz Software
bei Zahlen angelangt. Die Nutzung von Zahlen ist ein Indikator für die Genauigkeit der
zwischenmenschlichen Kommunikation.
Für die Beschreibung von Software gilt dies umso mehr. Statt zu sagen, die Software sei
groß, ist es genauer, wenn man sagt, die Software habe 15.557 Anweisungen. Wir setzen
damit jedoch voraus, dass der Kommunikationspartner dies einordnen kann. Im Gegensatz
zu den primitiven Völkern, die genau wissen, was ein Tier ist und wie es aussieht und eine
Vorstellung von einem, wenigen oder vielen Tieren haben, haben manche IT-Manager
noch nie eine Anweisung gesehen. Dann hat für sie auch die Zahl 15.557 keine Bedeutung.
1.3
Dimensionen der Substanz Software
Software ist eine multidimensionale Substanz. Sie hat bestimmt mehr Dimensionen, drei
davon sind allerdings messbar. Die eine Dimension ist die Größe bzw. die Quantität der
Software. Die zweite Dimension ist die Zusammensetzung bzw. die Komplexität der Software. Die dritte Dimension ist die Güte bzw. die Qualität der Software. Wenn also von
Messung bei Software die Rede ist, dann von einer der drei Metrikarten:
Quantitätsmetrik
Komplexitätsmetrik
Qualitätsmetrik (siehe Abb. 1.3)
Dimensionen eines
Softwaresystems
Qualitätsmaße
Größenmaße
Software
itä
ex
l
p
m
Ko aße
m
ts
Qualität
Komplexität
Größe
1.3.1
Abbildung 1.3
Drei Dimensionen von Software
Quantitätsmetrik von Software
Mit der Quantitätsmessung sind Mengenzahlen gemeint, z.B. die Menge aller Wörter in
einem Dokument, die Menge der Anforderungen, die Menge der Modelltypen in einem
Entwurfsmodell und die Menge aller Anweisungen in einer Source-Bibliothek. Mengenzählungen sind Aussagen über den Umfang von Software. Sie werden benutzt, um den
9
1 Softwaremessung
Aufwand für die Entwicklung einer vergleichbaren Menge zu kalkulieren. Aus der Menge
der Datenelemente wird die Größe der Datenbank projiziert, aus der Menge der Anforderungen wird die Menge der Entwurfsentitäten und aus dieser die Menge der Codeanweisungen abgeleitet. Aus der Menge der Anforderungen und Anwendungsfälle wird auch die
Menge der Testfälle projiziert. In einem Softwaresystem gibt es etliche Mengen, die wir
zählen könnten. Manche sind relevant, andere nicht. Unsere Aufgabe als Software-Ingenieure besteht darin, die relevanten Mengen zu erkennen. Ein weiteres Problem besteht
darin, diese Mengen richtig zu zählen. Dafür brauchen wir Zählungsregeln. In diesem Buch
werden mehrere davon behandelt.
1.3.2
Komplexitätsmetrik von Software
Mit der Komplexitätsmetrik sind Verhältniszahlen für die Beziehungen zwischen den
Mengen und deren Elementen gemeint. Ein Element wie das Modul XY hat Beziehungen
zu anderen Elementen wie zu weiteren Modulen oder zu weiteren Datenelementen. Die
Zahl der Beziehungen ist eine Aussage über Komplexität. Die Menge aller Module hat
Beziehungen zu der Menge aller Daten. Sie werden benutzt, erzeugt und geändert. Sie haben auch Beziehungen zur Menge aller Testfälle, die das Modul testen. Je mehr Beziehungen eine Menge hat, desto höher ist ihre Komplexität. Komplexität steigt und fällt mit der
Zahl der Beziehungen. Also gilt es hier, Beziehungen zu zählen und miteinander zu vergleichen. Das Problem ist hier dasselbe wie bei der Quantität, nämlich zu erkennen, welche
Beziehungen relevant sind. Es ist nur sinnvoll, relevante Komplexitäten zu messen. Dafür
müssen wir aber zwischen relevanten und irrelevanten Beziehungen unterscheiden können.
Komplexität ist somit wie Quantität eine Frage der Definition.
1.3.3
Qualitätsmetrik von Software
Mit der Qualitätsmetrik wollen wir die Güte einer Software beurteilen. Wenn schon die
Größe und Komplexität von Software undeutlich sind, dann ist deren Qualität um ein Vielfaches mehr unkenntlich. Was gut und was schlecht ist, hängt von den Sichten des Betrachters ab. Die Klassifizierung von Software in gut und schlecht kann erst in Bezug zu
einer definierten Norm stattfinden. Ohne Gebote und Gesetze ist ein Qualitätsurteil weder
für menschliches Verhalten noch für Software möglich. Gut ist das, was den Geboten entspricht, und schlecht ist das, was zu ihnen im Widerspruch steht. Es lassen sich aufgrund
von Erfahrungen einige Schlüsse ziehen wie etwa der, dass unstrukturierter und undokumentierter Code ohne sprechende Namen schwer lesbar und somit auch schwer weiterzuentwickeln ist. Übergroße Source-Module sind bekanntlich schwer handzuhaben. Nicht
abgesicherte Klassen sind leicht zu knacken. Vielfache Verbindungen zwischen CodeBausteinen erschweren deren Wiederverwendbarkeit. Tief verschachtelte Entscheidungslogik ist fehleranfällig. Diese und viele andere als schädlich empfundene Codierpraktiken
können durch Regeln verboten werden.
Verstöße gegen die Regel gelten als qualitätsmindernd. Demnach ist die Qualität des Codes mit der Einhaltung von Regeln eng verknüpft. Ohne ein derartiges Regelwerk kann
10
1.4 Sichten auf die Substanz Software
Qualität nur post factum nachgewiesen werden. Eine Software, in der viele Fehler auftreten oder die unverhältnismäßig langsam ist, gilt als qualitätsarm. Hierfür ist aber der Benutzer auch in der Pflicht zu definieren, was im speziellen Fall zu viele Fehler sind oder
was zu langsam ist. Schlechthin kann es ohne Qualitätsnorm keine Qualitätsmessung geben. Qualität ist der Grad, zu dem eine vereinbare Norm eingehalten wird. Sie ist die Distanz zwischen dem Soll- und dem Ist-Zustand. Liegt die Ist-Qualität unter der SollQualität, ist die Qualität zu gering. Liegt sie darüber, ist sie eventuell zu hoch. Zu wenig
Qualität verursacht Kosten für den Betrieb und die Erhaltung eines Systems. Zu viel Qualität verursacht Mehrkosten bei der Entwicklung des Systems. In beiden Fällen sind dies
Kosten, die der Auftraggeber nicht tragen möchte. Bei Qualität wie bei Quantität kommt es
darauf an, genau das zu liefern, was der Kunde bestellt hat, nicht mehr und nicht weniger
[DGQ86].
1.4
Sichten auf die Substanz Software
Ein Softwaresystem besteht aus vielen verschiedenen Typen von Elementen, nicht nur Code, sondern auch Texte, Diagramme, Tabellen und Daten jeglicher Art. Wenn es darum
geht, ein solches System zu messen, müssen die Elementtypen genau definiert werden. Die
Definition der Messobjekte ist der erste Schritt in einem Messprozess. Es muss für alle
Beteiligten klar sein, was gemessen wird [Jone91].
Eine mögliche Kategorisierung der Messobjekte ist nach deren Darstellungsform bzw. Elementtyp wie z.B. Softwarecode, Textdokumente, Diagramme oder Tabellen.
Ein anderes Gliederungsschema ist nach dem Zweck der Elemente. Manche Elemente dienen dazu, die Anforderungen an ein System zu beschreiben. Mit anderen Elementen werden die Konstruktion bzw. Architektur des Systems beschrieben. Eine dritte Kategorie von
Elementen sind dann die Codebausteine, die von einer Maschine ausgeführt werden. Eine
vierte bilden die Elemente, die dazu dienen, das System zu testen. Eine letzte Kategorie
umfasst alle Elemente, die dazu dienen, die Bedienung des Systems zu beschreiben. Diese
fünf Kategorien entsprechen den fünf Schichten eines Softwareprodukts:
Anforderungsdokumentation
Entwurfsdokumentation
Code
Testware
Nutzungsanleitung (siehe Abb. 1.4)
Eine weitere Gliederungsmöglichkeit ist nach dem Gesichtspunkt der Beteiligten. Auf der
einen Seite stehen die Benutzer der Software. Aus ihrer Sicht besteht ein System aus Bildschirmoberflächen, Telekommunikationsnachrichten, Papierausdrucken, gespeicherten Daten
und Bedienungsanleitungen. Auf der anderen Seite stehen die Entwickler von Software.
Aus ihrer Sicht besteht ein System aus Codebausteinen, Dokumenten, Dateien, Datenbanken und Steuerungsprozeduren. Diese beiden Sichten – die fachliche und die technische –
11
1 Softwaremessung
Fachlich
Anforderungsdokumentation
Fachlich/
Technisch
Entwurfsdokumentation
Technisch
Source-Code
Technisch/
Fachlich
Testware
Fachlich
Benutzerdokumentation
Abbildung 1.4
Fünf Schichten eines
Softwareproduktes
sind oft unverträglich, da sie verschiedene Ontologien verwenden. Der Benutzer verwendet
die Begriffe aus der Fachwelt, die von der Software abgebildet wird. Der Entwickler verwendet die Begriffe aus der Welt der Maschinen, in welcher die Software implementiert
ist.
Deshalb gibt es noch eine dritte Sichtweise auf die Software – die Sicht des Integrators, der
versucht, die beiden anderen Sichten miteinander zu vereinen. In der IT-Projektpraxis
nimmt der Tester die Rolle des Integrators ein und vertritt diese dritte, übergreifende Sicht.
Demnach gibt es:
Fachliche Beschreibungselemente
Technische Beschreibungselemente
Integrative Beschreibungselemente
Schließlich wird unterschieden zwischen statischen und dynamischen Sichten auf ein
Softwaresystem. Eine statische Sicht nimmt die Elemente wahr, die zu einem bestimmten
Zeitpunkt existieren, z.B. die Struktur einer Datenbank oder die Zusammenstellung einer
Komponente. Diese Elemente können sich zwar verändern, aber zu einem gegebenen Zeitpunkt sind sie statisch invariant. Die statischen Elemente eines Systems bieten sich am
besten als Messobjekte an.
Die dynamische Sicht auf die Software nimmt Bewegungen bzw. Zustandsveränderungen
wahr. Hier werden Abfolgen von Aktionen und Veränderungsfolgen von Daten beobachtet. Auch diese Bewegungen bzw. Zustandsveränderungen der Systemelemente lassen sich
messen, aber dies ist viel schwieriger und verlangt besondere Messinstrumente.
12
1.5 Objekte der Softwaremessung
1.5
Objekte der Softwaremessung
Aus den Sichten auf die Software ergeben sich die Objekte der Softwaremessung. Aus der
Sicht der Elementtypen gibt es Folgendes zu messen:
Natursprachliche Texte
Diagramme
Tabellen
Codestrukturen (siehe Abb. 1.5)
Englisch
Deutsch
Französisch
…..
O
01
Natürlichsprachliche
Texte
P
02
P1
-
-
-
P2
-
-
-
P3
-
-
-
P4
-
-
-
Tabellen
P
O1
O2
Softwaremessobjekte
Diagramme (UML)
Class P
P1 (a,b,c)
P2 (x,y,z)
Class O
ometh1(a,b)
ometh2(x,y)
Source-Code
(PL/I, COBOL, C++, Java)
Abbildung 1.5
Objekte der
Softwaremessung
Aus der Sicht des Zwecks der Elemente kann Folgendes gemessen werden:
Anforderungselemente
Entwurfselemente
Codeelemente
Testelemente
Beschreibungselemente
Aus der Sicht des Systembenutzers lässt sich Folgendes messen:
Die System/Benutzer-Interaktionen
Die Systemkommunikation
Die Systemausgabe
Die Benutzerdokumentation
Aus Sicht des Systemintegrators kann Folgendes gemessen werden:
Die Programme
Die Daten
13
1 Softwaremessung
Die Schnittstellen
Die Systemdokumentation
Die Fehlermeldungen
Aus statischer Sicht sind alle Elementtypen zu messen, die als Dateien in einem Verzeichnis abgelegt sind. Dazu gehören Testdaten, Tabellen, Grafiken und Diagramme, SourceCode-Texte, Listen und Dateien im Zeichenformat. Aus dynamischer Sicht lässt sich die
Ausführung des Codes, die Anzahl an Fehlern, die Veränderung der Daten, die Nutzung
der Maschinenressourcen und die Dauer der Computeroperationen messen. Auch Zeiteinheiten wie Ausfallzeiten, Reparaturzeiten und Reaktionszeiten gelten als dynamische
Messobjekte. Im Prinzip lässt sich fast alles an einem Softwaresystem messen. Die Frage
ist nur immer, ob es sich lohnt, etwas zu messen. Denn Messwerte sind lediglich ein Mittel
zum Zweck. Zuerst muss das Ziel der Messung definiert sein. Was will man damit erreichen? Die Kosten schätzen, Qualitätsaussagen treffen oder Mitarbeiter bewerten? Erst
wenn diese Ziele klar sind, können aus der großen Anzahl potenzieller Messobjekte die
richtigen ausgewählt werden. Es macht wenig Sinn, sämtliche Objekte zu messen, bloß
weil sie da sind. Auf diese Weise entstehen die berühmt-berüchtigten Zahlenfriedhöfe.
Wer Software messen will, muss eine definierte Messstrategie haben und dieses Konzept
verfolgen. Die Messstrategie bestimmt, welche Messobjekte letztendlich herangezogen
werden und welche Metriken zur Anwendung kommen.
1.6
Ziele einer Softwaremessung
Im Hinblick auf die Ziele einer Softwaremessung ist es wichtig, zwischen einer einmaligen
und einer kontinuierlichen Messung zu unterscheiden. Optimalerweise misst ein SoftwareEntwicklungsbetrieb bzw. ein Anwenderbetrieb seine Projekte und Produkte ständig, so
wie es z.B. im CMMI-Modell vorgesehen ist [ChKS03]. Dazu braucht er eine zuständige
Stelle, die dem Qualitätsmanagement untersteht. Diese Stelle vereinbart die Ziele der
Softwaremessung mit der IT-Leitung und führt die erforderlichen Messinstrumente ein. Es
gibt aber leider nur wenig Anwender im deutschsprachigen Raum, die sich eine solche
permanente Messung leisten wollen oder können.
Dies liegt zum einen daran, dass sie den Nutzen nicht erkennen können, andererseits daran,
dass ihnen die Kosten zu hoch erscheinen, oder drittens daran, dass selbst wenn sie den
Nutzen erkennen und die Kosten tragen können, sie kein qualifiziertes Personal finden.
Nur wenig Informatiker haben sich mit Metriken befasst, und die meisten von ihnen sind
irgendwo an der Hochschule oder einem Forschungsinstitut. Die Zahl der verfügbaren
Metrikspezialisten ist viel zu klein, um den Bedarf zu decken. Demzufolge werden Messungen nur sporadisch durchgeführt.
Die Gründe für einmalige Messungen sind unter anderem:
Der Anwender steht vor einem betrieblichen Merger und muss entscheiden, welche der
doppelten Anwendungssysteme beibehalten werden.
14
1.6 Ziele einer Softwaremessung
Der Anwender übernimmt ein Softwaresystem in Wartung und möchte wissen, worauf
er sich einlässt.
Der Anwender hat vor, seine bestehenden Anwendungen zu migrieren, und möchte wissen, um welchen Umfang es sich handelt.
Der Anwender hat vor, seine Anwendungen auszulagern, und möchte wissen, was ihre
Erhaltung und Weiterentwicklung kosten soll.
Der Anwender steht vor einer Neuentwicklung und möchte wissen, wie groß und wie
komplex die alte Anwendung war.
Der Anwender hat massive Probleme mit der bestehenden Software und möchte diese
genaueren Analysen unterziehen.
Die Ziele einer laufenden Messung unterscheiden sich von denen einer einmaligen Messung. Bei der einmaligen Messung ist das Ziel, den aktuellen Stand eines Systems zu bewerten und daraus Informationen für Entscheidungen zu gewinnen:
Kosten und Nutzen alternativer Strategien
Vergleiche verschiedener Systeme
Vergleiche mit den Industriestandards (Benchmarking)
Informationen über den Gesundheitsstand eines Softwaresystems
Bei der fortlaufenden Messung geht es darum, Veränderungen in der Produktivität und
Termintreue der Projekte sowie in der Größe, der Komplexität und der Qualität der Produkte zu verfolgen.
Veränderungen der Quantität
Reduzierung der Komplexität
Erhöhung der Qualität
Verbesserung der Schätzgenauigkeit
Da die Ziele so vielfältig sind, müssen sie vor jeder Messung neu definiert werden. Diese
Erkenntnis hat Victor Basili und Hans-Dieter Rombach dazu bewogen, die Methode GoalQuestion-Metric (GQM) ins Leben zu rufen [BaRo94]. Diese Methode gilt seitdem als
Grundlage für jede Softwaremessung (siehe Abb. 1.6).
Nach der GQM-Methode werden zunächst die Ziele gesetzt. Zu diesen Zielen werden Fragen gestellt, um sich darüber klar zu werden, wann die Ziele erreicht sind bzw. wie diese
zu erreichen sind. Auf die Fragen folgen Maße und Metriken, die uns wissen lassen, wo
wir im Verhältnis zu unseren Zielen stehen bzw. wie weit wir noch von ihnen entfernt
sind. Das Ziel ist also der Gipfel, den wir besteigen wollen. Die Frage ist, auf welchem
Weg man ihn besteigt, und die Metrik ist die Entfernung vom Ausgangspunkt bzw. zum
Zielpunkt.
Eigentlich müsste die GQM-Methode um eine weitere Stufe ergänzt werden, und zwar um
die der Kennzahlen. Denn eine Metrik ist eine Gleichung mit Kennzahlen als Parameter,
die ein bestimmtes, numerisches Ergebnis liefert [Kütz07]. In der gängigen Literatur werden alle Zahlen (auch Summen einzelner Eigenschaften) als Metrik bezeichnet. Dies ist aus
15
1 Softwaremessung
Goals
Questions
Metrics
Ziel A
Ziel B
Ziel C
Frage
B1
Frage
B2
Frage
B3
Fragen
Metrik
Metrik
Metrik
Metrik
Ziel
Counts
(z.B.)
Zählung
LOCS
Stmt
Procs
Data
Calls
Data
IOs
Keys
Abbildung 1.6
Zielorientierte
Softwaremessung
mit der GQMMethode
Sicht der Metrik eine Verfälschung. Eine Metrik benutzt Zählungen in einer Gleichung,
um damit ein Ergebnis zu errechnen. Die Function-Point-Metrik etwa vereint die Zahl der
gewichteten Ein- und Ausgaben mit der Zahl der gewichteten Datenbestände und der Zahl
der externen Schnittstellen, um daraus Function-Points zu errechnen. Dies ist eine Metrik
für die Systemgröße. Die Zahl der Ein- und Ausgaben ist eine Kennzahl bzw. im Englischen ein „count“. Die Anzahl Codezeilen und die Anzahl Anweisungen sind ebenfalls
„counts“. In diesem Buch wird zwischen Metriken und Kennzahlen unterschieden. Metriken basieren auf Kennzahlen. Demzufolge wird die GQM-Methode um eine Stufe erweitert:
G = Goal = Ziel
Q = Question = Frage
M = Metric = Metrik
C = Counts = Kennzahl
Als Beispiel dient das Ziel „Die Software soll möglichst fehlerfrei sein“. Die erste Frage,
die sich dazu stellt, ist: Was bedeutet möglichst fehlerfrei? Die zweite Frage wäre: Wie
fehlerfrei ist die Software jetzt? Das Messziel für die erste Frage könnte eine Restfehlerwahrscheinlichkeit von 0,015 sein. Als Metrik für die zweite Frage könnte die Berechnung
der Anzahl der noch nicht entdeckten Fehler auf Basis der bisherigen Fehlerrate in Bezug
zur Testüberdeckung dienen.
⎛
⎞
1
Restfehler = bisherige Fehler * ⎜⎜
− 1⎟⎟
⎝ Testüberdeckung ⎠
wobei Testüberdeckung auf verschiedenen Stufen betrachtet werden kann. Auf der Codestufe könnte sie getestete Logikzweige/alle Logikzweige, auf der Entwurfsstufe getestete
Modelelemente/alle Modelelemente und auf der Anforderungsebene getestete Anforderungen/alle Anforderungen sein.
16
1.7 Zur Gliederung dieses Buches
Dies wäre die Metrik. Die Kennzahlen sind:
Anzahl bisheriger Fehler
Anzahl getesteter Elemente
Anzahl aller Elemente
Die GQM-Methode wurde ursprünglich von V. Basili und D. Weis im Rahmen einer
Softwaremessung beim NASA Goddard Space Flight Center im Jahre 1984 entwickelt
[BaWe84]. Sie wurde in Europa erst Anfang der 90er Jahre bei der Schlumberger Petroleum AG in den Niederlanden eingesetzt, um die dortige Prozessverbesserung zu messen.
Im Jahre 1999 brachte R. van Solingen und E. Berghout ein Buch mit dem Titel „The
Goal/Question/Metric Method“ heraus [SoBe99]. In diesem Buch beschreiben die Autoren
ihre Erfahrungen mit der Methode in mehreren europäischen Unternehmen. Trotz der üblichen Probleme mit Ziel- und Begriffsdefinitionen konnten damit einige Prozesse und Produkte gemessen und bewertet werden. Welche Maßnahmen auf die Messungen folgten,
bleibt unbeschrieben. Jedenfalls konnten die Anwender erkennen, wo sie sich im Verhältnis zu ihren Zielen befanden. Auch der Autor Sneed hat mit der Methode gute Erfahrungen
gemacht, vor allem im Bezug auf die Optimierung der Wartungsprozesse im Anwenderbetrieb. Ausschlaggebend für den Erfolg der Methode ist die Definition messbarer Ziele wie
z.B. die Reduktion der Kundenfehlermeldungen um 25 %. Auf welchem Weg das Ziel zu
erreichen ist, ist eine andere Frage, die wiederum von anderen Messungen abhängt.
Die Wahl des Weges zum Ziel wird von der Korrelation diverser Metriken bestimmt, wie
in etwas der Korrelation zwischen Codequalität oder Architekturqualität und Fehlerrate.
Ein Großteil der Metrikforschung ist darauf ausgerichtet, solche Korrelationen zwischen
Ziel und Mittel herauszustellen. Erst wenn wir wissen, was einen Zustand verursacht, können wir daran gehen, die Ursachen des Zustands zu verändern, sei es die Codequalität, die
Prozessreife, die Werkzeugausstattung oder die Qualifikation der Mitarbeiter.
Ein Ziel der Metrik ist, derartige Zusammenhänge aufzudecken, damit wir die betroffenen
Zustände ändern können. Ein weiteres Ziel ist, die Zustände zu verfolgen, wo sie im Verhältnis zum Soll stehen. Ein drittes Ziel ist es zu kalkulieren, welche Mittel man braucht,
um die Zustände zu verändern. Hier ist ein Projekt als Zustandsänderung bzw. als Zustandsübergang zu betrachten.
1.7
Zur Gliederung dieses Buches
In Anlehnung an die Dimensionen und Schichten eines Softwareproduktes sowie an die
Ziele eines Softwareprozesses ist dieses Buch in drei Teile mit elf Kapiteln gegliedert (siehe Abb. 1.7)
Der erste Teil befasst sich mit den Dimensionen der Software bzw. mit deren Größe,
Komplexität und Qualität. Das zweite Kapitel beschreibt die Maße für die Größe eines
Softwareprodukts, Maße wie Anforderungen, Dokumentationsseiten, Modeltypen, Codezeilen, Anweisungen, Object-Points, Function-Points und Testfälle. Das dritte Kapitel geht
17
1 Softwaremessung
Wartung/Evolution
Entwicklung
Messobjekte
Quantität
AnforderungsSystementwurf
spezifikation
Geschäftsprozesse
Geschäftsobjekte
Geschäftsregeln
Anwendungsfälle
Strukturiert
Komplexität Textuell
Fachlich
Qualität
Konsistenz
Vollständigkeit
Exaktheit
Testzeilen
Produktivität Zeilen pro PT
Klassen/Module
Methoden/Procs
Schnittstellen
Daten
Entitäten
Beziehungen
Interaktionen
Source-Code
Testware
s
klung
Entwic e
maß
Codezeilen
Anweisungen
Bedingungen
Referenzen
Testobjekte
Testfälle
Testläufe
Fehlermeldungen
oints
Func-P
ts
in
o
Obj-P
ints
o
-P
C
U
Ablaufe
Zugriffe
Datennutzung
Zustandsdichte
Pfadanzahl
Schnittstellenbreite
te
Objek
n en
Relatio e
iss
n
ig
re
E
Fehlerdichte
Testüberdeckung
Fehlerfindung
ndig
Vollstä t
n
te
is
K o ns
el
ib
s
u
la
P
Kohäsion
Kopplung
Ausbaufähigkeit
Modularität
Konvertierbarkeit
Konformität
Diagramme
pro PT
Codezeilen/
Anweisungen
pro PT
Testfälle
pro PT
FPs
ro PT
OPs p
TCs
-
ng
Wartu
maße
LOCS
ungen
Anweis
Module
inaten
Koord
e
ig
e
Zw
Pfade
inaten
Koord
e
Zweig
Pfade
LOCs
pro PT
Stmts
TCs
Abbildung 1.7 Dreifache Gliederung des Buches
auf die Komplexitätsmessung ein und behandelt solche Komplexitätsmetriken wie Graphenkomplexität, Verschachtelungstiefe, Kopplungsgrad und Datennutzungsdichte. Das
vierte Kapitel setzt sich mit dem Thema Qualitätsmessung auseinander. Dabei geht es um
Maßstäbe für Qualitätsmerkmale wie Zuverlässigkeit, Korrektheit, Sicherheit und Wiederverwendbarkeit. Hier kommt die GQM-Methode zur Geltung.
Der zweite Teil befasst sich mit den einzelnen Softwareschichten und wie sie zu messen
sind. Die hier behandelten Softwareschichten sind:
Die Anforderungsdokumentation
Der Systementwurf
Der Code
Die Testware
Kapitel 5 behandelt die Messung natursprachlicher Anforderungsdokumente. Kapitel 6
schlägt eine Metrik für den Systementwurf im Allgemeinen und im Speziellen für UML
vor. Das Kapitel 7 beschäftigt sich mit der Messung und Bewertung sowohl von prozeduralem als auch objektorientiertem Code. Kapitel 8 ist dem Thema Testmessung gewidmet.
Darin werden diverse Testmetriken vorgestellt, die nicht nur das dynamische Verhalten des
Systems, sondern auch den statischen Zustand der Testware messen. Für alle vier Schichten werden die drei Dimensionen Quantität, Komplexität und Qualität behandelt.
Im dritten und letzten Teil des Buches geht es um die Messung der Softwareprozesse. Kapitel 9 geht auf die Messung der Produktivität in Entwicklungsprojekten ein. Hier werden
diverse Ansätze zur Ermittlung der Produktivität zwecks Planung und Steuerung von Entwicklungsprojekten vorgestellt. Kapitel 10 befasst sich mit dem schwierigen Thema „War-
18
s-
1.7 Zur Gliederung dieses Buches
tungsmessung“. Es geht dabei sowohl um die Wartbarkeit der Softwareprodukte als auch
um die Messung der Wartungsproduktivität. Kapitel 11 schildert den Messprozess, den die
Autoren bereits in zahlreichen Messprojekten verwendet haben und die Werkzeuge, die sie
eingesetzt haben, um die Messergebnisse zu erzeugen. Hier wird Softwaremessung als ein
– im Sinne des CMMI – definierter und wiederholbarer Prozess dargestellt.
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