Auf der Suche nach Deutschland

Werbung
Auf der Suche nach Deutschland
Dietrich von Kyaw
Auf der Suche nach Deutschland
Erlebnisse und Begegnungen eines deutschen
Diplomaten und Europäers
2. Auflage
BWV · BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-8305-2750-3
Titelbild: Dresden nach der Bombardierung vom 13./14. Februar 1945.
Blick vom Rathausturm nach Süden.
SLUB Dresden/Deutsche Fotothek/Richard Petersen.
Umschlag und Layout: Hanne Ziegler
© 2012 BWV · BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG GmbH,
Markgrafenstraße 12–14, 10969 Berlin
E-Mail: [email protected], Internet:http://www.bwv-verlag.de
Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen,
der photomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.
Inhaltsverzeichnis
I.
Zeitzeuge von Untergang, Wiederaufstieg und Vereinigung
11
II.
Herkunft und Familie
1. Die Vorfahren aus der Oberlausitz/Böhmen
2. Die von Kyaws in Hinterpommern
16
16
24
III.
Kindheit in Hinterpommern
32
IV.
Flucht und Zusammenbruch
1. Erste Fluchtetappe mit der Reichsbahn
2. Im Treckwagen über die Oder zur Prignitz
3. Nach Schleswig-Holstein zu den Briten
4. Niedersachsen als letztes Fluchtziel
5. Nach der Roten Armee das Weserhochwasser
38
38
39
42
46
47
V.
Mühsamer Wiederanfang
1. Beim Bauern Tegtmeier
2. Stärkung durch Aufenthalt in der Schweiz
3. Abitur an der Heimschule Bad Iburg
4. „Im Erdöl liegt die Zukunft“
49
49
51
52
54
VI. Erste Semester als Jurastudent in Bonn
1. Zwischen Universität und Bundestag
2. Aktiv im Corps Borussia
3. Ernteeinsatz beim Bauern in Frankreich
4. Dem Tod von der Schippe gesprungen
56
56
58
60
61
VII. Studium an der University of Chicago
1. Ankunft im „Gelobten Land“
2. Per Anhalter durch „real America“
3. Faszinierendes Studium
64
64
65
66
VIII. Examina in Bonn und Referendarszeit
1. Über die „einzige Hochschule Deutschlands“ zum Examen
2. Doktorand an der Universität Lüttich
3. Justizausbildung und zweites Staatsexamen
70
70
71
73
IX. Als Attaché in Los Angeles
1. Wiedergutmachung und Zeugenvernehmungen für KZ-Prozesse
2. Öffentlichkeitsarbeit für Deutschland
3. Das Leben in Hollywood
4. Elisabeth Berner aus Hannover
77
77
79
80
81
5
X.
Von Hollywood in den Kongo
1. Opfer der „Hallstein-Doktrin“
2. Einstimmung auf der „Maréchal Foch“
3. Leben am Kongo-Fluss
4. „Wissenschaftlicher Sozialismus“ auf Afrikanisch
5. Diplomat mit begrenzter Entfaltungsmöglichkeit
6. „Monsieur Otto“, der deutsche Fußballtrainer
7. Handel und Entwicklungshilfe
8. Die „Revolution“ auf dem Vormarsch
9. Als „Imperialist“ bei den Pygmäen
10. Anerkennung der DDR
11. Der lange Weg Afrikas aus der Unterentwicklung
85
85
86
87
92
96
99
101
102
104
107
108
XI. Abordnung nach Bangui zu Bokassa
1. Die Zentralafrikanische Republik – isoliert und arm
2. Alles dreht sich um Bokassa
3. Die Rolle Frankreichs
4. Ärger mit Bokassa
5. Botschafterkonferenz mit Willy Brandt
6. Abschied von Bangui und Sturz Bokassas
112
112
113
118
120
125
128
XII. Vom Kongo in den Weltraum
1. INTELSAT-Verhandlungen in Washington
2. Die europäische Trägerrakete „ARIANE“
3. Zusammentreffen mit Wernher von Braun
4. Das Wohlwollen Außenminister Scheels
135
135
138
141
142
XIII. Als Delegierter für Menschenrechte bei den VN
1. Der VN-Beitritt beider deutscher Staaten
2. „Mein“ Dritter Ausschuss der Generalversammlung
3. Die DDR-Kollegen
4. Die Kriegsverbrecherfrage vor den VN
5. Doppelstandard bei den Menschenrechten
6. Mitglied der westlichen Minderheit
7. Yassir Arafat vor der Generalversammlung
8. Das Chile General Pinochets
a. Spagat zwischen Innen- und Außenpolitik
b. Ost-West-Gefangenenaustausch auf der Glienicker Brücke
c. Rückschlag in der Genfer VN-Menschenrechtskommission
9. Erste Weltfrauenkonferenz in Mexico City
10. Gleichsetzung von „Rassismus“ mit „Zionismus“
144
144
145
147
150
151
153
155
156
156
157
158
161
163
6
11. Die USA in den VN und der deutsche Idealismus
12. Erster deutscher Vorsitzender eines Hauptausschusses der GV
a. Vorsitz ohne Mehrheit
b. In Schwierigkeiten wegen Sadruddin Aga Khan
c. Sonstige Aufgaben eines Vorsitzenden
13. Abschied vom „East River“
14. Die überschätzten VN
164
167
169
171
173
174
178
XIV. Europas Einheit wird zu meiner Bestimmung
1. Im Schlüsselreferat für die europäische Integration
2. Die Mogadischu-Affäre im „deutschen Herbst“
3. Beitrittsverhandlungen mit Griechenland und die Türkei
4. Das Europäische Währungssystem und Frankreich
5. Maggie Thatcher, die „Eiserne Lady“
6. Helmut Schmidt, der Pflichtmensch
7. Beitrittsverhandlungen mit Portugal und Spanien
8. Die Stuttgarter Erklärung von 1983 zur Vertiefung der EG
9. Nächster Posten: Washington statt Paris
180
180
182
185
190
192
194
199
202
207
XV. Wirtschaftsgesandter an der Botschaft Washington
1. Das Einleben „inside the belt-way“
2. Das Tandem Otto Graf Lambsdorff / Hans-Dietrich Genscher
3. Das „doppelte Defizit“ der USA
4. Gegen eine zu rasche Dollarabwertung
5. Der „Schwarze Montag“ an der Wallstreet
6. Riskante „Public Diplomacy“
7. James Baker, ein Texaner nach Genschers Geschmack
8. Boris Becker zu Besuch am Potomac
9. Helmut Kohl und Ronald Reagan
a. Eine „Männerfreundschaft“ entwickelt sich
b. Die „Bitburg-Affäre“
10. Der „Krieg der Sterne“
11. Erfahrungen mit amerikanischen Partnern
12. „America the beautiful“
13. Der unverzichtbare Partner USA
209
209
213
214
218
220
223
225
228
229
229
232
238
241
244
250
XVI. Verantwortlich für Ost/West-Wirtschaftsbeziehungen
und Exportkontrollen
1. Die Rabta-Krise
2. Erkenntnisse beim Osthandel
252
253
256
XVII.Verantwortlich für die Europäische Integration
258
7
1. Die deutsche Einheit im europäischen Kontext
a. Die Entwicklung überschlägt sich
b. Streit über den Umtauschkurs DM Ost / DM West
c. Vergebliche Förderung von DDR-Exporten
d. Vereinigung als „Sternstunde der Diplomatie“
e. „Zwei Seiten der gleichen Medaille“
2. Die Anerkennung Kroatiens und Sloweniens
3. Hans-Dietrich Genscher nimmt Abschied
4. Auf Staatsbesuch in den USA
5. Dänemarks NEIN zum Maastrichter Vertrag
6. Versetzung an den Wunschposten Brüssel (EU)
XVIII.
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
Deutschlands Ständiger Vertreter bei der EU
Ein herausfordernder Posten
Europäisches Gemeinwohl im Widerstreit nationaler Interessen
Rettung des EKO-Stahlwerks Eisenhüttenstadt
Die „Norderweiterung“ der EU
Kritik an Klaus Kinkel – Lob für „Herrn von Kabeljau“
Abschied von Jacques Delors
Die deutsche EU-Präsidentschaft von 1994
a. Viel politischer Wille
bei organisatorischen Unzulänglichkeiten
b. Der Gipfel von Essen (9./10.12.1994)
c. Sonst noch Erinnernswertes an unseren Vorsitz
8. Über Agrarimporte, Geld und Fisch streitet es sich gut
9. Ständiger Vertreter zwischen Höhen und Tiefen
10. Das Ringen um die Stabilität und Akzeptanz des EURO
a. Für die Währungsunion nach der Devise:
„Viel Feind, viel Ehr!“
b. Historischer Gipfel in Dublin (13./14.12.1996)
c. Ärger mit Theo Waigel
d. Helmut Kohl auf europäischem Zenit
und national im Abstieg
e. Dienstlich in der Rattenfängerstadt Hameln
und der Oberlausitz
11. Die neue Bundesregierung Schröder/Fischer
a. Abschied von Helmut Kohl und Klaus Kinkel
b. „Bundeskanzler a. D.“ von Kyaw
c. Mit Joschka Fischer und Oskar Lafontaine für Europa
8
258
258
267
271
273
276
282
285
289
292
298
302
302
314
322
327
333
342
349
349
355
357
365
373
383
383
391
395
397
402
408
408
411
413
12. Die deutsche EU-Präsidentschaft 1999
a. Die Verhandlungen über die „Osterweiterung“ der EU
b. Die (Finanz-)Agenda 2000
c. Rücktritt der Santer-Kommission
und „Flucht“ Oskar Lafontaines
d. Gerhard Schröders Gipfel von Berlin (24./25.03. 1999)
e. Herausforderungen der „laufenden Geschäfte“
f. Der Gipfel von Köln (3./4.06.1999) und die Türkeifrage
g. Joschka Fischer, der für uns alle Leidende
h. Dennoch kein schlechter Vorsitz
13. Ein kämpferischer Abschied von Brüssel
417
418
426
430
439
443
448
451
456
459
XIX. Neubeginn in Berlin und Ausblick
1. Übergang in den „Unruhestand“
2. Die „Berliner Republik“ und was sie bedenken sollte
465
465
467
Personenregister
476
9
10
I. Zeitzeuge von Untergang,
Wiederaufstieg und Vereinigung
Die Epoche, in die ich hineingeboren wurde, war bestimmt von dem in seiner Totalität beispiellosen Zusammenbruch Deutschlands und seinem hart errungenen und
zugleich wundersamen Wiederaufstieg aus Schutt und Asche. Dieses Buch soll verdeutlichen, dass mein Leben nicht nur durch Gene, Herkunft und den gewählten Beruf
des Diplomaten beeinflusst wurde, sondern zugleich durch die tief greifenden Erlebnisse während meiner Jugend. Nach nur wenigen Jahren des Geborgenseins auf dem
väterlichen Gut in Hinterpommern war mein Heranwachsen begleitet vor allem von
Krieg, „Heldentod“ des Vaters gleich zu Beginn im September 1939, Flucht, Chaos,
Zusammenbruch und endgültigem Verlust der Heimat, von Existenzkampf, Hunger
und Kälte, primitiven Wohnverhältnissen, wenig Zeit für Erziehung, häufig wechselnden Schulen und vom frühen Tod der Mutter. Ich habe diese Jugendjahre voller
Entbehrungen und auch Erniedrigungen, vor allem aber ohne hinreichende Stabilität
in meiner persönlichen Entwicklung ab 1945, sehr bewusst erlebt und zu verarbeiten
mich bemüht und dies wohl auch beeinflusst dadurch, dass ich mich schon früh aus
Neigung wie bedingt durch die Umstände für Geschichte und Politik interessierte.
Mit etwa acht Jahren hatte ich in Hinterpommern begonnen ein Tagebuch anhand
der „Siegesmeldungen“ und später der „Frontbegradigungen“ der Wehrmachtsberichte
zu führen. Auf einer großen Wandkarte unseres Kontinents steckte ich zunächst den
deutschen Vormarsch und dann den Rückzug ab. Noch vor dem Geographie- und Geschichtsunterricht auf dem Gymnasium gewann ich auf diese Weise erste lehrreiche
Einblicke in die deutsche wie europäische Wirklichkeit. Mir eröffneten sich vage Vorstellungen, wenn auch zunächst eher geographischer Natur, von unseren vielen Nachbarn und einem „Europa“, dem ich einmal als deutscher Diplomat und überzeugter
Europäer mithelfen sollte, zu einer Gemeinschaft und Union zusammen zu führen.
Das sollte dann allerdings unter völlig veränderten Vorzeichen geschehen! An die
Stelle traditioneller Dominanz eines oder wechselnder Allianzen von mehreren Staaten trat das Prinzip der Integration auf gleichberechtigter Grundlage unter einem alle
verbindenden gemeinsamen europäischen Dach. Unter ihm hat auch das nach großer
Anstrengung und Überwindung so mancher Hindernisse und Zweifel wiedervereinigte demokratische Deutschland seinen Platz gefunden als endlich in sich ruhende,
dem Kontinent damit Festigkeit verleihende Mitte.
Als Erstgeborener hätte ich ohne den Krieg die Chance gehabt, einmal den väterlichen landwirtschaftlichen Betrieb zu übernehmen. Ob mich das wirklich gereizt
hätte, wage ich rückblickend zu bezweifeln. Zumindest hätte es mich nicht ausgefüllt.
So landete ich als Folge dessen, was die Diktatoren Hitler und Stalin über Europa
brachten, schließlich 1964 im Bonner Auswärtigen Amt. Das bedeutete für mich damals die „zweitbeste“ Lösung, denn eigentlich wollte ich in die Politik, um möglichst
unmittelbar dabei zu helfen, Deutschland aus seiner Misere herauszuführen und eine
11
bessere Zukunft zu sichern. Erste „Überlegungen“ in diese Richtung hatte ich bereits
angestellt im Treckwagen angesichts des unvorstellbaren Flüchtlingselends auf den
deutschen Landstraßen und der um ihr nacktes Leben in die „falsche“ Richtung an uns
davon eilenden, einst so siegreichen und nun völlig demoralisierten Wehrmacht. Als
wir dann noch durch zerbombte Städte wie Hamburg und Hannover fuhren, sah ich
vom Treckwagen aus soweit das Auge reichte nur Trümmer. Eine Mischung aus Mitgefühl für und tief verletztem jugendlichem Stolz auf die erniedrigten und dennoch
tapfer mit ihrem Schicksal ringenden Menschen unseres Volkes beflügelte damals die
Phantasie des Elfjährigen.
Für die von mir insgeheim erhoffte Politikerkarriere fand ich als im Westen ohne
heimatbezogene Basis sich mühsam ausbildender Flüchtling nicht mehr den Anknüpfungspunkt. Angesichts des Fehlens einer solchen Grundlage meinte ich als Politiker
befürchten zu müssen, meine Unabhängigkeit zu verlieren. Die aber war mir stets
wichtig. Vielleicht brachte ich nach allem, was ich erlebt hatte, auch nicht die erforderliche Risikobereitschaft auf, denn ich war mir Anfang der sechziger Jahre keineswegs mehr sicher, ob ich bei meiner ausgeprägten Individualität und meinem Hintergrund im parteipolitischen Getriebe der Bundesrepublik eine hinreichende Zukunft
haben würde. Dennoch: Ohne die angesichts des Desasters von 1945 gehegten ersten
vagen Vorstellungen von meiner späteren Rolle als Erwachsener wäre ich kaum im
Auswärtigen Amt der Bundesrepublik Deutschland gelandet.
Meine Berufswahl wurde bestimmt von meiner durch den Zusammenbruch ausgelösten „Suche nach Deutschland“. Diese Suche war ein mühsamer, an Rückschlägen,
Zweifeln und Umwegen reicher langwieriger Prozess. Mein persönlicher Werdegang
einschließlich meiner Laufbahn im AA reflektiert dies genauso wie die offizielle deutsche Außenpolitik, die auch nach dem „Befreiungsschlag“ der Brandtschen Ostpolitik
und den Vereinbarungen von Helsinki offiziell nie aufhörte, die „deutsche Frage“
offen zu halten. Über die Förderung bestmöglicher Rahmenbedingungen arbeitete sie
darauf hin, im geeigneten Moment den Mantel der Geschichte zum Wohle unseres
Landes wie Europas ergreifen und dafür dann die Unterstützung unserer Partner nutzen zu können. An zwei ganz entscheidenden Voraussetzungen dafür, der deutschamerikanischen Allianz und der europäischen Integration, also am Errichten des
westlichen Fundaments unserer Außen- und Wiedervereinigungspolitik, wirkte ich
intensiv mit.
Die „Sternstunde der Diplomatie“ bei der Vollendung der deutschen Einheit durfte
ich dann vor allem europäisch eng begleiten und absichern helfen. So wie ich bei den
VN 1973 den Tiefpunkt der deutschen Teilung mit dem Beitritt beider deutscher Staaten zu dieser Weltorganisation hautnah zu verkraften hatte, so durfte ich das Wunder
der Maueröffnung im November 1989 in Bonn erleben und darauf als mitverantwortlicher Deutscher und Europäer reagieren. Meine „Suche nach Deutschland“ endete
dabei nicht auf der östlichen Seite des Brandenburger Tores, an der Oder/Neiße oder
im Zittauer Bergland, der Region meiner böhmisch-sächsischen Vorfahren, sondern
war zugleich auf unsere Nachbarn im Osten und letztlich auf die ganze Dimension
12
unseres Kontinents ausgerichtet: Vom Flüchtlingsjungen im Treckwagen des Jahres
1945 landete ich 1993 als Ständiger Vertreter des wiedervereinigten Deutschlands in
den Konferenzräumen der EU in Brüssel. Diese waren nichts anderes als in Streitfällen friedlicher Ersatz für die Schlachtfelder zweier Weltkriege. Welch eine Wende,
welch ein Fortschritt!
Mein Lebenslauf hat dieser geschichtlichen Periode entsprechende Aspekte des
Desasters wie des Erfolges aufzuweisen. Man kann sagen, dass aus der totalen Katastrophe sich für mich ähnlich wie für Deutschland und unseren leidgeprüften Kontinent erstaunlich viel Positives entwickelt hat. Bei allen individuellen Besonderheiten
enthält mein Werdegang somit Elemente, die für unser Land und Volk in dem Zeitabschnitt nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus typisch sind. Zugleich sind es vor allem
meine Erlebnisse, Begegnungen und Beurteilungen, die ich hier niederschreibe, ich
stehe dabei zwangsläufig als ein Zeitzeuge persönlich erlebter Geschichte im Mittelpunkt dieses Buches, das zugleich jedoch auch als das Sachbuch eines Praktikers der
Außen- und Europapolitik gewürdigt werden möge.
Geboren wurde ich am 9. Juni 1934, ein gutes Jahr nach der Machtergreifung
durch Adolf Hitler, in Stettin, unserer pommerschen Provinzhauptstadt. Die dortige zu
unserem Gut Neulibbehne bei Arnswalde und Pyritz im Regierungsbezirk Stargard/
Hinterpommern nächstgelegene gute Klinik sollte sicherstellen, dass bei der Geburt
des Stammhalters nichts schief gehen würde. Meine Mutter stammte aus einem großstädtischen und bürgerlichen Haus in Berlin, mein Vater war eine Rarität in unserer
Region, der Neumark: Obwohl aus national-konservativer Familie blieb er ein vom
ersten Weltkrieg und den nachfolgenden Kämpfen im Baltikum wie in Oberschlesien,
aber auch der sozialen Situation der ostdeutschen Landbevölkerung Gezeichneter
und trat 1932 als aus nationalen wie sozialen Gründen überzeugter „revolutionärer“
Nationalsozialist in die NSDAP ein. Fünf Jahre später brach der Zweite Weltkrieg
aus und nicht einmal zwei Wochen nach seinem Beginn fiel mein Vater und ich war
Kriegshalbwaise. Nach weiteren fünf Jahren wurde ich unmittelbares Opfer des Zusammenbruchs des „Tausendjährigen Reiches“. Dabei gingen zugleich Heimat, Wurzeln meiner Familie wie Träume meiner Kindheit unter. Um mich herum herrschte
damals Endzeitstimmung und totales Chaos.
Es ging zunächst um das nackte Überleben und dann um ein schrittweises Sichherauswinden aus der Misere. Während sich Konrad Adenauer für die Gewinnung
der Souveränität wie der äußeren Sicherheit und inneren Stabilität Westdeutschlands
mit Hilfe einer überaus erfolgreichen Bündnis- und Integrationspolitik nach Westen
einsetzte und Ludwig Erhard die marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für das
„deutsche Wirtschaftswunder“ schuf, gewann ich 1954/55 als Student in den USA an
der University of Chicago wieder Hoffnung auf eine bessere Zukunft unseres ganzen
Landes und Volkes als Teil eines festen Bündnisses westlicher Demokratien unter
amerikanischer Führung. Mit meinem Eintritt in den Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1964 wollte ich möglichst gut vorbereitet an diesem
Prozess mitwirken.
13
Die letzten sechseinhalb Jahre meiner Karriere war ich in Brüssel von 1993 bis
1999 als Ständiger Vertreter Deutschlands bei der EU in vorderster europäischer Linie für die konkrete Gestaltung des europäischen Einigungswerkes verantwortlich.
Das war neben meinem Mitwirken in Bonn an der deutschen Wiedervereinigung der
Höhepunkt meiner Diplomatenkarriere wie meines persönlichen Werdeganges. Den
Spitzenposten bei der EU hatte ich jahrelang ganz bewusst nicht nur wegen meiner
europäischen Überzeugungen angestrebt, denn ich hatte erkannt, dass er der wohl
einzige im deutschen Diplomatischen Dienst war, der es mir erlauben würde, nicht
nur bei wenigen raren Gelegenheiten sondern ziemlich durchgehend eigene politische
Gestaltungskraft zu entwickeln. Nur dort waren für mich die Freiräume gegeben, um
als „verhinderter Politiker“ zum Wohl meines Landes und Europas meinen Überzeugungen gemäß selbst politisch handeln zu können. Hier gibt es in besonders ausgeprägter Weise immer wieder Situationen, die nichts mit den häufigen „Ohnmachtspielen“ heutiger Diplomaten1 zu tun haben, es geht um vitale deutsche Interessen, die
auf Grund der inzwischen umfassenden Natur des europäischen Einigungsprozesses
von wachsender zugleich innenpolitischer Relevanz für die damals Bonner und heute
Berliner Republik sind.
In dem Prozess meiner persönlichen Entwicklung gingen meine familiäre Herkunft, die schweren Jahre meiner Jugend, mein Beruf und meine Lebenserfahrungen
eine Symbiose ein, die mir rückblickend unauflösbar erscheint. Deswegen vermag ich
meine „Erlebnisse und Begegnungen“ auch nicht erst mit meinem Eintritt in den Auswärtigen Dienst der Bundesrepublik Deutschland beginnen zu lassen, so sehr mein
Leben durch diese Berufswahl auch bestimmt wurde. Auf der Flucht von jenseits der
Oder-Neiße wie beim mühsamen Wiederanfang in Westdeutschland, während des
Studiums einschließlich von Aufenthalten in den USA, Belgien und Frankreich, in
der Ausbildung als Gerichtsreferendar u. a. am West-Berliner Kammergericht, überall
wurde ich mit der deutschen Wirklichkeit nach zwei verlorenen Weltkriegen konfrontiert und von ihr geformt.
Als Vertreter des freiheitlich-demokratischen Westens unserer geteilten und am
Boden liegenden Nation setzte sich diese Erfahrung vom Beginn meiner Laufbahn
an auf diplomatischen Posten in den USA, in Afrika, bei den VN und in der Bonner
Zentrale fort. In Los Angeles erfuhr ich 1964/65 das ganze Ausmaß der barbarischen
Verbrechen, welches das Naziregime im deutschen Namen über unser Land und Volk
gebracht hatte, in Afrika nahm ich anschließend teil am strategischen Wettbewerb
zwischen Ost und West auf diesem Kontinent um seine Rohstoffe und ideologische
Ausrichtung einschließlich der Anerkennung der DDR, in New York bei der UNO
erlebte ich 1973 mit dem Beitritt beider deutschen Staaten die drohende Verfestigung
der deutschen Teilung und bemühte mich darum, über eine weltweite Förderung der
1
14
So Arnulf Baring in der Zeitschrift „Internationale Politik“, November 2007, Bd. 11,
S. 130 ff.
Menschenrechte den Druck auf den totalitären Osten aufrechtzuerhalten. An der Botschaft in Washington half ich ab 1984 die deutsch-amerikanische Partnerschaft noch
enger zu gestalten, um anschließend im Bonner AA von 1988 bis 1993 an der wundersamen Wiederauferstehung eines sich unter freiheitlich-demokratischen Bedingungen
selbst und zugleich mit Europa vereinigenden souveränen Deutschlands und danach
in Brüssel bis 1999 an seiner irreversiblen Verankerung in der EU über deren Vertiefung und Erweiterung mitwirken zu dürfen.
Mein ganzes Leben wurde von den verheerenden Folgen des Hitler-Faschismus
wie der Konfrontation mit dem Kommunismus sowjetischer Prägung bestimmt. Meine Generation war sich bei allem Streben nach einer neuen wirtschaftlich fundierten
Existenz der Zerbrechlichkeit von Frieden und Freiheit stets bewusst. Dafür sorgte
nach 1945 vor allem die Sowjetunion. Durch die historische Wende von 1989/90
bestätigte sich dann im Nachhinein die Richtigkeit der langfristig orientierten westdeutschen Nachkriegspolitik und damit auch mein persönliches Engagement für die
deutsch-amerikanische Allianz und für die europäische Einigung. Soweit möglich
möchte ich in diesem Buch schließlich auch noch wenigstens andeuten, dass mein
Leben keineswegs nur von Schicksalsschlägen, aus ihnen folgenden Mühen sowie
mehr oder weniger geschichtsträchtiger Diplomatie und Politik bestimmt war. Ich
habe interessante, amüsante und schöne Seiten des Lebens auch genießen dürfen und
meine engere Familie, vor allem meine Frau, hat mir während meiner Berufsjahre viel
Verständnis für mein starkes berufliches Engagement entgegen gebracht sowie Halt
und Kraft gegeben.
15
II. Herkunft und Familie
1. Die Vorfahren aus der Oberlausitz/Böhmen
Stets war ich in meinem Leben darauf bedacht, meine Herkunft nicht vor mir her zu
tragen. Dazu hatten sich die Zeiten zu sehr geändert. Natürlich sah ich keinen Grund,
meine Abstammung zu verleugnen. Schließlich war ich irgendwie stolz auf sie. Zugleich empfand ich sie aber als Verpflichtung zur Leistung. Nicht erst nachdem mein
langjähriger übermächtiger Chef Hans-Dietrich Genscher betont ironisch mich mehrfach mit „Euer Gnaden“ tituliert hatte, erfuhr ich, dass ich in unserer neuen Zeit etwas
in mir trug, was auch belastend sein konnte.
Mein Vater, Jobst-Willrich von Kyaw, entstammte einem uradligen Oberlausitzer
Geschlecht mit Wurzeln, die in das Königreich Böhmen und genauer nach Mähren
in die Gegend von Brünn (Bruno) reichen. Die von Kyaws, am Ende mal mit „u“,
mal mit „v“ und mal mit „w“ geschrieben, sind in der Oberlausitz urkundlich belegt
erstmals 1348 durch einen Niklaus von Kyaw im Raum Zittau/Görlitz, damals noch
Teil des Königreichs Böhmen. Auf eine Urkunde datiert vom 12. April 1360, in der
ein „Fridericus de Kyav“ Erwähnung findet, wurde ich nach der Wiedervereinigung
im Archiv des Zisterzienser-Klosters St. Marienthal, bei Ostritz südlich von Görlitz
an der (westlichen) Neiße gelegen, aufmerksam gemacht (Kl.Arch.No.55). Es gab
adelige von Kyaws von Besitz und Ansehen bereits im 12. Jahrhundert im Erzherzogtum Österreich, durch Urkunden in dortigen Zisterzienserklöstern belegt, allerdings
konnten überzeugende Verbindungen zwischen ihnen und den Mährisch-Böhmischen
und Oberlausitzer von Kyaws nie gefunden werden2.
In der Oberlausitz waren die von Kyaw über Jahrhunderte hinweg eine einflussreiche und verbreitete Familie. Es gab in Böhmen wie im Königreich Sachsen insgesamt vier adlige Linien derer von Kyaw, darunter eine freiherrliche, jeweils mit
erheblichem und wie damals üblich zugleich wechselndem Landbesitz. Gießmannsdorf, das seit 1387 von Heinrich von Kyaw begründete Stammgut der Kyawschen
Hauptlinie, auf das sich in ihrem Ursprung auch die Seitenlinien wie etwa die meinige
nach dem benachbarten Friedersdorf benannte Linie zurückführen lassen, lag nördlich von Zittau am östlichen Ufer der Görlitzer Neiße. Auf Grund der Beschlüsse der
Konferenz von Potsdam fiel es 1945 an Polen und verschwand 1971 zusammen mit
Friedersdorf in einer riesigen Braunkohlengrube. Meinen direkten Vorfahren gehörten
2
16
Vgl. Heinrich von Kyaw, Familienchronik des Adeligen und Freiherrlichen Geschlechts
von Kyaw, Leipzig 1870, B.G. Teubner-Verlag S. 16ff.
neben Gießmannsdorf und Friedersdorf mit Unterbrechungen seit den sechziger Jahren des 14. Jahrhunderts auch die westlich der Neiße gleichfalls im Raum Zittau gelegenen Güter Hainewalde, Spitzkunnersdorf und Niederoderwitz, die jeweils heute
noch sehenswerte und früher von der Familie gebaute und erhaltene „Kyaw-Kirchen“
mit ihren durch unser Wappen gekennzeichneten Logen aufweisen. In Hainewalde
liegt auch die Kanitz-Kyawsche Familiengruft, ein in den Kunstführern Sachsens aufgeführtes Kleinod sächsisch-böhmischen Barocks aus dem Ende des 18. Jahrhunderts.
In der Gruft befinden sich noch die Sarkophage von Otto Ludwig Freiherr von Kanitz
und seiner Gemahlin Viktoria Tugendreich von Kyaw, die beide dort 1715 die Gruft
für sich hatten bauen lassen. Das höchst eindrucksvolle „neue“ Schloss entstand um
1750. Ihm droht der Verfall, obwohl sich ein Schlossverein und inzwischen auch die
Deutsche Stiftung für Denkmalsschutz verdienstvoll um seinen Erhalt bemühen.
Die Kanitz-Kyaw’sche
Familiengruft in Hainewalde, Zittau
Unter meinen Vorfahren im direkten wie weiteren Sinne verdienen einige besonderer
Erwähnung. Ernst Julius von Kyau etwa diente Friedrich Wilhelm I. von Preußen
(1713–40) als Rittmeister und wurde als einer der dreißig berühmten Leutnants des
Soldatenkönigs verewigt. Sein Gemälde hängt heute im Schloss Königswusterhausen
bei Berlin. Der bekannteste Träger meines Namens entstammte der inzwischen ausgestorbenen Zweiglinie Strahwalde (in der Nähe von Herrenhut gelegen). Es handelte
sich um den kursächsischen Generalleutnant Freiherr Friedrich Wilhelm I. von Kyau.
Als enger Weggenosse und Vertrauter August des Starken sowie als Kommandant
17
der Festung Königstein ist er in die Geschichte Sachsens eingegangen. Die Festung
Königstein weist in ihrer langen Geschichte einundfünfzig Festungskommandanten
auf. Den einzigen von ihnen, den man heute noch beim Besuch der Festung erstehen
kann, wenn auch nur als Rauchermännchen und für stolze 22.– EURO, ist der Kyaw.
Er findet sich im Übrigen auch in dem berühmten Fürstenzug in Dresden verewigt.
Als einfacher Soldat „verkleidet“ folgt er ganz bescheiden und zu Fuß seinem Herrn
August dem Starken als dessen treuer Diener. Kokett wie er nun einmal war, trägt er
als einziger der Musketiere des ganzen Zuges auf seinem linken Arm deutlich sichtbar
unser Familienwappen. Wer will mag nachschauen und sich überzeugen.
Kyaws abenteuerliches Leben wurde damals über Sachsens Grenzen hinaus bekannt und regte die Phantasie der Zeitgenossen an. Vom Verlag Gregander in Köln
wurde 1736 das damals viel gelesene Buch „Merkwürdiges Leben und Thaten des
weltberühmten Königlich-Sächsischen General-Lieutnants bei der Infanterie und
Commandanten der Vestung Königstein, Friedrich-Wilhelm Freiherr von Kyaw
auf Verlangen einer curieusen Welt aus verlässlichen Nachrichten und Uhrkunden
sorgfältig gesammelt und mit Kupfer gezieret“ verlegt. 1735 wurde in Frankfurt
und Leipzig ein Buch über die „Neuentdeckten Elisäischen Felder und was sich in
denselben Sonderbares zugetragen“ veröffentlicht, das aus über dreihundert Seiten
eines „Discurses“ zwischen Kyaw und einem Freiherr von Grundling, Geheimer Rat
am preußischen Hof, bestand. 1733 erging sich ein (unbekannter) Autor sogar über
die „Gespräche in dem Reich der Toten zwischen Kyau und dem bekannten Herzog
von Roquelaure“. Ein August Wilhelmi veröffentlichte 1797 in Leipzig bei Salomon
Lincke „Kyau’s Leben und lustigen Einfälle, neu erzählt“ usw. Leben und Ruf des
Friedrich Wilhelm I. von Kyaw fand damals viel Widerhall in Deutschland und stimulierte das Lesebedürfnis wie die Neugier einer breiten „curieusen“ Schicht. Eine
interessante Schrift zum Leben des Kommandanten veröffentlichte noch 2003 der
Festungsverein Königstein3.
Dieser von Kyaw war nicht nur ein in brandenburgischen Kriegsdiensten unter
Friedrich Wilhelm von Brandenburg, dem „Großen Kurfürsten“, etwa in der siegreichen Schlacht vom 28. Juni 1675 bei Fehrbellin, bewährter Offizier sondern verfügte auch noch über ein ungewöhnliches Ausmaß an Witz und Geist. Er war bei der
Krönung August des Starken als König von Polen in Krakau dabei und kämpfte für
seinen König gegen Schweden und aufmüpfige Polen. Der König schätzte ihn bald
überaus und trennte sich nur ungern von ihm. Zunehmend schlüpfte Kyaw als Ratgeber dabei auch in die Rolle eines Korrektivs, der als Kind des Barocks dem König sinnenfroh mit einem damals üblichen oft recht deftigen Humor Wahrheiten vermittelte.
Auf dem Königstein baute Kyaw dann auf Wunsch seines Königs als Sensation in der
damaligen Zeit ein riesiges Weinfass mit einem Fassungsvermögen von 250.000 Liter,
3
18
Fritz Ziegenbein. Friedrich Wilhelm von Kyau, Herkunft u. Leben des Festungskommandanten auf Königstein und Anekdoten, Sonderausgabe.
ferner das Brunnenhaus und das barocke Lustschlösschen Friedrichsburg. Er erhöhte
auf diese Weise geschickt die Neigung seines Königs, ihn dort häufig zu besuchen.
Während Kyaws Kommandantur war Johann Friedrich Böttger sein wohl berühmtester Gefangener. Auf der Albrechtsburg auf Geheiß seines Königs festgehalten, wurde dieser begnadete Alchimist und Forscher 1706 wegen des Einfalls der Schweden
nach Königstein verlegt. Er, an dessen Genie August der Starke glaubte, sollte dem
Schwedenkönig Karl dem XII. nicht in die Hände fallen. Zwei Jahre später, nämlich
am 15. Januar 1708, gelang Böttger zwar nicht die Herstellung echten Goldes, wohl
aber des Porzellans oder „weißen Goldes“. Es machte das Königshaus reich und Sachsen berühmt.
Kyaws Bonmots sind noch heute vor allem in bestimmten Dresdner Kreisen und
natürlich bei Festen auf Königstein ein Thema. Schauspieler verdienen sich ein Zubrot, indem sie als „Kyaw“ auftreten. „August der Starke“ und die „Gräfin Cosel“
sind auch dabei. Nur einige der vielen Anekdoten aus Kyaws Zeit bei Hofe seien
hier wieder gegeben: Eines Tages sollte Kyaw sich auf Weisung seines Königs als
Mundschenk bewähren. Er arrangierte rasch die Trinkgefäße der Hofleute um das des
Königs in der Mitte. Sodann füllte er die Gefäße in der Art, dass zuerst die kleinen
Werbung für den Vorfahren als Räucher- Kyaw als „bescheidener Diener seines Herren“
männchen. Festung Königsstein 1999.
hinter August dem Starken im Dresdner Fürstenzug.
19
Gefäße und erst zum Schluss des Königs Pokal an die Reihe kamen. Da der Wein für
die kleineren Gläser rasch aufgebraucht worden war, blieb für den Becher des Königs
nicht mehr viel übrig. Auf die Frage August des Starken, was es mit diesem „Schauspiel“ auf sich habe, antwortete Kyaw: „So geschieht es mit Euer Majestät Landeseinkommen!“ Der König war begeistert, die Höflinge weniger. August der Starke liebte
es, seinen Kyaw herauszufordern. So stellte Kyaw eines Tages beim feierlichen Diner
mit dem König fest, dass er keinen Suppenlöffel bekommen hatte. Als der König auch
noch laut verkündete: „Wer seine Suppe nicht isst, der ist ein Hundsfott!“ da merkte
Kyaw was gespielt wurde, zumal die Diener sich dumm gestellt hatten, als er sie um
einen Suppenlöffel gebeten hatte. Der König wollte Kyaw zwingen, die Suppe zur allgemeinen Gaudi aus dem Teller zu trinken. Kyaw aber formte daraufhin aus dem der
Suppe beigegebenen Brot einen Löffel, leerte mit dessen Hilfe den Suppenteller, stand
dann auf und erklärte: „Wer seinen Löffel nicht isst, der ist ein Hundsfott!“
Der „New York Mirror“ veröffentlichte 1951 ein Bildnis des Friedrich-Wilhelm von
Kyaw und feierte ihn als „kurzzeitigsten Regenten der Geschichte“ (shortest reign in
history). Er hätte 1715 gerade lang genug über ganz Sachsen geherrscht, um sich selbst
zum Kommandanten der Festung Königstein zu ernennen. Der Hintergrund dieser Geschichte ist belegt. Zum Zeitpunkt seines bevorstehenden Abschieds vom Hofe, um gemäß der Entscheidung des Königs den als Ruheposten von Generälen sehr begehrten
Posten des Kommandanten der idyllisch an der Elbe im Elbsandsteingebirge der Sächsischen Schweiz gelegenen Festung Königstein anzutreten, zeigte Kyaw seinem König
ein demonstrativ bekümmertes Gesicht, was Seine Majestät veranlasste, ihn nach dem
Grund zu befragen. Kyaw erwiderte, er würde so gern auch einmal König von Sachsen sein. August der Starke war von dieser Idee begeistert und so wurde der Hofstaat
einberufen, Kyaw auf den Thron gesetzt während August der Starke den Kyaw spielte.
Friedrich Wilhelm von Kyaw nutzte seine Chance und hielt eine flammende Laudatio
auf seinen hoch verdienten „Kyaw“, also auf sich selbst. Seine Ausführungen gipfelten
in der Feststellung, dass ein derart treuer und ergebener Diener seines Herrn nichts
Besseres verdient hätte als den Posten des Kommandanten der Festung Königstein.
August der Starke und sein Hof fanden das alles irrsinnig amüsant. Das „galante“
Sachsen hatte seinen Spaß und die „curieuse“ Nachwelt eine Anekdote mehr.
Der 1733 auf der Festung verstorbene und in der Kirche von Königstein direkt vor
deren Altar begrabene Friedrich Wilhelm I. von Kyaw förderte einen jungen Neffen,
der später als Freiherr Friedrich Wilhelm III. von Kyaw zum preußischen Generalleutnant, Träger des Ordens Pour le Mérite und Ritter des Schwarzen Adlerordens, den
höchsten damaligen preußischen Auszeichnungen, avancierte. In den schlesischen
Kriegen schlug er sich als einer der befähigsten Kavallerieführer der preußischen Armee ruhmreich, so während des ersten Schlesischen Krieges 1745 in der berühmten
Schlacht von Hohenfriedberg. Es gab ein Kürassierregiment, das seinen Namen trug.
Im Siebenjährigen Krieg verließ Kyau, der als einer der fähigsten Kavallerieführer der
preußischen Armee galt, nach dem Sieg bei Prag jedoch die „Fortüne“, die Friedrich
der Große bei seinen Generälen voraussetzte.
20
Kyaw war in der Schlacht bei Breslau verletzt und dem Armeekorps des Herzogs
von Brevern zugeteilt worden. Als dieser 1757 im Schneetreiben von „Panduren und
Kroaten“ im Dienste Habsburgs bei einem Erkundungsritt gefangen genommen wurde (und es, so der Verdacht Friedrich des Großen, dabei sogar riskiert hatte, gefangen
genommen zu werden, nachdem der König seine militärische Passivität kritisiert hatte) übernahmen Kyaw und ein General von Lestwitz den Oberbefehl. Statt entsprechend der nicht mehr rechtzeitig eingetroffenen Order seines Königs die letzte noch
in preußischer Hand befindliche und von habsburgischen Truppen belagerte schlesische Festung Breslau zu decken, zog Kyaw in Umsetzung von Plänen des Herzogs
von Brevern mit seinen schlecht versorgten Soldaten, unter ihnen viele vom König
zwangsverpflichtete und nunmehr zunehmend desertierende Sachsen, in Richtung
Glatz und damit in die „falsche“ Richtung ab. Er wollte seinem König vor allem das
Armeekorps soweit möglich erhalten. Ihm wurde angelastet, dass als Folge dieser
Entscheidung das inzwischen vom General v. Lestwitz kommandierte Breslau kapitulierte. Der König war empört und beschloss „ein Exempel zu statuieren“. Kyaw wie
Lestwitz kamen vor ein Kriegsgericht, während die Reste der Armee von Brevern von
dem berühmten Husarengeneral von Zieten wieder in die Pflicht genommen wurden.
General v. Lestwitz wurde zu zwei Jahren und Kyaw zu sechs Monaten Festungshaft
verurteilt. Nach Verbüßung der Haft in der Festung Schweidnitz wurde er von seinem
König zwar erneut in Gnaden aufgenommen, als Folge der Strapazen des Krieges wie
der Haft erlitt er jedoch bald einen Schlaganfall. Als letzte Freude und Ehrung für den
General besuchte ihn noch sein König persönlich, ehe Kyaw 1759 verstarb4.
Nicht nur die drei Schlesischen Kriege des Preußenkönigs richteten enorme Zerstörungen in der Oberlausitz an. Ein gutes Jahrhundert zuvor war es der Dreißigjährige Krieg, der die Region gleichfalls schwer traf. So wurde die frühere Kirche in Friedersdorf durch schwedische Soldaten ein Raub der Flammen. Die von Kyaws wurden
damals Opfer der Auseinandersetzungen um die Gegenreformation, die Habsburgs
Ferdinand II. betrieb und die den Deutschland ruinierenden Dreißigjährigen Krieg
mit auslöste. Die Stände Böhmens und Mährens und der Oberlausitz wehrten sich
unter ihrem König Friedrich V. verzweifelt gegen die militärische Übermacht Habsburgs. In der berühmten Schlacht am Weißen Berg bei Prag des Jahres 1620 verlor
unter den 700 gefallenen böhmischen Rittern auch Friedrich Wenzel von Kyaw sein
Leben. Danach wurde sein Besitz konfisziert und Böhmen den Habsburger Erblanden
einverleibt.
4
Die Qualitäten als Kommandeur wie auch die mangelnde „Fortune“ Friedrich Wilhelm
von Kyaus finden in den Lebenserinnerungen Friedrich des Großen in „Geschichte meiner Zeit“, München, Bd. I, S. 333,361 u. Bd. II, S.158 sowie etwa durch Robert B. Asprey, „Frederik the Great, The Magnificent Enigma, Verlag Ticknor & Fields, New York
1986,S. 432f.,474, ihre Würdigung.
21
Als Christen kämpften auch von Kyaws gegen die Türken. Johann Adolph von
Kyaw schloss sich 1683 einem kursächsischen Infanterieregiment an und half bei
der Verteidigung Wiens. Der bereits erwähnte spätere kursächsische Festungskommandant von Königstein Friedrich Wilhelm I. von Kyaw nahm im Jahre 1686 als
Offizier noch in brandenburgischen Diensten an der Belagerung und Eroberung von
Ofen (heute Budapest) teil. Die Türken schlugen sich tapfer, aber letztlich konnten
die Ungarn von den Ottomanen befreit werden. Diese „Befreiung“ im Namen der
Christenheit sah damals allerdings so aus, dass Habsburg nunmehr in Ungarn auch die
Gegenreformation durchsetzte. Mit der Glaubensfreiheit, die bis dahin unter den „unchristlichen“ Ottomanen geherrscht hatte, war es damit vorbei. Der protestantische
Vorfahre meiner Mutter, Johann Magnus Matthias, verließ deswegen in jungen Jahren Ungarn. Er floh in das schwedische Vorpommern und wurde dort evangelischer
Schloß Hainewalde.
22
Pfarrer, seine Nachfahren dann Ärzte und schließlich preußische Offiziere. Ohne die
seinerzeitige mit Hilfe eines von Kyaw mit verursachte Emigration der Vorfahren meiner Mutter aus Ungarn hätte mein in Hinterpommern die Landwirtschaft betreibender
Vater 250 Jahre später meine Mutter nie kennen und lieben gelernt. So viel zur Ironie
der Geschichte Europas.
Es war damals üblich, dass die Erstgeborenen die Güter erbten und die Nachgeborenen das Kriegshandwerk lernten oder studierten. Mein Ur-Ur-Ur-Großvater Ernst
Rudolph von Kyaw jedoch hatte erst in Wittenberge studiert und danach die Güter
einschließlich Hainewalde übernommen. Bald wurde er Deputierter und dann ab 1778
für 37 lange Jahre Amtshauptmann des Fürstentums Görlitz. Er war damit zugleich
oberster Gerichtsherr des Fürstentums. Christoph Nathe hat ihn und seine Familie
in einer Rötelzeichnung verewigt, die sich im Familienbesitz befindet. Sein Sohn
Rudolph Wilhelm Ludwig von Kyaw, mein Ur-Ur-Großvater, dagegen widmete sich
als Drittgeborener dem Kriegshandwerk und zog schließlich als Obrist der kursächsischen Armee 1812 mit der Grossen Armee Napoleons nach Russland. Zuvor hatte er
mit Charlotte Kind, der Tochter eines der höchsten Richter Sachsens, die erste bürgerliche Frau in unserer Familiengeschichte geehelicht. Außerdem ließ er sich und seine
attraktive Frau, die Napoleon bei einem Ball am Hof in Dresden angeblich mit „Ma
belle Saxonne“ ( Meine schöne Sächsin) tituliert haben soll als er mit ihr tanzte, von
Anton Graff porträtieren. Auch diese wertvollen Gemälde sind nach abenteuerlicher
Rettung aus dem Zusammenbruch von 1945 und entsprechend aufwendiger Restaurierung heute wieder in Familienbesitz. In Russland geriet der Oberst von Kyaw vor
Moskau ganze drei Tage vor dem großen Brand in ein Gefecht mit Kosaken und wurde so schwer verletzt, dass sein Rücktransport geboten war. Dieser rettete ihm wohl
das Leben, denn er vermochte am letzten Abend vor ihrer Zerstörung gerade noch die
berüchtigte Brücke über die Beresina zu überqueren und schließlich wieder Sachsen
zu erreichen. Den Soldatendienst musste er danach quittieren.
Sein Sohn, mein Urgroßvater Heinrich Rudolf, studierte Jura in Leipzig. Er lebte
als Rechtsanwalt in Kleinschachwitz bei Dresden. Sein Haus lag in einem großen
Parkgelände und verfügte nicht nur über einen Stall für die Reitpferde sondern auch
bereits über einen Tennisplatz. Ein Photo aus dem Jahr 1889 zeigt neben meinen
Urgroßeltern auch meinen Großvater als stolzen jungen „Gent“ mit einem „ultramodernen“ Fahrrad jener Zeit. Mein Urgroßvater verfasste die Familiengeschichte
der von Kyaw und setzte sich für die Entwicklung des heutigen Stadtteils ein. Nach
ihm ist deswegen auch die „Kyawstraße“ benannt, die aus der Mitte des Vorortes und
entlang der ehemaligen Kyawschen Villa bis zur Fähre nach dem auf der östlichen
Elbeseite gegenüber liegenden Schloss Pillnitz führt.
23
Familie des Urgroßvaters 1884 in Kleinzschachwitz (Dresden)
Rechts vor dem Pfosten: (Rechtsanwalt) Heinrich Rudolf von Kyaw und Elisabeth, geb. von
Miltitz; links: Großvater Otto Dietrich Rudolf von Kyaw stolz sein Rad zeigend.
2. Die von Kyaws in Hinterpommern
Im Laufe der Zeit wurden die Kyawschen Schlösser in der Oberlausitz und vor allem
das riesige Hainewalde („Sachsens Sanssouci“) immer älter, die anfallenden Reparaturen immer größer und die Landwirtschaft immer unergiebiger. Mein Großvater Otto
Rudolf, ein Landwirt und dank der Heirat von Marie Heydemann aus dem Hause Tantow mit einer ausreichenden Mitgift versehen, beschloss wohl auch deswegen Sachsen zu verlassen und in das preußische Hinterpommern östlich der Oder zu ziehen.
Das hoch verschuldete Hainewalde wurde schließlich 1927 von der Familie an die
Gemeinde Großschönau verkauft.
Mein Großvater erwarb im alten preußischen Ostpommern gegen Ende des
19. Jahrhunderts zunächst das Gut Gienow im Kreis Regenwalde (Resko) und später
dann das rund 1200 Hektar große Gut Neulibbehne (Lubianka), gelegen bei Pyritz
(Pyrzyce) und Arnswalde (Choszczno) im Regierungsbezirk Stargard (Szczecinski).
24
Neulibbehne befindet sich in der fruchtbaren Zone des „Pyritzer Weizacker“. Dessen
Bodenqualität ist den besten Böden Deutschlands in der Magdeburger Börde ebenbürtig. In Neulibbehne verbrachte ich mit meinen jüngeren Geschwistern Joachim und
Roswitha bis 1945 einige unbeschwerte und wohl behütete Jahre der Kindheit.
Der Verfasser in den Armen seines 1945 ermordeten Großvaters.
Mein Großvater war nicht nur ein vorzüglicher Landwirt, sondern sah auch noch blendend aus. Er wurde in der Neumark „der letzte Ritter“ genannt. Einmal im Jahr fuhr er
zur „Grünen Woche“, der heute noch florierenden Landwirtschaftsmesse, nach Berlin
und zweimal zur Erholung in das Prominentensanatorium „Weißer Hirsch“, an den
Loschwitzer Elbhängen bei Dresden gelegen. 1917, mitten im Krieg, verstarb meine Großmutter frühzeitig. Das brachte den Gutshaushalt ziemlich durcheinander und
25
wirkte sich wenig förderlich auf die Erziehung der Kinder aus. Nach dem ersten Weltkrieg heiratete mein Großvater dann ein zweites Mal und zwar eine Offizierswitwe.
Sie war uns Enkelkindern eine gute Ersatzgroßmutter, aber ehrgeizig und wollte den
Gutshaushalt möglichst lange selbst führen. Das bewirkte, dass mein Vater entsprechend warten musste, bis er das Gut schließlich 1932 nach Heirat meiner Mutter übernehmen durfte und auch dann behielt sich die Stief-Großmutter im Haushalt weiter zu
Lasten meiner Mutter die entscheidende „Schlüsselgewalt“ vor.
Mein Vater hatte sich im Ersten Weltkrieg als Siebzehnjähriger und ausgestattet
mit einem „Kriegsabitur“ freiwillig zum Heer gemeldet. Er tat es entsprechend der Familientradition und dem Wunsch meines Großvaters bei einem sächsischen Regiment
in Dresden. Schließlich kam er mit der im Februar 1918 neu aufgestellten „OstseeDivision“ zu seinem ersten militärischen Einsatz in Finnland. Dieses für das Deutsche
Reich strategisch wichtige Land hatte sich Anfang 1918 für von Russland unabhängig
erklärt und drohte als Folge der russischen Oktoberrevolution in rote Hände zu fallen.
Die finnische Regierung brauchte damals jede Unterstützung gegen die finnischen und
von Moskau geförderten „Roten Garden“ und so zog mein Vater unter General von der
Goltz neben Mannerheims Truppen schließlich siegreich in das befreite Helsinki ein.
Nach dem Waffenstillstand von 1918 ging mein Vater mit von der Goltz in das
Baltikum. Etwa zwei Jahre kämpfte er dort als Leutnant erneut gegen die Roten mit
den von der Reichsregierung offiziell wegen der Bedingungen von Versailles nicht anerkannten deutschen „Freikorps“, ehe diese auf alliierten Druck hin abziehen und sich
auflösen mussten. Nach Deutschland mit dem „Baltenkreuz“ geehrt zurückgekehrt,
gab es rasch weiteren Grund für das Vaterland zu kämpfen und zwar diesmal in Oberschlesien. Die vom Völkerbund angeordnete Volksbefragung hatte eine Mehrheit für
Deutschland erbracht. Erst danach entschied der Völkerbund zur allgemeinen Empörung der nicht beteiligten deutschen Seite, Oberschlesien zu teilen und sein reicheres
Gebiet mit den großen Kohlebergwerken an Polen abzutreten. Als obendrein noch
polnische „Insurgenten“ unter Duldung der polnischen Regierung diese Entscheidung
weiter „nachzubessern“ versuchten, traten ihnen rasch gebildete deutsche „Freikorps“
entgegen. In diesen Kämpfen erstürmte mein Vater als Kompaniechef 1921 erfolgreich
den berühmten und hart umkämpften Annaberg und half die polnischen Insurgenten
auf eine Linie zurückzuwerfen, die dem Mehrheitswillen der betroffenen deutsch- wie
polnischstämmigen Menschen eher entsprach.
Danach verdingte sich mein Vater als Verwalter fremder landwirtschaftlicher Betriebe, um auf diese Weise praktische Erfahrungen in der Landwirtschaft zu erwerben.
Von einem Studium hielt mein Großvater nichts. Auch die beiden Brüder meines Vaters, Dietrich und Kurt, machten lediglich kaufmännische Lehren durch und wanderten
schließlich in die USA bzw. nach Argentinien aus. Mein Vater war aus seiner militärischen Erfahrung heraus ein zutiefst national eingestellter Mann. Als Gutsverwalter
lernte er laut meiner Mutter auch die schlechte soziale Situation der auf dem Lande
lebenden und arbeitenden Menschen kennen und entwickelte eine entsprechende Einstellung. Sie bewirkte, dass er 1932 „als Idealist“ Mitglied der NSDAP wurde. Er
26
Der 1939 gefallene Vater Jobst-Willrich von Kyaw.
folgte dabei den nationalrevolutionären sowie sozialpolitischen Vorstellungen der Gebrüder Gregor und Otto Strasser, nicht denjenigen Hitlers. Rasch avancierte er in der
SA zum Obersturmbannführer. In diesem Rang befehligte er die SA der Neumark. Er
vermochte mit einfachen Leuten umzugehen und sich in deren Situation hineinzuversetzen. Außerdem war er inzwischen Reserveoffizier bei der Reichswehr und später
dann der Wehrmacht.
1934 erlebte mein Vater laut Aussage meiner Mutter mit dem Röhm-Putsch vom
30. Juni gegen die Führungsmannschaft der SA und den Morden in seinem Wind27
schatten, denen auch Gregor Strasser zum Opfer fiel, einen großen Schock und gestand ihr, „dass er sich wohl geirrt habe“. Worauf sich dieser Irrtum genau bezog, ist
mir nie ganz klar geworden. Jedenfalls machte mein Vater auch bei der SA weiter mit,
wenn auch von jetzt ab mit verringertem Engagement. Bereits am 12. September 1939
fiel er in Polen beim Sturm auf einen Höhenzug südlich von Gedingen. Der Angriff
erfolgte im Morgengrauen ohne Artillerie- oder Luftunterstützung über freies Gelände
gegen gut verschanzte Polen, um dem Führerbefehl zu entsprechen, wonach bis zum
12. September über Polen zu siegen sei. Mein Vater hielt den Angriff militärisch für
Wahnsinn und verabschiedete sich am Abend zuvor von meiner Mutter und uns Kindern mit einem Brief. Bei dem „siegreichen“ Sturm kamen sämtliche – damals noch
deutlich erkennbar mit gezogenem Säbel voranstürmende – Offiziere des Regiments
um. Über die Hälfte der Soldaten fielen oder wurden verwundet. Ich war fünf Jahre
alt und hatte einen toten „Helden“ als Vater, während die Landarbeiter unseres Gutes
mich aufforderten: „Werde einmal so wie Dein Vater.“
Damals wurden die Leichname der gefallenen Offiziere noch heimgeführt. Auf
dem Friedhof, in der Nachbargemeinde Altlibbehne gelegen, fand in Anwesenheit von
Wehrmachts- und Parteivertretern ein regelrechtes „Heldenbegräbnis“ statt. Irgendwie erfuhren das die Polen, als sie 1945 mit Hilfe der Roten Armee Hinterpommern
übernahmen. Nachdem alles andere leer geplündert war öffneten sie das Grab meines
Vaters in der Erwartung eines „Nazischatzes“. Sie fanden nur seinen Ehering und
seinen Paradesäbel. Daraufhin zerstreuten sie seine Gebeine. Heute sind der Friedhof
und die schöne kleine Fachwerkkirche verschwunden.
Meine Mutter, Helga Matthias aus Potsdam-Babelsberg, hatte nach nur siebenjähriger Ehe mit drei kleinen Kindern ohne Ehemann die Situation zu meistern. Zum Glück
entstammte sie einer preußischen Offiziersfamilie mit entsprechendem Pflichtgefühl.
Dabei war sie zugleich eine lebensfrohe Berlinerin. Nach der für Frauen des Bürgertums damals üblichen mittleren Reife war sie als Bibliothekarin und Konzertgeigerin
ausgebildet worden. Sie war hochmusikalisch, ausgesprochen belesen und eine elegante
Eiskunstläuferin, kurzum eine attraktive Frau von Weltstadtniveau und stets rascher
Mittelpunkt bei gesellschaftlichen Ereignissen. Sie brachte nach Neulibbehne alles das
mit, was die Kyaws dort nicht zu bieten hatten. Als Junge unter meiner Kurzsichtigkeit
leidend, warf ich ihr einmal nur halb ernsthaft vor: „Warum hat mein Vater nur bürgerlich geheiratet. Die Kyaws waren zuvor noch nie kurzsichtig!“ Die Antwort meiner
Mutter war entsprechend krass, traf den Nagel aber dennoch irgendwie auf den Kopf:
„Mein Junge, Du hast Recht. Wegen meines Vaters bist Du Brillenträger. Du solltest
aber auch wissen, dass, als ich zu Euch nach Neulibbehne kam, es sich rasch herausstellte, dass ich die einzige war, die dort das Rechnen und Schreiben beherrschte!“
Anfangs hatte es meine Mutter nicht leicht. Nicht nur, dass die Schwiegermutter
nicht die Kontrolle über das Haus, die so genannte „Schlüsselgewalt“ aufgab, die
neue Schwiegertochter hatte zunächst auch noch zwei Fehlgeburten. Das veranlasste
meinen Großvater zu erklären, er hätte seinem Sohn immer abgeraten, eine Frau aus
der Großstadt zu heiraten. Erst mit der Geburt von mir und dann auch meines Bruders
28
Herunterladen