(PDF / 4 MB) - Forschungszentrum Jülich GmbH

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Das Magazin aus dem Forschungszentrum
:: WARUM DAS DENKEN STIRBT
Jülicher Forscher verfolgen neue Spuren im Fall Alzheimer
:: Schwarzer Kohlenstoff: Der unterschätzte Klimafaktor
:: Fußgängersimulation: Probanden drängeln für die Wissenschaft
03|2013
:: IM BILDE
Eine Erdkugel, der gerade die Luft ausgeht? Mitnichten. Die blau eingefärbte Kugel
misst etwa einen zwanzigstel Millimeter und besteht aus reinem Wolfram. Entstanden ist sie in der Elektronenstrahltestanlage JUDITH. Jülicher Forscher setzen darin Werkstoffe hoher thermischer Belastung aus. Dabei kann sogar Wolfram – das
Metall mit dem höchsten Schmelzpunkt aller Elemente – in Bruchteilen einer Millisekunde schmelzen und dann in bizarren Formen wieder erstarren. Die unter dem
Rasterelektronenmikroskop erkennbaren „Kontinente“ zeigen, dass dabei offenbar
kein einheitliches Kristallgerüst entsteht. Wolfram ist derzeit erste Wahl für einen
Extremeinsatz: Es soll an besonders heiklen Stellen die Wand des künftigen Fusionsreaktors ITER auskleiden – und wird damit ein bis zu 100 Millionen Grad Celsius
heißes Plasma ummanteln.
6
16
22
INHALT
:: NACHRICHTEN
4
:: TITELTHEMA
6
6 Neue Verdächtige im Fall Alzheimer
Heiße Spur bei der Fahndung nach den Ursachen
11 Was bringt eine Diagnose ohne Therapie?
Interview mit Prof. Dieter Sturma
:: FORSCHUNG IM ZENTRUM
12
12 Fernlaster: Motor aus – Brennstoffzelle ein
Die saubere Energiequelle in der Fahrerkabine
14 Der unterschätzte Klimafaktor
Rußpartikel gefährden Klima und Gesundheit
15 Auf dem Weg der Besserung
Die arktische Ozonschicht erholt sich
16 MenschenmENGE
Probanden drängeln für die Wissenschaft
18 Reifen, Reibung und schlaue Rechnungen
Computer berechnen die perfekte Mischung
20 Die Stimme als Türöffner
Wo das Gehirn unser Gegenüber beurteilt
:: SCHLUSSPUNKT
22
22 Forschen im Forst
Wissenschaftler begleiten Renaturierung in der Eifel
23 Impressum
3 | 2013 Forschen in Jülich
3
:: EDITORIAL
„Die demografische Chance“
ist Thema des Wissenschaftsjahrs 2013. Ein Aspekt davon:
Wir werden älter. Jedes Jahr
steigt die Lebenserwartung
eines Menschen in Deutschland um etwa drei Monate.
Dieses Geschenk bringt neue Herausforderungen für die Forschung. Eine, der wir uns in
Jülich stellen, ist die Grundlagenforschung zu
Alzheimer. Wissenschaftler berichten in diesem
Heft über neue Erkenntnisse zur Ursache der
Krankheit, aber auch über mögliche Frühdiagnosen und Therapien, die sich daraus ergeben
könnten. Lesen Sie außerdem den neuesten
Stand zum Thema Ozonloch, warum Brennstoffzellen für Lkw-Fahrer attraktiv werden
könnten und wie Drängeln im Namen der Wissenschaft sogar erbeten ist.
Brennstoffzelle mit
Erfolg im Dauereinsatz
Institut für Energie- und Klimaforschung | Mit über 20.000
Stunden Dauereinsatz erreicht die Direktmethanol-Brennstoffzelle (DMFC) eine neue Bestmarke und zeigt ihre Praxistauglichkeit. Die DMFC arbeitet mit flüssigem Methanol und nicht
mit gasförmigem Wasserstoff wie die klassische Brennstoffzelle. Methanol hat Vorteile, da es auf kleinem Volumen viel Energie speichert und in kurzer Zeit getankt werden kann. Die
Haltbarkeit der DMFC konnte durch systematische Entwicklungsarbeiten von wenigen Stunden auf die nun erreichten
20.000 Stunden gesteigert werden. Jülicher Forscher testen sie
speziell als Batterieersatz in elektrischen Hubwagen für große Warenbestandslager. Weitere
Anwendung findet sie in Hilfsstromaggregaten für die unterbrechungsfreie Stromversorgung, etwa für
Mobilfunkstationen und
Rechenzentren.
::
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre,
Ihr
Prof. Achim Bachem
Vorstandsvorsitzender
des Forschungszentrums Jülich
Horizontalkommissionierer mit
Direktmethanol-Brennstoffzelle
Ultraschnelle
Pulse für Rechner
der Zukunft
Daten zur Bodenfeuchte
verbessern Wettervorhersage
Institut für Bio- und Geowissenschaften | Vom Flugzeug aus haben Jülicher
Forscher mit Partnern des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt
(DLR) im Frühjahr die Bodenfeuchte im Rureinzugsgebiet gemessen. Diese
beeinflusst den Austausch von Energie und Wasser zwischen Boden und Atmosphäre und ist ein Parameter, mit dem sich Wetter- und Flutvorhersagen
verbessern lassen. Bei den Messungen testeten die Forscher die Kombination zweier verschiedener Typen von Mikrowellensensoren. Sie werden derzeit
als Kombipack für eine NASA-Satellitenmission im Jahr 2015 optimiert.
::
Messung der
Bodenfeuchte
beim Überflug
über den Blausteinsee bei
Eschweiler
4
Peter Grünberg Institut/Institute
for Advanced Simulation | Jülicher Forschern ist es mit internationalen Kollegen gelungen, extrem kurze und schnelle Pulse aus
Spinströmen kontrolliert zu erzeugen. Mit solchen Pulsen im Terahertz-Frequenzbereich könnten
künftige Computer Daten schneller und energieeffizienter verarbeiten als heutige Rechner. Für
die ultraschnellen Pulse nutzten
die Forscher die Eigenrotation der
Elektronen (den „Spin“). Dieser
kann zusätzlich zur Ladung der
Elektronen zur Informationsverarbeitung dienen. Das genaue experimentelle Vorgehen beschreibt
das Forscherteam in „Nature Nanotechnology“.
::
Forschen in Jülich 3 | 2013
NACHRICHTEN
Tauziehen bei der
Wundheilung
Institute of Complex Systems/Institute
for Advanced Simulation | Wunden heilen, indem sich Zellen immer wieder teilen und schließlich die offene Stelle mit
neuem Gewebe überdecken. Überraschend ist: Neue Zellen drücken benachbarte nicht zur Seite, sondern ziehen einander – ähnlich wie beim Tauziehen – in
eine Richtung. Dabei machen alle Zellen
mit, auch weit von der Wunde entfernte.
Simulationen bieten nun eine Erklärung
für dieses koordinierte Vorgehen: Die
Zellen ziehen in eine zufällige Richtung,
kommen sie dort nicht voran, wählen sie
eine neue. In dem neuen Gewebe baut
sich dadurch eine Spannung auf, die
möglicherweise die Heilung beschleunigt und die Wunde zusammenhält. Die
Ergebnisse stellt ein internationales Forscherteam mit Jülicher Beteiligung in der
Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS) vor. ::
Pflaster nicht nötig! Beim Verschluss
einer Wunde entstehen neue Zellen, die
darunter liegendes Gewebe offenbar wie
ein Heftpflaster zusammenhalten.
„La Ola“ treibt Einzeller an
Institute of Complex Systems/Institute for Advanced Simulation | Flimmerhärchen (Zilien) bewegen Einzeller wie Pantoffeltierchen durchs Wasser oder transportieren Schleim und Schmutz aus den Atemwegen des
Menschen. Dabei zeigen die bis zu 10 Mikrometer langen Miniwimpern
Bewegungsmuster ähnlich wie eine „La-Ola-Welle“. Bisher war unklar, ob
sie eine Funktion erfüllen und wie die Muster entstehen. Die Simulationen mehrerer Tausend Zilien in Flüssigkeit hat nun gezeigt, dass die Bewegung der umgebenden Flüssigkeit die entscheidende Rolle spielt. Sie
sorgt für eine synchronisierte, selbstorganisierte Wellenbewegung. Verglichen mit einer „Ruderbewegung“ im Gleichtakt, treibt die wellenförmige
Bewegung der Zilien Zellen auch doppelt so schnell und zehnmal so effizient an, wie Jülicher Forscher herausfanden. Ihre Ergebnisse sind im
Fachmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS)
veröffentlicht. Die Erkenntnisse könnten helfen, Krankheiten mit Beteiligung der Flimmerhärchen besser zu verstehen oder künstliche Schwimmer zu konstruieren.
::
3 | 2013 Forschen in Jülich
Mikroskopische „La Ola“: Flimmerhärchen in Flüssigkeit bewegen Zellen durch geordnete Wellenbewegung.
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Neue Verdächtige
im Fall Alzheimer
6
Forschen in Jülich 3 | 2013
TITELTHEMA | Alzheimer
In der Alzheimerforschung verdichten sich die Hinweise, dass nicht Ablagerungen im
Gehirn, sondern kleine lösliche Aggregate des Amyloid-beta-Peptids Nervenzellen und
Synapsen zerstören – und damit die eigentlichen Auslöser für die Krankheit sind.
Jülicher Forscher arbeiten daran, diese Aggregate unschädlich zu machen. Und es ist
ihnen gelungen, sie als Biomarker für den Nachweis von Alzheimer zu nutzen.
F
ür Betroffene und Angehörige
scheint es, als ob die Alzheimerforschung seit Jahren auf der Stelle
tritt. Vielversprechende Medikamente,
die im Tierversuch gute Erfolge erzielten, versagen in klinischen Tests reihenweise. „Es ist natürlich höchst ärgerlich,
dass keiner der bisherigen Wirkstoffe
hilft“, gibt Prof. Dieter Willbold zu. Er ist
Direktor des Institute of Complex Systems (ICS) und in Jülich für den Bereich
Strukturbiochemie zuständig. „Aber in
der Grundlagenforschung ist von Stillstand nichts zu spüren“, betont er, „dort
gibt es so viel zu tun, dass eher die Fördermittel und die Zahl der Forscherhände und -köpfe die limitierenden Faktoren sind.“
Da kommt es gelegen, dass sein
Team für die beiden wichtigsten Arbeitspakete frische Fördermittel einwerben konnte. Zwei Millionen Euro
fließen für die kommenden zwei Jahre
aus dem Helmholtz-Validierungsfonds
in die Jülicher Alzheimerforschung.
„Damit versuchen wir unseren potenziellen Alzheimer-Wirkstoff durch die
klinische Phase I zu bringen“, sagt Willbold zuversichtlich.
Zehn Jahre intensiver Forschungsarbeit stecken in der Vorläufersubstanz
D3 und weitere drei Jahre in dem nochmals verbesserten Derivat davon. Hierbei handelt es sich um ein Peptid, das
aus einer relativ kurzen Kette von Aminosäuren aufgebaut ist. Es ist in der
Lage, insbesondere die Amyloid-betaOligomere, die aus wenigen Dutzend
Amyloid-beta-Molekülen bestehen, zu
zerstören.
Genau diese Amyloid-beta-Oligomere
haben eine besonders fatale Eigenschaft: Sie sind im Gegensatz zu den
sehr großen, aber viel bekannteren Fibrillen wasserlöslich – und können sich
so über Körperflüssigkeiten im gesam-
3 | 2013 Forschen in Jülich
7
Heiße Spur bei der Fahndung
nach den Ursachen
Synapsen
4b
4a
Kalzium-Ionen
Ca 2+
4
A
lösliche Amyloid-beta-Oligomere
unlösliche Protofibrillen
Nervenzelle
Protein-Rest
1
β-Sekretase
3
Amyloid-beta-Moleküle
2
APP
γ-Sekretase
Zellmembran
8
Forschen in Jülich 3 | 2013
TITELTHEMA | Alzheimer
Einfache („monomere“) Amyloid-beta-Moleküle entstehen zeitlebens aus
dem zelleigenen Amyloid-Vorläuferprotein (APP). Dazu wird das große Eiweiß
in zwei Schritten von Enzymen, sogenannten Sekretasen, gekürzt:
1 Die Beta-Sekretase schneidet ein großes Stück außerhalb der Zellmembran ab.
2 Die Gamma-Sekretase kürzt weiter in der Membran zum Amyloid-beta.
3 Es entstehen Amyloid-beta-Moleküle. In ihrer monomeren Form scheinen sie
unschädlich zu sein. Ihnen wird sogar eine schützende Funktion im Nervensystem zugesprochen. Mit fortschreitendem Lebensalter steigt jedoch die
Wahrscheinlichkeit, dass sich mehrere Amyloid-beta-Moleküle zu größeren
Molekülverbänden zusammenschließen.
4 Kleinere Aggregate, die aus zwei bis wenigen Dutzend Amyloid-beta-Molekülen
bestehen, sind in Körperflüssigkeiten löslich. Diese sogenannten Amyloidbeta-Oligomere stehen im Verdacht, Nervenzellen und die Verbindungen
zwischen ihnen zu schädigen und damit letztlich die Alzheimer'sche Demenz
auszulösen. Zwei mögliche Mechanismen werden dabei diskutiert:
4a Die Oligomere lagern sich in die Membran von Nervenzellen ein und bilden
Poren. Dadurch strömen Kalzium-Ionen unkontrolliert in die Zellen ein, sodass
diese absterben.
4b Die Amyloid-beta-Oligomere binden an zelleigene Rezeptoren und lösen
dadurch möglicherweise ein zellschädigendes Signal aus.
A Gleichzeitig bilden sich die bekannten Amyloid-beta-Plaques, die aus unlöslichen Protofibrillen bestehen.
B Neuere Forschungsergebnisse lassen darauf schließen, dass sie deutlich
weniger zellschädigend als die Oligomere sind, jedoch ein Reservoir für die
toxischen Amyloid-beta-Oligomere bilden.
Mit mathematischen Modellen unterstützt Prof. Birgit Strodel die Suche nach
einem Wirkstoff.
ten System verbreiten. Sie stehen im
Verdacht, die eigentlichen „Bösewichte“
zu sein, indem sie Synapsen und ganze
Neuronen schädigen.
Plaques
Plaques
B
Amyloid-beta-Oligomere
3 | 2013 Forschen in Jülich
KANÄLE DES VERGESSENS
Wie sie das tun, erforscht Juniorprofessorin Dr. Birgit Strodel vom Institute of
Complex Systems mithilfe von Computermodellen. Sie fand heraus, dass Aggregate aus vier oder sechs Amyloid-beta-Molekülen in der Lage sind, stabile
Kanäle in Zellmembranen zu formen.
„Durch diese Kanäle könnten KalziumIonen unkontrolliert in die Zelle strömen
und sie zum Absterben bringen“, erläutert die Forscherin. Unterstützt werden
ihre Ergebnisse durch elektronenmikroskopische Aufnahmen von Synapsen aus
von Alzheimer geschädigten Hirnschnitten. Hier finden sich Poren, die im gesunden Gehirn so nicht vorkommen.
Birgit Strodel hat mit ihrem Team zudem die mögliche Wirkungsweise von D3
in Computermodellen untersucht. „Wir
konnten zeigen, wo D3 an das Amyloidbeta bindet und wie es binden muss, um
die toxischen Amyloid-Aggregate aufzulösen“, erklärt Strodel. Die Angriffspunkte
sind eine Reihe von negativen Ladungen
an einem Ende der Amyloid-beta-Mole-
9
Prof. Dieter Willbold entwickelt mit seinem Team neue Therapie- und Diagnoseverfahren für Alzheimerpatienten.
küle. Hier binden die Moleküle im Krankheitsfall andere Amyloid-beta-Moleküle
und ordnen sich wie ein Faltblatt zu größeren Aggregaten an. D3 wiederum
besitzt entsprechende positive Ladungen,
die genau an dieser Stelle – der
Bindungsstelle und dem Knick im Faltblatt – andocken, diese somit abschirmen
und das Aggregat zerstören. Strodels
Computermodelle sollen in Zukunft dabei
helfen, D3 noch weiter zu optimieren.
Um zu verstehen, wieso die Tage in
den Labors von Willbold und Strodel
mehr als 24 Stunden haben sollten,
muss man wissen, welche Wirkung D3
bisher im Tierversuch gezeigt hat. Getestet wurden sogenannte Alzheimer-Mäuse, die das menschliche Amyloid-beta
produzieren, typische Plaques im Gehirn
bilden und später durch eine verminderte Lernfähigkeit auffallen. So vergessen
diese Mäuse beispielsweise, wo unter
einer trüben Wasseroberfläche eine
Plattform versteckt ist, auf der sie stehen und sich vom Schwimmen ausruhen
können. Wurde diesen Mäusen D3 im
Trinkwasser oder per Infusion verabreicht, passieren drei Dinge: Die Amyloid-Plaques und typischen Entzündungsprozesse im Gehirn nehmen ab und
gleichzeitig steigt das Lernvermögen.
Dieter Willbold bittet um Geduld:
„Die klinische Studie der Phase I, die
jetzt beginnt, wird lediglich zeigen, ob
die Substanz im Menschen sicher anwendbar ist. Ob es dort genau wie im
Tierversuch wirkt, das wird erst in Phase II und III geklärt.“
10
TEST SOLL KLARHEIT BRINGEN
Entscheidend für diese klinischen Studien ist es unter anderem, die richtigen
Patienten auszuwählen. Denn bisherige
Testverfahren sind ungenau: Bei etwa 30
Prozent der Demenzkranken liegt eine
andere Form der Demenz vor. „Zur besseren Diagnose und Verlaufskontrolle
stehen zwar seit diesem Jahr mehrere
Radiopharmaka zur Verfügung“, sagt
Willbold (siehe auch „Was bringt eine Diagnose ohne Therapie?“, Seite 11), „andererseits sind diese Untersuchungen
recht teuer“, gibt er zu bedenken. „Zudem
interessieren uns die Amyloid-Plaques im
Gehirn weniger als die Amyloid-OligomerLast in den Körperflüssigkeiten.“ In einer
kürzlich veröffentlichten Studie stellt sein
Team daher einen neuen Test vor, der
Amyloid-Oligomere in der Rückenmarksflüssigkeit extrem empfindlich nachweist. Bei Gesunden ließen sich so gut
wie keine Oligomere aufspüren. Bei Alzheimerpatienten und sogar schon bei
Patienten mit ersten kognitiven Einschränkungen fanden sich dagegen sehr
viele der toxischen Aggregate.
Die Schwere der Demenz war dabei
eindeutig an der Oligomer-Belastung im
Liquor ablesbar. Nur ein mit Alzheimer
diagnostizierter und schwer demenzkranker Patient gab den Forschern Rätsel auf. Bei ihm fand sich kein erhöhter
Oligomer-Wert. „Es gibt zwar noch ein
paar andere Erklärungsmöglichkeiten,
aber ich gehe davon aus, dass der Betroffene falsch diagnostiziert war. Da
die bisher verwendete Diagnostik nicht
100-prozentig richtig liegt, muss eine
verbesserte, auf Biomarkern basierende
Diagnosemethode zwangsläufig Unterschiede zur bisher verwendeten Diagnostik aufweisen“, meint Prof. Willbold.
„Leider konnten wir den Patienten aus
verschiedenen Gründen nicht nachuntersuchen, um dies zu klären“, bedauert
er. Um den Test zu standardisieren und
in Richtung klinische Anwendung weiter
voranzubringen, stellt das Bundesforschungsministerium im Rahmen des sogenannten V.I.P.-Programms Fördermittel bereit. Willbold ist überzeugt: „Ein
solcher Test wird viele klinische Studien
beschleunigen und zuverlässiger machen und damit schneller zu einem
wirksamen Alzheimer-Medikament führen.“
::
Brigitte Stahl-Busse
Forschen in Jülich 3 | 2013
TITELTHEMA | Alzheimer
Was bringt eine Diagnose
ohne Therapie?
Die Alzheimerdiagnostik steht vor einem Umbruch: Neue Marker zeigen AmyloidPlaques schon zehn bis zwanzig Jahre vor den ersten Anzeichen der Krankheit. Aber
diese Diagnose stellt Ärzte und Patienten vor enorme Konflikte. Denn: Eine Therapie
ist kurzfristig nicht in Sicht und die Rolle der Plaques noch nicht eindeutig geklärt.
Prof. Dieter Sturma vom Jülicher Institut für Neurowissenschaften und Medizin,
Bereich Ethik in den Neurowissenschaften (INM-8), nimmt hierzu in einem
Interview Stellung.
Frage: Was bringt eine Frühdiagnose
der Alzheimerdemenz?
Prof. Sturma: Erhebliche Probleme, aber
auch sehr viele Optionen. Langfristige
Perspektiven, die sich zum Beispiel in Patientenverfügungen ausdrücken, und Gegenwartsinteressen, die sich in einem
ganz bestimmten Erlebniszustand ergeben, können in einen dramatischen
Konflikt miteinander geraten. Das zeigt
das Beispiel des kürzlich verstorbenen
Schriftstellers und Rhetorikprofessors
Walter Jens. Er hat sich vor seiner Demenzerkrankung gegen lebensverlängernde Maßnahmen ausgesprochen, falls
er seine geistigen Fähigkeiten verlieren
sollte. Dann aber hat er – mit seinen letzten Möglichkeiten der Bekundung, schon
im fortgeschrittenen Alzheimerstadium –
deutlich gemacht: Ich möchte nicht sterben. Im Fall von Walter Jens waren es die
Worte: „Nicht totmachen, bitte nicht totmachen.“ Kein Arzt oder Angehöriger
würde sich in dieser Situation zumuten,
das Leben hier enden zu lassen.
Frage: Gibt es ein Recht auf Wissen?
Prof. Sturma: Sicher, es gibt eine Reihe
von Menschen, die sagen, ich möchte
das wissen. Zum Beispiel, um Vorkehrungen zu treffen und das Leben zu ordnen.
Auf der anderen Seite gibt es auch das
Recht auf Nichtwissen. Wenn jemand die
Diagnose ein Dutzend oder sogar 15 Jahre vorher bekommt, dann wird er diese
15 Jahre nicht mehr in der Weise leben
können, wie unter den Bedingungen von
Nichtwissen. Gleichzeitig entwickeln etli-
3 | 2013 Forschen in Jülich
che der Patienten mit Amyloid-Plaques
im Gehirn gar keine Demenz. Diese Menschen leben dann viele Jahre unter einem Damoklesschwert. Das beeinflusst
die Möglichkeiten, ihr Leben selbst zu
bestimmen, grundlegend. Es ändert sich
natürlich alles, wenn es plausible Erwartungen auf eine Therapie gibt.
Frage: Sind Mediziner auf diese ethischen Konflikte gut vorbereitet?
Prof. Sturma: Nein, in der Regel nicht.
Ein mehrsemestriges ethisches Begleitstudium gehört meiner Meinung nach
unbedingt zur medizinischen Ausbildung.
Denn Entscheidungen über Leben und
Tod stellen sich heute in allen Lebensphasen: vom Embryo bis zu lebensverlängernden Maßnahmen bei komatösen
Patienten. Es gibt eine zu geringe professionelle Auseinandersetzung mit diesen
Prof. Dieter Sturma, Leiter des Bereichs
Ethik in den Neurowissenschaften
vielschichtigen Situationen. Dazu gehört
auch, Regelungen zu finden, wie Patienten im Fall von demenziellen Erkrankungen Risiken und Diagnosen mitgeteilt
werden sollten.
::
Das Gespräch führte Brigitte Stahl-Busse.
Neue Diagnoseverfahren unterstützen die Forschung
Die neuen Radiopharmaka, die Amyloidbeta-Plaques per Positronenemissionstomografie (PET) im lebenden Gehirn
aufspüren, heißen: Florbetapir, Florbetaben und Flutemetamol. Für die Forschung steht zudem eine Substanz zur
Verfügung, die PiB (Pittsburgh compound B) genannt wird. Damit können
potenzielle Medikamente nun viel früher
und an der richtigen Patientengruppe
getestet werden.
Denn bisherige Tests, ob eine Alzheimerkrankheit vorliegt, sind zu 30 Prozent falsch. An der Zulassungsstudie für
Florbetaben war das Forschungszentrum Jülich beteiligt. Gleichzeitig ermöglichen die neuen Marker eine Verlaufskontrolle. Florbetaben wird in Zukunft
auch dafür eingesetzt, um zu verfolgen,
wie das Jülicher Peptid D3 die AmyloidPlaques im Gehirn lebender AlzheimerMäuse reduziert.
11
Herkömmliche Motoren sind umweltbelastende Verschwender, wenn sie laufen, um Strom für Klimaanlage
und andere elektrische Geräte im Lastwagen zu erzeugen. Ein motorunabhängiges Brennstoffzellenaggregat,
das Jülicher Wissenschaftler entwickelt haben, nutzt
Diesel besser aus.
F
ür Fernfahrer ist ihr Lkw häufig
nicht nur Arbeitsplatz, sondern
auch Schlafkabine und Wohnraum.
Gerade in den Ruhepausen wollen sie
auf Klimatisierung, Kommunikationstechnik und Kochplatte nicht verzichten.
Um den Strombedarf zu decken, gibt es
eine einfache Möglichkeit: Man lässt den
Motor im Leerlauf an. Nach einer Untersuchung von 2007 summieren sich die
Leerlaufzeiten eines einzigen durchschnittlichen US-Trucks jährlich auf gigantische 1.700 Stunden, also auf rund
70 Tage. Dabei verbraucht der Lkw im
Mittel 11.000 Liter Diesel und produziert
Lärm, Ruß und klimaschädliche Abgase.
Inzwischen machen das einige USStaaten nicht mehr mit: Sie haben AntiLeerlauf-Gesetze erlassen. Dies auch in
dem Wissen, dass der Motor im Leerlauf
Diesel nur äußerst unzulänglich in Strom
umwandelt: Die Energieausbeute, von
Fachleuten Wirkungsgrad genannt, liegt
Kerosin oder Diesel
Reformer
Shiftreaktor
Wasserstoff
Dampf
HT-PEFC
Luft
Wasser
Luft
Katalytbrenner
12
M
Kühlmedium
Abgas
SAUBERE LEISTUNG
Das Aggregat ist etwa 1,10 Meter breit,
einen Meter hoch und 70 Zentimeter
tief. Es besteht aus mehreren Komponenten (siehe Grafik): Der sogenannte
Reformer wandelt Diesel mit Wasserdampf und Luft in ein Gas um, das reich
an Wasserstoff ist. Daneben enthält es
aber rund 10 Prozent Kohlenmonoxid,
Strom an Bord
Reformat
Luft
lediglich bei rund 10 Prozent. In Europa
ist das Problem der Bordstromversorgung dank kürzerer Strecken, einem
dichten Netz von Autohöfen und eher gemäßigtem Klima nicht so bedeutsam.
Trotzdem gibt es auch hierzulande Bedarf an umweltfreundlichen und energieeffizienten Hilfssystemen.
Ein solches Aggregat, basierend auf
Brennstoffzellen, haben Jülicher Wissenschaftler entwickelt. Es liefert eine elektrische Leistung von 5 Kilowatt, die für
die meisten Lastwagen ausreichend ist.
Im Testbetrieb hat es bewiesen, dass es
Diesel umsetzen kann und komplett eigenständig arbeitet.
Anodenabgas
Kathodenabluft
Ein Reformer und ein Shiftreaktor erzeugen aus Diesel wasserstoffreiches
Gas für die Brennstoffzelle. Dort reagiert der Wasserstoff mit Luftsauerstoff zu Wasser und erzeugt dabei
elektrischen Strom. Verbleibende Abgase werden in dem folgenden Katalytbrenner verbrannt. Dadurch entsteht Abwärme, die wiederum Dampf
für den Reformer erzeugt. Der dargestellte Brennstoffzellentyp ist eine sogenannte Hochtemperatur-Polymerelektrolyt-Brennstoffzelle (HT-PEFC)
mit einer dünnen phosphorsäuregetränkten Polymermembran als Elektrolyt, der Anode und Kathode trennt.
Forschen in Jülich 3 | 2013
FORSCHUNG IM ZENTRUM | Brennstoffzellen
Prof. Werner Lehnert und Prof. Ralf
Peters planen schon die nächste, kompaktere Bordstromversorgung mit Brennstoffzellen.
das die Brennstoffzelle lahmlegen – „vergiften“ – würde. Der nachgeschaltete
Shiftreaktor (Fachsprache) hat daher die
Aufgabe, diesen Kohlenmonoxidanteil
auf unter ein Prozent zu verringern. Dabei produziert er zusätzlichen Wasserstoff, den Brennstoffzellen als Brenngas
verwerten können.
„Die Hochtemperatur-Polymerelektrolyt-Brennstoffzelle (HT-PEFC), die wir
im Aggregat verwenden, toleriert diesen
Kohlenmonoxid-Gehalt von rund einem
Prozent ohne größere Leistungseinbußen“, sagt Prof. Ralf Peters aus dem Jülicher Institut für Energie- und Klimaforschung, Bereich Elektrochemische Verfahrenstechnik (IEK-3). Dadurch kommt
das Aggregat ohne zusätzliche Komponenten aus, mit denen ansonsten das
Gas nach der Shiftreaktion noch weiter
gereinigt werden müsste – Komponenten, die vor allem Platz und Gewicht kosten würden.
In jede Komponente des Aggregats
sind viel Jülicher Entwicklungsarbeit und
Know-how geflossen: Der Reformer bei-
spielsweise ist ein Jülicher Gerät der
neunten Generation, in dem der Diesel
besonders gut mit Luft und Wasserdampf durchmischt wird. „Bei der
Brennstoffzelleneinheit standen wir vor
allem vor zwei Herausforderungen, um
die für ein Lkw-Aggregat erforderliche
Leistung zu erreichen: Erstens mussten
wir Zellen mit einer großen Fläche – 320
Quadratzentimeter – bauen, und zweitens mussten wir 70 dieser Zellen zu einem zuverlässig arbeitenden Stapel verbinden“, sagt Prof. Werner Lehnert,
ebenfalls vom IEK-3.
WETTLAUF DER SYSTEME
Die vorteilhafte geringe Empfindlichkeit
der HT-PEFC gegenüber Kohlenmonoxid
ist eine Folge der Betriebstemperatur
von 160 bis 180 Grad Celsius, bei der
dieser Brennstoffzellentyp arbeitet. Ihr
verdankt er auch den Zusatz „Hochtemperatur“, denn herkömmliche PEFC haben eine Betriebstemperatur von lediglich 60 bis 80 Grad.
Andererseits ist die Bezeichnung
„Hochtemperatur“ insofern irreführend,
weil es andere Brennstoffzellentypen
gibt, die bei weit höheren Temperaturen
arbeiten. Einer davon ist die Festoxid-
brennstoffzelle (SOFC, Solid Oxide Fuel
Cell) mit Betriebstemperaturen von
700 Grad. Auch diese Technologie ist als
Lkw-Hilfsstromaggregat im Rennen: So
sind Jülicher Wissenschaftler an einem
Projekt beteiligt, in dem Unternehmen
und Forschungseinrichtungen gemeinsam entsprechende Systeme bis zur
Marktreife entwickeln. Ob HT-PEFC oder
SOFC am Ende die Nase vorn haben werden, ist ungewiss. „Für die HT-PEFC
spricht jedenfalls, dass sie nur zehn
Minuten lang aufgewärmt werden muss,
während die SOFC deutlich länger
braucht“, so Lehnert. Die Forscher streben an, möglichst mit Industriepartnern
ein HT-PEFC-Demonstrationssystem aufzubauen, das kleiner und kompakter ist
als das jetzige Aggregat.
In beiden Varianten sollen die Brennstoffzellenaggregate künftig Wirkungsgrade von 35 bis 40 Prozent erreichen.
Sie sind damit effizienter und klimafreundlicher als Dieselaggregate und
laufen zudem nahezu geräuschlos.
::
Dr. Frank Frick
Rückzugsort Fahrerkabine: In Ruhepausen unterwegs ist sie für Fernfahrer Küche, Büro und auch
Schlafzimmer.
3 | 2013 Forschen in Jülich
13
Der unterschätzte
Klimafaktor
Im Fokus der Forscher:
Emissionen von Dieselfahrzeugen sowie primitiven Kochstellen und
Heizöfen
Schwarzer Kohlenstoff beeinflusst die globale Erwärmung deutlich stärker als
bislang angenommen – im Vergleich zu bisherigen Schätzungen wärmen Rußpartikel
die Luft ungefähr doppelt so stark. Daraus ergeben sich aber auch neue Chancen, den
Klimawandel zu bremsen. Zu diesen Ergebnissen ist eine internationale Forschergruppe
gekommen, zu der auch Jülicher Wissenschaftler gehören. Ihre Erkenntnisse sind in
den Klimabericht der Vereinten Nationen eingeflossen, den IPCC-Report 2013.
R
uß wird fast überall auf der Welt in
die Luft gepustet. Er entsteht,
wenn fossile Brennstoffe nicht vollständig verbrannt werden, etwa Holz
und Kohle. In Industrieländern produzieren insbesondere Dieselmotoren Rußemissionen. Auch Heizöfen sowie einfache Herdstellen in ländlichen Gebieten
Asiens und Afrikas tragen zu den Emissionen bei. Als Brennmaterial wird dort
nicht nur Holz eingesetzt, sondern auch
Pflanzenreste oder Kuhdung. „Tatsächlich sind es neben Wald- und Savannenfeuern die traditionellen primitiven Öfen,
die den Hauptteil der Emissionen ausmachen“, erklärt Dr. Martin Schultz vom Institut für Energie- und Klimaforschung
(IEK-8). Er hat sich im Rahmen dieser
Studie insbesondere mit den Emissionen
aus der Verbrennung von Biomasse beschäftigt.
Vier Jahre lang haben sich die Wissenschaftler mit der komplexen Rolle des
schwarzen Kohlenstoffs im Klimasystem
auseinandergesetzt, Klimamodelle wei-
14
terentwickelt und diese mit verschiedenen Messergebnissen verglichen. Die
Schwierigkeit: Rußpartikel wirken sich
ganz unterschiedlich auf das Klima aus.
Wenn sie vom Wind in der Atmosphäre
verteilt werden, absorbieren und streuen
sie zum Beispiel die Sonnenstrahlung
und beeinflussen die Bildung von Wolken. Fällt der schwarze Kohlenstoff später etwa auf Eis und Schnee, dann beschleunigt das den Schmelzprozess.
Außerdem kann Ruß auch die Klimaauswirkungen von Schadstoffen verändern,
die gemeinsam mit ihm entstehen, wie
Schwefeldioxid.
ERWÄRMUNG KURZFRISTIG BREMSEN
Einige dieser Prozesse sorgen für eine
Abkühlung, andere wiederum für eine Erwärmung des Klimas. Unter dem Strich
kommen die Wissenschaftler aber zu
dem Schluss, dass Ruß mehr zu der vom
Menschen verursachten Erwärmung beiträgt als Methan oder Lachgas. Lediglich
Kohlendioxid rangiert noch vor dem
schwarzen Kohlenstoff. „Man muss aber
genau abwägen, welche möglichen Maßnahmen dem Klimaschutz helfen und
welche nicht“, betont der Jülicher Forscher. Die Wissenschaftler empfehlen
daher, nicht alle Rußquellen in Angriff zu
nehmen, sondern zunächst einmal den
Rußausstoß von Dieselmotoren sowie
von häuslichen Holz- und Kohlefeuern zu
reduzieren. Das könnte die globale Erwärmung aus ihrer Sicht zumindest kurzfristig bremsen – im günstigsten Fall um
bis zu einem halben Grad Celsius.
Zum Vergleich: Ziel der internationalen Klimapolitik ist es, die globale Erwärmung auf weniger als zwei Grad gegenüber dem Niveau vor Beginn der
Industrialisierung zu begrenzen. Auch
die Gesundheit der Menschen würde von
weniger Rußemissionen profitieren. So
gilt Dieselruß als Erreger von Lungenkrebs.
::
Christian Hohlfeld
Forschen in Jülich 3 | 2013
FORSCHUNG IM ZENTRUM | Klimaforschung
Die Ozonschicht über der Arktis erholt sich. Bis Ende des Jahrhunderts könnte sie
komplett wiederhergestellt sein, prognostiziert eine internationale Forschergruppe
mit Jülicher Beteiligung. Allerdings droht eine neue Gefahr: der Klimawandel.
V
ier Jahre lang untersuchten Wissenschaftler aus 14 Ländern im
EU-Projekt RECONCILE den chemischen Prozess der Ozonzerstörung.
Sie konnten nachweisen, dass tatsächlich Chlorverbindungen dafür verantwortlich sind. Damit wurde eine 2007
erschienene Studie widerlegt, die die
Rolle der Fluorchlorkohlenwasserstoffe
(FCKW) bei der Zerstörung indirekt infrage gestellt hatte. „Das Montrealer Protokoll hat sich bewährt“, betont der Jülicher Umweltchemiker Dr. Marc von
Hobe. In dem Protokoll von 1987 haben
sich über 190 Staaten verpflichtet, die
Emissionen von chlorhaltigen Chemikalien wie FCKW zu reduzieren. Inzwischen
hat Chlor in der Stratosphäre sichtbar
abgenommen. Das belegen Analysen
von Luftproben, die im Rahmen von RECONCILE genommen wurden. Allerdings
dauert der Abbauprozess länger, als die
Wissenschaftler erwartet haben.
Und nun kommt mit dem Klimawandel die nächste Herausforderung auf die
Ozonschicht zu. Klimaveränderungen
könnten die Temperatur, die Zirkulationsmuster und die Chemie der Stratosphäre
verändern. Das beeinflusst auch die
Ozonschicht, deren Dicke sich wiederum
auf die Temperatur auswirkt. Aus Sicht
3 | 2013 Forschen in Jülich
von Marc von Hobe ein Grund mehr, den
Ausstoß von Treibhausgasen deutlich zu
reduzieren und so den Klimawandel zu
stoppen.
EIN NEUES VERSTÄNDNIS
Dank RECONCILE wissen Forscher nun
mehr über den Abbau von Ozon und die
Entstehung von Ozonlöchern. Beispielsweise haben die Resultate des Projekts
das Verständnis von Polaren Stratosphärischen Wolken (PSCs) komplett verändert. Diese Wolken bilden sich unter bestimmten Bedingungen bei Temperaturen
unter minus 80 Grad Celsius in der Stratosphäre. An ihren Oberflächen werden
die Chlorreaktionen in Gang gesetzt, die
das Ozon zersetzen. Die Wissenschaftler
haben herausgefunden, dass sich PSCs
sehr viel schneller und bei höheren Temperaturen bilden als bislang angenommen. Durch die neuen Erkenntnisse
konnten die Wissenschaftler bestehende
Klimamodelle verbessern. Damit lässt
sich die künftige Entwicklung der Ozonschicht zuverlässiger vorhersagen – und
gleichzeitig auch die möglichen Folgen
der Klimaveränderungen für die Stratosphäre.
RECONCILE
Die Europäische Union hat RECONCILE
ab 2009 mit 3,5 Millionen Euro aus dem
7. Forschungsrahmenprogramm gefördert. Die Forscher führten zahlreiche Laborexperimente, Messungen vor Ort und
Computersimulationen durch. Wichtige
Erkenntnisse beruhen auf Daten und Proben, die die Wissenschaftler mit dem Forschungsflugzeug M55 Geophysica über
der Arktis sammelten. 2013 wurde das
vom Forschungszentrum Jülich koordinierte Projekt erfolgreich abgeschlossen.
Spezialisten unter sich: Marc von Hobe
und die M55 Geophysica. Die russische
Maschine ist eines von drei Flugzeugen
weltweit, das in Höhen
von bis zu 21 Kilometern
vordringen kann.
Christian Hohlfeld
15
MenschenmENGE
„Drängeln erlaubt“ war das Motto eines der größten Experimente seiner Art.
In der Messe Düsseldorf lotsten Jülicher Forscher an vier Tagen insgesamt
2.000 Fußgänger durch verschiedene Szenarien. Das Ziel: Die Eigendynamik
großer Menschenmassen besser zu verstehen und so die Sicherheit von
Großveranstaltungen zu erhöhen.
Die Experimente waren Teil des BaSiGo-Projektes, kurz für „Bausteine für
die Sicherheit von Großveranstaltungen“. In dem vom Bundesministerium für
Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekt sammeln Jülicher Forscher unter anderem Daten für ein Modell, das durch Computersimulationen
Fußgängerströme vorausberechnet. Es soll Teil eines modularen Sicherheitskonzepts sein, das auf jede Großveranstaltung individuell angewendet werden kann und in Zusammenarbeit mit neun Projektpartnern aus Wissenschaft, Feuerwehr, Polizei und Industrie aufgebaut wird.
VON EINEM HEBEWAGEN AUS schauen Prof. Armin
Seyfried und Stefan Holl zu, wie Hunderte von Fußgängern durch einen Versuchsaufbau gehen. Die beiden
Jülicher Wissenschaftler leiten die mehrtägigen BaSiGoExperimente in der Messe Düsseldorf. Diese gehören
zu den größten Versuchen mit Menschenmassen überhaupt. Das Ziel ist es, so Holl, „grundsätzliche Werte
zur Fußgängerdynamik“ zu messen.
16
Forschen in Jülich 3 | 2013
FORSCHUNG IM ZENTRUM | Simulation
BEIM KREUZUNGSEXPERIMENT
strömen die Probanden von vier
Seiten auf eine Kreuzung und versuchen, sie geradewegs zu passieren. Bei etwa 100 Teilnehmern im
Kernbereich der Kreuzung endete
dies im Stillstand, woraufhin der
Versuch per Trillerpfeife abgebrochen werden musste.
AUF NEUN MONITOREN beobachten die Wissenschaftler die
Experimente aus allen Perspektiven. Ihre Arbeit ist damit aber
noch längst nicht zu Ende: „Wir haben 42 Terabyte Daten gesammelt. Daraus werden einige Dissertationen entstehen“, so
der Jülicher Forscher Stefan Holl. Eines der Ziele der Wissenschaftler ist es, ein Modell zu kreieren, mit dem man simulieren kann, wie sich Menschenmassen auf einer Großveranstaltung bewegen. Gefährliche Situationen lassen sich so
vorhersehen – und damit auch verhindern.
DIE WEISSEN FISCHERMÜTZEN spielen eine
wichtige Rolle: Mithilfe des QR-Codes auf ihnen
lässt sich jeder Laufweg jeder Person auf den
Zentimeter genau nachvollziehen. 24 Kameras an
der Decke zeichnen die Versuche auf.
EINER VON 30 VERSUCHSAUFBAUTEN:
Der Barrier. Auf diesem Bild strömen die
Probanden in einen abgesperrten Bereich
hinein – um ihn anschließend wieder zu
verlassen. Die Forscher messen so, ab welcher Dichte innerhalb der Menschenmenge
sich einzelne Fußgänger noch individuell
bewegen können. Dabei haben sie die
Dichte stufenweise erhöht. Bei sechs Personen je Quadratmeter ist es dann kaum
noch möglich, die Menschenmenge zu verlassen. Und dies, obwohl die Experimente
unter Idealbedingungen stattfanden. Die
Forscher empfehlen Veranstaltern deshalb,
solch hohe Dichten zu vermeiden.
3 | 2013 Forschen in Jülich
AUFSCHLUSSREICH war auch
der Befund des Projektpartners
von der Universität Siegen.
Gebhard Rusch, Professor für
Medienwissenschaften, hat versucht, die Fußgängerströme
„durch minimal-invasive Eingriffe zu optimieren“. Ein Display
zeigte ein Kreisverkehrsschild
vor dem Zugang zur Kreuzung.
Zunächst haben die Teilnehmer
das Schild zwar ignoriert, doch
nach einem Hinweis „waren wir
in einer ganz anderen Welt“, so
Rusch. Die Fußgänger passierten die Kreuzung, der Fluss
blieb auch bei höheren Dichten
erhalten.
Christoph Mann
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Reifen, Reibung und
schlaue Rechnungen
Autofahrer wünschen sich Reifen, die Sprit sparen, bei jedem Wetter sicher sind
und möglichst langsam verschleißen. Und Produzenten wünschen sich, solche Reifen
zielgerichtet am Computer entwickeln zu können, ohne dafür Abertausende von
Gummimischungen und Testreifen herstellen zu müssen. Jülicher Forscher
arbeiten daran, diese Vision Wirklichkeit werden zu lassen.
N
achdem beim Formel-1-Rennen in
Silverstone am 30. Juni gleich von
vier Wagen spektakulär Reifen zerplatzten, zitierten Nachrichtenagenturen
Paul Hembery, den Motorsportdirektor
des Reifenherstellers: „Wir haben etwas
gesehen, das wir nicht verstehen.“ Tatsächlich ist das Entwickeln von Reifen auf
bestimmte Ansprüche hin nicht nur in der
Formel 1 immer noch von auf wendigen
Versuchsreihen geprägt – und weniger
von der Einsicht in die komplizierten Zusammenhänge zwischen Gummimischungen und den Eigenschaften des Reifens.
Auf dem besten Wege, dies zu ändern,
sind die Jülicher Wissenschaftler Dr. Bo
Persson und Dr. Boris Lorenz. Namhafte
Reifenhersteller weltweit beachten ihre
Arbeit.
Befeuert wird das Interesse der Reifenhersteller durch eine EU-Verordnung,
die seit November 2012 in Kraft ist: Danach müssen sie ihre Reifen mit einem
Etikett versehen, das jeden Verbraucher
auf einen Blick erkennen lässt, wie gut
der Reifen bei Nässe auf der Straße haftet, wie er sich auf den Kraftstoffverbrauch auswirkt und wie laut er rollt.
„Selbstverständlich verstärken die Hersteller dadurch noch einmal ihre Anstrengungen, ihre Produkte auf diese
Kriterien hin zu optimieren“, sagt Maschinenbauingenieur Lorenz. Und der
Schlüssel zu dieser Optimierung ist es,
die Haftreibung von Gummi erklären und
aus Basisdaten errechnen zu können.
Mit diesem Ziel trat Persson vor rund
15 Jahren erstmals an. Damals entwickelte der Physiker eine völlig neuartige
Theorie dazu, wie groß die reale Berührungsfläche ist, wenn zwei Körper miteinander in Kontakt kommen. Im speziellen Fall geht es dabei um den
Kontakt zwischen Reifen und
Straße. Die Frage ist aber unter
anderem auch für die Funktionsfähigkeit von technischen
Dichtungen
bedeutsam.
Perssons Credo: Bei der Berechnung der wahren Kontaktfläche zweier Körper
Entwickelte eine Apparatur,
mit der sich die Reibung von
Reifengummi ermitteln lässt:
Dr. Boris Lorenz.
18
muss man die Rauigkeit der jeweiligen
Flächen auf vielen Längenskalen – vom
tausendstel Millimeter bis zum Zentimeter – berücksichtigen. Konkret hat Persson in Analogie zur Mikroskopie einen
„Vergrößerungsfaktor“ in seine Theorie
eingeführt, um die Rauigkeit in immer
kleineren Dimensionen zu betrachten.
PROGRAMM BERECHNET REIBUNG
Anschließend ließ Persson seine Überlegungen zur Kontaktmechanik in eine
ebenfalls neue Theorie der Gummireibung einfließen. Diese überführte er in
ein Computermodell. Das Programm
läuft auf einem normalen PC, weil es
sich um ein analytisches und nicht um
ein numerisches Modell handelt, also eines mit Gleichungssystemen, die exakt
lösbar sind und keine Näherungen benötigen. Die Wissenschaftler geben dem
Computer neben der gut messbaren
Rauigkeit der Straße einige wenige Daten zur Elastizität und zum Temperaturverhalten der betrachteten Gummimischung ein. Daraus berechnet das
Programm die Haftreibung des Reifens
auf der Straße, unter anderem in Abhängigkeit vom sogenannten Schlupf: Beim
Bremsen beispielsweise dreht sich der
Reifen etwas langsamer, als es der Geschwindigkeit des Fahrzeuges entspricht. Der Reifen gleitet somit über die
Fahrbahn, wobei der Anteil dieses Gleitens als Schlupf bezeichnet wird.
Eine solche Theorie wie die von
Persson steht und fällt damit, ob die berechneten Werte mit den Werten übereinstimmen, die in der Praxis gemessen
Forschen in Jülich 3 | 2013
FORSCHUNG IM ZENTRUM | Materialforschung
werden. Daher haben die Jülicher Forscher eine Apparatur entwickelt, um die
Reibung von Gummireifen auf Straßenasphalt bei verschiedenen Geschwindigkeiten zu ermitteln. Ihre
jüngsten Resultate, die sie zusammen
mit Wissenschaftlern des Reifenherstellers Bridgestone erzielten, haben sie
kürzlich veröffentlicht.
Auch im Motorsport ist die Entwicklung von Reifen mit aufwendigen
Versuchen verbunden. Zukünftig
könnten Computermodelle die perfekte Gummimischung berechnen.
THEORIE BESTÄTIGT
Das Ergebnis passt zur Theorie von
Persson. Abhängig von der Geschwindigkeit bestimmen unterschiedliche
Faktoren die Reibung und damit die Reifenhaftung: „Unterhalb einer Schlupfgeschwindigkeit von rund einem Zentimeter pro Sekunde wird die Reifenhaftung
vorrangig durch die wahre Kontaktfläche bestimmt. Bei schnelleren Geschwindigkeiten ist stattdessen vor allem die Viskoelastizität des Gummis
wichtig“, fasst Lorenz eine wesentliche
Erkenntnis zusammen. Im Alltag auf der
Straße sind beide Faktoren bedeutsam:
Bei einer ABS-Bremsung beispielsweise
bleibt der Reifen bei geringstem Schlupf
zunächst kurz auf der Straße haften, bevor er mit Schlupfgeschwindigkeiten bis
zu einem Meter pro Sekunde zu rutschen anfängt.
Viskoelastische Materialien sind elastisch wie Feststoffe und zeigen zugleich
das zähfließende Verhalten von Flüssigkeiten. Warum diese Eigenschaft des
Gummis überhaupt die Reifenhaftung
beeinflusst, erklären die Forscher so:
Der Reifen ist an den kleinen Unebenheiten des Asphalts Stößen ausgesetzt.
Diese führen dazu, dass der Reifen nachgibt und sich eindellt, wodurch sich die
Moleküle in ihm gegeneinander bewegen. Dabei verbrauchen sie kurzzeitig
Energie. Letztlich verlangsamt dieser
Energieverlust die Bewegung des Reifens auf der Straße: Er haftet besser.
Künftig möchten die Jülicher Wissenschaftler vor allem ihre theoretischen
Vorhersagen zur Haftung auf nassen
Straßen oder bei hohen Schlupfgeschwindigkeiten anhand verschiedener Gummimischungen überprüfen. Eines Tages wird
dann möglicherweise in der Welt der Reifen der Zufallsfaktor keine entscheidende
Bedeutung mehr haben – auch nicht bei
den Reifen in der Formel 1.
::
Dr. Frank Frick
3 | 2013 Forschen in Jülich
19
Die Stimme als Türöffner
Es gibt Menschen, denen leiht man spontan den Rasenmäher oder das Auto.
Anderen dagegen nicht. Vertrauen entsteht durch blitzschnell verarbeitete
Eindrücke in unserem Gehirn. Ein Lächeln oder ein Blick genügen. Aber auch
ein Satz, wie Jülicher Neurowissenschaftler bei einem Forschungsprojekt zum
Beurteilen von Stimmen unlängst bestätigt fanden. Offenbar gibt es im Gehirn
eine Art zentrale Schlüsselregion für soziale Bewertungen, die bei der
Beurteilung von Gesichtern, aber auch Stimmen, aktiv wird.
B
Vertrauenswürdig
oder mit Vorsicht
zu genießen?
Attraktiv oder
unsympathisch?
Ein Blick oder
auch ein gesprochenes Wort
genügt uns …
20
arack Obama, Meryl Streep oder
Nachrichtensprecher Claus Kleber
besitzen sie – Stimmen, die von
vielen Menschen als sympathisch wahrgenommen werden. Ein unschätzbarer
Vorteil, wie Prof. Simon Eickhoff weiß:
„Eine Stimme, die vertrauensvoll und attraktiv klingt, ist ein Türöffner im Beruf
und Privatleben“, so der Mediziner, der in
Jülich am Institut für Neurowissenschaften und Medizin forscht und parallel eine
Professur für Kognitive Neurowissenschaften an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf hat.
Wissenschaftlich untersucht wurde
bisher aber vorwiegend der Einfluss
von Gesichtern. Im Rahmen eines Forschungsprojekts ließ der Neurowissenschaftler mit seinem Team daher 44
gesunde Erwachsene verschiedene
weibliche und männliche Stimmen beurteilen. Die Probanden bekamen im
funktionellen Magnetresonanztomografen (fMRT) einfache Alltagssätze wie
„Entschuldigung, können Sie mir sagen,
wie spät es ist“ zu hören und mussten
diese hinsichtlich Vertrauenswürdigkeit, Fröhlichkeit, Attraktivität und Alter
beurteilen.
Parallel dazu wurden von ihren Gehirnaktivitäten im Zwei-Sekunden-Takt
Aufnahmen gemacht. Interessanterweise war bei den Probanden immer dieselbe Hirnregion, und zwar der sogenannte
dorsomediale Präfrontalkortex, aktiv. „In
diesem Bereich beurteilen wir Gesichtsausdrücke“, sagt Simon Eickhoff. „Mit
der Erkenntnis, dass auch Stimmen hier
Forschen in Jülich 3 | 2013
FORSCHUNG IM ZENTRUM | Neurowissenschaften
Prof. Simon Eickhoff hat untersucht,
welche Hirnareale aktiv sind, wenn Menschen Stimmen beurteilen.
eingeschätzt werden, bestätigte sich
unsere These, dass dies eine Schlüsselregion für soziale Bewertungen im
menschlichen Gehirn sein muss.“
LEBENSNOTWENDIGE STEUERUNG
Was im 21. Jahrhundert für private und
berufliche Kontakte und Beziehungen
wichtig erscheint, ist auch aus evolutionsgeschichtlicher Perspektive bedeutsam: „Die sozial-kognitiven Urteile etwa
über die Vertrauenswürdigkeit einer Person sind als Warnhinweise neben Grundemotionen wie Angst oder Ekel ausschlaggebend dafür, dass der Mensch
überlebt“, erläutert Eickhoff. Ob Höhlenmensch oder Firmenchef: Die Wahl der
Partner war und ist für die eigene Existenz entscheidend – zur Jäger- und
Sammlerzeit wie im 21. Jahrhundert.
Den langfristig relevanten Einschätzungen im dorsomedialen Präfrontalkortex stehen die Beurteilungen von spontanen Gefühlsregungen in anderen Hirnregionen gegenüber: „Ob ein Mensch
gerade traurig oder fröhlich ist, beurteilen wir unter anderem in der Amygdala“,
erläutert Simon Eickhoff. Zur Verarbeitung dieser Grundemotionen gibt es
nach Aussagen des Wissenschaftlers
bereits zahlreiche Studien. Die Forschung über die sozial-kognitiven Entscheidungsprozesse – etwa ob wir einem
Menschen vertrauen oder nicht – hingegen stecke noch in den Anfängen.
Das Wissen über die unterschiedlichen Entscheidungsareale hilft unter anderem, psychiatrische Erkrankungen wie
3 | 2013 Forschen in Jülich
die Depression oder den Autismus weiter zu erforschen. Beim Autismus, der
von der Weltgesundheitsorganisation zu
den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen gerechnet wird und bisher unheilbar
ist, haben Betroffene Probleme, sich mit
anderen auszutauschen. „Autisten haben beispielsweise Schwierigkeiten, sich
in andere Menschen hineinzuversetzen.
Sie erwidern häufig kein Lächeln oder
können Gefühle wie Wut oder Trauer bei
anderen schwer einschätzen“, erklärt
Eickhoff. Wissenschaftlich bekannt ist,
dass das dafür erforderliche Hineinversetzen in ein Gegenüber ebenfalls im
dorsomedialen Präfrontalkortex abläuft.
Um die neurobiologischen Ursachen
dieser und anderer psychiatrischer Erkrankungen besser zu verstehen, hat der
Mediziner bereits Folgeprojekte geplant,
mit denen die Hirnstruktur und die Vernetzung verschiedener Hirnareale bei
Patientinnen und Patienten analysiert
werden sollen. „Wir möchten untersuchen, ob die Hirnstruktur als solche gestört ist, die Interaktion des dorsomedialen Präfrontalkortex mit anderen
Hirnarealen abweichend verläuft oder
auch beides der Fall ist“, so der Neurowissenschaftler. Die Erkenntnisse können dazu beitragen, Behandlungsmöglichkeiten gezielt zu verbessern.
::
Ilse Trautwein
… um zu einer Einschätzung unseres
Gegenübers zu gelangen – als stünden ihm
seine Wesenszüge ins
Gesicht geschrieben.
21
Forschen im Forst
I
n einem Wald sollte nur so viel Holz geschlagen
werden, wie auch nachwächst. Was wie eine aktuelle Empfehlung von Umweltschutzorganisationen klingt, wurde tatsächlich schon vor 300 Jahren angemahnt. Hans Carl von Carlowitz, ein
Oberberghauptmann aus Freiberg in Sachsen,
hielt diesen Grundsatz in seiner 1713 erschienenen Schrift „Sylvicultura oeconomica, oder haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung
zur wilden Baum-Zucht“ fest. Von Carlowitz gilt
damit als Begründer des Nachhaltigkeitsprinzips.
So mancher Wald fiel bis Ende des 19. Jahrhunderts dem Holzbedarf des Menschen zum Opfer.
Die Idee, mit gezielter Waldbewirtschaftung und
Aufforstung gegenzusteuern, setzte sich aber im
Lauf der Zeit durch – auch in der Region des heutigen Nationalparks Eifel. Allerdings pflanzten die
Forstverwaltungen nicht wieder die einheimischen
Laubbäume, sondern Fichten, da diese schneller
wachsen. Heute weiß man jedoch, dass die Laubbäume heimischen Pflanzen und Tieren günstigere Lebensbedingungen bieten. Der Nationalpark
hat daher vor kurzem begonnen, seinen Fichtenbestand wieder in einen Laubmischwald umzuwandeln.
Im Gebiet rund um den Wüstebach begleiten
Jülicher Forscher und ihre Kollegen die Renaturierung wissenschaftlich. Dabei untersuchen sie
erstmals langfristig und kontinuierlich, welche
Auswirkungen ein solcher Prozess etwa auf den
Wasser-, Kohlenstoff- und Stickstoffhaushalt hat.
Dazu haben sie vor Beginn der Forstarbeiten an
rund 175 Stellen Bodenproben genommen, die sie
mit künftigen Messungen vergleichen werden. Die
Ergebnisse sind auch für den Natur- und Klimaschutz in anderen Ländern von Interesse, in denen Nadelwälder abgeholzt werden. Die Untersuchungen sind Teil des Großprojekts TERENO
(Terrestrial Environmental Observatories), in dem
Jülicher Wissenschaftler vom Institut für Bio- und
Geosphäre (Bereich Agrosphäre) mit Kollegen aus
Deutschland die regionalen Folgen des
Klimawandels erforschen.
::
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Forschen in Jülich 3 | 2013
SCHLUSSPUNKT
IMPRESSUM
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Forschen in Jülich Magazin des Forschungszentrums Jülich, ISSN 14337371 Herausgeber: Forschungszentrum Jülich GmbH | 52425 Jülich
Konzeption und Redaktion: Annette
Stettien, Dr. Barbara Schunk, Dr.
Anne Rother (V.i.S.d.P.) Autoren: Dr.
Frank Frick, Christian Hohlfeld, David
Kreienbruch, Christoph Mann, Tobias
Schlößer, Dr. Barbara Schunk, Brigitte
Stahl-Busse, Ilse Trautwein, Angela
Wenzik Grafik und Layout: SeitenPlan GmbH, Corporate Publishing,
Dortmund Bildnachweis: CHEN WS/
Shutterstock.com (19), DenisNata/
Shutterstock.com (13 u. Tasse),
erichon/Shutterstock.com (14 r.),
Forschungszentrum Jülich (2, 3 r., 4,
5 u., 9 r., 10 o., 11 o., 13 o., 15 r., 18,
21 o., 22-23), Forschungszentrum
Jülich/Arndt Lorenz (15 Hintergrund),
Forschungszentrum Jülich/Marc
Strunz-Michels (16 u. r., 17 o. u. m.),
Forschungszentrum Jülich/Ralf
Eisenbach (3 m., 16 o. u. u. l., 17 u.),
illuteam43 (8), imging/Shutterstock.
com (20), iStockphoto/Thinkstock (14
l.), Krivosheev Vitaly/Shutterstock.
com (12-13 Hintergrund), Lightspring/
Shutterstock.com (1, 3 l., 6-7, 10-11
Hintergrund), Melianiaka Kanstantsin/
Shutterstock.com (5 o.), Oleg Babich/
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(21 u.) Kontakt: Geschäftsbereich
Unternehmenskommunikation | Tel.:
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| E-Mail: [email protected] Druck:
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6.000.
Print
kompensiert
Id-Nr. 1331722
www.bvdm-online.de
Großeinsatz im Wald: Jülicher Wissenschaftler nehmen Bodenproben,
bevor die Fichten am Wüstebach im Nationalpark Eifel einheimischen
Laubbäumen weichen müssen.
1. Kraftvoll: Alexander Graf (l.) und François Jonard drücken eine
Rammsonde in den Boden. | 2. Eingetütet: Alle Proben werden verpackt und beschriftet. | 3. Handarbeit: Lutz Weihermüller befüllt
sogenannte Kopecky-Ringe, um bodenphysikalische Parameter zu
bestimmen. | 4. Erfasst: Werner Küpper bringt Proben zur Registrierung. | 5. Frisch gezogen: Nina Gottselig mit einem Probenrohr,
einem sogenannten Liner. | 6. Tief gebuddelt: Aus bis zu einem Meter Tiefe werden Proben genommen, hier durch Anne Berns (l.) und
Lutz Weihermüller. | 7. Suppenküche: Gemeinsam stärken sich
die Forscher. Sie haben an rund 175 Stellen Proben aus bis
zu einem Meter Tiefe entnommen.
3 | 2013 Forschen in Jülich
23
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