RAVEL »Le tombeau de Couperin« TSCHAIKOWSKY »Rokoko-Variationen« RIMSKIJ-KORSAKOW »Scheherazade« GERGIEV, Dirigent IONIT, Ă, Violoncello Freitag 12_05_2017 20 Uhr Samstag 13_05_2017 19 Uhr VALERY GERGIEV Strauss Ab 31. März im Handel erhältlich MAURICE RAVEL »Le tombeau de Couperin« (Ein Denkmal für Couperin) Suite für Orchester 1. Prélude: Vif 2. Forlane: Allegretto 3. Menuet: Allegro moderato 4. Rigaudon: Assez vif PJOTR ILJITSCH TSCHAIKOWSKY Variationen über ein Rokoko-Thema für Violoncello und kleines Orchester op. 33 1. Thema: Moderato assai, quasi andante – Moderato semplice 2. Variation I: Tempo della Thema 3. Variation II: Tempo della Thema 4. Variation III: Andante sostenuto 5. Variation IV: Andante grazioso 6. Variation V: Allegro moderato 7. Variation VI: Andante 8. Variation VII e Coda: Allegro vivo NIKOLAJ RIMSKIJ-KORSAKOW »Scheherazade« (nach »Tausend und eine Nacht«) Symphonische Suite für Orchester in vier Sätzen op. 35 VALERY GERGIEV, Dirigent ANDREI IONIT,Ă, Violoncello Das Konzert am 12. Mai 2017 wird per Livestream auf www.medici.tv und www.takt1.de/gergiev übertragen und im Anschluss in deren Mediatheken verfügbar sein. 118. Spielzeit seit der Gründung 1893 VALERY GERGIEV, Chefdirigent ZUBIN MEHTA, Ehrendirigent PAUL MÜLLER, Intendant 2 »Hommage an die französische Musik des 18. Jahrhunderts« PETER JOST WIDMUNG MAURICE RAVEL (1875–1937) »Le tombeau de Couperin« (Ein Denkmal für Couperin) Suite für Orchester 1. Prélude: Vif 2. Forlane: Allegretto 3. Menuet: Allegro moderato 4. Rigaudon: Assez vif LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN Geboren am 7. März 1875 in Ciboure (Département Basses-Pyrénées / Südwestfrankreich); gestorben am 28. Dezember 1937 in Paris. ENTSTEHUNG Die 6-sätzige Originalfassung für Klavier wurde während des 1. Weltkriegs zwischen Juli 1914 und November 1917 in SaintJean-de-Luz und Lyons-la-Forêt komponiert. Die spätere, auf vier Sätze verkürzte Transkription für Orchester entstand nach Kriegsende im Juni 1919. Die Klavierfassung erschien 1918 mit Widmungen aller sechs Sätze an im 1. Weltkrieg gefallene Freunde Ravels: 1. Jacques Charlot, 2. Jean Cruppi, 3. Gabriel Deluc, 4. Pierre et Pascal Gaudin, 5. Jean Dreyfus, 6. Joseph de Marliave. Die Orchesterfassung wurde ein Jahr später ohne Widmungen veröffentlicht. URAUFFÜHRUNG Klavierfassung: Am 11. April 1919 in Paris in der Salle Gaveau im Rahmen eines Konzerts der »Société Musicale Indépendante« (Solistin: Marguerite Long, Witwe von Joseph de Marliave); Orchesterfassung: Am 28. Februar 1920 in Paris (»Orchestre Pasdeloup« unter Leitung von RhenéBaton). Ballettfassung (auf der Orchestersuite basierend unter Weglassung des »Prélude«): Am 8. November 1920 in Paris im Théâtre des Champs-Elysées (Schwedisches Ballett; Choreographie: Jean Borlin und Rolf de Maré; Dirigent: Désiré-Émile Inghelbrecht). Maurice Ravel: »Le tombeau de Couperin« 3 Maurice Ravel in seinen letzten Lebensjahren (um 1930) Maurice Ravel: »Le tombeau de Couperin« 4 ORIGINAL UND BEARBEITUNG Bearbeitungen haben einen großen Stellenwert in Ravels Werkkatalog. Der Komponist der Masken und Fassaden liebte es, musikalischen Strukturen eine neue, anders­ artige klangliche Einkleidung zu geben. Er tat dies mit Werken fremder Musiker – die mit Abstand bekannteste Bearbeitung ist seine Orchestrierung von Modest Mussorgskijs »Bildern einer Ausstellung« –, noch viel häufiger jedoch mit seinen eigenen. So existieren von einer ganzen Reihe von Klavierwerken auch Orchesterfassungen: Der Bogen reicht von den frühen Kompositionen »Menuet antique« (1895 / Orchesterversion 1929) und »Habanéra« (1895 / 1907) über die »Pavane pour une infante défunte« (1899 / 1910), »Une barque sur l’océan« und »Alborada del gracioso« aus den »Miroirs« (1904–05 / 1906 bzw. 1918), den original vierhändigen Kinderstücken »Ma mère l’oye« (1908–10 / 1911–12) und den »Valses nobles et sentimentales« (1911 / 1912) bis zu »Le tombeau de Couperin«. Anders als bei original für das Orchester entworfenen Werken, denen Klavierentwürfe oder -auszüge vorangingen (wie für »La Valse«, 1919–20), ließen sich allzu pianistisch entworfene Stücke nur mit Mühe oder gar nicht fürs Orchester bearbeiten. Für die Orchesterfassung von »Le tombeau de Couperin« wurden deshalb nur vier der insgesamt sechs Teilsätze der Klavierversion – »Prélude«, »Fugue«, »Forlane«, »Rigaudon«, »Menuet« und »Toccata« – berücksichtigt; »Fugue« und »Toccata« enthalten so speziell auf das Klavier zugeschnittene Passagen, dass Ravel auf sie verzichtete. Da nun der glanzvolle Abschluss durch die »Toccata« fehlte, vertauschte er die Positionen von »Rigaudon« und »Menuet«, denn die temperamentvollen Eckteile des »Rigaudon« boten ein ungleich wirkungsvolleres Finale für die Orchestersuite als das schlichte »Menuet«. Obwohl Ravel, von kleinen harmonischen und spieltechnischen Zusätzen abgesehen, die Klavierversion taktgenau übertrug, ist der klangliche Unterschied frappierend. Durch die Transparenz des relativ klein besetzten Orchesters und der äußerst nuancierten Instrumentation, in der Streicher und Holzbläser dominieren und Hörner und Trompete nur im Schlusssatz gewichtigere Einsätze haben, werden die Eleganz und Klarheit der Musik zusätzlich betont, die harten Dissonanzen der Klavierfassung dagegen eher abgemildert. Mit Ravels Einverständnis hat man wenig später eine Choreographie für die letzten drei Sätze entworfen; diese erneut verkürzte Fassung des »tombeau« wurde mit dem Schwedischen Ballett am 8. November 1920 im Pariser Théâtre des ChampsÉlysées erfolgreich uraufgeführt. EIGENWILLIGE HOMMAGE Mit dem Titel »tombeau« greift Ravel die französische Tradition instrumentaler »tombeaux« des 17. und frühen 18. Jahrhunderts auf. Das »Grabmal« für einen berühmten Musiker ist als musikalisches »Denkmal« zu verstehen und verarbeitet normalerweise Originalmusik des Geehrten oder benutzt zumindest dessen typische Stilcharakteristika. Vor diesem Hintergrund erweist sich Ravels Hommage als recht eigenwillig. Die Berufung speziell auf François Couperin (1668–1733) mag sich etwa für die »Forlane« über die Vorlage aus einem entsprechenden Satz von Couperins kammermusikalischen »Concerts royaux« erklären; nach eigenem Zeugnis jedoch Maurice Ravel: »Le tombeau de Couperin« 5 Ravels eigenhändige Titelzeichnung für die Erstausgabe der Klavierfassung (1918) stellt Ravels Suite »weniger eine Hommage an Couperin dar als vielmehr an die gesamte französische Musik des 18. Jahrhunderts«. Die Erwartung einer Totenklage, die der Titel weckt, wird zunächst in der Klavierfassung durch die Widmungen der Einzelsätze an gefallene Kriegskameraden sowie das von Ravel eigenhändig entworfene Titelblatt der Erstausgabe mit einer dekorativen Urne verstärkt. Jedoch befremdet bereits der Tonfall der »Prélude«: Statt elegischer Trauer wartet das Eröffnungsstück mit gelöster Heiterkeit auf. In den nachfolgenden Tanzsätzen erfährt dieser Eindruck durch melancholische (»Forlane«), volkstümlich-archaisierende (MusetteAbschnitt im »Menuet«) oder pastorale (Mittelteil des »Rigaudon«) Untertöne zwar Differenzierungen, aber keine grundsätzliche Änderung. Bedenkt man zudem, dass ein großer Teil des Zyklus wie auch der Titel bereits im Juli 1914, also noch vor Ausbruch des Krieges, entworfen wurde, so erscheint die Benennung »tombeau« nicht in erster Linie als eine historische Spiegelung aktueller Trauerfälle, sondern bezieht sich offenbar unmittelbar auf die Couperin-Zeit und ihre Musik selbst. Maurice Ravel: »Le tombeau de Couperin« 6 Im Wissen, dass diese französische Musik des 18. Jahrhundert unwiederbringlich der Vergangenheit angehört, aber ihre Formen (»Prélude«, in der Klavierfassung auch »Fugue« und »Toccata«) und Tänze (»Forlane«, »Menuet« und »Rigaudon«) immerhin noch als Vorlagen für zeitgenössische Adaptationen dienen können, gibt sich der tiefere Sinn des Suitentitels zu erkennen. Der vorherrschend heitere Ton von Ravels eigenwilliger Huldigung fußt auf einer an sich konträren Haltung, die von bizarren bis zu elegischen Momenten reicht. Die Heiterkeit erweist sich als künstlich, als Versuch der Objektivierung, letztlich als probates Mittel, um der dahinter stehenden, nur für Momente aufblitzenden Trauer um das Verlorene Herr zu werden. »…KEIN ROSENKAVALIER« In seinem Ravel-Buch bemühte sich der Musikkritiker Hans Heinz Stuckenschmidt, die Annäherung des französischen Komponisten an klassizistische Strömungen ab etwa 1914, für die »Le tombeau de Couperin« geradezu exemplarisch steht, von jedem restaurativen Verdacht freizusprechen: »Der radikale Modernist Ravel hat nicht etwa seinen Frieden mit der bequemen Mehrheit der Hörer gemacht, als er diese Tänze schrieb.« Und pointiert fügte er hinzu: »Der ›tombeau de Couperin‹ ist kein ›Rosenkavalier‹.« Stuckenschmidt spielt hier auf die angeblich »affirmative« Haltung von Richard Strauss’ musikalischer Komödie an. Immerhin sprach Strauss selbst von einer »Mozart-­Oper«, und ein zeitgenössischer Kritiker warf ihm vor, sie »buhle um die Gunst der Menge«. Gemeinsam ist beiden Komponisten der Versuch eines Brückenschlags zwischen Vergangenheit und Gegenwart, allerdings mit ganz unterschiedlichen Mitteln und, sonst wäre Stuckenschmidts Bonmot kaum zu erklären, mit ganz anders­artiger Wirkung. Denn Ravels Orchestersuite wurde zwar beifällig aufgenommen, Strauss’ Oper entwickelte sich jedoch rasch zum Publikumsrenner, und nicht Wenige sahen sich veranlasst, die Rückkehr des »Ultramodernen« ins konservative Lager zu feiern. Dabei mutet Ravels Stil des »tombeau« als konsequente Weiterentwicklung seiner musikalischen Ästhetik an, während der »Rosenkavalier«, zumal im Vergleich mit der vorausgegangenen »Elektra«, unverkennbar eine Neuorientierung in der Entwicklung des Schaffens von Strauss darstellt. Insofern ist »Le tombeau de Couperin«, wenngleich anders als von Stuckenschmidt gemeint, tatsächlich kein »Rosenkavalier«. GESTALTUNGSMITTEL Während Ravel Form und Bewegungstypik der historischen Vorlagen, gleichsam als ahistorische Elemente, aus dem 18. Jahrhundert genau übernimmt, wirken »Prélude« genauso wie »Menuet«, »Forlane« oder »Rigaudon« doch sehr fremdartig in ihrer Melodik und Harmonik. Dabei verschränkt der Komponist Archaik und Moderne auf subtile Art. Modale, kirchentonartliche Wendungen wechseln mit alterierten, tonal mehrdeutigen Klängen. Vorzeichnung und Bassführung legen zwar eine bestimmte Tonart für jeden der Suitensätze nahe; doch scheint die Tonika, wenn überhaupt, meist nur mit fremden Nebennoten auf – lediglich der »Rigaudon« endet mit klarem C-Dur-Akkord ! Ravel nutzt zwar das ganze chromatische System, balanciert aber die Einzelakkorde so aus, dass sich aparte Reizklänge erge- Maurice Ravel: »Le tombeau de Couperin« 7 ben, die den Hörer in einen Schwebezustand zwischen klassischer und moderner Harmonik versetzen. Auch die nach außen so klare Formgebung wird gleichsam subkutan durch irreguläre Perioden und asynchrone Rhythmen unterlaufen; namentlich in der »Forlane« führt dies passagenweise zu starker Irritation bis hin zum Eindruck bizarrer Deformierung. Man glaubt, »vergangene Musik« zu hören, jedoch in eigentümlicher Verzerrung, die man sich zunächst kaum zu erklären vermag. Ravel bleibt dem Ausdruck dieser Musik, ihrer einfachen Satztechnik und klaren Linienführung bis hin zu charakteristischen melodischen Verzierungen wie Vorschlägen, Pralltrillern und Mordenten treu, reichert sie aber mit den spezifischen Merkmalen seiner zeitgenössischen Tonsprache an. Er beschwört nicht die Musik der Vergangenheit in konservativer Rückschau, sondern vergegenwärtigt ihre Qualitäten, indem er sie in seiner eigenen Sprache für die Gegenwart fruchtbar zu machen sucht. Die extreme Stilisierung dieser höfischen Formen und Tänze dürfte ihm, dem Meister der Maske und Maskierung, besonders entgegen gekommen sein. Maurice Ravel: »Le tombeau de Couperin« 8 Auf Sinnsuche in der Vergangenheit NICOLE RESTLE PJOTR ILJITSCH TSCHAIKOWSKY (1840–1893) Variationen über ein Rokoko-Thema für Violoncello und kleines Orchester op. 33 1. T hema: Moderato assai, quasi andante – Moderato semplice 2. V ariation I: Tempo della Thema 3. V ariation II: Tempo della Thema 4. Variation III: Andante sostenuto 5. Variation IV: Andante grazioso 6. Variation V: Allegro moderato 7. V ariation VI: Andante 8. V ariation VII e Coda: Allegro vivo Bearbeitung von Wilhelm Fitzenhagen LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN Geboren am 25. April (7. Mai) 1840 in Wotkinsk (Wjatka / Ural); gestorben am 25. Oktober (6. November) 1893 in St. Petersburg. ENTSTEHUNG Tschaikowsky komponierte sein (einziges) Cellokonzert in den Monaten Dezember 1876 und Januar 1877 für den aus Deutschland stammenden Cellisten Wilhelm Fitzenhagen (1848–1890), dem er unvorsichtigerweise erlaubte, den Cellopart nach seinen Vorstellungen beliebig zu modifizieren. Von diesem Recht machte Fitzenhagen ausgiebig Gebrauch: Er überarbeitete den Solopart, änderte die Reihenfolge der Variationen und ließ eine von ihnen ganz weg: Tschaikowskys Original besteht aus acht Variationen, Fitzenhagens Bearbeitung aus sieben. Dennoch diente letztere als Vorlage für die Druckfassungen von 1878 (mit Klavierbegleitung) bzw. 1889 (mit Orchester). Tschaikowskys Originalversion erschien erst 1956 im Druck. Pjotr Iljitsch Tschaikowsky: Rokoko-Variationen 9 WIDMUNG RUHE VOR DEM STURM Das Werk ist dem aus Seesen bei Braunschweig stammenden Cellisten (Karl Friedrich) Wilhelm Fitzenhagen gewidmet. Fitzenhagen war Professor für Violoncello am Moskauer Konservatorium und führender Interpret der Kammermusikwerke Tschaikowskys, von denen er zahlreiche uraufgeführt hat. Tschaikowskys Variationen über ein Rokoko-Thema für Violoncello und Orchester, ein heiteres, elegantes, graziöses Werk, entstand in einer Zeit, in der der Komponist auf die schwerste Krise seines Lebens zusteuerte: Im Sommer 1876 teilte er seinem Bruder Modest schriftlich mit, er habe beschlossen »eine gesetzliche eheliche Verbindung einzugehen – mit wem auch immer«. Nicht der Wunsch, eine Familie zu gründen, bewog ihn zu dieser Entscheidung; vielmehr wollte er den Gerüchten über seine Homosexualität, die in Moskau kursierten, ein Ende bereiten. Wie fatal sich dieser Entschluss auf die Psyche Tschaikowskys auswirkte, ist hinlänglich bekannt. Die im Juli 1877 geschlossene Ehe mit seiner ehemaligen Schülerin Antonina Iwanowna Miljukova geriet für den Komponisten zum Desaster, das in einer Nervenkrise endete. Es folgten Flucht, Trennung und Rekonvaleszenz in der Schweiz und Italien. Als Dokument seiner Genesung und wiedererwachten Schaffenslust gilt das berühmte Violinkonzert, das Tschaikowsky im schweizerischen Clarens zusammen mit dem von ihm schwärmerisch verehrten Geiger Iossif Kotek ausarbeitete. URAUFFÜHRUNG Bearbeitung von Wilhelm Fitzenhagen: Am 18. (30.) November 1877 in Moskau im 3. Symphoniekonzert der Kaiserlich-Russischen Musikgesellschaft (Orchester der Kaiserlich-Russischen Musikgesellschaft unter Leitung von Nikolaj Rubinstein; Solist: Wilhelm Fitzenhagen). Die unverfälschte Originalfassung nach Tschaikowskys Autograph wurde erstmals am 24. April 1941 in Moskau aufgeführt (Dirigent: Aleksandr Melik-Pashaev; Solist: Daniil Shafran). FREUNDSCHAFTSGABE FÜR EINEN KOLLEGEN Seine Rokoko-Variationen, das andere große Werk für solistisches Streichinstrument und Orchester, stehen hingegen am Anfang jener Krise. Im Dezember 1876 erwähnt Tschaikowsky in einem Brief an seinen Bruder Anatol eher beiläufig, er schreibe gegenwärtig einige Variationen für Solocello und Orchester. Gewidmet hat er sie dem deutschen Cellisten Wilhelm Fitzenhagen, einem Schüler Theodor Müllers und Fried- Pjotr Iljitsch Tschaikowsky: Rokoko-Variationen 10 rich Grützmachers, der wie Tschaikowsky Professor am Moskauer Konservatorium war; möglicherweise war er sogar der Auftraggeber des Konzerts. Fitzenhagen, der auch selbst komponierte, besaß großes künstlerisches Renommee; außerdem stand er im Ruf, einer der besten Lehrer seiner Zeit zu sein. Als Künstler wie als Pädagoge war er eine wichtige Persönlichkeit des Moskauer Musiklebens. Da Tschaikowsky wenig Erfahrung mit der Spieltechnik des Violoncellos hatte, ließ er sich von Fitzenhagen hinsichtlich der Gestaltung des Soloparts beraten; außerdem gestand er ihm zu, die Cellostimme nach eigenem Gutdünken abzuändern. Der »Kollege« nahm sich in der Folge große Freiheiten heraus – nicht nur bei der eigenen Cellostimme, sondern auch bei der Gesamtkonzeption des Stücks, indem er nämlich die Reihenfolge der Variationen umstellte und eine sogar wegließ: Während Tschaikowsky ursprünglich acht Variationen komponiert hatte, kommen in Fitzenhagens Bearbeitung nur sieben vor… »DIESER IDIOT FITZENHAGEN« 1878, im Vorfeld der von Fitzenhagen betreuten Erstveröffentlichung der Fassung für Cello und Klavier empörte sich der Verleger Jurgenson gegenüber Tschaikowsky: »Abscheulicher Fitzenhagen ! Er besteht darauf, Änderungen an Deinem Cellostück vorzunehmen, es für das Instrument passender zu machen. Und er behauptet, Du hättest ihn dazu autorisiert. Um Himmels willen ! Tschaikowsky revu et corrigé par Fitzenhagen !« Auch der Komponist ärgerte sich über die künstlerische Eigenmächtigkeit des Musikers und beschwerte sich einem Freund gegenüber: »Dieser Idiot Fitzenhagen war gerade bei mir. Schau, was er aus meinem Stück gemacht hat – er hat alles geändert !« Gleichwohl ließ er das Werk drucken, wie es der Cellist eingerichtet hatte, und in Fitzenhagens Fassung wurden die Rokoko-Variationen weltberühmt. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts rekonstruierte man die Originalversion und publizierte sie im Rahmen der Tschaikowsky­-Gesamtausgabe. MUSIKALISCHER BLICK ZURÜCK Der Titel »Variationen über ein Rokoko-Thema« deutet an, dass Tschaikowsky sich in diesem Stück stilistisch an Vergangenem orientiert – an der Musik Haydns und vor allem Mozarts. Die Werke dieser beiden Komponisten waren – wie aus seinen Schriften und Kritiken hervorgeht – für Tschaikowsky der Inbegriff des Rokoko-­ Stils. Haydn schätzte er zwar als »notwendiges und wichtiges Glied in der Kette des symphonischen Schaffens«, doch seine Musiksprache empfand er als zu oberflächlich, kühl und glatt. »Genial«, so Tschaikowskys Meinung, sei er nicht gewesen, ganz im Gegensatz zu Mozart, den er ein »ausdrucksstarkes, vielseitiges, tiefgründiges Genie« nennt und der für ihn nur hinsichtlich seiner Instrumentalmusik veraltet ist. »Im Bereich der Oper hat er bis heute keinen einzigen Rivalen«, heißt es 1873 in einem Musikfeuilleton. Seit den Zeiten Mozarts und Haydns hätten sich die Kompositionsverfahren und die Instrumentationstechniken so stark verändert, »dass der Rokoko-Stil, in dem beide Komponisten zu uns sprechen, in schroffem Gegensatz steht zur inneren Zerrissenheit der Romantik oder gar zur schwungvollen Linienführung und dem grellen Kolorit unserer zeitgenössischen Kunst«. Pjotr Iljitsch Tschaikowsky: Rokoko-Variationen 11 Pjotr Iljitsch Tschaikowsky mit Frau Antonina (1877) Pjotr Iljitsch Tschaikowsky: Rokoko-Variationen 12 KLASSISCH KONZIPIERT, ROMANTISCH EMPFUNDEN In seinen Rokoko-Variationen beschwört nun Tschaikowsky jene ihm angeblich so fern liegende Klangsprache des 18. Jahrhunderts. Tatsächlich erscheint vieles direkt von Haydn und Mozart entlehnt – beispielsweise die Orchesterbesetzung, die mit Streichern sowie je zwei Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotten und Hörnern dem damals üblichen Instrumentarium entspricht. Auch das Thema selbst wirkt – zumindest auf den ersten Blick – dem Musikstil der Mozart-Zeit nachempfunden: Es gibt sich tändelnd, grazil und elegant, schmeichelt dem Ohr mit seinem regelmäßigen, achttaktigen Bau. Der rhythmische Gestus, zwei auftaktige Sechzehntel und eine sich anschließende Achtelfigur im 2/4-Takt, korrespondiert mit zahlreichen Werken Haydns und Mozarts und wurde gern und häufig in den damals so beliebten Contretänzen verwendet. Trotzdem: Wie eine originale Melodie von Haydn oder Mozart klingt das Thema nicht. Das liegt vor allem an seiner harmonischen Gestaltung, die ganz Tschaikowskys eigene ist. Sie verleiht dem Thema eine schmachtende Süße und lässt keinen Zweifel daran, dass es von einer romantisch empfindenden Seele komponiert wurde. VIRTUOS UND KONTEMPLATIV In den sich anschließenden Variationen, die jeweils einen anderen musikalischen Charakter haben, kann der Solist sämtliche Register seines Könnens ziehen: Die Melodie wird virtuos ausgeschmückt, in kleine Motive aufgespalten und von brillantem Laufwerk konterkariert. Daneben gibt es immer wieder besinnliche Ruhepunkte, beispielsweise wenn das Thema im 3/4-Takt erscheint oder nach Moll eingetrübt wird. Das Werk endet mit einer furiosen und virtuosen Schlusscoda. Wie beim berühmteren Violinkonzert steht der Solist im Vordergrund: die Funktion des Orchesters ist es in erster Linie, dem Spiel des Solocellos den klanglichen Boden zu bereiten. Stellenweise wird jedoch das eine oder andere Instrument zum konzertierenden Partner des Solisten, indem es Themenmotive spielerisch aufgreift und in direkten Dialog mit ihm tritt. GROSSES LOB VON FRANZ LISZT Wilhem Fitzenhagen hatte mit Tschaikowskys Rokoko-Variationen großen Erfolg. Unter dem Eindruck der deutschen Erstaufführung beim Wiesbadener Musikfest 1879 schrieb er an den Komponisten: »Ich machte mit Deinen Variationen Furore. Ich gefiel damit so sehr, dass ich dreimal herausgerufen wurde, und sogar während des Vortrags gab es nach dem Andante (in d-Moll) Beifallsstürme. Liszt sagte zu mir: ›Sie spielen wunderbar ! Das ist wahre Musik !‹« Schon bei der Moskauer Uraufführung im November 1877 war das Werk zeitgenössischen Presseberichten zufolge außerordentlich gut angekommen. Tschaikowsky weilte zu diesem Zeitpunkt allerdings schon im Ausland, um sich an der Seite des jungen Geigers Iossif Kotek von den Schrecken seiner Kurzzeit-Ehe mit Antonina Miljukowa zu erholen. Pjotr Iljitsch Tschaikowsky: Rokoko-Variationen 13 Die Kunst des poetischen Gedankens DORIS SENNEFELDER NIKOLAJ RIMSKIJ-KORSAKOW (1844–1908) »Scheherazade« (nach »Tausend und eine Nacht«) Symphonische Suite für Orchester in vier Sätzen op. 35 LEBENSDATEN DES KOMPONISTEN Geboren am 6. (18.) März 1844 in Tichwin (Bezirk Nowgorod / Russland); gestorben am 8. (21.) Juni 1908 in Ljubensk (Bezirk St. Petersburg / Russland). STOFFVORLAGE »Alf laila wa-laila« (arabisch; Tausend und eine Nacht), eine Sammlung von über 300 Märchen, Novellen, Legenden, Anekdoten, Fabeln und Parabeln indischen und persischen Ursprungs, die noch im 16. Jahrhundert Gegenstand zahlreicher Überarbei- tungen war, deren Anfänge aber bis ins 8. Jahrhundert zurückreichen; sie wird durch eine Rahmenerzählung zusammengehalten, in deren Mittelpunkt Königin Scheherazade steht: Die kluge Tochter eines königlichen Wesirs lenkt die Aufmerksamkeit ihres blutrünstigen Gatten und Königs von Samarkand auf spannend erzählte Geschichten, vereitelt damit erfolgreich ihre bevorstehende Hinrichtung und gewinnt zuletzt das Vertrauen und die Liebe ihres Mannes zurück. ENTSTEHUNG Pläne zu einem Orchesterwerk über orientalische Sujets beschäftigten den Komponisten offenbar »seit langem« – der genaue Zeitpunkt ist allerdings unbekannt, darf aber mit der Bearbeiter-Tätigkeit Rimskij-Korsakows für Alexander Borodins unvollendete Oper »Fürst Igor« in Zusammenhang gebracht werden ( Winter 1887/88). Beginn der Komposition im Februar 1888 in St. Petersburg; Beendigung im Juli 1888 in Rimskij-Korsakows Sommerfrische in Neshgowizy (Bezirk Luga) am Tscheremenezkij-See südlich von St. Petersburg. Nikolaj Rimskij-Korsakow: »Scheherazade« 14 »PROGRAMM« Rimskij-Korsakow war sich lange Zeit unsicher, ob er den einzelnen Sätzen seiner »symphonischen Suite« deskriptive Titel oder sogar Inhaltsangaben beifügen sollte. Ursprünglich plante er eine rein formale Satzfolge mit den Bezeichnungen »I Prélude – II Ballade – III Adagio – IV Finale«, die er in einem Brief an Alexander Glasunow zu »I Prélude – II Erzählung – III Rêverie – IV Karneval in Bagdad« konkretisierte. Auf Anatolij Ljadows Rat formulierte Rimskij-Korsakow schließlich die Überschriften »I Das Meer und Sindbads Schiff – II Die Geschichte des Prinzen Kalender – III Der junge Prinz und die junge Prinzessin – IV Fest in Bagdad / Das Meer / Das Schiff zerschellt am Felsen mit dem ehernen Reiter / Epilog«. Bei Drucklegung der Partitur jedoch entschied sich der Komponist für ein bloßes Durchnummerieren der vier Sätze ohne jede weitere Bezeichnung. WIDMUNG »A Monsieur Wladimir Stassow« (Herrn Wladimir Stassow gewidmet); der Kunstwissenschaftler und Kritiker Wladimir Stassow (1824–1906) prägte die Bezeichnung »Mächtiges Häuflein« auf die Gruppe nationalrussischer Komponisten um Milij Balakirew und war deren emphatischer Wortführer in der Öffentlichkeit. URAUFFÜHRUNG Am 22. Oktober (3. November) 1888 in St. Petersburg (Orchester der von Rimskij-Korsakows Verleger Beljajew organisierten »russischen Symphoniekonzerte« unter Leitung von Nikolaj Rimskij-Korsakow). AUF DER SUCHE NACH ­MUSIKALISCHER IDENTITÄT Man nimmt es heute als musikhistorische Binsenweisheit hin: Wie in Spanien, Frankreich oder Skandinavien, so habe sich im 19. Jahrhundert eben auch in Russland im Zuge eines verstärkt national geprägten Kunstverständnisses eine eigene, national gefärbte Musiksprache entwickelt. Freilich dürfte der Weg dorthin in Russland etwas weiter gewesen sein als in anderen Ländern: Das 1636 von Patriarch Joasaph ausgesprochene Verbot der Instrumentalmusik unter Androhung von schweren Freiheitsstrafen und Kirchenbann mag dabei ebenso seine Spuren im kollektiven Bewusstsein hinterlassen haben wie später dann der Siegeszug der italienischen Oper unter dem Einfluss der kaiserlich-russischen (!) Hofkapellmeister Galuppi, Paisiello oder Cimarosa. So war Michail Glinka (1804–1857) einer der ersten, der sich nachhaltig und vor allem auch erfolgreich für die Schaffung einer nationalen Musik einsetzte; als Marksteine gelten seine Oper »Ein Leben für den Zaren« (1836), in der einfache Menschen des russischen Volkes als Protagonisten agieren, sowie seine romantische Märchenoper »Ruslan und Ljud­ milla«, uraufgeführt 1842. Erst in den 1860er Jahren aber bildete sich jener Kreis von Musikern, der als das so genannte »Mächtige Häuflein« in die Geschichte eingehen sollte und sich dezidiert dem nationalen Gedanken verschrieb. Stellvertretend für seine Mitglieder Milij Balakirew, Modest Mussorgskij, Alexander Borodin, Nikolaj Rimskij-Korsakow und Cesar Cui formulierte der Kunstkritiker Wladimir Stassow als geistiger Führer der Gruppe die folgenden programmatischen Leitlinien: »Wir haben unserem echten rus- Nikolaj Rimskij-Korsakow: »Scheherazade« 15 Nikolaj Rimskij-Korsakow kurz nach seiner Heirat (1872) Nikolaj Rimskij-Korsakow: »Scheherazade« 16 sischen Lied in der Kunst Geltung verschafft. Es verzehnfacht unsere Kräfte, wenn wir es begreifen. Es klingt schon in unseren Opern und Symphonien. Wir verleihen ihm neue Flügel. Fliege vorwärts ! [...] Jenen Zeiten entgegen, wo unser Volk in Freiheit und Glück seine Lieder anstimmen wird.« DAS »MÄCHTIGE HÄUFLEIN« UND SEINE GEGENSPIELER Obschon ungefähr genauso alt wie seine Mitstreiter, übernahm Milij Balakirew innerhalb des »Mächtigen Häufleins« eine Art Vaterrolle, indem er seine Freunde mit den verschiedensten Werken bekannt machte und zu ersten Kompositionsversuchen anregte; mit der Gründung der »Freien Musikschule« 1862 trat er zudem ganz offen in Opposition zu einer traditionell westlich geprägten Richtung, wie sie beispielsweise von Anton und Nikolaj Rubinstein vertreten und an den von ihnen ins Leben gerufenen Konservatorien in St. Petersburg und Moskau gelehrt wurde. Im Unterschied zu diesen beiden Instituten wurden an der Freien Musikschule keine Aufgaben gestellt und keine Prüfungen abgelegt; der Unterricht – der allerdings nur aus dem Fach Chorsingen bestand – fand meist abends statt, um auch Berufstätigen die Teilnahme zu ermöglichen. Ohne Zweifel war die Freie Musikschule damit ein Reflex auf die spezifische Situation des »Mächtigen Häufleins«, deren Mitglieder – bar jeder akademischen Musikausbildung – streng genommen als komponierende Laien gelten mussten. Wett gemacht wurde dieses Manko freilich durch den intensiven künstlerischen Austausch unter den Freunden, wie er sich im Korsett eines Konservatorium-Lehrplans wohl kaum hät- te entwickeln können. Als Forum für die entstehenden Arbeiten dienten die Konzerte der Freien Musikschule, die in der Regel der »nationalen« Musik gewidmet waren, während Anton Rubinstein – als Vertreter der Gegenpartei – in den Veranstaltungen der Kaiserlich-Russischen Musikgesellschaft meist Werke von deutschen Komponisten dirigierte. Sein prominentester Schüler, Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, geriet unter diesen Umständen geradezu zwangsläufig in die Rolle des westlich orientierten Antipoden zu den Komponisten des »Mächtigen Häufleins«. Trotzdem waren er und vor allem Rimskij-Korsakow durchaus in der Lage, sich über kleinliche Feindbilder hinwegzusetzen und sich ihrer gegenseitigen Wertschätzung zu versichern. So schrieb Tschaikowsky 1875 warmherzig an Rimskij-Korsakow, »dass ich mich einfach vor Ihnen verneige und zu Ihnen und Ihrer edelmütigen künstlerischen Bescheidenheit und Ihrem erstaunlichen starken Charakter ehrfurchtsvoll aufschaue«. RIMSKIJ-KORSAKOWS WERDEGANG 1844 als Sohn eines 60-jährigen Vaters und einer 42-jährigen Mutter im nordrussischen Tichwin gebor en, hatte Rimskij-Korsakow sich schon bald den strengen Erziehungsmaßnahmen seines älteren Bruders Woin fügen müssen, der ihn 1856 auf die Marine-Kadetten-Schule in St. Petersburg geschickt und ihm zeitweise sogar den Musikunterricht bei seinem Klavierlehrer Fjodor Kanille untersagt hatte. Trotzdem kam 1861 über Kanille der Kontakt zu Milij Balakirew zustande, der den 17-Jährigen zu seiner ersten Symphonie anregte und diese 1865 auch uraufführte. Rimskij-Korsakow hatte zu diesem Nikolaj Rimskij-Korsakow: »Scheherazade« 17 Nikolaj Rimskij-Korsakow (Gravur von I. Helmitsky, um 1890) Zeitpunkt eine fast dreijährige Weltumseglung in militärischer Mission absolviert und konnte sich nun – als frischgebackener Offizier – wieder verstärkt der Musik widmen. So entstand 1868 die Symphonische Suite »Antar«, in der Rimskij-Korsakow seine Hörer, ähnlich wie später in der »Scheherazade«, in die Märchenwelt des Orients entführte. Exemplarisch verwirklichte Rimskij-Korsakow in diesem Werk bereits das, was er erst viel später in seinen ästhetischen Schriften postulieren sollte: »Die Musik als eine grundlegende schöpferische Kunst ist eine Kunst des poetischen Gedankens, ausgedrückt in der Schönheit eines musikalischen, tonlich-­ rhythmischen Gewebes.« Als Rimskij-Korsakow 1871 überraschenderweise zum Professor für Komposition, Instrumentation und Leiter der Orchester- klasse an das St. Petersburger Konser­ vatorium berufen wird, fasst er damit sozusagen im Lager der musikalischen Gegner Fuß – und dies, obwohl er sein Wissen nicht akademisch-systematisch, sondern instinktiv-nachahmend erworben hatte. Rimskij-Korsakow aber nutzt die Gelegenheit, eigene Lücken zu schließen, und besucht anfänglich sogar Veranstaltungen seiner Kollegen. Bis 1878 dauern seine verspäteten Lehrjahre, in deren Verlauf er sich u. a. mit Palestrina, Bach und Händel beschäftigt und die ihn schließlich zu der Aussage veranlassen, erst die »Aneignung der harmonischen und kontrapunktischen Technik« habe seinem Schaffen neue, lebendige Kräfte verliehen und ihm die Hände für eine weitere kompositorische Tätigkeit gelöst. Als Hauptwerk jener Jahre darf seine Oper »Die Mainacht« gelten. Nikolaj Rimskij-Korsakow: »Scheherazade« 18 Durch den Tod Mussorgskijs im Jahr 1881 wird seine eigenschöpferische Tätigkeit jedoch wieder unterbrochen; aufopferungsvoll bearbeitet Rimskij-Korsakow Mussorgskijs musikalischen Nachlass. Auch sonst setzt er sich für die Belange des »Mächtigen Häufleins« ein – so 1874, als er von Balakirew für einige Zeit die Leitung der Freien Musikschule übernimmt, oder 1883, als er neben Balakirew zum zweiten Dirigenten der Hofsängerkapelle avanciert. Später allerdings wird Rimskij-Korsakows Verhältnis zum Zieh­ vater des »Mächtigen Häufleins« belastet, ist dieser doch als einziger von der großzügigen Förderung der Komponistengruppe durch den Kunstmäzen Mitrofan Beljajew ausgeschlossen. Rimskij-Korsakow hingegen fungierte als Leiter und erster Dirigent der von Beljajew gestifteten »russischen Symphoniekonzerte«, die ihm in der Saison 1888/89 u. a. als willkommenes Forum für seine soeben abgeschlossene »Scheherazade«-Suite dienten. ZUR ENTSTEHUNG DER »SCHEHERAZADE« Bereits im Winter 1887/88 war Rimskij-­ Korsakow auf den Gedanken gekommen, eine – wie es in der »Chronik meines musikalischen Lebens« heißt – »Orchesterkomposition über das ›Scheherazade‹-Sujet aus ›Tausend und einer Nacht‹ sowie eine Ouvertüre auf Themen der orthodoxen Liturgie [heute bekannt unter dem Titel ›Russische Ostern‹] zu schreiben«. Beide Projekte waren jedoch auf den Sommer verschoben worden; zu sehr hatte ihn die Fertigstellung von Borodins Oper »Fürst Igor« in Beschlag genommen. Nun aber, während eines Landaufenthalts in Neshgowizy am Tscheremenezkij-See, stand sei- nen kompositorischen Vorhaben nichts mehr im Wege. Zu seiner viersätzigen symphonischen Suite »Scheherazade« ließ Rimskij-Korsakow sich dabei durch einzelne Episoden und Bilder aus der arabischen Märchensammlung von »Tausend und einer Nacht« anregen; dargestellt werden – so der Komponist in seiner Chronik – »das Meer und Sindbads Schiff, die Geschichte des Prinzen Kalender, der junge Prinz und die junge Prinzessin, das Fest in Bagdad und das an dem Felsen mit dem ehernen Reiter zerschellende Schiff«. Um aber zu verhindern, dass allzu eifrige Zuhörer nach einem konkreteren Programm fahnden würden, verzichtete Rimskij-Korsakow schließlich auf jegliche Satzbezeichnungen: Weder die ursprünglich vorgesehenen neutralen Angaben »Prélude, Ballade, Adagio und Finale« noch die später geplanten Überschriften wurden veröffentlicht. Denn nicht um das Nachbuchstabieren einzelner Märchen war es Rimskij-Korsakow zu tun; vielmehr sollte die Aura jener sagenumwobenen Textsammlung eingefangen werden, die Geschichten aus Indien, Persien, Syrien, Arabien und Ägypten enthält und deren Ursprünge bis auf das 8. Jahrhundert zurückgehen. Zusammengehalten wird dieses Konglomerat von Erzählungen, Anekdoten, Märchen, ja sogar ganzen Romanen durch die allseits bekannte Rahmenhandlung von der schönen Scheherazade: Um ihr Leben zu retten und um, anders als ihre Vorgängerinnen, nach der Hochzeitsnacht mit ihrem Gatten, dem Sultan Schachriar, sofort getötet zu werden, erzählt Scheherazade tausend und eine Nacht lang ihre faszinierenden Geschichten, bis sie von ihrem Mann als Nikolaj Rimskij-Korsakow: »Scheherazade« 19 würdige Sultanin anerkannt wird. In Rimskij-Korsakows Vertonung ist dieser Rahmen als formgebendes Element beibehalten. Scheherazade wird hier von der Solovioline verkörpert: Ein sich schlängelndes, orientalisch anmutendes Motiv, das im ersten Satz zunächst in hoher Lage auf der E-Saite erklingt und später in vielfacher Weise verarbeitet wird, mag dabei ihre Anmut und ihre grazilen Erzählgesten versinnbildlichen. Auch dem hartherzigen Sultan, der – überzeugt von Falschheit und Untreue nicht nur der eigenen, sondern aller Frauen – von seinem grausigen Tun zunächst nicht ablassen will, ist ein eigenes Motiv zugeordnet. Es erscheint gleich zu Beginn des ersten Satzes, noch bevor Scheherazade (bzw. die Solovioline) anhebt zu erzählen. Neben den Vortragsbezeichnungen »fortissimo« und »pesante« (schwer, schwerfällig) ist es vor allem durch polternd abfallende Quartsprünge und einen imposanten Triller gekennzeichnet. Eindeutiger hätte Rimskij-Korsakow die Opposition der Geschlechter wohl kaum in Töne setzen können... KALEIDOSKOP DER SINNE Auch wenn Rimskij-Korsakow zum Zeitpunkt der Entstehung seiner »Scheherazade« über das Stadium kontrapunktischer Studien längst hinaus war, halfen ihm doch die dabei erworbenen Fertigkeiten, im Umgang mit dem musikalischen Material eine ganz eigene Technik zu entwickeln: Statt seine Motive in vorgegebene Formen zu gießen, unterwarf er sie einer permanenten Veränderung und Weiterentwicklung. So vermengt sich etwa das Motiv des Sultans im ersten Satz mit unablässig aufund absteigenden Dreiklangsbrechungen, bis schließlich das Wogen des Meeres akus- tisch im Vordergrund steht: Sindbad der Seefahrer kämpft mit den Naturgewalten; erst als das Meer sich beruhigt, ist er gerettet. Zu Beginn des zweiten Satzes spinnt Scheherazade ihren Erzählfaden fort; im Espressivo der Solovioline spiegelt sich der Liebreiz ihrer Worte, denen sich der Sultan nicht entziehen kann. So betritt nun – verkörpert durch ein mit Vorschlägen verziertes, lustig springendes Motiv im Fagott – Prinz Kalender die Szene. Eine fanfarenartige Wendung von Posaune und Trompete gibt den Startschuss zu immer neuen, offenbar nicht ganz ungefährlichen Abenteuern. Doch alles geht gut aus: Versöhnlich erscheint das Motiv des Prinzen schließlich in der Flötenstimme, begleitet von Arpeggien der Harfe, die wirkungsvoll zum orientalischen Kolorit der Passage beitragen. Noch mehr klangliche Exotik bietet der dritte Satz, in dem sich Prinz und Prinzessin – so suggeriert es die Musik – einem erotischen Spiel hingeben: Die weich fließende Melodie der Streicher im 6/8-Takt mag dabei die Liebkosungen der beiden beschreiben; rasch auf- und abfahrende Figuren, vornehmlich in den Holzbläsern, signalisieren das Aufflammen der Emotionen in drückend-schwüler Luft. Tamburin, Triangel und Becken sorgen für eine reizvolle »couleur locale«. Noch aber ist der Sultan nicht besänftigt, wie sein heftig dreinfahrendes Motiv zu Beginn des vierten Satzes zeigt. Unter Einsatz all ihrer Fabulierkünste – hörbar im zwei- bis dreistimmigen Akkordspiel der Solovioline – gelingt es Scheherazade freilich noch einmal, ihn erzählend in ihren Bann zu ziehen: Ein straff rhythmisierter Nikolaj Rimskij-Korsakow: »Scheherazade« 20 Tanzrhythmus steht für das Fest in Bagdad, das sie nun beschreibt; mit kreisenden Dreiton-Figuren steigert sich das Geschehen bis zur Ekstase. Ein mächtiger Tam-Tam-Schlag gegen Ende des Satzes führt schließlich zurück zur Geschichte von Sindbad dem Seefahrer, dessen Schiff am Magnetberg zerschellt. Verwoben in einen prachtvollen symphonischen Satz tauchen hier alle bedeutsamen Themen der vorhergehenden Sätze wieder auf – als faszinierendes Kaleidoskop der Sinne und in genialer Entsprechung zur literarischen Vorlage der Komposition: So wie sich nämlich eine gute Märchenerzählerin gerade dadurch auszeichnet, dass sie die altbekannten Geschichten immer wieder neu mit motivischen Überwucherungen auszuschmücken vermag, variiert auch Rimskij-Korsakow unaufhörlich seine Motive. MÄRCHENWELT UND RUSSISCHE REALITÄT Mit der »Scheherazade«, dem »Capriccio espagnol« und der Ouvertüre »Russische Ostern« ging – nach Rimskij-Korsakows eigener Einschätzung – jene Periode seines kompositorischen Schaffens zu Ende, in der er noch unbeeinflusst von Richard Wagner und in Beschränkung auf das »herkömmliche Glinka-Orchester« an der Perfektionierung von Instrumentation und Orchesterbehandlung gearbeitet hatte. Und vielleicht gelang es ihm in dieser Zeit besonders überzeugend, seine Vorstellung von der Kunst als der »bezauberndsten, hinreißendsten Lüge« in Musik umzusetzen, hatte er doch gerade in »Scheherazade« das Äußere, das prachtvolle Schau­ gewand der Komposition zu deren innerster Essenz werden lassen. Inwieweit Rimskij-Korsakow sich mit diesem sinnlichen Orchestergemälde von den hehren Idealen des »Mächtigen Häufleins« und dessen Suche nach einer nationalen Identität entfernt hatte, sei einmal dahingestellt. Jedenfalls kam Rimskij-Korsakow nicht umhin, sich aus der schillernden Märchenwelt seiner Kompositionen wieder der Realität zuzuwenden. Der Tod der Mutter und zweier seiner Kinder sowie die Entfremdung von Balakirew belasteten ihn schwer; hinzu kam, dass 1897 die Uraufführung seiner Oper »Sadko« am Kaiserlichen Theater in St. Petersburg durch eine Intrige vereitelt wurde. Allerdings geriet die Premiere an der russischen Privatoper in Moskau mit Fjodor Schaljapin in der Hauptrolle dann zu einem umso größeren Erfolg. Mehr und mehr verlagerte sich Rimskij-Korsakows kompositorische Tätigkeit nun in den Bereich der Oper, und in rascher Folge entstanden »Mozart und Salieri«, »Die Zarenbraut«, »Das Märchen vom Zaren Saltan« und »Der unsterbliche Kaschtschej«. Erst durch die dramatischen Ereignisse des sog. »St. Petersburger Blutsonntags« (9. bzw. 22. Januar 1905), als Elitetruppen im Auftrag der Regierung mit brutaler Gewalt eine friedliche Massendemonstration von Arbeitern beendeten, wird diese Serie von Bühnenwerken unterbrochen. Rimskij-­ Korsakow unterschreibt eine Erklärung seiner Studenten, in der gegen das Vorgehen der Regierung protestiert wird, und gerät somit unversehens zur Symbolfigur jener Freiheitsbewegung. Wenig später wird er vom Dienst suspendiert, worauf seine Kollegen Glasunow und Ljadow unter Protest ihr Entlassungsgesuch einreichen. Die Situation spitzt sich zu, und auf Anweisung des Zaren ist es in der Hauptstadt Nikolaj Rimskij-Korsakow: »Scheherazade« 21 zeitweise sogar verboten, Werke von Rimskij-­ K orsakow aufzuführen. Doch schließlich darf er ans Konservatorium zurückkehren, und in seinen Erinnerungen hakt er die Ereignisse jener Tage mit der lakonischen Bemerkung ab, er habe »nicht die geringste Lust, über diese lange Pause in [seinem] musikalischen Leben noch weitere Worte zu verlieren«. Seine Opernsatire »Der goldene Hahn«, die er 1906 nach einer literarischen Vorlage von Alexander Puschkin konzipiert, spricht indes eine deutliche Sprache: Unter dem Deckmantel einer Märchenerzählung übt hier Rimskij-­Korsakow – anders als in der »Scheherazade«, wo sich meisterhafte Instrumentationskunst in den Dienst einer poetischen Idee stellt – unverhohlen die bitterste und bissigste Gesellschaftskritik; eine buntschillernde, kühne Harmonik dient dazu, die Morbidität des korrupten Zarenregimes bloß­zustellen. Die zahlreichen Anspielungen werden verstanden; nach Ablehnungsbekundungen des Bolschoi- und des Mariinsky-Theaters folgt 1908 das generelle Verbot durch die Zensur. Die umjubelten Erstaufführungen im Jahr darauf – zunächst durch eine private Operntruppe in Moskau, dann auch am Bolschoi-Theater – kann Rimskij-Korsakow nicht mehr miterleben. Am 8. (21.) Juni 1908 erliegt er auf seinem Landgut Ljubensk einem Herzanfall. Scheherazade (Arthur Rackham, um 1900) Nikolaj Rimskij-Korsakow: »Scheherazade« 22 Valery Gergiev DIRIGENT In Moskau geboren, studierte Valery Gergiev zunächst Dirigieren bei Ilya Musin am Leningrader Konservatorium. Bereits als Student war er Preisträger des Herbert-­ von-Karajan-Dirigierwettbewerbs in Berlin. 1978 wurde Valery Gergiev 24-jährig Assistent von Yuri Temirkanov am Mariinsky Opernhaus, wo er mit Prokofjews Tolstoi-­ Vertonung »Krieg und Frieden« debütierte. Seit mehr als zwei Jahrzehnten leitet er nun das legendäre Mariinsky Theater in St. Petersburg, das in dieser Zeit zu einer der wichtigsten Pflegestätten der russischen Opernkultur aufgestiegen ist. Mit den Münchner Philharmonikern verbindet Valery Gergiev seit der Saison 2011/12 eine intensivere Zusammenarbeit. So hat er in München mit den Philharmonikern und dem Mariinsky Orchester alle Symphonien von Dmitrij Schostakowitsch und einen Zyklus von Werken Igor Strawinskys aufgeführt. Seit der Spielzeit 2015/16 ist Valery Gergiev Chefdirigent der Münchner Philharmoniker. Als »Maestro der Stadt« wendet er sich seitdem mit Abo- und Jugendkonzerten, öffentlichen Generalproben, dem Open Air Konzert »Klassik am Odeonsplatz« und dem Festival MPHIL 360° sowohl an die Münchner Konzert­ besucher als auch mit regelmäßigen Live­ stream- und Fernseh­übertragungen aus der Philharmonie im Gasteig an das inter­ nationale Publikum. Seit September 2016 liegen die ersten CD-­ Aufnahmen des orchestereigenen Labels MPHIL vor, die seine Arbeit mit den Münchner Philharmonikern dokumentieren. Weitere Aufnahmen, bei denen besonders die Symphonien von Anton Bruckner einen Schwerpunkt bilden, sind in Vorbereitung. Reisen führten die Münchner Philharmoniker mit Valery Gergiev bereits in zahlreiche europä­ische Städte sowie nach Japan, China, Korea und Taiwan. Künstlerbiographie 23 Andrei Ioniță VIOLONCELLO 2013 und den 2. Preis beim ARD-Musikwettbewerb in München 2014 sowie den Sonderpreis für die beste Interpretation eines Auftragswerks. Der große internationale Durchbruch erfolgte 2015 mit dem 1. Preis des Tschaikowsky-Wettbewerbs in Moskau. Der 1994 in Bukarest geborene Cellist erhielt zunächst seine Ausbildung an der Musikschule Iosif Sava in Bukarest bei Ani-­ Marie Paladi. Seit 2012 studiert er bei Jens Peter Maintz an der Universität der Künste Berlin. Wichtige musikalische Impulse holte er sich außerdem bei David Geringas, Steven Isserlis, Heinrich Schiff, Wolfgang Boettcher, Gary Hoffman und Wolfgang Emanuel Schmidt. Mehrfach ging er als Preisträger bei internationalen Wettbewerben hervor. So erspielte er sich u. a. den 1. Preis der Aram Khachaturian International Competition Im Rahmen des Festivals »Chamber Music Connects the World« der Kronberg Academy musizierte er 2014 an der Seite von Gidon Kremer und Christian Tetzlaff. 2015 gab er sein Debüt in der Berliner Philharmonie als Solist mit dem Deutschen Symphonie-­ Orchester. In der Saison 2016/17 standen und stehen weitere Debüts an, darunter mit dem Tokyo Philharmonic Orchestra und dem Czech Philharmonic Orchestra. Regelmäßig tritt Andrei Ioniţă auf Einladung von und zusammen mit Maestro Valery Gergiev auf, wie auch bei seinem aktuellen Debüt mit den Münchner Philharmonikern. Von der BBC wurde Andrei Ioniţă als New Generation Artist ausgewählt. Bis 2018 erhält er die Möglichkeit, mit den BBC Orchestern zu spielen sowie Aufnahmen in den BBC Studios zu machen. Andrei Ioniţă spielt ein Violoncello von Giovanni Battista Rogeri, 1671 in Brescia gefertigt. Künstlerbiographie 24 Altlasten der Vergangenheit Herbert von Karajans verhindertes Gastspiel bei den Münchner Philharmonikern GABRIELE E. MEYER Neben dem Bühneneingang zum großen Konzertsaal im Gasteig hängt ein kaum zu übersehendes Plakat der Münchner Philharmoniker, worauf in großen Lettern der Name Herbert von Karajan prangt. Der schon damals gefeierte Dirigent hatte für sein Münchner Debüt 1948 Werke von Mozart, Debussy und Brahms gewählt. Die drei Auftritte sollten in der Aula der Universität, dem Konzertsaal der Münchner Philharmoniker nach 1945, stattfinden; die Tonhalle war am 25. April 1944 bei einem verheerenden Bombenangriff auf die Innenstadt zerstört worden. Am 26. November 1948 veröffentlichte auch der »Münchner Merkur« unter der Rubrik »Veranstaltungen« die genauen Daten der drei Termine: »Die Münchener Philharmoniker, Aula der Universität. Konzert. Freitag, 3. 12. (1. Auff. i. Abonn.), Samstag, 4. 12. (2. Auff. i. Abonn.), jew. 18.30, Sonntag, 5. 12. (auß. Abonn.), 17 U.: 5. Philharmonisches Konzert. Ltg.: Herbert v. Karajan, Mozart: Haffner-Symph.; Debussy: La mer; Brahms: 1. Symph. c-moll.« Man kann sich lebhaft vorstellen, wie gespannt Musik- freunde und Kritiker hierzulande dem Ereignis entgegenfieberten. Umso größer mag die Enttäuschung für die Münchner gewesen sein, als sie erfuhren, dass das »V. Philharmonische Konzert am 3., 4. und 5. Dez. wegen Einreiseschwierigkeiten Herbert von Karajans verlegt werden mußte«. Die hektische Aktivität hinter den Kulissen hatte offenbar nichts ausrichten können. Zwei Tage später informierte der »Merkur« seine Leser über die Verlegung auf einen späteren Zeitpunkt und das Recht zur Kartenrückgabe. »Die außer Abonn. gekauften Eintrittskarten werden bis spätestens Montag, 6. 12., mittags 12 Uhr an der Kasse der Philh. (Rathaus-Stadthauptkasse) zurückgenommen.« Damit war klar, dass mit einem Auftritt Karajans in absehbarer Zeit nicht zu rechnen war. Am 6. Dezember 1948 war, wiederum im »MM« und unter dem Namenskürzel »gl«, ein inzwischen eingegangener, möglicherweise lancierter, Brief mit der Überschrift »Fragen um Karajan« an die Öffentlichkeit Aus der Orchestergeschichte 25 Das Ankündigungsplakat zu Karajans Gastdirigaten bei den Münchner Philharmonikern Aus der Orchestergeschichte 26 gelangt, in dem über die Gründe von Karajans Einreiseverbot Mutmaßungen angestellt wurden: »Wir lesen mit Erstaunen, daß das kommende Abonnementkonzert der Münchner Philharmoniker verschoben werden muß, weil sich Einreiseschwierigkeiten für den Dirigenten Herbert von Karajan ergeben haben. Wir können nicht begreifen, daß es dreieinhalb Jahre nach Kriegsende nicht möglich sein soll, einen in Österreich zugelassenen Dirigenten über die deutsche Grenze zu bringen. Das Programm der Konzerte mit Karajan liegt seit Monaten fest, es ist seit Wochen plakatiert. Viele Deutsche schätzen Karajan sehr hoch, manche stellten ihn über Furtwängler. In einer der größten amerikanischen Zeitschriften lasen wir kürzlich, daß man in Amerika Karajan als den gegebenen Nachfolger Toscaninis ansieht. Warum darf er nicht nach Deutschland ? Sind es grenztechnische Schwierigkeiten oder politische ? Wir möchten bei dieser Gelegenheit sagen, daß wir schon lange nicht begreifen, weswegen es leichter ist, auf legalem Wege nach der Schweiz oder Großbritannien oder nach den Vereinigten Staaten zu gelangen als nach Österreich ? Oder sollte man es Karajan mehr verübeln, daß er während des Dritten Reiches mit der Berliner Staatskapelle [öfter] im Ausland konzertiert hat, als Furtwängler [mit] den Philharmonikern ?« Der Brief ist in mehrfacher Hinsicht inte­ ressant, scheint er doch von einem Kenner der damaligen Musikszene verfasst worden zu sein. So gab es den indirekt angesprochenen Konflikt zwischen Furtwängler und Karajan in der Tat, wobei möglicherweise der Umstand eine Rolle gespielt haben dürfte, dass Karajan 1935 sich nochmals um Aufnahme in die NSDAP bemüht hatte, Furtwängler aber nie Mitglied gewesen war. Karajans erster Parteieintritt am 8. April 1933 in Ulm blieb zwar formell gültig, ruhte aber wegen des ab Juni 1933 geltenden Verbotes der NSDAP in Österreich. 1939 erfolgte dann doch die Rückdatierung auf den 1. Mai 1933. In Furtwänglers Augen ließ sich Karajan nur allzu bereitwillig von den Nationalsozialisten manipulieren, was angesichts der zahlreichen, auch parteinahen Konzerte nicht von der Hand zu weisen ist. Und noch im Dezember 1944 begann er mit dem Reichs-­ Bruckner-Orchester in Linz mit dem erklärten Ziel zu arbeiten, es zum besten Orchester des Reiches zu formen. Nach seinem letzten Konzert im Februar 1945 mit der Berliner Staatskapelle setzte sich Karajan nach Oberitalien ab. − Die bereits in der amerikanischen Presse formulierte Überlegung zu einer Toscanini-Nachfolge durch Karajan hingegen kam viel zu früh, weil der italienische Dirigent und glühende Anti­ faschist weder Furtwängler noch Karajan als seinen Nachfolger akzeptiert hätte. »Ich will nichts mit Furtwängler, Karajan und anderen zu tun haben, die im Dienste Hitlers und der Nazis gestanden haben.« Dank der Vermittlung eines britischen Offiziers konnte Karajan sehr bald nach Kriegsende wieder auftreten. Die im Herbst 1945 von den Amerikanern anberaumten Befragungen nach Parteizugehörigkeit und seinen Beziehungen zu den nationalsozialistischen Machthabern wurde zunächst ohne schriftliche Belege beiseite gelegt. Karajan habe »genug gelitten«, hieß es. Schon am 12. Januar 1946 gab er in Wien sein erstes Konzert. Nun aber war es die sowjetische Besatzungsmacht, die ihn wegen seiner NSDAP-Mitgliedschaft mit Berufsverbot belegte; die Aufhebung erfolgte erst 1947. Karajan scheint die Unterbrechung nicht sonderlich angefochten Aus der Orchestergeschichte 27 Herbert von Karajan (1938) zu haben, hatte er doch inzwischen Walter Legge kennengelernt, der ihm sogleich eine Reihe von Schallplattenaufnahmen bei Columbia Records (später EMI) mit seinem neu gegründeten »Philharmonia Orches­ tra« ermöglichte. Warum also die geplante Konzertserie mit den Münchner Philharmonikern im letzten Moment wegen angeblicher Einreisebeschränkungen abgesagt wurde, bleibt rätselhaft. Zwar kam es in den Nachkriegswirren und bei den ob der Masse an auszuwertenden Fragebögen und anderem Informationsmaterial teilweise überforderten Siegermächten auch zu widersprüchlichen Entscheidungen, doch war Karajans Entnazifizierung zu diesem Zeitpunkt schon abgeschlossen. Vielleicht haben spontane politische Animositäten auf lokaler Ebene die Einreise verhindert, vielleicht die amerikanische Besatzungsmacht in Bayern ein unvermitteltes Veto ausgesprochen. Die drei Konzerte mit den Münchner Philharmonikern wurden allerdings ebensowenig nachgeholt wie Karajan auch später nie mehr für ein Gastspiel zu gewinnen war. Aus der Orchestergeschichte 28 Münchner Klangbilder TITELGESTALTUNG ZUM HEUTIGEN KONZERTPROGRAMM »Rimskij-Korsakow entwickelte in seinem Werk ›Scheherazade‹ eine ganz eigene musikalische Technik. Durch den Einsatz von auf- und absteigenden Dreiklangsbrechungen verändert sich das Stück unentwegt. Die bedrohliche, stürmische See wird von den sich wiederholenden Dreiklangsbrechungen repräsentiert. Mittendrin befindet sich ein kleines Schiff – ein Symbol für Sindbad, welcher sich kämpfend gegen die Naturgewalt auflehnt. Mein Ziel war es, die Dreiklangsbrechungen und den Kampf mit dem Meer in den Fokus meiner Gestaltung zu rücken. Durch die Auflösung des Horizontes, der Außerkraftsetzung der Schwerkraft und den sich bedrohlich auftürmenden Wassermassen, die im Zentrum das kleine Schiff umschließen, wird dem Werk ein visuelles Gesicht verliehen.« (Nastassja Abel, 2017) DIE KÜNSTLERIN Ich heiße Nastassja Abel, bin 26 Jahre alt und habe Raumkonzept & Design an der Akademie Mode & Design (AMD) in München studiert. Aufgewachsen bin ich in Moskau und in Erlangen. Nach meinem Abitur war es mein großer Wunsch, Design in München zu studieren. Heute bin ich Trainee Art bei der Werbeagentur Heye. Nastassja Abel 29 Sonntag 21_05_2017 17 Uhr 8. Kammerkonzert Münchner Künstlerhaus am Lenbachplatz »K. UND K. – VON ÖSTERREICH NACH UNGARN« FRANZ SCHREKER »Der Wind« für Violine, Violoncello, ­Klarinette, Horn und Klavier ZOLTÁN KODÁLY Intermezzo für Streichtrio JOSEF LABOR Trio für Klarinette, Viola und Klavier g-Moll ERNST VON DOHNÁNYI Sextett für Klarinette, Horn, Streichtrio und Klavier C-Dur op. 37 ALBERT OSTERHAMMER, Klarinette MIA ASELMEYER, Horn KATHARINA SCHMITZ, Violine VALENTIN EICHLER, Viola ELKE FUNK-HOEVER, Violoncello ROGLIT ISHAY, Klavier Freitag 26_05_2017 20 Uhr f Samstag 27_05_2017 19 Uhr h4 PJOTR ILJITSCH TSCHAIKOWSKY Konzert für Klavier und Orchester Nr. 1 b-Moll op. 23 HECTOR BERLIOZ »Symphonie fantastique« op. 14 SEMYON BYCHKOV, Dirigent JEAN-YVES THIBAUDET, Klavier Donnerstag 01_06_2017 13_30 Uhr ÖGP Freitag 02_06_2017 20 Uhrk4 Samstag 03_06_2017 19 Uhrd PJOTR ILJITSCH TSCHAIKOWSKY »Francesca da Rimini« e-Moll op. 32 GUSTAV MAHLER Symphonie Nr. 5 cis-Moll SEMYON BYCHKOV, Dirigent Vorschau 30 Die Münchner Philharmoniker CHEFDIRIGENT VALERY GERGIEV EHRENDIRIGENT ZUBIN MEHTA 1. VIOLINEN Sreten Krstič, Konzertmeister Lorenz Nasturica-Herschcowici, Konzertmeister Julian Shevlin, Konzertmeister Odette Couch, stv. Konzertmeisterin Claudia Sutil Philip Middleman Nenad Daleore Peter Becher Regina Matthes Wolfram Lohschütz Martin Manz Céline Vaudé Yusi Chen Iason Keramidis Florentine Lenz Vladimir Tolpygo Georg Pfirsch Bernhard Metz Namiko Fuse Qi Zhou Clément Courtin Traudel Reich Asami Yamada BRATSCHEN Jano Lisboa, Solo Burkhard Sigl, stv. Solo Max Spenger Herbert Stoiber Wolfgang Stingl Gunter Pretzel Wolfgang Berg Beate Springorum Konstantin Sellheim Julio López Valentin Eichler 2. VIOLINEN VIOLONCELLI Simon Fordham, Stimmführer Alexander Möck, Stimmführer IIona Cudek, stv. Stimmführerin Matthias Löhlein, Vorspieler Katharina Reichstaller Nils Schad Clara Bergius-Bühl Esther Merz Katharina Schmitz Ana Vladanovic-Lebedinski Michael Hell, Konzertmeister Floris Mijnders, Solo Stephan Haack, stv. Solo Thomas Ruge, stv. Solo Herbert Heim Veit Wenk-Wolff Sissy Schmidhuber Elke Funk-Hoever Manuel von der Nahmer Isolde Hayer Das Orchester 31 Sven Faulian David Hausdorf Joachim Wohlgemuth KONTRABÄSSE Sławomir Grenda, Solo Fora Baltacigil, Solo Alexander Preuß, stv. Solo Holger Herrmann Stepan Kratochvil Shengni Guo Emilio Yepes Martinez Ulrich von Neumann-Cosel FLÖTEN Michael Martin Kofler, Solo Herman van Kogelenberg, Solo Burkhard Jäckle, stv. Solo Martin Belič Gabriele Krötz, Piccoloflöte OBOEN Ulrich Becker, Solo Marie-Luise Modersohn, Solo Lisa Outred Bernhard Berwanger Kai Rapsch, Englischhorn KLARINETTEN Alexandra Gruber, Solo László Kuti, Solo Annette Maucher, stv. Solo Matthias Ambrosius Albert Osterhammer, Bassklarinette Ulrich Haider, stv. Solo Maria Teiwes, stv. Solo Robert Ross Alois Schlemer Hubert Pilstl Mia Aselmeyer TROMPETEN Guido Segers, Solo Florian Klingler, Solo Bernhard Peschl, stv. Solo Markus Rainer POSAUNEN Dany Bonvin, Solo Matthias Fischer, stv. Solo Quirin Willert Benjamin Appel, Bassposaune TUBA Ricardo Carvalhoso PAUKEN Stefan Gagelmann, Solo Guido Rückel, Solo SCHLAGZEUG Sebastian Förschl, 1. Schlagzeuger Jörg Hannabach Michael Leopold HARFE Teresa Zimmermann, Solo FAGOTTE ORCHESTERVORSTAND Raffaele Giannotti, Solo Jürgen Popp Johannes Hofbauer Jörg Urbach, Kontrafagott Stephan Haack Matthias Ambrosius Konstantin Sellheim HÖRNER Paul Müller INTENDANT Jörg Brückner, Solo Matias Piñeira, Solo Das Orchester 32 IMPRESSUM TEXTNACHWEISE BILDNACHWEISE Herausgeber: Direktion der Münchner Philharmoniker Paul Müller, Intendant Kellerstraße 4 81667 München Lektorat: Christine Möller Corporate Design: HEYE GmbH München Graphik: dm druckmedien gmbh München Druck: Gebr. Geiselberger GmbH Martin-Moser-Straße 23 84503 Altötting Peter Jost, Nicole Restle, Doris Sennefelder und Gabriele E. Meyer schrieben ihre Texte als Originalbeiträge für die Programmhefte der Münchner Philharmoniker. Künstlerbiographien: nach Agenturvorlagen. Alle Rechte bei den Autorinnen und Autoren; jeder Nachdruck ist seitens der Urheber genehmigungs- und kostenpflichtig. Abbildungen zu Maurice Ravel: Theo Hirsbrunner, Maurice Ravel – Sein Leben, sein Werk, Laaber 1989. Abbildungen zu Pjotr Iljitsch Tschaikowsky: David Brown, Peter Tschaikowsky im Spiegel seiner Zeit, Zürich / Mainz 1996. Abbildungen zu Nikolaj Rimskij-Korsakow: Josif Filippowitsch Kunin, Nikolai Andrejewitsch Rimski- ­K orsakow, Berlin 1981; wikimedia commons. Abbildungen zur Orchestergeschichte: Archiv der Münchner Philharmoniker; w ik im e di a commons. Künstlerphotographien: Marco Borggreve (Gergiev), Daniel Delang (Ionit,ă). Medienpartner: Gedruckt auf holzfreiem und FSC-Mix zertifiziertem Papier der Sorte LuxoArt Samt Impressum HAUPTSPONSOR UNTERSTÜTZT SONNTAG, 16. JULI 2017, 20.00 UHR V A L E RY G E R G I E V D I R I G E N T Y U J A W A N G KL AV I E R MÜNCHNER PHILHARMONIKER BR AHMS: KONZERT FÜR KL AVIER UND ORCHESTER NR.1 D - MOLL OP.15 MUSSORGSKI J: »BILDER EINER AUSSTELLUNG« (INSTRUMENTIERUNG: M AURICE R AVEL) KARTEN: MÜNCHEN TICKET TEL. 089/54 81 81 81 UND BEKANNTE VVK-STELLEN WWW.KLASSIK−AM−ODEONSPLATZ.DE ’16 ’17 DAS ORCHESTER DER STADT