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Spaniens konjunkturelle Aufholjagd und po- 06.06.2016
litische Hürden
Mit etwas weniger Tempo weiter auf der Überholspur / Von Miriam Neubert
Madrid (GTAI) - Zu Beginn des Sommers 2016 stand die spanische Volkswirtschaft auf der Schwelle zum vierten
Erholungsjahr. Der anhaltende, wenn auch abschwächende Auftrieb müsste für weitere Reformen genutzt wer­
den, um die Wirtschaft widerstandsfähiger zu machen. Doch hat der Reformprozess schon im Wahljahr 2015
stagniert und stößt durch die Neuwahlen im Juni 2016 auf weitere Fragezeichen. Die Liste der Herausforderun­
gen und Aufgaben, die auf eine künftige Regierung zukommen, wird derweil nicht kürzer.
Wirtschaftlich war 2015 für Spanien ein sehr gutes Jahr. Getragen von positiven inneren und äußeren Entwick­
lungen expandierte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) real um 3,2% gegenüber dem Vorjahr. Ein kolossales Tempo,
das zu Beginn des Jahres so niemand prognostiziert hatte. Das gesamte Panorama der Binnennachfrage brachte
den Auftrieb, während die Nettoexporte durch die höhere Dynamik der Einfuhren leicht negativ wirkten. Wie
ein freundliches Konjunkturprogramm kamen von außen niedrige Erdölpreise hinzu, der den Export begünsti­
gende Wechselkurs des Euro, die expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank mit vorteilhafter Zinsent­
wicklung für die Finanzierungsbedürfnisse von Staat, Unternehmen und Einwohnern.
Wirtschaftswachstum trotz politischem Stillstand
Während die Politik auf der Stelle trat in dem vergeblichen Versuch, das Votum der Wähler aus den Parlaments­
wahlen vom 20.12.15 in eine mehrheitsfähige Regierung zu verwandeln, ist die Wirtschaft im 1. Quartal 2016
scheinbar unbeeindruckt weiter gewachsen mit stabilen 0,8% zum Vorquartal und kaum abgeschwächten 3,4%
zum Vorjahreszeitraum. Und das, obwohl auch weltweit die Ungewissheiten und Risiken zugenommen haben. In
allen Prognosen schwingt nun größere Vorsicht mit, da etwa ein heftiger Anstieg der Erdölpreise oder ein Ruck
bei der Verzinsung zehnjähriger Staatsanleihen das BIP-Wachstum beinträchtigen würden. Mögliche Schocks
ausgenommen, gehen die Prognosen davon aus, dass Spanien auch 2016 unter den großen Industrienationen in
der EU auf der Überholspur bleibt, mit zurückgenommenem, aber weiterhin zügigem Tempo von 2,6 bis 2,7%.
Der Indikator zur Unternehmenszuversicht hat nach einer kurzen Unterbrechung zu Jahresbeginn im zweiten
Quartal wieder in den Wachstumsmodus geschaltet, der ihn bis Ende 2015 elf Quartale in Folge ausgezeichnet
hatte. Im Einzelhandel stiegen die Verkäufe von Januar bis März 2016 preisbereinigt um 4%. Zugleich behielt die
Registrierung von neuen Pkw ein hohes Tempo bei. Mit fast 386.000 Einheiten in den ersten vier Monaten
brachte sie den besten Wert seit 2008. Die Auslastung der Kapazitäten der Industrieunternehmen lag bei 77,6%.
Positiv entwickelten sich auch die Auftragseingänge.
Zum Preis harter Anpassungen hat die viertgrößte Volkswirtschaft der Eurozone die in der Hochkonjunkturpha­
se verlorene Wettbewerbsfähigkeit zurückgewonnen. Die Lohnstückkosten sind gesunken, was für weitere In­
ternationalisierung und Exportsteigerung elementar ist. Seit drei Jahren fließen wieder verstärkt ausländische
produktive Direktinvestitionen ins Land; 2015 waren es dem Wirtschaftsministerium zufolge 21,7 Mrd. Euro. Zu­
gleich gehört Spanien selbst in die Riege der größten Auslandsinvestoren weltweit, auch wenn sein Bestand in
der Krise abgenommen hat.
Von den internationalen Verflechtungen profitiert Spaniens Außenhandel, obwohl durch die wirtschaftliche La­
ge auf wichtigen Märkten 2016 eine Verlangsamung erwartet wird. Während die Wareneinfuhren ihren nomina­
len Vorkrisenhöchstwert (285 Mrd. Euro) frühestens 2016 erreichen werden, haben die Warenausfuhren den ih­
ren mittlerweile um ein Drittel überflügelt mit einem neuen Rekord von rund 250 Mrd. Euro im Jahr 2015. Anteil
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daran haben auch viele Töchter deutscher Unternehmen. Das Gewicht der Exporte am BIP zu laufenden Preisen
ist gestiegen - bei den Waren von 17% (2008) auf 23% (2015) unter Einschluss der Dienstleistungen von einem
Viertel auf ein Drittel. Dafür ist der einstige Boom-Motor, der Bausektor, von 10,4% des BIP auf 5,0% ge­
schrumpft. Erwartet wird, dass sich die neue Bauaktivität stärker am Bestand ausrichtet, sich mit Sanierung,
Wartung und Renovierung nachhaltiger entwickelt als früher. Es lassen sich also Fortschritte registrieren auf
dem Weg zu einem stabileren Wachstum, auch wenn der Anteil der Industrie, der in den Rezessionsjahren um
einen Prozentpunkt auf 15,5% des BIP zurückging noch nicht recht vom Fleck kam.
Soziale Ungleichheit und hohe Staatsverschuldung trüben die Stimmung
Die Übertreibungen des einstigen bau- und kreditbasierten Wachstums sowie ältere strukturelle Schwächen ha­
ben im Zusammenprall mit den beiden Rezessionswellen jedoch zu neuen Ungleichgewichten geführt: der Ex­
plosion von Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung. Zum Glück erzeugt das Wirtschaftswachstum seit 2014
verstärkt Beschäftigung, geht die Arbeitslosigkeit zurück. Mit einer Erwerbslosenquote von fast 21% im 1. Quar­
tal 2016 aber bleibt sie die größte Sorge der Bevölkerung, gefolgt vom Thema Korruption und Betrug, wie das
Stimmungsbarometer des Zentrums für soziologische Studien CIS regelmäßig aufzeigt. Die Rezession hat die so­
ziale Ungleichheit ausgeprägt, an der Mittelklasse genagt und die Armut erhöht. Die Arbeitskraft vieler Men­
schen wurde und wird durch die Anpassungen und die zeitgleiche digitale Revolution entwertet. Derweil wächst
der Schuldenberg der öffentlichen Verwaltungen, der sich im Zuge von Immobiliencrash, Rezession und Spar­
kassenrettung auf 1,1 Billionen Euro (99,2% des BIP) nahezu verdreifacht hat.
Obwohl die konservative Regierung der Volkspartei, die mit absoluter Mehrheit regieren konnte, von 2011 bis
2015 an mehreren Fronten Reformen in Angriff genommen hat und die Wirtschaft stabilisierte, ist der Hand­
lungsbedarf groß. Angesichts einer hohen Außenverschuldung (168% des BIP) und der Refinanzierungszwänge
wird jede künftige Regierungskoalition auf einem schmalem Grat agieren: Sie muss das zurückgewonnene Ver­
trauen der Investoren halten, dazu den Haushalt weiter konsolidieren, ohne den Sozialstaat weiter zu beschnei­
den. Die Deadline für ein Absenken der Neuverschuldung auf unter 3% des BIP ist in Abstimmung mit der EUKommission zwar um ein weiteres Jahr auf 2017 verschoben worden. Dennoch erfordert die Umsetzung einen
neuen Konsens zwischen der Zentralregierung und den autonomen Regionen.
Es geht um eine grundsätzliche Reform des regionalen Finanzierungssystems, die Erhaltung der Einheit und die
weitere Vereinheitlichung des Binnenmarktes; um eine nachhaltigere Gestaltung der Sozialversicherung, die mit
den Rentenzahlungen sonst überfordert wird; um eine Steuerreform, die Spaniens unterdurchschnittliches Steu­
eraufkommen steigert; um weitere Bildungs- und Arbeitsmarktreformen, ohne die viele Erwerbsfähige schwer­
lich integriert werden können; um eine Wettbewerbsfähigkeit jenseits niedriger Löhne, mehr F&E und mehr In­
dustrie. Zuvor aber gilt es, das Fragezeichen hinter den Neuwahlen am 26.6.16 aufzulösen.
(M.N.)
Karl-Heinz Dahm | ©
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