Regieren in Ruinen

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# 2002/25 Ausland
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Politische Krise
Regieren in Ruinen
Von Martin Schwarz
Nach dem Abkommen zwischen Serbien und Montenegro über die Bildung einer
Union befinden sich die Regierungen der beiden jugoslawischen Teilrepubliken
in einer schweren Krise
Eine originelle Interpretation des bürgerlichen Rechtsstaats liefert der als demokratischer
Vorkämpfer auf dem Balkan gefeierte serbische Premierminister Zoran Djindjic. Binnen
vier Wochen verbannte er insgesamt 85 Abgeordnete verschiedener Parteien aus dem
Parlament. Seine Begründung: Faulheit. »Wie jeder andere in Serbien müssen auch
Abgeordnete den Job machen, für den sie bezahlt werden.«
Tatsächlich ging es dem Premier nicht um den Arbeitseifer der Mandatsträger, sondern
um ihre Abwesenheit bei einzelnen Abstimmungen. Wiederholt hatten Abgeordnete
Gesetzesvorlagen der Regierung blockiert, indem sie einfach der Abstimmung
ferngeblieben waren und so die Beschlussfähigkeit des serbischen Parlaments
aufgehoben hatten.
Für Djindjic war diese Blockadepolitik deshalb besonders pikant, weil sich ein Teil seines
eigenen Parteienbündnisses Demokratische Opposition Serbiens (Dos) maßgeblich daran
beteiligte. Die Abgeordneten der Demokratischen Partei Serbiens (DSS), der Partei des
jugoslawischen Staatspräsidenten Vojislav Kostunica, hatten im unentschuldigten Fehlen
eine Erfolg versprechende Taktik erkannt, um Djindjic zu stürzen.
Nachdem der Premierminister in der vergangenen Woche 21 von insgesamt 45 DSSAbgeordneten rausgeworfen hatte, verließ auch der Rest der Fraktion aus Protest das
Parlament. »Slobodan Milosevic hat überlegter gehandelt«, wütete Dragan Marsicanin, ein
stellvertretender DSS-Vorsitzender. »Djindjic kümmert sich immer weniger um Gesetze
und ist dabei, ein autoritäres Regime wie das vorangegangene zu errichten.«
Mit diesem Putsch mag Djindjic seine Regierungsfähigkeit wiederhergestellt haben. Aber
in der sensiblen Phase der Neukonstitution eines gemeinsamen Staates aus Serbien und
Montenegro wären andere Verhältnisse nötig. »Ich wage zu bezweifeln, ob solche Schritte
die politische Stabilität erhöhen, die wir dringend brauchen«, sagte der stellvertretende
jugoslawische Premierminister Miroljub Labus der Jungle World.
Die Gegner Djindjics aber betrachten das Parlament nicht länger als vorhanden. Die DSS
kündigte an, zu »alten Formen des außerparlamentarischen Lebens«, einschließlich
Streiks und Demonstrationen, zu greifen. »Unser Ziel sind vorgezogene Neuwahlen und
die Etablierung eines Staates auf der Basis der Gesetze«, so Marsicanin.
Neuwahlen aber will Djindjic auf jeden Fall vermeiden, weil er bei weitem nicht die
Popularität seines Gegners Kostunica und dessen DSS erreicht. In diesem Fall wäre auch
das aus 18 Parteien bestehende Bündnis Dos endgültig Geschichte. Die meisten der
kleineren Parteien dürften selbst den Einzug ins Parlament verpassen, während die DSS
wohl zur stärksten Partei würde.
Dass Djindjics Verhalten alles andere als demokratisch ist, meint auch die OSZE. Sie hat
angekündigt, gegen den serbischen Premier eine Untersuchung einzuleiten, in der geklärt
werden soll, ob der Rauswurf der Abgeordneten mit der serbischen Verfassung im
Einklang steht. »Wir schlagen uns zwar nicht auf eine Seite, aber die OSZE hat auch die
Aufgabe, darauf zu achten, ob die gesetzlichen Bestimmungen eingehalten werden«,
meint Stefano Sannino, der Leiter der Belgrader OSZE-Mission.
In ganz anderen Schwierigkeiten steckt der montenegrinische Präsident Milo Djukanovic.
Dass ausgerechnet jetzt seine womöglich gar nicht so schöne Vergangenheit an die
Öffentlichkeit dringt, ist für ihn ein Teil einer Intrige mit dem Ziel, die
Unabhängigkeitsbestrebungen des Landes durch die Beschädigung des Ansehens seines
Führungspersonals zu torpedieren. »Das sind alles nur Versuche, Montenegro zu
destabilisieren«, pflegt er zu erwidern, wenn es um den Verdacht der italienischen Justiz
geht, er sei der Chef eines Rings von Zigarettenschmugglern gewesen, der jahrelang
preisgünstige jugoslawische Tabakprodukte nach Italien exportiert habe.
Vor zwei Wochen erklärten die Justizbehörden der auf der anderen Seite der Adria
gelegenen italienischen Hafenstadt Bari, dass Untersuchungen gegen das Oberhaupt der
jugoslawischen Teilrepublik eingeleitet worden seien. Die in Podgorica erscheinende
Zeitung Dan berichtete daraufhin gar von einem Ultimatum der EU. Demnach müsse der
Präsident bald zurücktreten, andernfalls drohten dem Land Sanktionen. Das Blatt glaubt
auch an eine Intrige, um Djukanovic, einen Verfechter der montenegrinischen
Unabhängigkeit, durch jemanden zu ersetzen, der die von der EU vermittelte Union aus
Serbien und Montenegro nicht nur als Etappe auf dem Weg in die Eigenstaatlichkeit
betrachtet. Das Abkommen zwischen Belgrad und Podgorica ist zunächst auf drei Jahre
befristet.
Dass die juristischen Angriffe aus Italien der politischen Karriere Djukanovics abträglich
sein könnten, zeigen auch die Stellungnahmen ehemals verbündeter Parteien. Die
Sozialdemokraten und die Liberale Allianz - die bis Ende April noch die Regierung von
Djukanovics Demokratischen Sozialisten unterstützt hatten - verlangten den Rücktritt des
Präsidenten, sollte es diese Untersuchungen tatsächlich geben. Davon ist Slavica Milacic,
die Abgesandte Montenegros bei der EU in Brüssel, zwar überzeugt. »Aber in Italien wird
dauernd gegen die Mafia ermittelt und am Ende bleibt dann von den Vorwürfen nichts
übrig.«
Die Affäre erschwert die Bemühungen des Präsidenten, eine Mehrheit für seinen Ende
April per Misstrauensvotum gestürzten Premier Filip Vujanovic zu finden. Liberale und
Sozialdemokraten haben dem Premier wegen der Abstimmung über die Union aus Serbien
und Montenegro gemeinsam die Unterstützung entzogen. Denn beide Parteien betrachten
das Abkommen als unnötige Verzögerung der Unabhängigkeit. Djukanovics Versuche,
seinen abgewählten Premier wieder zu inthronisieren, kommentiert der Vorsitzende der
Liberalen, Miroslav Vickovic: »Nirgendwo in der Welt nominiert ein Präsident einen
Premier abermals, der schon einmal die Mehrheit im Parlament verloren hat.«
Für das, was von Jugoslawien noch übrig ist, wären vorgezogene Neuwahlen in beiden
Teilrepubliken gut. In Serbien würde voraussichtlich mit der DSS eine Partei zur stärksten
Kraft, die sich für den Erhalt des Staates oder zumindest für eine Union einsetzt. Anders
als Djindjic, der sich vorstellen kann, einen serbischen Staat zu regieren. In Montenegro
könnten Neuwahlen zu einer Stärkung des oppositionellen Blocks Pro Yugoslavija oder zu
einer Koalitionsregierung zwischen den Demokratischen Sozialisten und einer
föderalistischen Partei führen. Die derzeitigen politischen Verhältnisse sind hingegen eine
Gefahr für die Union.
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