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Missliche soziale Position der Frauen in männerdominierten Kulturen, dokumentiert an den Beispielen von Irland und der Südtürkei.
Sociologie générale: 'Compte rendu' im Rahmen des Seminars "Femmes du sud:
travail, violence et identité". Verfasst und eingereicht im Februar 2004 von Andy
Caradonna, Fribourg [[email protected]].
Bedenkliche soziale Position der Frauen in männer- oder
religionsdominierten Kulturen; dokumentiert an den Beispielen
von Irland und der Südtürkei.
Zur Illustration der bedenklichen, sozialen Position der Frauen in unterschiedlichen
Kulturen, sollen zwei konkrete Beispiele aufgezeigt werden. Zum einen wird auf die
Situation der Frauen in Irland (anhand des Textes von Jacques Véron "Le monde des
Femmes. Inégalité des sexes, inégalité des sociétés"), zum anderen wird auf die
Unterdrückung der Frauen im kurdischen Süden eingegangen (basierend auf dem Artikel
"Im Namen der Ehre", erschienen im Facts 3/2004).
Kurzzusammenfassung des Texts "Le monde des Femmes" von J. Véron mit einer
Fokussierung auf die Situation in Irland; Politische Konstellationen, die
familienspezifischen Probleme (Verhütung, Scheidung und Abtreibung) und
daraus folgende soziale Ungleichgewichte mit Einfluss auf familiäre und
geschlechterspezifische Situationen.
Bereits seit Jahrhunderten von Jahren, kämpfen Frauen für gleiches Recht gegenüber den
Männern, oder zumindest für mehr eigene Rechte. Allerdings sind diese Anstrengungen
sehr anspruchsvoll und führen 'nur' langsam zu Veränderungen des Status der Frauen in
der Gesellschaft verschiedenster Kulturen. Im Folgenden soll ein kleiner Überblick über den
Stand der Dinge bezüglich der Frauenrechte eingegangen werden, um dann anschliessend
den Fokus auf Irland zu richten.
Als Ausgangspunkt für die Betrachtung der unterschiedlichen Positionen und Rechte der
Frauen, soll die Behauptung von Rosalind Miles dargestellt werden, die in "The Women’s
History of the World"1 davon ausgeht, dass die Frauen früher einmal, den Männern eine
überlegene Stellung bzw. Status2 eingenommen haben, als dies heute der Fall ist. Als
Argumentation führt sie dabei ins Feld, dass die Frauen beispielsweise identische
Chromosome besitzen oder die Eizelle viel grösser als das Sperma sei. Demnach könne
man die Frau ohne weiteres – nach der Meinung von Rosalind Miles – als 'ersteres
Geschlecht' betrachten (und damit implizit als prädominantes). Nicht umsonst würden die
Frauen (auch heute teilweise noch) verehrt oder gar 'vergöttert' und auch der 'Mutterkult'3
sei heute noch sehr verbreitet. Als die Männer mit ihrem Aufstieg ("montée du phallus")
die Macht an sich gerissen hätten, wäre aus der matriarchalischen Gesellschaft eine
patriarchale geworden. Obwohl diese Vorherrschaft der Frauen in einer früheren Zeit
1
2
3
Miles, Rosalind: The Women’s History of the World. Perennial Library, Harper and Row, 1999
Status = Lage, Position einer Person, die sie im Hinblick auf bestimmte sozial relevante Merkmale im Verhältnis zu anderen Personen
einer Gesellschaft einnimmt. (Hillmann, Karl-Heinz: Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart 1994.
Wo eine Frau, die ein Baby oder ein Kind hat, der kinderlosen Frau nach Gesichtspunkten sozialer Wertschätzung 'bevorzugt' wird
Februar 2004 | Seite 1 von 8
Missliche soziale Position der Frauen in männerdominierten Kulturen, dokumentiert an den Beispielen von Irland und der Südtürkei.
umstritten ist, weisen gewisse Indizien tatsächlich in eine solche Richtung, so
beispielsweise der "code d’Hammourabi" welcher den Frauen in einer Periode der
Vorchristenzeit einen hohen Stellenwert einräumte. Ein anderes Beispiel ist das alte
Ägypten, wo das Gesetz die Gleichheit von Frauen und Männern anerkannt hat.
Wie die Kräfteverteilung zwischen Mann und Frau in den früheren Zeiten auch gewesen ist,
die letzten Jahrhunderte waren – aus Sicht des Geschlechterkampfes4 – geprägt von den
Anstrengungen der Frauen, ihren eigenen Status in der Gesellschaft und ihre soziale
Wertschätzung zu verbessern.
Doch der Kampf der Frauen (selbst mit der Unterstützung einzelner Männer) gegen die
Patriarchie in der Gesellschaft erweist sich als schwierig. So versucht zum Beispiel Poullain
de La Barre, ein Doktor in Philosophie, im 18. Jahrhundert sich für die Sache der Frauen
einzusetzen und die Gleichheit der Geschlechter in den Vordergrund zu stellen - doch ohne
grossen Erfolg; die französische Revolution zeigt sich an der Geschlechterfrage nicht
interessiert.
Eine spannende Parallele bei den Anstrengungen nach der Anerkennung der Rechte der
Frauen zeigt sich mit der oftmals gleichzeitigen Verteidigung oder besser gesagt
Unterstützung der 'Unterdrückten'. Ein Erklärungsversuch dieses Zusammenhangs (sofern
denn tatsächlich ein Zusammenhang besteht) kann möglicherweise mit dem Beispiel von
Flora Tristan gegeben werden, welche sich der Trennung zwischen der 'Sache der Frau'5
und der 'Sache der Arbeiter'6 strikt widersetzt. So argumentiert sie, dass der am stärksten
unterdrückten Mann, immer noch jemanden weiteres zum unterdrücken hat, nämlich seine
Frau. Demnach wäre die Frau die Proletarierin, des Proletariaten selbst7.
Eine der wichtigsten Forderungen der Frauen ist die Gleichberechtigung im Bezug der
Ausbildung. Diese Forderung ist allerdings sehr schwierig durchzusetzen, wie dies
unterschiedliche Beispiele zeigen8.
Stellt man sich die Frage, wieso diese Forderungen der Frauen sich nur sehr schwierig und
langsam durchsetzen können, finden sich hauptsächlich zwei Erklärungen. So zeigt sich ein
sehr starkes Spannungsfeld zwischen den Forderungen und Ansprüchen der Frauen nach
Gleichheit oder Freiheit und den starken Polen der Tradition oder der Religion. Im
Folgenden wird nun das Beispiel von Irland aufgezeigt, wo sich die Forderungen der Frauen
dem starken Einfluss von Tradition bzw. Religion ausgesetzt sehen und deshalb einen sehr
schweren Stand bezüglich ihrer Realisierung haben.
4
5
6
7
8
Geschlechterkampf nicht im Sinne gewaltgeprägter Auseinandersetzungen, sondern verstanden als Versuch, die gleichen Rechte für
beide Geschlechter zu erreichen
Namentlich dem Kampf für die Gleichberechtigung
Dem Kampf für bessere Arbeitsverhältnisse bzw. faire Arbeitsbedingungen und Entlöhnung
Vgl. mit Laneyrie-Dagen, Nadeije; Marseille, Jacques (Hrsg.): Les Grands Événements de l’histoire des femmes.
Ein Beispiel, dasjenige von Frankreich, zeigt wie sehr die Obrigkeit bzw. die Behörden bereits das Recht auf Ausbildung der Frauen
erschwerten, wenn nicht sogar unmöglich machten: So war Napoleon einer "éducation publique des femmes" feindlich gesinnt und
obwohl ein Gesetz von 1833 (die "loi Guizot") die Primarschul-Ausbildung geregelt hat, waren die Mädchen davon nicht betroffen.
Februar 2004 | Seite 2 von 8
Missliche soziale Position der Frauen in männerdominierten Kulturen, dokumentiert an den Beispielen von Irland und der Südtürkei.
Das Beispiel von Irland, zeigt relativ gut den Einfluss der Religion auf die Rechte bzw. den
Status den Frauen auf. Bis vor nicht allzu langer Zeit (genauer gesagt bis 1985!) hat die
Regierung von Irland, den Import und den Verkauf von Verhütungsmitteln verboten. Was
die Scheidung angeht, war diese sogar bis 1995 verboten. Diese sehr restriktive
Handhabung der familienspezifischen Angelegenheiten – verbunden der sozialen Stellung
der Frauen – hängt mit der starken Position der katholischen Kirche in Irland zusammen,
welche die Familienplanung in erster Linie auf die Heirat zurückführt.
Erst nachdem Frauen der "Irish Women United" 1971 in einer medial begleiteten Aktion
eine ganze Ladung von Präservativen und Antibaby-Pillen eingeführt und beim Zoll in
Dublin aufgehalten wurden, kam der erste Stein ins Rollen, der letztlich die Aufhebung des
Verbots zur Folge hatte. Zwei Jahre danach hat ein verheiratetes Paar das Verbot des
Imports von Verhütungsmittel juristisch angefochten, weil das partnerschaftliche
Zusammenleben privaten Charakter aufweise und deshalb nicht von der Regierung auf
indirektem Weg, mit einem solchen Verbot beeinflusst werden sollte. Daraufhin bildeten
sich
langsam
Familienplanungszentren
(durch
Spenden
finanziert),
die
auch
Verhütungsmittel verteilten (deren Verkauf immer noch verboten war). Erst im Jahre 1985
wurde der Verkauf von Verhütungsmittel an über 18 jährige mit einem Entscheid durch das
Parlament akzeptiert.
Andere Einflüsse haben die Frage nach der Sexualität und Verhütung zusätzlich angeheizt,
so beispielsweise die Aids-Epidemie. Letztlich wurde das Mindestalter für den Kauf von
Verhütungsmittel 1993 auf 17 Jahre festgesetzt, unter anderem aus Angst seitens der
Kirche, mit einem tieferen Mindestalter für den Kauf der Verhütungsmittel eine frühreife
Sexualität zu fördern.
Die Frage nach der Abtreibung ist in Irland ebenfalls sehr umstritten. Als Irland eine
britische Kolonie war, wurde die Abtreibung für illegal9 erklärt. In den 80er Jahren
versuchten christliche Organisationen gar mit dem Mittel des Referendums, das Recht auf
Leben für Babys, die im Begriff sind geboren zu werden, in der Verfassung zu verankern.
Dieses Referendum wurde dann tatsächlich auch mit einer sehr grossen Mehrheit
angenommen. Aber als dann 1992 das Gericht einem 15 jährigen Mädchen verboten hat,
das Land für eine Abtreibung (aus einer Schwangerschaft, die als Folge einer
Vergewaltigung entstand) zu verlassen, führte dies zu einer grossen Aufruhr der irischen
Bevölkerung. Auf Berufung hin, legte das Gericht fest, dass nur im Fall eines 'reellen und
substantiellen Risikos' (wobei dieses Risiko vom Gericht selbst eingeschätzt wird) des
Lebens einer schwangeren Frau, eine Abtreibung auf irischem Territorium erfolgen darf.
Die Reaktion der Bevölkerung auf diesen Affront gegenüber schwangeren Frauen liess nicht
lange auf sich warten, denn 1993 wurde ein erneutes Referendum lanciert, diesmal mit
mehreren Änderungsanträgen bezüglich der Verfassung, wobei ein Antrag den Artikel
betreffend der Abtreibung dahingehend geändert werden sollte, dass eine Abtreibung in
spezifischen Ausnahmefällen ermöglicht werde. Der Antrag wurde abgelehnt und obwohl
9
Der "Offences Against the Person Act" von 1861 sieht vor, dass Personen, welche sich abtreiben lassen oder bei einer Abtreibung
behilflich sind, mit Gefängnis bestraft werden.
Februar 2004 | Seite 3 von 8
Missliche soziale Position der Frauen in männerdominierten Kulturen, dokumentiert an den Beispielen von Irland und der Südtürkei.
die irische Regierung eine neue Gesetzgebung versprach, ist diese bis heute noch
eingesetzt worden.
Was die Frage der Legalität bezüglich der Scheidung betrifft, so ist diese in Irland, dank
einem Referendum (welches sich nur mit einer kleinen Mehrheit durchsetzen konnte) erst
seit 1995 möglich.
Was haben Verhütung, Abtreibung und die Scheidung - nach irischem Vorbild - nun
konkret für einen Einfluss auf die Stellung der Frau (nicht nur spezifisch für den Fall
irischer Frauen, sondern generell für die Stellung der Frau in der Gesellschaft)?
Verbot von Verhütungsmittel  Der Einschnitt in die partnerschaftliche Familienplanung
durch das Verbot von Verhütungsmitteln hat letztlich nicht zu unterschätzende
Konsequenzen für die Frau. Kommt es nämlich zur ungewollten Schwangerschaft, wird die
Frau aus ihrem Umfeld gerissen und muss für das Baby sorgen. Damit ist sie implizit
immer der potentiellen Gefahr ausgesetzt, plötzlich nicht mehr ihren geplanten Tätigkeiten
nachgehen zu können, da sie ja 'plötzlich' schwanger werden könnten. Damit wird die
ganze Last und alle Konsequenzen einer eventuellen ungewollte Schwangerschaft auf die
Schultern der Frau gelegt, was sie unattraktiv für wirtschaftliche Führungspositionen macht
(wo Verfügbarkeit und hundertprozentiger Einsatz das Mass aller Dinge ist). Zudem wird
mit dem Verbot der Verhütungsmittel, die Koordination und die Verhinderung von
allfälligen Schwangerschaften - nach der Methode des Einsprungzykluses - ganz in die
Hände der Frauen gelegt (ausser der Mann beteiligt sich an der Berechnung und
Dokumentation des Menstruationzykluses, was aber nicht sehr realistisch ist). Fazit: Die
Frau als Arbeitskraft wird zum Risikofaktor, da diese Aufgrund einer plötzlichen
Schwangerschaft 'Arbeitsunfähig' werden könnte, und damit Kosten sowie Aufwand
verursacht. Damit verbunden ist notabene auch die zögerlichere Motivation von Eltern,
Ehepartnern und evtl. den betroffenen Frauen selbst, tiefergehende und langwierige
Ausbildungen in Angriff zu nehmen, da diese ebenfalls durch eine plötzlich
Schwangerschaft gefährdet sind, und zudem die 'Früchte' der Ausbildung in Form einer
Kaderstelle kaum eingefahren werden können, weil – wie bereits weiter oben erwähnt –
die Kaderstellen aus dieser implizitem Risiko der Arbeitsunfähigkeit kaum an Frauen
vergeben werden.
Verbot der Abtreibung  Hängt mit dem vorangehenden Problem zusammen. Falls mal
wirklich eine ungewollte Schwangerschaft eintreten sollte, hat die Frau keine Chance diese
zu 'umgehen', da die Abtreibung verboten ist. Es passiert damit eine 'Verdammung in das
Schicksal der Hausfrau' zur Erfüllung der Mutterpflichten, sobald die Schwangerschaft erst
einmal eingetreten ist. Dies kommt einer Stigmatisierung gleich.
Ein ganz anderes, aber nicht zu unterschätzendes Problem ist auch die Situation, wo einer
Schwangerschaft ein krimineller Akt vorangeht, beispielsweise bei einer Vergewaltigung
mit anschliessender Schwangerschaft. Die Frau wird in doppeltem Sinne betraft, da sie
nicht nur die Vergewaltigung selbst erleiden musste, sondern auch noch die Folge daraus,
Februar 2004 | Seite 4 von 8
Missliche soziale Position der Frauen in männerdominierten Kulturen, dokumentiert an den Beispielen von Irland und der Südtürkei.
nämlich die Schwangerschaft bzw. das Baby. Damit lässt sich zur Stigmatisierung der
Frauen durch das Verbot der Abtreibung auch noch eine zweite Gefahr erahnen, nämlich it,
dass sie in 'kriminelles' Milieu abdriften könnte. Dies in dem Fall, wenn sich eine Frau
entschliessen sollte, eine ungewollte Schwangerschaft (trotz dem Verbot) abzutreiben und
damit den illegalen Weg beschreiten muss.
Fazit: Den Frauen wird mit dem Verbot der Abtreibung die Rechte beschnitten, um
gleichzeitig zusätzliche Pflichten auferlegt zu bekommen (wie z.B. die Mutterpflicht). Es
passiert zudem – wie wir gesehen haben - eine Stigmatisierung, vor allem wenn das Baby
ungewollt ist (oder es aus einem 'Unfall' heraus entstanden ist).
Verbot der Scheidung  Das Verbot der Scheidung trifft zwar beide Geschlechter
gleichermassen, doch gibt es Umstände, unter welchen dies für die Frau weitaus
unangenehmere Folgen haben kann. Nimmt man den Fall der Polygamie, so hat der Mann
die Gelegenheit mehrere Frauen zu heiraten. Selbst wenn auch er sich nicht scheiden
durfte, kann er doch 'immer wieder' eine neue Frau heiraten. Polygamie im umgekehrten
Sinn, wo die Frau mehrere Männer haben darf, gibt es hingegen praktisch nicht.
Ein weiteres Problem, welches mit dem Verbot der Scheidung bzw. der Heirat
zusammenhängt, ist die Tatsache, dass in gewissen Kulturen die Frauen immer noch
zwangsverheiratet werden. In einem solchen Fall kann die Konstellation eintreten, dass
eine Frau z.B. einen sehr gewalttätigen Mann heiraten muss, und danach keine Chance
mehr hat, sich von diesem scheiden zu lassen.
Fazit: Das Verbot der Scheidung schränkt allgemein die Individuen in ihren Grundrechten
ein. Wie erläutert wurde, trifft es die die Frauen dabei stärker, als die Männer.
Fallbeispiel Südtürkei: Unterdrückung der Frauenrechte im Namen
der Ehre
Die 'Ehre der Familie' ist zwar einerseits ein sehr dehnbarer Begriff aber andererseits auch
manchmal das einzige, was den Armen der ärmsten Familien der Südtürkei übrig bleibt.
Als Illustration dieses Begriffes der Familienehre gibt es viele verschiedene Beispiele. Ein
solches, namentlich der Mord an einem 15jährige Mädchen, ausgeführt durch ihren
eigenen Bruder (in der Stadt Diyarbakir im kurdischen Süden) soll als Beispiel für den
sozialen Missstand der Mädchen bzw. Frauen dargestellt und analysiert werden.
(Situationskarte nächste Seite)
Februar 2004 | Seite 5 von 8
Missliche soziale Position der Frauen in männerdominierten Kulturen, dokumentiert an den Beispielen von Irland und der Südtürkei.
Übersicht: Türkei und Diyarbakir
Das besagte Beispiel begann mit der Vergewaltigung durch einen Verwandten der Familie.
Als das Mädchen daraufhin schwanger wurde, beschloss sie (trotz der Kenntnis ihrer
auswegslosen Situation) die Vergewaltigung bei der Polizei anzuzeigen; erfolglos. Als sie
im fünften Monat schwanger war, und der Vergewaltiger zum wiederholten Male den
Vorschlag der Familie des vergewaltigten Mädchens ausschlug, das Mädchen zu heiraten,
beschloss der 19jährige Bruder des Mädchens, auf die Ehrverletzung zu reagieren, indem
er seine Schwester - welche nach Ansicht der Familie die Schande über ihre
Familiengemeinschaft gebracht hatte - tötete. Bereits hier zeigt sich erstmalig die soziale
Diffamierung der Frauen auf. Obwohl das Mädchen keinerlei Schuld an ihren Los der
Schwangerschaft hatte und dazu erst noch einer – in einem westlichen Verständnis
kriminellen Akt – Vergewaltigung unterliegen musste, verurteilt man sie als Verursacherin
der Schande.
So schrecklich dieses Beispiel auch anmuten mag, so exemplarisch scheint es für die
Südtürkei, spezieller des "Armenhauses Kurdistans"10 zu sein. Untersucht man die
Umstände der Familie und das sozialen Umfeld in welcher sie sich befindet, so zeichnen
sich gewisse Indizien ab, die auf klassische Elemente der Problematik betreffend
Missständen in der Gleichberechtigung zwischen der Geschlechter hinweisen.
Der Vater des Mädchens ist Alkoholiker ohne einer festen Arbeit nachzugehen und die
Mutter hält die Familie nur ganz knapp über Wasser, indem sie täglich gegen schlechtes
Entgelt bei anderen Menschen putzen geht. Die ganze Familie mit insgesamt acht Kindern
lebt in einem einzigen Zimmer in der völlig heruntergekommenen Altstadt von Diyarbakir.
Lesen und Schreiben kann niemand in der Familie, Arztbesuche kann sich die Familie nicht
leisten. Es fehlen also nicht nur gewisse soziale Grundwerte wie wir sie aus den westlichen
Zivilisationen kennen und an denen wir uns orientieren (wie z.B. soziale Annerkennung
durch ein geregeltes Einkommen, Statussymbole wie Haus, Auto etc. oder soziales
Netzwerk, welches nicht nur aus Personen des Verwandtenkreises besteh u.a.) sondern
auch die Grundvoraussetzungen für ein Leben, in welchem die Grundbedürfnisse gestillt
sind und es damit erlauben, dass sich die Aufmerksamkeit anderen Bereichen wie eben
z.B. der Auseinandersetzung mit der Suche nach Arbeit etc. angenommen werden können.
10
Facts 3/2004, S. 81
Februar 2004 | Seite 6 von 8
Missliche soziale Position der Frauen in männerdominierten Kulturen, dokumentiert an den Beispielen von Irland und der Südtürkei.
Die einzigen 'Werte' an die sich die Familie klammern kann, sind der Glauben an die
Religion sowie ihre Vorstellung von Ehre, andere Fixpunkte11 fehlen.
Es sind aber nicht bloss die familiären Umstände, die ein Überleben der Familie schwierig
machen und unter welchen – nicht nur die Frauen – leiden. Das Problem des Ehrenmordes
ist kulturell und gesellschaftlich so tief verankert, dass es praktisch schon als ein
gesellschaftlich legitimiertes Element anerkannt wird. Dies lässt sich an drei verschiedenen
Punkten erkennen:
Erstens; Einfluss der Tradition (geschichtlich gewachsen): Die Region der Südtürkei ist
geprägt von Gewalt und damit auch von Macht und Unterdrückung. Die Geschichte hat
viele Konfrontationen hervorgebracht: "Römer gegen Seldschuken, Perser gegen
Osmanen, Kurden gegen Türken"12. Diese stets vorherrschende Gewalt hat dazu geführt,
dass Gewalt schon fast ihren festen Platz im normalen Leben eingenommen hat; selbst in
der heutigen Zeit artet ein Streit immer noch sehr schnell in ein Handgemenge oder
Gewalt aus. Damit verbunden ist eine Art 'Gewaltspirale' die ihre Auswirkung bis ins
familiäre Leben ausstrahlen kann. Nicht selten ist die Frau, welche vom Mann oftmals sehr
stark untergeordnet wird, ein Ziel der Gewalt (vor allem, wenn zusätzlich eine
Abhängigkeit wie z.B. die Alkoholabhängigkeit des Mannes im Spiel ist). Wie bereits im
Zusammenhang mit Irland erläutert, kann die Argumentation von Flora Tristan auch hier
angewendet werden. Der am stärksten unterdrückte oder sozial am wenigsten angesehene
Mann, kann immer noch eine weitere Person unterdrücken, seine Frau. Durch diese
Gewaltanwendung kann der Mann ein Machtgefühl ausleben – und hält damit die
Gewaltspirale aufrecht.
Zweitens; Gesellschaftlich legitimierte sowie staatlich kaum geahndete Gewalt: Die
Einstellung gegenüber der Frau ist in der türkischen Gesellschaft sehr einseitig. Mit
anderen Worten, besitzt die Frau eine sehr niedrige soziale Stellung, wodurch ihr praktisch
keine Rechte, geschweige eine Gleichberechtigung anerkannt wird. Gefördert wird dies
implizit durch den (türkischen) Staat, welcher bei Ehrenmorden einen Strafnachlass bis zu
zwei Dritteln ermöglicht.
Kombiniert mit sozialen Missständen, wie einem sehr tiefen Durchschnittseinkommen (das
Durchschnittseinkommen in der Türkei pro Kopf und Jahr liegt unter tausend Dollar) und
einer schlechten Bildung (nur jeder zweite hat eine Schule besucht), existiert auch kaum
Potential oder ein treibende Kraft, welche kurzfristig etwas an diesen Missständen ändern
könnte.
Drittens; Religiös-moralische Werte: Die moralisch-religiöse Einstellung tendiert
dahingehend, die Frauen als Besitz oder untergeordnetes Wesen zu taxieren, welches die
höchsten Ansprüche erfüllen muss. Andernfalls wird sie umgehend als 'wertlos' betrachtet
11
12
Fixpunkte verstanden als Orientierungspunkte, die der Familie erlauben, ihr Leben nach gewissen sinngebenden Elementen zu
verfolgen und auszurichten. In Gruppen, wo die Strukturierung nur von sehr schwachen sozialen Einbindungen gekennzeichnet sind,
übernehmen dann oft universale Sinngebungsfaktoren wie z.B. die Religion diese Aufgabe.
Facts 3/2004, S. 83
Februar 2004 | Seite 7 von 8
Missliche soziale Position der Frauen in männerdominierten Kulturen, dokumentiert an den Beispielen von Irland und der Südtürkei.
oder man geht davon aus, sie brächte Schande über die ganze Familie. Die Ehre der
gesamten Familie hängt oftmals von der Jungfräulichkeit der Mädchen und der Keuschheit
der verheirateten Frauen ab. Zudem ist es normal, junge Mädchen zu verheiraten. Und
wenn einmal eine Ehrverletzung passiert, gibt es keine moralische oder religiöse Grenzen,
welche
die
betroffenen
Familien
daran
hindern
würden,
ein
minderjähriges
Familienmitglied mit der Tötung zu beauftragen, damit dieses durch das tiefe Alter einer
allfälligen Haftstrafe entgehen kann.
Zwar scheint es, dass die patriarchale Moral Risse bekommen hat und sich insbesondere in
Kurdistan die Frauen emanzipieren um sich gegen die Unterdrückung auflehnen. So gibt es
auch in Diyarbakir ein Kinocenter und eine moderne Einkaufspassage wo sich die
wohlhabenden und westlich geprägten jungen Frauen treffen, ohne sich über die
Unterdrückung sorgen machen zu müssen. Doch dieser sehr starke Gegensatz erinnert an
den 'Gap'13 der zwischen – dem oftmals sehr nahe beieinander liegenden – 'Reich' und
'Arm' liegt.
Natürlich ist dieses Beispiel des Ehrenmordes an einer jungen, 15jährigen Frau sehr krass
und ist nicht unbedingt charakterisierendes Beispiel für die ganze Südtürkei.
Tatsache ist aber, dass in gewissen Bereichen der türkischen und kurdischen Gesellschaft
Missstände vorherrschen, gerade im Zusammenhang mit den fehlenden Rechten der Frau.
Bevor aber zu sehr mit einem moralisierenden Zeigefinger auf diese 'fremdartigen' und
weit weg scheinenden Missstände gezeigt wird und man andere Kulturen kritisiert, darf
nicht vergessen werden, dass auch die Schweiz in Gleichberechtigungs-Fragen einen
Nachholbedarf hat. Beispiele sind einerseits die sehr späte Einführung des eidgenössischen
Frauenstimmrechtes (welches erst seit 197114 Bestand hat), oder andererseits die nicht
ganz ausgeglichene Vertretung der Frauen in der Wirtschaft oder den politischen Ämtern
(vgl. mit der aktuellen Zusammensetzung des Bundesrates, mit nur einer einzigen Frau).
Fazit: Es ist sehr wichtig, auf die krassen, globalen Missstände im Bereich der
Frauenunterdrückung hinzuweisen, gleichzeitig dürfen aber die eigenen Probleme und
Missstände nicht vergessen werden. Zudem ist das Bewusstsein wichtig, dass diese
Missstände in Gleichberechtigungsfragen praktisch immer mit Themen der Tradition und
der Religion zusammenhängen, die sehr heikel sind und praktisch immer einen sehr langen
Entwicklungs- bzw. Änderungsprozess beinhalten.
13
14
Lücke, Abgrund; verstanden als Indikator eines krassen Gegensatzes
Quelle: http://www.romankoch.ch/cgi-bin/gds.asp?aktion=liste&objekt=geschichte (Stand: 16. Februar 2004)
Februar 2004 | Seite 8 von 8
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