Diebstahl als Pramipexol-assoziierte

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Kasuistik
Diebstahl als Pramipexol-assoziierte Impulskontrollstörung –
Ein Fallbericht aus der Schuldfähigkeitsbegutachtung
Stealing as an Impulse Control Disorder Associated with
Pramipexole – A Case Report from Forensic Psychiatric Practice
Institut
Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim,
Medizinische Fakultät Mannheim, Universität Heidelberg
Schlüsselwörter
Dopaminagonisten, Kleptomanie, Schuldfähigkeit
Keywords
dopamine agonist, impulsive stealing, legal culpability
Bibliografie
DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0043-100024
Psychiat Prax 2017; 44: 172–174
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York
ISSN 0303-4259
Korrespondenzadresse
Prof. Dr. Harald Dreßing, Leiter des Bereichs für
Forensische Psychiatrie, Zentralinstitut für Seelische
Gesundheit, Medizinische Fakultät Mannheim,
Universität Heidelberg, J5, 68159 Mannheim
[email protected]
Einleitung
Dopaminagonisten sind weitverbreitet zur Behandlung des
Morbus Parkinson. Eine wichtige Nebenwirkung sind Impulskontrollstörungen, wobei bisher vorwiegend über pathologisches Spielen, Hypersexualität und exzessive Kaufhandlungen
berichtet worden ist [1 – 3]. Die Impulskontrollstörungen werden mit der Wirkung der Dopaminagonisten am D3-Rezeptor
in Verbindung gebracht [1, 4].
Hinweise für eine Assoziation von Stehlverhalten mit Dopaminagonisten fanden sich bisher in einer pharmakoepidemiologischen Studie [1]. Zudem berichtete eine Fallserie von Stehlverhalten unter dopaminagonistischer Behandlung eines Restless-Legs-Syndroms [5]. In der Literatur (z. B. [1, 5]) wird häufig
der Begriff der Kleptomanie benutzt ohne genauere Ausführun-
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ZUSAMMENFASSUNG
Wir berichten über eine 48-jährige Gutachtenprobandin,
welche zur Behandlung ihres Morbus Parkinson den
Dopaminagonisten Pramipexol einnahm und in zeitlicher
Assoziation hiermit zahlreiche Diebstähle verübte.
Während pathologisches Spielen, exzessive Käufe und
Hypersexualität schon vielfach als Nebenwirkungen der
Dopaminagonisten beschrieben wurden, finden sich bisher kaum Fallberichte über impulsives Stehlen in diesem
Zusammenhang.
Wir diskutieren insbesondere das Zusammenwirken der
pharmakologischen Effekte mit familiären, biografischen
und sozialen Faktoren im Sinne einer biopsychosozialen
Ätiologie.
ABSTRACT
We report the case of a 48-year-old female whom we examined for legal culpability. The proband was taking the
dopamine agonist pramipexole as a treatment for Parkinson’s disease. In temporal association, she had committed numerous shoplifting offences.
While pathological gambling, excessive shopping and hypersexuality have often been described as adverse effects
of dopamine agonists, there are only few reports about
impulsive stealing in this context.
We discuss the synergy of the pharmacological effects
with familial, biographic and social factors, suggesting a
bio-psycho-social etiology.
gen zu der Frage, ob tatsächlich die Kriterien dieser Störung
(ICD-10 F63.2) erfüllt sind. Die undifferenzierte Verwendung
des Begriffs Kleptomanie (z. B. in Fällen von impulsivem Stehlen
zu Zwecken der Bereicherung [5]) erscheint problematisch [6].
Wir berichten über eine Gutachtenprobandin, deren Stehlverhalten in engem zeitlichen Zusammenhang mit der Einnahme von Pramipexol stand. Gemäß den Angaben der Probandin
zu den Taten waren die Kriterien einer Kleptomanie nicht erfüllt. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass die Probandin schon in der Kindheit und Jugend durch häufigere Diebstähle aufgefallen war, sodass ein komplexes biopsychosoziales Bedingungsgefüge anzunehmen ist.
In dieser Konstellation ergeben sich besondere Herausforderungen an die Schuldfähigkeitsbegutachtung.
Clemm von Hohenberg C, Dreßing H. Diebstahl als Pramipexol-assoziierte … Psychiat Prax 2017; 44: 172–174
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Autoren
Christian Clemm von Hohenberg, Harald Dreßing
Tatanamnese
Die 48-jährige aktuell arbeitslose Frau stellte sich zur Schuldfähigkeitsbegutachtung vor. Ihr wurden mehrere Ladendiebstähle zur Last gelegt, bei denen sie jeweils Waren im Wert von
mehreren 100 Euro entwendet hatte. Neben diesen Taten beschrieb die Probandin zahlreiche weitere Diebstähle, bei denen
sie Dinge entwende, welche für sie nutzlos seien oder von so
geringem Wert, dass sie sich diese auch leicht selbst leisten
könnte (z. B. eine Dose Mais). Zu einem Teil verschenkte die
Probandin die Gegenstände, überwiegend lagerte sie das Diebesgut jedoch zu Hause ein, was sich bei einer polizeilichen
Durchsuchung zeigte.
Die Probandin schilderte für den Zeitraum unmittelbar vor
den Taten eine Art Euphorie, ein Gefühl, von der Herausforderung angezogen zu sein („Sind die [Ladendetektive] gescheiter
als ich?”). Eine unaushaltbare Spannung, welche durch den
Diebstahl abfällt und einer Erleichterung weicht, beschrieb die
Probandin dagegen nicht, weswegen die Kriterien einer Kleptomanie nicht erfüllt waren.
Auch in anderen Lebensbereichen bestanden nach eigenen
Angaben Schwierigkeiten mit der Impulskontrolle, was sich in
häufigen übersteigerten Putzhandlungen äußerte oder in
Schwierigkeiten, an der roten Ampel stehen zu bleiben. Hinweise für pathologisches Spielen bestanden nicht.
Medizinische Anamnese
In der rumänischen Heimat hatte sich, beginnend um das 30.
Lebensjahr, ein Tremor entwickelt, welcher schließlich als Morbus Parkinson eingeordnet wurde; diese Diagnose wurde später
in einer neurologischen Klinik in Deutschland bestätigt. Einen
Therapieversuch mit Dopaminagonisten in Rumänien hatte die
Probandin wegen Unverträglichkeit nach wenigen Wochen beendet, und die Behandlung war mit L-Dopa fortgeführt worden.
In Deutschland, wohin die Patientin im Mai 2012 emigrierte,
wurde die Behandlung im April 2013 um Pramipexol ergänzt.
Laut den Angaben der Probandin habe sie in den darauffolgenden Wochen zu stehlen begonnen. Vor dem Behandlungsbeginn mit Pramipexol waren weder nach den Angaben der Probandin noch laut Bundeszentralregister (erster Eintrag im Juni
2013) Diebstähle vorgekommen.
Ein späterer Auslassversuch des Pramipexols wurde abgebrochen, weil sich hierunter die Motorik intolerabel verschlechtert hatte. Die psychiatrische, medizinische und Substanzanamnese war ansonsten nicht wegweisend.
Biografie
Die Probandin war in Rumänien geboren und aufgewachsen.
Bereits in der Kindheit und frühen Jugend hatte sie nach eigenen Angaben häufiger kleinere Gegenstände gestohlen, z. B.
Stifte aus der Schule. Auch die Mutter und die Schwestern hätten gestohlen. Bei der Probandin selbst war das Verhalten im
Laufe der Jugend jedoch sistiert, und sie war nach eigenen Angaben erfolgreich an verschiedenen Arbeitsstellen. Nach Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Lage in Zusammenhang
mit der Parkinson-Erkrankung emigrierte die Probandin im
Jahr 2012 nach Deutschland, wo sie seither arbeitslos gewesen
ist und als alleinerziehende Mutter mit ihrer Tochter lebt, ansonsten ohne enge zwischenmenschliche Beziehungen.
Untersuchungsbefund
Im psychopathologischen Befund fielen ein labiler, teils hyperthymer, teils weinerlicher Affekt, eine zeitweise unruhige Psychomotorik und eine mäßige Logorrhö auf. Im neurologischen
Befund fanden sich ein Ruhe- und Haltetremor, eine Bradydiadochokinese und eine posturale Instabilität, jedoch kein Rigor.
Diskussion
Die gutachterliche Bewertung konzentrierte sich auf die Frage,
ob das delinquente Verhalten durch die dopaminagonistische
Medikation zumindest relevant mitverursacht war.
Pro-Argumente
Hierfür sprach zunächst, dass die Einnahme eines Dopaminagonisten a priori eine plausible biologische (Mit-)Ursache des
Stehlverhaltens ist, denn Impulskontrollstörungen sind als Nebenwirkung dieser Medikamentenklasse gut beschrieben. Relativ zu Nebenwirkungen im Allgemeinen und im Vergleich zu anderen Medikamenten ist das Auftreten von Impulskontrollstörungen, einschließlich Stehlens, bei der Einnahme von Pramipexol um mehr als das 400-Fache erhöht [1]. In unserem Fall wurde der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Behandlungsbeginn mit Pramipexol und dem Wiederbeginn der Diebstähle
im Jahr 2013 nachvollziehbar geschildert und auch durch die
uns vorliegenden Dokumente (Arztbriefe, Bundeszentralregister) nahegelegt. Zudem beschrieb die Probandin auch in anderen Bereichen (z. B. Straßenverkehr) Schwierigkeiten mit der
Impulskontrolle. Diagnostisch ist von einer medikamentös induzierten Impulskontrollstörung auszugehen.
kontra-Argumente
Folgende Überlegungen sind jedoch einschränkend anzuführen: Die Schilderung der Taten in der Akte, weitgehend bestätigt durch die Angaben der Probandin, implizieren, dass die
Probandin bei den Taten recht geplant vorgegangen ist. Beispielsweise nahm sie bei einem Diebstahl eine Handtasche aus
dem Regal, um die Sicherheitsetiketten dort zu verbergen, und
stellte die Handtasche dann wieder zurück an ihren Platz. Auch
schien die Probandin dem Drang zu stehlen situationsabhängig
auch durchaus widerstehen zu können, denn sie stahl nach
eigenen Angaben nicht im Beisein ihrer Tochter.
Der Wunsch nach Bereicherung ist natürlich eine mögliche
konkurrierende Ursache für die Diebstähle und wird nahegelegt
durch die Angaben der Probandin, dass sie das Diebesgut teilweise durchaus benutzt hat. Gegen die ausschließlich pharmakologische Ätiologie sprechen auch einige biografische, familiäre und sozioökonomische Gegebenheiten: Die Probandin
hat bereits als Jugendliche, frei von dopaminagonistischen Medikamenten, über Jahre hinweg immer wieder gestohlen. Das
Verhalten war damals immerhin so problematisch, dass sie zeitweise ein Internat für schwer erziehbare Kinder besuchen
musste. Auch die Mutter und eine Schwester haben laut den
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Angaben der Probandin vielfach gestohlen, woraus für die Probandin entsprechende Lernerfahrungen resultiert haben dürften. Nicht zuletzt begünstigte auch die aktuelle finanzielle Situation der Probandin das Bedürfnis, Waren zu stehlen, die sie
sich sonst nicht leisten konnte.
Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Literatur
In der gutachterlichen Abwägung kamen wir zum Ergebnis,
dass eine durch Pramipexol bedingte organische Impulskontrollstörung (im ICD-10 zugeordnet zu F07.8) zu diagnostizieren ist. Bei der Schuldfähigkeitsbegutachtung kann diese Störung dem Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung der §§ 20, 21 StGB subsumiert werden. Hinsichtlich der in
einem zweiten Schritt zu prüfenden Auswirkungen dieser Störung auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit kann eine Beeinträchtigung der Einsichtsfähigkeit nicht festgestellt werden.
Bei der Beurteilung der Steuerungsfähigkeit ist in diesem Fall in
besonderer Weise das Zusammenwirken verschiedener (biologischer, psychischer und sozialer) Faktoren zu ventilieren. Zu
beachten sind auf der einen Seite der offensichtliche pharmakologische Effekt, auf der anderen Seite die in der Vergangenheit gelernten Verhaltensmuster, die familiären Lernerfahrungen, womöglich auch die aktuell schwierige wirtschaftliche Situation und der Mangel an zwischenmenschlichen Ressourcen.
In einer Gesamtschau kann eine erhebliche Beeinträchtigung
der Steuerungsfähigkeit aufgrund einer organischen Impulskontrollstörung angenommen werden.
[1] Moore TJ, Glenmullen J, Mattison DR. Reports of pathological
gambling, hypersexuality, and compulsive shopping associated with
dopamine receptor agonist drugs. JAMA Intern Med 2014; 174:
1930 – 1933
[2] Poletti M, Logi C, Lucetti C et al. A single-center, cross-sectional
prevalence study of impulse control disorders in Parkinson disease:
association with dopaminergic drugs. Journal Clin Psychopharmacol
2013; 33: 691 – 694
[3] Zurowski M, O’Brien JD. Developments in impulse control behaviours
of Parkinson’s disease. Current opinion in neurology 2015; 28: 387 –
392
[4] Seeman P. Parkinson’s disease treatment may cause impulse-control
disorder via dopamine D3 receptors. Synapse 2015; 69: 183 – 189
[5] Dang D, Cunnington D, Swieca J. The emergence of devastating impulse control disorders during dopamine agonist therapy of the restless legs syndrome. Clin Neuropharmacol 2011; 34: 66 – 70
[6] Habermeyer E, Heekeren K. [Anmerkungen zum unkritischen Umgang mit der Diagnose „Kleptomanie“]. Psychiat Prax 2004; 31:
40 – 42
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