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3.5 Persönlichkeitsstörungen
G. Rudolf
Kaum ein anderes klinisches Thema hat so viele
Forschungsinteressen geweckt, aber auch Kontroversen ausgelöst wie die Persönlichkeitsstörung,
die heute in eigenen Zeitschriften, Lehrbüchern
und Kongressen diskutiert sowie in speziellen stationären Abteilungen und ambulanten Therapien
behandelt wird.
Persönlichkeitsstörungen sind vergleichsweise
häufig. Die Prävalenzrate für unbehandelte Personen in der deutschen Bevölkerung wird mit 11 %
angegeben (Bohus et al. 2009), in stationären Einrichtungen bis zu 50 %, Ambulante Therapeuten
hingegen scheuen sich, diese Diagnose zu vergeben (Rudolf 2009). Das geschieht häufig aus der
Befürchtung, die Patienten durch eine solche Diagnose zu pathologisieren. In der Tat betonen manche der diagnostischen Kriterien weniger das subjektive Leiden als vielmehr negativ bewertete
Eigenschaften. Es ist offenbar etwas Heikles an dieser Diagnose, der Umgang mit ihr erfordert in
besonderer Weise therapeutisches Taktgefühl.
Gleichwohl zeigen sich Patienten aber auch durchaus erleichtert, wenn man mit ihnen die diagnostischen Kriterien ihrer speziellen Persönlichkeitsstörung durchspricht. Es wird dadurch etwas in
sprachliche Begriffe und Störungskonzepte gefasst,
dem der Patient sich bislang ausgeliefert fühlte,
ohne es benennen, verstehen oder ändern zu können.
▶ ICD-10-Klassifikation. Das in Europa präferierte diagnostische Klassifikationssystem ICD-10,
das mit den Definitionen des amerikanischen
DSM-Systems nicht in allen Einzelheiten übereinstimmt, unterscheidet folgende Störungen.
● F60.0 paranoide Persönlichkeitsstörung
● F60.1 schizoide Persönlichkeitsstörung
● F60.2 dissoziale Persönlichkeitsstörung
● F60.3 emotional instabile Persönlichkeitsstörung
○ F60.30 impulsiver Typ
○ F60.31 Borderline-Typ
● F60.4 histrionische Persönlichkeitsstörung
● F60.5 anankastische Persönlichkeitsstörung
● F60.6 ängstliche (vermeidende) Persönlichkeitsstörung
●
●
●
F60.7 abhängige Persönlichkeitsstörung
F60.8 sonstige näher bezeichnete Persönlichkeitsstörung
F60.9 nicht näher bezeichnete Persönlichkeitsstörung
Die Diagnose „narzisstische Persönlichkeitsstörung“
muss in ICD unter F60.8 (andere) eingeordnet werden.
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3.5.1 Begriffsbestimmung
▶ DSM-V-Klassifikation. Bei der DSM-IV lassen
sich die zehn dort beschriebenen Formen von Persönlichkeitsstörungen auf der Basis deskriptiver
Ähnlichkeiten in drei Hauptgruppen (Cluster)
zusammenfassen.
● Cluster A enthält Störungen, die als „sonderbar“
oder „exzentrisch“ gelten können, nämlich die
paranoide, schizoide und die schizotypische Persönlichkeitsstörung.
● Im Cluster B werden Persönlichkeitsstörungen
zusammengefasst, die als „dramatisch, emotional oder launisch“ erscheinen, so die antisoziale,
die Borderline-, die histrionische und die narzisstische Persönlichkeitsstörung.
● Cluster C fast die Persönlichkeitsstörungen
zusammen, die durch Ängstlichkeit gekennzeichnet sind, so die vermeidend-selbstunsichere Persönlichkeitsstörung, die dependente und die
zwanghafte Persönlichkeitsstörung.
Die diagnostische Situation wird dadurch erschwert, dass häufig mehrere Persönlichkeitsstörungen bei einem Patienten vorliegen oder dass im
Sinne der Komorbidität Persönlichkeitsdiagnosen
und andere Diagnosen (z. B. Essstörungen, Angststörungen, depressive Störungen) nebeneinander
bestehen. Die Vorstellung eines solchen Nebeneinanders ist für psychodynamische Therapeuten,
die sich um das Verständnis einer ganzheitlichen
Person bemühen, eher schwierig.
249
3.5.2 Psychodynamische
Perspektiven
Aus psychodynamischer Sicht interessiert über die
erwähnte Beschreibung dysfunktionaler Verhaltensweisen hinaus vor allem die Psychodynamik
der Persönlichkeitsentwicklung, weil deren Verständnis die Voraussetzung für therapeutische
Ansätze liefert.
Oberflächlich lassen sich Persönlichkeitsstörungen als ausgeprägte anhaltende Beziehungsstörungen beschreiben: Der schizoide Patient versucht
jegliche emotionale Verwicklung zu vermeiden,
der dissoziale Patient geht aggressiv über die
Rechte und Interessen anderer hinweg, der abhängige Patient sucht die enge haltgebende Beziehung,
der Borderline-Patient ist außerstande, eine tragfähige Beziehung aufzubauen und aufrecht zu
erhalten. Diese Beziehungsmuster stehen aber
nicht gleichrangig nebeneinander, sondern lassen
Störungen von sehr unterschiedlichem Schweregrad und verschiedenartiger psychodynamischer
Komplexität erkennen. In einer Grobklassifikation
lassen sich zwei Gruppen unterscheiden, die durch
eher neurotische oder mehr persönlichkeitsstrukturelle Störungsanteile gekennzeichnet sind.
Neurotischer Typus
Zu dieser Gruppe gehören die ängstliche (vermeidende), die abhängige und die zwanghafte Persönlichkeitsstörung. Hier hat eine chronifizierte neurotische Entwicklung die gesamte Persönlichkeit
ergriffen und sie vor allem durch ihre charakterlich verankerten Abwehrformationen geprägt. Psychodynamisch stehen somit konfliktdynamische
und abwehrdynamische Aspekte im Vordergrund,
während das Strukturniveau nicht schwerwiegend
beeinträchtigt ist. Therapeutisch steht bei diesen
Störungen die Bearbeitung der Charakterabwehr
im Vordergrund als Voraussetzung für einen therapeutischen Zugang zu der dahinter liegenden Konfliktdynamik.
Persönlichkeitsstruktureller Typus
Im Unterschied zu dem vorgenannten Typus bestimmen hier erhebliche strukturelle Störungen
das Erleben und Verhalten des Patienten (besonders deutlich ausgeprägt in der Borderline-Persönlichkeitsstörung). Darüber hinaus finden sich
Stabilisierungsversuche durch narzisstisch-selbst-
250
idealisierende, schizoid-affektvermeidende oder histrionisch agierende Haltungen. Die eingeschränkte
Verfügbarkeit über strukturelle Fähigkeiten (z. B.
Selbstreflexion, Affektdifferenzierung, Impulskontrolle, Empathie etc.) macht den Unterschied zu
dem neurotischen Typus aus und bestimmt das klinische Bild dieser „schweren“ Persönlichkeitsstörungen. Dazu gehören die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung (impulsiver Typ, BorderlineTyp), die schizoide Persönlichkeitsstörung, narzisstische Persönlichkeitsstörung, histrionische Persönlichkeitsstörung sowie Störungen mit besonders schweren sozialen Folgen (dissoziale und
paranoide Persönlichkeitsstörung).
Eine solche Logik von Störungen auf unterschiedlichem Strukturniveau (Kernberg 1984, Arbeitskreis OPD 1996, Rudolf 2004) wird aktuell
auch für die geplante DSM-V diskutiert, wo der
„level of personality functioning“ für die Diagnose
einer Persönlichkeitsstörung eine maßgebliche
Rolle spielt.
3.5.3 Exemplarische Darstellung
zweier Persönlichkeitsstörungen
Borderline-Persönlichkeitsstörung
▶ Erregungsphase. Kennzeichnend für BorderlinePatienten ist die Tatsache, dass sie situativ scheinbar völlig überfordert sind, von Affekten und Impulsen geflutet werden, sich im Umgang mit
anderen entwertend-feindselig verhalten, übliche
Distanzschranken neugierig oder sexualisierend
durchbrechen. Besonders erschreckend wirken
selbstschädigende Handlungen (z. B. Selbstverletzungen), die aber nicht im eigentlichen Sinne
autoaggressive Intentionen darstellen, sondern zur
Selbstberuhigung beitragen. In bestimmten Situationen scheint es, dass Kränkungen, Frustrationen
und Belastungen überhaupt nicht ausgehalten und
verarbeitet werden können. Sie führen zu unerträglicher Spannung und Erregung, die angesichts
von drohender Selbstauflösung und Weltuntergangsgefühlen sofortige Gegenmaßnahmen erfordern (z. B. Umherlaufen, Herumfahren, Leute aufsuchen, sexuelle Erregung und Entlastung suchen,
Essen in sich hineinschlingen, Beruhigungsmittel
oder Alkohol zu sich nehmen, sich selbst verletzen,
beispielsweise durch das charakteristische „Schnippeln“ an den Unterarmen). Das Gefühl, so könne es
auf keinen Fall weitergehen, die Katastrophe stehe
unmittelbar bevor, wird zum Dauerzustand.
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3.5 Persönlichkeitsstörungen
3.5.3 Exemplarische Darstellung zweier Persönlichkeitsstörungen
▶ Ruhige Phase. In den ruhigen Zeiten können die
Fremdheit der eigenen Person in den Vordergrund
treten, die Unvertrautheit der eigenen Gefühlswelt, die Rätselhaftigkeit des eigenen Körpers (die
sich nicht selten in hypochondrischen Besorgnissen ausdrückt), die Ungewissheit des eigenen
Selbstbildes und der eigenen Identität (z. B. bezüglich der psychosexuellen Orientierung), aber auch
die Fremdheit der Objektwelt. Die Distanz zu den
anderen Menschen, zu deren Interessen, Empfindungen und Bedürfnissen, zeigt sich außerhalb der
erregten Phasen deutlicher. Auch bei oberflächlich
gekonntem Kontakt bleibt die Kommunikation
unsicher, das Verstehen des anderen ist begrenzt,
und auch das eigene Verstandenwerden bleibt
fraglich.
Merke
*
●
Als charakteristisch für Borderline-Störungen gilt
das Vorherrschen unreifer Abwehrformen wie
Spaltung, Projektion, Verleugnung, Idealisierung. Der Begriff Spaltung beschreibt die Tendenz des Patienten, Ganzheitliches (z. B. das Bild
der eigenen Person oder das des Objekts) in
Bestandteile zu zergliedern und diese voneinander getrennt zu halten.
Das Selbst oder das Objekt bleiben dadurch frei
von den sonst schwer aushaltbaren Widersprüchen („ich bin so, aber auch anders“, „mein Gegenüber ist teils so, teils anders“). Selbst- und Objektbilder zerfallen in nur gute oder nur böse Anteile,
wobei jeweils die negativen Aspekte zusätzlich
durch Projektion nach außen verlagert werden
können. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Art
des Umgangs mit der Realität der eigenen und der
fremden Person, also Spaltung und in der Folge
Idealisierung, Verteufelung oder Projektion, ein
hochproblematisches Beziehungsangebot des Patienten an seine Mitmenschen bzw. an seinen Therapeuten zur Folge hat. Ein großer Teil der reichhaltigen Borderline-Literatur beschäftigt sich mit
behandlungstechnischen Fragen im Umgang mit
diesen Beziehungsschwierigkeiten.
▶ Einfluss früher Traumen. Da der biografische
Hintergrund von Borderline-Patienten regelhaft
erhebliche Defizite oder Belastungen der frühen
Beziehungserfahrungen erkennen lässt, stellt sich
häufig die Frage, ob man das Geschehen nicht als
Traumafolge verstehen soll. Ein Patient, der in
einer hochbelasteten Familie aufwächst, trägt per
se ein größeres Risiko, bereits als Kind oder Jugendlicher ungeschützt in aggressive oder sexualisierte Situationen hineinzugeraten, die zusätzlich
traumatisierend wirken. Die gesamte BorderlineDynamik jedoch als Traumafolge zu verstehen,
erscheint wenig begründet. Ein solcher Ansatz
überbewertet einzelne Belastungsereignisse und
ihre Folgen und übersieht die fehlende Förderung
und Entwicklung basaler struktureller Fähigkeiten.
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Während der Erregung gibt es nichts anderes,
nach ihrem Abklingen scheint es sie nie gegeben
zu haben, d. h. das Erleben ist zeitlos, ohne Anfang
und Ende, entweder da oder nicht da. So können
Patienten zwischenzeitig auch scheinbar unauffällig und effizient funktionieren.
▶ Selbstschädigungstendenz. Es gibt Phänomene
auf Borderline-Niveau, die so ausgeprägt sind, dass
sie als eigenständige klinische Bilder erscheinen.
So kann beispielsweise die körperliche Selbstschädigungstendenz stark ausgeprägt und fast suchtartig entwickelt sein. Sie wird unter dem Begriff
der artifiziellen Störung gefasst. Das Geschehen
beschränkt sich nicht darauf, dass der Patient seinen Körper zum Objekt nimmt und ihn manipuliert (z. B. durch Zuführung toxischer oder infektiöser Substanzen, durch Blutabzapfen usw.), sondern
dass er sich mit dem so be- oder misshandelten
Körper an Ärzte und Kliniken wendet und dort
eine Krankheit anbietet, die er selbst induziert hat.
Im Extremfall drängt er so sehr auf medizinische
Eingriffe und Notfallmaßnahmen, dass diese in der
Tat immer wieder durchgeführt werden.
Es liegt nahe, dass sich die Ärzte durch solche
Patienten getäuscht und hereingelegt fühlen und
aus der entsprechenden Gegenübertragung heraus
die Patienten als Betrüger empfinden. Doch ist die
unbewusste Dynamik einer schweren strukturellen Störung in Rechnung zu stellen: Angesichts
dissoziierter Ich-Zustände weiß der Patient, dass
er manipuliert, und er weiß es doch nicht. Er kann
so intensiv in eine einseitige Ich-Befindlichkeit
eintauchen (in diesem Fall in die des dringend
behandlungsbedürftigen Kranken), dass die übrigen Ich-Anteile, die das Krankheitsbild aktiv herbeigeführt haben, nicht mehr existent erscheinen.
▶ Interaktioneller Druck. Die Beschreibung der
Innenbefindlichkeit und der Verhaltensmuster
vom Borderline-Patienten lässt ahnen, welchen
starken interaktionellen Druck der Patient aus-
251
üben kann. In seiner Erregung verlangt er nichts
weniger als sofortige Hilfe, jetzt in dieser Minute,
notfalls auch durch das Telefon, andernfalls kann
er nicht garantieren, dass es nicht zu suizidalen
oder gewalttätigen Handlungen kommt. Der Therapeut fühlt sich häufig durch solches „Agieren“
erpresst (das kein Agieren im Sinne einer Inszenierung von neurotischen Konflikten ist, sondern das
dringende Verlangen, nicht länger der eigenen
Erregung ausgeliefert sein zu müssen).
Ähnlich wie bei den krisenhaften Ich-Regressionen wird sich der Therapeut in solchen Situationen bemühen, möglichst nicht mitzuagieren,
sondern seine eigene Position gegenüber der aufgelösten Verfassung des Patienten aufrechtzuerhalten. Das ist allerdings schwierig, weil mehr als
in anderen Therapien der Therapeut oft wenig Zeit
zum Nachdenken hat; er muss rasch reagieren und
entscheiden, um drohende Verwicklungen abzuwenden. Die Borderline-Therapie erfordert daher
besondere Behandlungstechniken und vor allem
therapeutische Haltungen.
Narzisstische
Persönlichkeitsstörung
Merke
*
●
Im Vergleich zur Borderline-Persönlichkeit erscheint die narzisstische Persönlichkeit weitaus
weniger desintegriert: Hier werden die oben
beschriebenen basalen Störungen des Ichs, des
Selbst und der Objektbeziehungen überdeckt
durch ihre narzisstische Bewältigung. Die vulnerable Struktur schützt sich dadurch, dass sie die
für sie risikoreiche Objektbeziehung durch Entwertung der Objekte und forcierte Autonomie
kontrolliert; zugleich stabilisiert sie sich selbst
durch starke Selbstidealisierung.
Was an anderer Stelle als Charakteristikum narzisstischer Bewältigung angeführt ist (▶ Kap. 2.2),
trifft hier in besonderer Weise zu: das Festhalten
an der eigenen Großartigkeit als Gegengewicht
gegen die Zweifel an Identität und Selbstwert; die
aktive Anstrengung zur Verwirklichung eines narzisstischen Selbstbildes und die ständige Angst vor
ihrem Zusammenbrechen, das nicht nur die Minderwertigkeit des Selbst zutage fördern würde,
sondern auch die hilflose Bedürftigkeit eines
wenig stabilen Selbst; die Vermeidung von Objektsehnsucht durch Entwertung und Kontrolle der
252
Objekte, über die das Selbst jederzeit zu verfügen
beansprucht.
Während der Borderline-Patient unter seiner
krisenhaften Desintegration selbst leidet, trifft für
die narzisstische Neurose zu, was über Charakterneurosen gesagt wurde: Es sind zunächst die
anderen, die am Patienten leiden, während er
selbst durch die ich-syntone Bewältigung seiner
zentralen Probleme stabilisiert und handlungsfähig bleibt. Erst die Infragestellung oder der
Zusammenbruch der narzisstischen Bewältigung
in Form einer narzisstischen Krise führt zu subjektiv-leidvoller Symptomatik mit dramatischen, zum
Beispiel suizidalen Zügen. Eine derartige Krise
kann spontan auftreten oder sich im Rahmen einer
Psychotherapie manifestieren.
Ist die therapeutische Schwierigkeit bei der Borderline-Störung durch die Chaotik der ständig drohenden Desintegration bestimmt, so ist sie es bei
der narzisstischen Neurose durch die Beziehungsabwehr und durch das Bemühen, den Grandiositätsanspruch gegen alle Realitätsprüfung aufrechtzuerhalten und den Therapeuten zu kontrollieren.
3.5.4 Psychotherapie
Das eingeschränkte Strukturniveau und die zum
Teil rigiden Abwehr- und Bewältigungsstrategien
erschweren den therapeutischen Zugang in jedem
Therapieverfahren, insbesondere bei dem persönlichkeitsstrukturellen Typus der schweren Persönlichkeitsstörung.
● Aggressive Entwertung des Gegenübers und
plötzliche Abrisse der Beziehung zum anderen
erschweren jede Kontaktaufnahme und belasten
auch die therapeutische Beziehung. Therapiekrisen und Behandlungsabbrüche sind häufig.
● Unreife Abwehrformen (z. B. Projektionsneigung)
legen es dem Patienten nahe, Gründe für eigene
Schwierigkeiten stets bei anderen zu suchen.
Dadurch erscheint er (im Unterschied zu konfliktneurotischen Patienten) weniger einsichtig
für eigene Anteile und wenig motiviert, sein ichsyntones Verhalten zu ändern.
● Strukturelle Defizite und dysfunktionale Bewältigungsversuche erscheinen nach außen hin als
Impulsivität, Selbstschädigungstendenz, Abhängigkeitszüge, narzisstische Ansprüche, Kränkbarkeit und generelle Störbarkeit. Daraus resultieren Gefährdungen des Patienten und seiner
sozialen Beziehungen, aber auch der therapeutischen Zusammenarbeit.
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3.5 Persönlichkeitsstörungen
*
●
Aus der beschriebenen Dynamik, die bei schweren Persönlichkeitsstörungen affektiv hochbrisant und bei den neurotischen Persönlichkeitsstörungen rigide verfestigt erscheint, ergibt
sich, dass herkömmliche Behandlungsansätze
wenig Erfolgsaussichten haben. Eine tiefenpsychologisch supportiv-wohlwollende Begleitung
vermag in der Regel wenig nachhaltige Veränderungen zu bewirken. Eine analytische, übertragungsbezogene, konfliktaufdeckende Therapie birgt das Risiko, dass schwer lösbare Beziehungsverstrickungen entstehen, in denen der
Patient sich abhängig fühlt, ohne sein dysfunktionales Verhalten in der verfügbaren Behandlungszeit ändern zu können. Es wurden daher in
allen Therapieverfahren störungsbezogene Modifikationen entwickelt, die auf die dysfunktionalen
Verhaltensmuster des Patienten fokussiert sind.
▶ Verhaltenstherapeutischer Ansatz. Speziell für
Patienten mit Borderline-Störungen entwickelte
Marsha Linehan (1993) die Dialektische Verhaltenstherapie. Sie basiert auf der kognitiven Verhaltenstherapie; über diese hinausgehend integriert sie
interaktionelle Beziehungsarbeit und das Training
psychosozialer Fertigkeiten im Gruppensetting.
Die Dialektik bezieht sich auf das Wechselspiel von
Akzeptanz der Persönlichkeit und Bemühungen zu
ihrer Veränderung. Zentral angesteuert werden
suizidale oder parasuizidale Tendenzen. Was an
diesem Behandlungsansatz und seinen Weiterentwicklungen fasziniert, ist sein pragmatisches
Vorgehen bezogen auf einzelne dysfunktionale
Muster, die auch vom Patienten in angeleiteten
Übungen selbst bearbeitet werden können.
In der kognitiven Therapie und neuerdings auch
in der Schematherapie besteht die Grundlage in
einer Diagnostik kognitiver Schemata, die Patienten zur Bewertung der eigenen Person und anderer Personen entwickelt haben. Das Ziel besteht
darin, dysfunktionale Denkroutinen (Schemata) zu
korrigieren (Roediger 2009).
▶ Psychodynamischer Ansatz. Psychoanalytisch
orientierte Therapieansätze (für die generell gute
Ergebnisse belegt sind) (Leichsenring 2003) finden
sich in der psychoanalytisch-interaktionellen Therapie (Heigl-Evers u. Heigl 1983), der übertragungsfokussierten Psychotherapie (Clarkin et al.
2001), der mentalisierungsbasierten Therapie (Bateman u. Fonagy 2004) und der Strukturbezogenen Psychotherapie (Rudolf 2002, 2004). Das
gemeinsame dieser Methoden, die als ambulante
Langzeitbehandlungen oder stationäre Therapie in
spezialisierten Einrichtungen durchgeführt werden, liegt in einer Reihe therapeutischer Interventionen und vor allem therapeutischer Haltungen:
● Störung des Patienten als ein Phänomen sui
generis akzeptieren (d. h. nicht von vornherein
nach dahinter liegenden Konflikten und Abwehrstrategien suchen)
● positive Aspekte der Bewältigungsstrategien im
Verhalten des Patienten wertschätzen
● mit dem Patienten zusammen in der Position
des Dritten seine dysfunktionalen Verhaltensmuster herausarbeiten
● dem Patienten in der Auseinandersetzung mit
seinen selbstschädigenden Verhaltensweisen
Unterstützung anbieten
● den Patienten in seiner Verantwortung für sein
Verhalten unterstützen
● den therapeutischen Rahmen aktiv strukturieren
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Merke
3.5.4 Psychotherapie
Alle therapeutischen Verfahren – psychodynamische und verhaltenstherapeutisch begründete Vorgehensweisen bei Borderline-Störungen – ähneln
sich in einer Reihe von Akzentsetzungen (Rudolf
2013):
● hohe therapeutische Aktivität
● beelternde Grundeinstellung
● Arbeit an erwachsenen und kindlichen Persönlichkeitsanteilen
● Fokussierung auf Interaktionen
● Ziel: Mentalisierung im Modus des gesunden
Erwachsenen
● Ziel: Selbstfürsorge und Verantwortung für das
eigene Leben
Literatur
[1] Arbeitskreis OPD, Hrsg. Operationalisierte psychodynamische
Diagnostik. Grundlagen und Manual. Bern: Huber; 1996
[2] Arbeitskreis OPD, Hrsg. Operationalisierte psychodynamische
Diagnostik OPD-2. Manual für Diagnostik und Therapieplanung. Bern: Huber; 2006
[3] Bateman A., Fonagy P. Psychotherapy for Borderline Personality Disorders. Mentalization-based Treatment. Oxford: University Press; 2004
[4] Bohus M, Stieglitz RD. Persönlichkeitsstörungen. In: Batra A,
Wassermann R, Buchkremer G, Hrsg. Verhaltenstherapie.
3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2009: 345–385
253
3.5 Persönlichkeitsstörungen
[10] Linehan M. Grundlagen der dialektischen Verhaltenstherapie
bei Boderline-Persönlichkeitsstörungen. In: Schmitz B, Fydrich
D, Limbacher K, Hrsg. Persönlichkeitsstörungen. Diagnostik
und Psychotherapie. Weinheim: Beltz; 1996: 197–199
[11] Roediger E. Die Praxis der Schematherapie. Stuttgart: Schattauer 2009
[12] Rudolf G. Konfliktaufdeckende und strukturfördernde Zielsetzungen in der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie.
Z Psychosom Med Psychother 2002; 48: 163–173
[13] Rudolf G. Strukturbezogene Psychotherapie. Leitfaden zur
psychodynamischen Psychotherapie struktureller Störungen.
Stuttgart: Schattauer 2004 (2. Aufl. 2006, 3. Aufl. 2013
[14] Rudolf G. Psychotherapie der Persönlichkeitsstörung in der
tiefenpsychologischen und analytischen Richtlinienpsychotherapie. PTT Persönlichkeitsstörungen. Theorie und Therapie
2009; 13: 3–14
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[5] Clarkin JF, Yeomans FE, Kernberg OF. Psychotherapie der
Borderline-Persönlichkeit. Manual zur transference-focussed
psychotherapy. Stuttgart: Schattauer; 2001
[6] Heigl-Evers, Heigl F. Das interaktionelle Prinzip in der Einzelund Gruppenpsychotherapie. Z Psychosom Med Psychoanal
1983: 29: 1–14
[7] Kernberg OF. The structural Diagnosis of Borderline Personality Organisation. In: Hartocollis P, ed. Borderline Personality
Disorders. New York: International Universities Press; 1977:
87–121
[8] Kernberg OF. Ein psychoanalytisches Modell der Klassifikationen von Persönlichkeitsstörungen. Psychotherapeut 1996; 41:
288–296
[9] Leichsenring F, Leibing E. The effectiveness of psychodynamic
psychotherapy and cognitive behavioral therapy in personality
disorders. Am J Psychiatry 2003; 160: 1–10
254
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