Lernstatt im Wohnbezirk - DaF TU

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Ulrich Steinmüller
«Lernstatt im Wohnbezirk»
In: Deutsch lernen 3, 1979, S. 45-59
Förderung der sozialen Handlungsfähigkeit als Ziel der Arbeit mit Ausländern
Die Motivation für das, was dann später zum Kommunikationsprojekt «Lernstatt im
Wohnbezirk» wurde, entstand aus zuerst ganz subjektiven Beobachtungen und aus
Einblicken in das Leben ausländischer Arbeiter und ihrer Familien in unserer
Gesellschaft.
Ich will hier nicht noch einmal die ökonomischen Ursachen und Zwänge für die sog.
«Arbeitermigration» aufzählen, und ich verzichte auch auf eine Darstellung der
Existenzprobleme der Ausländer in der BRD, die als Arbeitskräfte gerufen wurden und
dann als Menschen kamen. (1)
Daß die Lebensbedingungen und Existenzmöglichkeiten der ausländischen Arbeiter und
ihrer Familien in unserer Gesellschaft alles andere als optimal sind, gehört inzwischen
zum Alltagswissen: Isolierung, Ghettobildung, problematische Wohnverhältnisse,
Sprachschwierigkeiten, Schulprobleme ausländischer Kinder, Schwierigkeiten im
Umgang mit Behörden, rechtliche Unsicherheit sind nur einige Elemente eines ganzen
Spektrums von Problembereichen. Zu diesen sozioökonomischen und
gesellschaftspolitischen Problemfeldern gesellen sich noch psychische und
sozialpsychologische, die allerdings noch nicht im gleichen Maße ins gesellschaftliche
Bewußtsein gedrungen sind. Alle diese Probleme resultieren für die große Mehrheit der
Ausländer in Unsicherheit und einer gewissen Hilflosigkeit bei der Gestaltung ihres
Lebens unter den ihnen in unserer Gesellschaft aufgenötigten Bedingungen.
Um diese Menschen aus ihrer Situation der Unsicherheit und Hilfsbedürftigkeit
herauszuführen, die sie jeder Art von Ausbeutung und Manipulation - sowohl ökonomisch
als auch politisch-ideologisch - aussetzt, ist es erforderlich, ihre soziale
Handlungsfähigkeit so zu fördern, daß sie in die Lage versetzt werden, ihr Leben in
unserer Gesellschaft und ihre Probleme eigenverantwortlich und selbständig zu
bewältigen. Von deutscher Seite wurde in letzter Zeit Einiges versucht, um den
Ausländern sog. «Integrationshilfen» zu leisten. Es gibt aber seitens der Ausländer einen
sehr bewußten Widerstand dagegen, sich sozial- und bildungspolitisch zum Objekt
machen zu lassen. Viele Äußerungen ausländischer Arbeiter zeigen, daß
Eingliederungsversuche von deutscher Seite nur dann erfolgreich und im Interesse der
Ausländer sein können, wenn sie selbst an ihnen aktiv beteiligt sind. Maßnahmen, die
über ihre Köpfe hinweg konzipiert, beschlossen und durchgeführt werden, führen eher
dazu, die Unselbständigkeit und Abhängigkeitsgefühle weiter zu verstärken, als sie
abzubauen. Ihre Ablehnung wird dann häufig als Verweigerung und Desinteresse der
Ausländer gewertet und dient als Begründung für die Zurücknahme von vielleicht
sinnvollen Initiativen.
Mißverständnisse und Vorurteile tragen dazu bei, daß die schwierige Situation der
Ausländer nicht verbessert wird, stärker wohl noch als böser Wille und direkte Absicht.
Aber auch wenn es gelingt, die Ausländer aus ihrer Situation der Unsicherheit und
Hilflosigkeit zu befreien, muß das Verhältnis zwischen Deutschen und Ausländern nicht
unbedingt konfliktfrei und harmonisch werden. Die eigenverantwortliche
Handlungsfähigkeit der Ausländer, die Entwicklung eines individuellen und nationalkulturellen Selbstbewußtseins kann im Gegenteil zu verstärkten Reibungspunkten und
Konflikten mit der deut[Ende Seite 45]
schen Bevölkerung führen, die mehr oder weniger ausdrücklich und mehr oder weniger
bewußt eine Integration der Ausländer im Sinne von Anpassung, von Aufgehen in der
deutschen Bevölkerung oder sogar von Germanisierung erwartet. Ansatzpunkt für die
Arbeit zur Verbesserung der Situation ausländischer Arbeiter und ihrer Familien können
daher nicht nur die Ausländer selbst sein, die deutsche Bevölkerung muß in diese Arbeit
miteinbezogen werden.
Lernstatt im Industriebetrieb und im Wohnbezirk
Diese Erkenntnisse standen am Anfang der «Lernstatt im Wohnbezirk». «Lernstatt» ist
eine künstliche Wortschöpfung, die sich aus «Lernen» und aus «Werkstatt»
zusammensetzt und die in der ersten Realisation dieses Konzepts in der Industrie
entstand. Nach ersten Anfängen seit 1972 in der Kraftwerk Union wurde das Konzept
1973 bei BMW und 1975 bei der Hoechst AG eingeführt. (2) Ausgangspunkt waren die
Beobachtungen der Industriebetriebe, daß die Produktivität der Arbeit durch die
mangelnde soziale Integration und die mangelhafte Kommunikationsfähigkeit der
dringend benötigten ausländischen Arbeiter behindert wurde. (3) Sprachkurse, die von
den Betrieben eingerichtet wurden, brachten hier keine Abhilfe; eine Lehrerin sagte dazu:
Ich komme selten dazu, mehr als 50 % der für den Sprachunterricht vorgesehenen Zeit
meiner Funktion als Lehrerin nachzukommen, weil besonders die Türken mich ständig
mit ihren betrieblichen und privaten Problemen bedrängen ... (CAD/IFZ 1976, S. 2).
Und die ausländischen Arbeiter bemängelten, daß sie nicht Deutsch sprechen lernten,
sondern Grammatik, Abzählreime und Gedichte.'
Als Konsequenz hieraus wurde in der Lernstatt auf formellen Sprachunterricht mit Lehrer
und Lehrbüchern in einer Klassenraumatmosphäre verzichtet. Deutsche Kollegen
wurden als «Sprachmeister» ausgewählt, im Betrieb wurden improvisierte Lernecken
eingerichtet, in denen während der Arbeitszeit in vertrauter Umgebung mit deutschen
und ausländischen Kollegen im Gespräch über gemeinsame Themen Sprache vermittelt,
Kommunikationsfähigkeit entwickelt und sozialer Kontakt gepflegt wurde. Im Mittelpunkt
stand dabei nicht die «korrekte», normgerechte Sprache, sondern das gemeinsame
Thema.
Die Erfahrungen, die mit diesem Ansatz und den dabei entwickelten Methoden und
Verfahrensweisen gemacht wurden, sollten dann in einem von Auftraggebern
unabhängigen Projekt mit Deutschen und Ausländern als praktische Stadtteilarbeit
verwertet werden.
Gefördert durch die Stiftung Volkswagenwerk führte die Gruppe Cooperative
Arbeitsdidaktik (CAD) in Zusammenarbeit mit dem Zentrum Berlin für Zukunftsforschung
(jetzt Institut für Zukunftsforschung, IFZ) in der Zeit von Juni 1976 bis einschließlich Mai
1978 das Handlungsforschungsprojekt «Lernstatt im Wohnbezirk.
Kommunikationsprojekt mit Ausländern in Berlin-Wedding» durch. (5)
Vor dem Bericht über die Erfahrungen bei der Anwendung der Theorie der
kommunikativen Tätigkeit als Fundierung des didaktischen Konzepts der konkreten
Projektarbeit (6) sind
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noch einige Bemerkungen zum organisatorischen Aufbau und der inhaltlichen
Konzeption der «Lernstatt» erforderlich.
Soziale Handlungsfähigkeit und konkurrierende soziale Normen
Zielsetzung ist die Vermittlung sozialer Kompetenz, d. h. die Fähigkeit zur Erfassung und
Lösung von <Alltagsproblemen> sowie die Verbesserung der Kommunikation zwischen
Ausländern und Deutschen mit Hilfe teilnehmer- und themenzentrierter
Gruppenarbeitsmethoden (EFZ/CAD 1978, S. 9).
Hinter dieser Zielsetzung steht die Einsicht, daß die Probleme der Ausländer in unserer
Gesellschaft nicht durch das Angebot von Kursen zum Erwerb der deutschen Sprache
bewältigt werden können. Es wäre falsch, wollte man die Schwierigkeiten ausländischer
Arbeiter und ihrer Familien bei der Verwirklichung ihrer Interessen und der
eigenverantwortlichen Gestaltung ihres eigenen Lebens auf
Verständigungsschwierigkeiten mit der deutschen Bevölkerung im sprachlichen Bereich
reduzieren - mit der Implikation, daß mit den Sprachschwierigkeiten auch alle anderen
Probleme beseitigt würden.
Die Schwierigkeiten bestehen vielmehr zu einem überwiegenden Teil darin, daß die
deutsche Gesellschaft den erwachsenen Ausländern eine Art Zweitsozialisation abnötigt,
obwohl sie eine für ihr Herkunftsland angemessene soziale und sprachlichkommunikative Handlungsfähigkeit erworben und bereits für Jahre praktiziert haben. Ihre
soziale und sprachlich-kommunikative Handlungsfähigkeit in unserer Gesellschaft hängt
davon ab, daß die Ausländer einen Prozeß durchlaufen, der der Phase der primären
Sozialisation vergleichbar ist und an dessen Ende die kompetente Verfügung über
gesellschaftlich akzeptierte soziale und sprachlich-kommunikative Handlungs- und
Deutungsmuster stehen soll.
Der Erwerb dieser Handlungs- und Deutungsmuster wird erschwert durch die bereits im
Herkunftsland erworbenen und angewendeten Muster, Werte und Normen, die von den
unseren z. T. erheblich abweichen. Hinzu kommt die wenig hilfreiche, oft sogar offen
ablehnende Haltung der deutschen Bevölkerung, die diesen Sozialisationsprozeß eher
behindert als fördert. Darüber hinaus ist es den Ausländern gar nicht ohne weiteres
einsichtig, daß sie ihre bisherigen Vorstellungen vom Zusammenleben in der
Gesellschaft, von Ehre, Moral, von Kindererziehung und dem Umgang mit dem
Ehepartner ändern sollen. Und wenn ihnen diese Erwartungshaltung der Deutschen
bewusst gemacht wird - häufig nicht in sehr höflicher Form - ist aus verständlichen
Gründen ihre Bereitschaft dazu nicht einfach vorauszusetzen.
Das Ziel der «Lernstatt im Wohnbezirk» ist es daher, die Handlungsfähigkeit der
Ausländer in unserer Gesellschaft zu entwickeln, zu fördern und ihnen gleichzeitig die
Entfaltung ihrer eigenen persönlichen und national-kulturellen Identität in der für sie
fremden Umgebung zu ermöglichen. Das bedeutet die Befähigung der Ausländer, sich in
dem bei uns gültigen System gesellschaftlicher Regeln, Normen und Werte zu
behaupten, ohne durch eine platte Anpassung die eigene Identität und Authentizität zu
verlieren, Dazu ist ein Vermittlungsprozeß zwischen den Verhaltensnormen und
Wertvorstellungen des Herkunftslandes mit den in unserer Gesellschaft gültigen
erforderlich, der das Bewußtsein von der eigenen Besonderheit mit der
eigenverantwortlichen Gestaltung der eigenen Lebenssituation in unserer Gesellschaft
verbindet - und es ist die Einbeziehung der deutschen Bevölkerung in diesen Prozeß
erforderlich.
Kommunikative Tätigkeit und soziale Handlungsfähigkeit
So verstandene gesellschaftliche Handlungsfähigkeit beinhaltet als wesentliches Element
die Fähigkeit, sich anderen mitzuteilen, seinen Interessen und Bedürfnissen Gehör zu
verschaffen, aber auch, zu verstehen, Bedeutungen und Absichten zu erkennen. Der
Zwang
[Ende Seite 47]
zur gesellschaftlichen Organisation und Kooperation, der in den Bedingungen und
Voraussetzungen der menschlichen Existenz seine Ursachen hat, macht die
kommunikative Tätigkeit notwendig. Die kommunikative Tätigkeit der gesellschaftlich
lebenden und arbeitenden Menschen schafft aber erst die Möglichkeit für Koordination
und Kooperation des gesellschaftlichen Lebens und Handelns. Zwischen kommunikativer
Tätigkeit und gesellschaftlichern Handeln besteht daher eine dialektische Beziehung.
Auf die Situation der Ausländer bezogen bedeutet dies, daß konsequenterweise ihre
Handlungsfähigkeit in unserer Gesellschaft nur entwickelt werden kann, wenn ihre
Fähigkeiten zu kommunikativer Tätigkeit entwickelt werden; und umgekehrt können ihre
kommunikativen Fähigkeiten nur entwickelt werden, wenn gleichzeitig ihre
gesellschaftliche Handlungsfähigkeit entwickelt und entfaltet wird. D.h.: gesellschaftliche
Handlungsfähigkeit beinhaltet die Fähigkeit zu kommunikativer Tätigkeit.
Ich spreche in diesem Zusammenhang bewußt von Kommunikation und nicht nur von
Sprachverwendung, da in Alltagssituationen, im mündlichen Gespräch eine ganze Reihe
von Ausdrucks- und Verständigungsmitteln und -möglichkeiten gegeben sind, die über
das Nur-Sprachliche hinausgehen. Sie gilt es ebenfalls zu aktivieren und bewußt
einzusetzen - unbewußt verwenden wir sie ohnehin. Die Kommunikationsfähigkeit der
Ausländer zu entwickeln bedeutet daher mehr als ihnen Sprachkenntnisse zu vermitteln.
Kommunikative Fähigkeiten und Fertigkeiten sind gleichermaßen Voraussetzung wie
Ergebnis kommunikativer Tätigkeit: ohne sie ist zwischenmenschliche Kommunikation in
gesellschaftlichen Zusammenhängen nicht möglich, aber erst in der kommunikativen
Tätigkeit, in der konkreten, aktiven Verwendung werden sie angeeignet und entfaltet.
Die Kommunikation zwischen Menschen geschieht nicht losgelöst von ihren sonstigen
Aktivitäten, sie vollzieht sich vielmehr im Rahmen ihrer verschiedenen Tätigkeiten, sie ist
Bestandteil ihres Handelns. Anlaß und Inhalt der zwischenmenschlichen Kommunikation
bestimmen sich aus ihrem Handeln, aus den Gegebenheiten der jeweiligen Situation, in
der sie miteinander zu tun haben. (7)
Für die Arbeit in der Lernstatt bedeutet dieser Ansatz, daß es den Ausländern möglich
werden soll, zur Bewältigung ihres täglichen Lebens themenorientiert und
situationsbezogen mit Deutschen und anderen Ausländern zu kommunizieren. Dazu ist
ganz wesentlich die Beherrschung von Gesprächsritualen, die Kenntnis von Regeln und
Normen zur Gestaltung von Gesprächssituationen. Für jede Form der Verständigung, vor
allem aber auch für die Verständigung zwischen Ausländern und Deutschen ist ihre
Beherrschung mindestens ebenso wichtig wie die Sprachbeherrschung. In der Arbeit der
Lernstatt hat die Vermittlung dieser Kommunikationsstrategien daher den Vorrang vor
der Sprachvermittlung.
In letzter Zeit sind in immer stärkerem Maße Zweifel geäußert worden, ob die
hergebrachten Sprachkurse für die Zielgruppe erwachsener und heranwachsender
Ausländer geeignet sind. Das liegt zum einen an der Unterrichtsorganisation und den
Unterrichtsformen, die die besondere Situation ausländischer Arbeiter nicht
berücksichtigen (z. B. Schichtarbeit, die regelmäßige Teilnahme behindert, physische
Ermüdung nach dem Arbeitstag, Lehrer-Schüler-Verhältnis), zum anderen aber auch an
den fehlenden Voraussetzungen der meisten Ausländer: üblicherweise bilden
grammatisches Verständnis und sprachsystematische Kenntnisse die Grundlage, von
der Sprachkurse und Unterrichtsmaterialien ausgehen; diese Grundlagen sind aber
wegen mangelnder Vorkenntnisse schon in der Muttersprache der ausländischen
Arbeiter in aller Regel nicht gegeben. Dem Unterricht fehlt damit die Basis.
[Ende Seite 48]
Für die Lernstatt geht es daher darum, im Rahmen der sozialen Handlungsfähigkeit die
kommunikativen Mittel und Fähigkeiten zu entwickeln, die erforderlich sind, um in einer
bestimmten Situation ein bestimmtes Thema behandeln oder ein bestimmtes Problem
lösen zu können. Dabei wird bewußt das sog. «Ausländerdeutsch» zum Ausgangspunkt
genommen, um Kommunikationsstrategien zu entwickeln, die dazu benötigt werden. D.
h., daß nicht eine bestimmte sprachliche Form erworben und verwendet werden soll,
sondern ausgehend von situationsabhängigen Sprechhandlungstypen wie z. B. «einen
Wunsch äußern», «eine Bedingung stellen», «etwas ablehnen», «um Aufmerksamkeit
bitten» ein Spektrum von sprachlichen und nichtsprachlichen Mitteln zu entwickeln, durch
die diese kommunikativen Absichten verwirklicht werden können. (8) Den Ausländern
wird zwar dadurch nicht das System der deutschen Hochsprache vermittelt, sie erhalten
aber eine Reihe von Sprechhandlungsalternativen, die es ihnen ermöglichen, in
konkreten Alltagssituationen (und nicht nur in einem theoretischen Unterricht) flexibel
und der jeweiligen Situation angemessen zu handeln. Selbstverständlich kann die
Lernstatt hier nur exemplarisch verfahren, ein vollständiger Kanon von Situationen,
Themen und Sprechhandlungstypen ist unmöglich. Aber die so erworbene
Handlungsfähigkeit auch im sprachlichen Bereich führt dazu, daß auch andere als die
erprobten Situationen bewältigt werden können: die Situation wird zum Lehrmeister.
Das Konzept der «Lernstatt im Wohnbezirk» läßt sich daher in einer Formel
zusammenfassen: Vermittlung situations- und themenbezogener kommunikativer
Fähigkeiten als Bestandteil sozialer Handlungsfähigkeit ohne einen an normativen
Vorstellungen orientierten Sprachunterricht.
Inhaltlich-organisatorische und didaktische Konzeption der Lernstatt im
Wohnbezirk
Im Zentrum der Lernstatt-Arbeit steht die gemeinsame Beschäftigung von Bewohnern
verschiedener Nationalitäten eines Wohnviertels in ihrer Freizeit mit dem Ziel, in
gemeinsamen Aktivitäten Formen des Verstehens, der Verständigung und des
Zusammenlebens zu entwickeln, die von der Erkenntnis weitreichender
Überschneidungen von Interessen, Bedürfnissen und Problemen ausgehen. War in der
Lernstatt im Betrieb die gemeinsame Arbeit mit ihren Problemen der Ausgangspunkt, so
ist es bei der Lernstatt im Wohnbezirk das gemeinsame Leben unter gleichen oder
ähnlichen Bedingungen. In diesem Ausgangspunkt ist aber ein Problem enthalten, durch
das sich die Lernstatt im Wohnbezirk deutlich von der Lernstatt im Betrieb unterscheidet:
die Entsprechung der Interessen, Bedürfnisse und Probleme von Deutschen und
Ausländern ist am Arbeitsplatz deutlicher und eindeutiger als im Wohnbereich, der
Kontakt ist enger und die Einbettung von Lernstatt-Gruppen in den Arbeitstag verlangt
geringeren Aufwand als im Freizeitbereich. Aus diesen Gründen erscheint es
verständlich, daß die Lernstatt in Wedding Schwierigkeiten hatte, die deutsche
Bevölkerung für eine Mitarbeit zu gewinnen, vor allem aus der Gruppe der Älteren,
während die ausländische Bevölkerung das Angebot der Lernstatt mit Interesse annahm.
Die didaktische Besonderheit des Lernstatt-Ansatzes besteht in dem bewußten Verzicht
auf Lernsituationen und Lernprozesse, die von außen geplant, gesteuert und überwacht
werden, wobei «von außen» bedeutet «außerhalb der angesprochenen Gruppen der
deutschen und ausländischen Wohnbevölkerung». Ein gewisser Widerspruch besteht bei
diesem Ansatz allerdings insofern, als die Initiative, die Vorbereitung und in gewissem
Maße auch - wenigstens phasenweise - die Steuerung und Organisation der LernstattAktivitäten von einer Projektgruppe vorgenommen wurden, die außerhalb der
Bezugsgruppe steht. Erklärtes Ziel der Organisatoren war daher auch, durch die Arbeit in
der Lernstatt
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sich selbst überflüssig zu machen. Der Erfolg dieser Arbeit läßt sich dann daran ablesen,
wie weit Organisation und Durchführung der Lernstatt-Aktivitäten von der Projektgruppe
auf die Lernstatt-Teilnehmer übergegangen ist.
Die zweite didaktische Besonderheit des Lernstatt-Ansatzes besteht darin, daß es weder
einen «Lehrer» noch einen «Lehrplan» für die Teilnehmer gibt. Da die Bezugsgruppe
Erwachsene sind, deren Eigenständigkeit und selbstverantwortliche Handlungsfähigkeit
gefördert und entwickelt werden soll, soll ihnen auch die Entscheidung darüber
überlassen bleiben, welche Aktivitäten sie gemeinsam unternehmen und welche
Probleme sie angehen wollen; die Projektgruppe prägte hierzu das Schlagwort der
<teilnehmer- und themenzentrierten Gruppenarbeit>. (IFZ/CAD 1978, S. 9).
Moderatoren der Lernstatt-Gruppen
Moderatoren solcher Gruppenarbeit können daher keine Lehrer oder Experten sein,
sondern - wie bei der Lernstatt im Betrieb - solche Leute, die in der gleichen Situation
stehen wie die anderen Teilnehmer, die von den gleichen Interessen und den gleichen
Problemen ausgehen, Die Funktion der Gruppenmoderatoren ist daher auch nicht, ein
bestimmtes Pensum von Lernstoff zu absolvieren, sondern die didaktische
- Vorbereitung,
- Durchführung (Moderation),
- Nachbereitung
der Gruppensitzungen, die in der Regel nachmittags in wöchentlich zwei Doppelstunden
stattfinden. Im konkreten Fall bedeutet dies jeweils, Arbeitsschritte, Methoden, Hilfsmittel
usw. auszuwählen und vorzubereiten, um das von den Teilnehmern gewünschte Thema
in der Gruppe bearbeiten zu können.
Für diese Arbeit fanden sich Interessenten nur unter der jüngeren deutschen
Bevölkerung, Jugendliche und jüngere Erwachsene.
Ihre Qualifikation für die Gruppenmoderation erhielten die Moderatoren in einer
einführenden Intensivübung, in der sie mit Methoden und Hilfsmitteln für die
Gruppenarbeit vertraut gemacht wurden; in vierzehntägig stattfindenden
Gesprächsrunden mit der Projektgruppe erhalten sie darüber hinaus inhaltliche und
methodische Hilfestellung.
Das didaktische Repertoire der Lernstatt umfaßt verschiedene Formen sowohl der
verbalen als auch der nonverbalen Kommunikation:
- Wir zeichnen - und stellen auch abstrakte Diskussionsinhalte visuell dar.
- Wir berühren Gegenstände, Menschen, Tiere, Pflanzen - wir modellieren, basteln usw.
- Wir bewegen uns und Gegenstände - wir stellen Diskussionsinhalte und -prozesse in
körperlicher und gegenständlicher Bewegung [ ... ] dar. (IFZ/CAD 1978, S. 108).
Die Aufgabe der Moderatoren, die sich selbst, in Anlehnung an den Namen der
Projektgruppe (CooperativeArbeitsdidaktik, CAD), «cadsen» nennen, besteht im
Eigentlichen darin, ein Angebot an Mitteln und Methoden für die Gruppenteilnehmer
bereit zu halten; jede inhaltliche wie methodische Dominanz der «cadsen» soll
vermieden werden, die Gruppen sollen lernen, sich selbst zu moderieren und die
«cadsen» in immer stärkerem Maße wieder in die Gruppe zu integrieren. Wesentliche
Elemente dabei sind nondirektive Gesprächsführung sowie themenzentrierte
interaktionelle Methoden. (9) Der Verlauf der Projektarbeit zeigte, daß die «cadsen» sich
in immer stärkerem Maße selbst als «Lernende» erfuhren, ein Effekt, den sie zu Beginn
der Lernstatt nicht erwartet hatten, wie die Mehrzahl von ihnen unumwunden zugab.
Durch diese Erfahrung gelang es tatsächlich, eine sich doch immer
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wieder anbahnende Dominanz der Gruppenmoderatoren abzubauen und die
Eigeninitiative der übrigen Gruppenteilnehmer zu verstärken. Darüber hinaus bewirkte
dieser Effekt, den natürlich auch die übrigen Gruppenteilnehmer bemerkten, daß durch
die nicht festgelegte Verteilung der Funktionen von Informierten und Nichtinformierten,
von «Lehrer» und «Lerner» sowohl die Gewichtung der behandelten Themen und
Gegenstände als auch die Richtung des Informationsflusses die Handlungs- und
Informationsdefizite nicht nur bei den Ausländern zeigte.
Das methodische Instrumentarium der Lernstatt
Die wesentlichsten methodischen Elemente - das «Lernzeug» der Lernstatt – sind
- Einsatz audiovisueller Medien (Diaprojektor, Filmprojektor, Fotoapparat, VideoRecorder, Plattenspieler, Tonbandgeräte);
- eigene Visualisierungen (z. B. Unterstreichen, Einrahmen, Schraffieren, Farbwechsel;
Netze, Matrix, Flußdiagramm, Profil; Darstellung von Abhängigkeiten, Zugehörigkeiten,
Strukturen; Kartogramm, Darstellung durch Symbole, geometrische Körper ...; hierzu
verwendete Hilfsmittel und Materialien sind Steckwände, Packpapier, Karten
verschiedener Formate, Filzschreiber, Klebepunkte, Materialien für Collagen usw.);
- Spiele (Rollenspiele, Visualisierungsspiele, Spiele zur extraverbalen Kommunikation);
- Musik und Tanz;
- manuelle Tätigkeiten (handarbeiten, handwerkliche Tätigkeiten, Werken, Basteln);
- Verbalisierung.
Diese methodischen Elemente, mit deren Einsatz die «cadsen» vertraut gemacht
wurden, werden in der praktischen Gruppenarbeit in den verschiedensten Kombinationen
verwendet; gerade in ihrer Kombination liegt die Chance, eine Kommunikationsfähigkeit
zu entwickeln, die nicht durch die Beschränkung auf das eine oder das andere Medium
eingeengt wird. Die Auswahl der Medien ist immer abhängig von der Ausdrucksintention
und der Ausdrucksfähigkeit der Teilnehmer und von den Erfordernissen des jeweiligen
Themas. Die Verbindung kommunikativer Tätigkeit mit den anderen Aktivitäten und
Formen sozialen Handelns wird dabei ständig gewahrt: die Themen- und
Handlungsorientiertheit der Gruppenaktivitäten und das Verständnis von kommunikativer
Tätigkeit als einer Form gesellschaftlicher Tätigkeit lassen eine Trennung von z. B.
Einüben sprachlicher Fertigkeiten und gemeinsamem Handeln der Teilnehmer gar nicht
zu.
Zur Frage der Sprachvermittlung in der Lernstatt - Sprachbeherrschung und
Diskriminierung
Im Folgenden möchte ich vor allem zu zwei Bereichen Stellung nehmen:
- zur Frage der Sprachvermittlung in der Lernstatt und
- zur Funktion kultureller Aktivitäten, wie Musik, Tanz und Spiel in der Arbeit der
Lernstatt.
Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß eine Sprachvermittlung, die sich an
Organisationsformen schulischen Unterrichts orientiert, der besonderen Situation der
ausländischen Arbeiter hier nicht angemessen ist und daher im Konzept der Lernstatt
auch keinen Platz hat. (10) Von Kritikern dieses Konzepts wurde und wird die
Behauptung aufgestellt, daß die Entwicklung der kommunikativen Fähigkeiten ohne
systematischen Sprachunterricht zu einer Verfestigung des sog, «Gastarbeiterdeutsch»
führen müsse und daß dadurch
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die Ausländer auch weiterhin ständiger Diskriminierung durch die deutsche
Wohnbevölkerung ausgesetzt seien.
Dieser Kritik sind zwei Einwände entgegenzuhalten:
1. Ein linguistischer Einwand: Untersuchungen der Spracherwerbsforschung haben
ergeben, daß die Möglichkeit, eine neue Sprache zu erwerben, mit zunehmendem Alter
erschwert wird. Die verschiedenen Bereiche der Sprache werden von dieser
Erschwerung unterschiedlich betroffen - so sind z. B. die Bereiche von Syntax und
Lexikon. einer Sprache weniger berührt als etwa der korrekte Erwerb der phonetischen
Komponente. (11) Ausländer, die im Erwachsenenalter eine fremde Sprache erlernen,
sind daher selbst dann als Ausländer an ihrer Sprache kenntlich, wenn sie über einen
ausgeprägten Wortschatz und korrekte Verwendung der Grammatik verfügen. Und mit
dieser Erkennbarkeit als Ausländer bleiben sie auch als Ausländer diskriminierbar. Hinzu
kommt, daß den ausländischen Arbeitern aufgrund ihrer gesamten sozioökonomischen
Situation, ihrer Arbeits-, Familien- und Wohnsituation ein so intensiver Sprachunterricht
gar nicht möglich wäre, wie er für den perfekten Erwerb des Deutschen erforderlich wäre,
2. Ein sozialpsychologischer Einwand: Korrekte Sprachbeherrschung ist kein Schutz
gegen Vorurteil und Diskriminierung, wie auch fehlerhafte Sprachverwendung nicht ihre
Ursache ist. Hier spielen die Sozialstruktur und das ideologisch bestimmte Sozialprestige
bestimmter Bevölkerungsgruppen eine viel bedeutendere Rolle. Die Behauptung, die
Verwendung von «Gastarbeiterdeutsch» setze die ausländischen Arbeiter dem Vorurteil
und der Diskriminierung aus, verkennt, daß Vorurteile, die sich auf bestimmte Gruppen
und gesellschaftliche Minoritäten richten, Ausdruck politischer und sozialer Konflikte sind.
(12) Nicht alle Ausländer sind in unserer Gesellschaft Opfer von Diskriminierung,
sondern nur bestimmte Gruppen von ihnen, und ein fremder Akzent kann durchaus als
«chic» (wie etwa beim Französischen) oder als kommerziell verwertbar (wie beim
Englischen im Show-Geschäft) gelten. Die Vorurteile ausländischen Arbeitern gegenüber
gehen vielmehr auf ihre Funktion in der sozialen Hierarchie unserer Gesellschaft zurück:
Einwanderungen ausländischer Arbeiter in den bei uns zu beobachtenden
Größenordnungen bewirken eine massive Veränderung in der Sozialstruktur der
aufnehmenden Länder, da sie unter der bestehenden Klassen- und Schichtenpyramide
als eine neue Schicht mit politisch und juristisch weitgehend rechtlosem Status eingefügt
werden. Dieser sog. «Unterschichtungseffekt» bewirkt für Teile der deutschen
Bevölkerung eine scheinbare Statusverbesserung, da sie nicht mehr am unteren Ende
der Pyramide rangieren. Für andere Teile aber bewirkt er eine Verschlechterung des
Sozialprestiges, da sie sich mit den Ankömmlingen auf eine Stufe gestellt sehen, die sie
selbst aufgrund etwa des Entwicklungsstandes des Herkunftslandes, der kulturellen
Andersartigkeit usw. nicht akzeptieren. Dies gilt vor allem für sozial und ökonomisch
Unterprivilegierte, wie z. B. ungelernte Arbeiter, Arbeitslose, aber auch für andere
Gruppen, die an der ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft nur teilweise beteiligt
sind (wie z. B. Rentner)` oder die durch die gesellschaftliche Entwicklung ihren Status
bedroht sehen, wie z. B. Teile des Kleinbürgertums. (14)
Gegen solcher Art ökonomisch und sozialpsychologisch begründete Vorurteile und
Diskriminierung kann Sprachunterricht nichts ausrichten. Es erscheint daher
gerechtfertigt, für die erwachsenen Ausländer (15) alle Formen der kommunikativen
Tätigkeit zu akzeptie-
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ren und zu entwickeln, die sie in die Lage versetzen, aktiv am gesellschaftlichen Prozeß
mitzuwirken. Dies gilt umso mehr, als die Sprachform, mit der sie im Wohnbereich und
am Arbeitsplatz konfrontiert werden, nicht unbedingt die ist, die im formalen Unterricht
üblicherweise vermittelt wird.
Das Konzept der kommunikativen Tätigkeit in der konkreten Lernstatt-Arbeit - zwei
Beispiele
Aus der Themenzentriertheit der Lernstatt-Gruppen ergibt sich eine Unzahl von Anlässen
für kommunikative Tätigkeit, bei der alle den Ausländern zur Verfügung stehenden
Medien und Hilfsmittel eingesetzt werden. Aufgabe der Gruppenmoderatoren ist es
dabei, dieses Spektrum von Medien und Hilfsmitteln möglichst breit zu gestalten. Im
Vordergrund steht aber immer das Thema, das gemeinsam interessierende Problem. In
der Auseinandersetzung mit ihm, mit den Meinungen und Ansichten der anderen
Gruppenteilnehmer, der Deutschen wie der Ausländer, muß jeder der Beteiligten
versuchen, sich verständlich zu machen wie auch, den anderen zu verstehen. Durch die
Planung und Durchführung von Projekten, wie z. B. der Gründung einer
Fußballmannschaft der Jugendlichen, der Gestaltung eines Straßenfestes, dem
Herstellen einer Zeitung oder dem Drehen eines Video-Films werden Anforderungen an
die Handlungsfähigkeit, an die Kooperation und das Austragen von
Meinungsverschiedenheiten und Konflikten gestellt, die eine natürliche Verbindung von
sozialem Handeln und kommunikativer Tätigkeit darstellen. Der Unterschied zu
Alltagssituationen außerhalb der Lernstatt besteht vor allem darin, daß eine solidarische
Grundhaltung besteht, durch die die Scheu vor «Fehlern», vor Holprigkeiten im sozialen
wie im kommunikativen Handeln abgebaut werden und ein Spektrum von
Handlungsalternativen - auch im kommunikativen Bereich - erprobt und angeeignet
werden kann.
Zwei Beispiele sollen das konkrete Vorgehen verdeutlichen:
1. Im Zusammenhang mit einer gemeinsamen Autoreparatur auf der Straße vor der
Lernstatt tauchten verschiedentlich die Verben «kaufen», «schalten», «wechseln» in
Verbindung mit verschiedenen Vorsilben auf. Hierbei zeigte sich, daß viele ausländische
Teilnehmer die Bedeutung des Kompositums häufig im Sinne des Verbstammes
interpretieren, z. B. «abschalten» als «schalten» usw. Nach entsprechender Vorbereitung
der «cadsen» wurden in der darauffolgenden Gruppensitzung Wortkarten in zwei Reihen
an der Steckwand befestigt:
ab
an
aus
um
ver
kaufen
wechseln
schalten
Eine «cadse» ergriff je eine Karte mit einer Vorsilbe und einem Verbstamm, heftete das
Kompositum, z. B. «auswechseln», an eine zweite Steckwand und fragte die Teilnehmer
nach dessen Bedeutung, bzw. demonstrierte zeichnerisch, im Spiel und/oder verbal die
mit diesem Verb verbundene Tätigkeit. Die Teilnehmer wurden animiert, ebensolche
zusammengesetzten Verben zu bilden und deren Bedeutung zu erklären. (16)
2. Zum thematischen Bezug: «Ich will Arbeitslosengeld. Was muß ich tun?» Die
Teilnehmer werden nach den für einen Antrag erforderlichen Papieren (letzte
Lohnabrechung, Antragsformular usw.) gefragt. Die Bezeichnungen der einzelnen
Papiere werden auf Karten notiert. Die Karten werden gemischt, und jeder Teilnehmer
zieht eine davon und ver[Ende Seite 53]
sucht dann, das entsprechende Papier kurz an der Steckwand zu skizzieren
(Arbeitserlaubnis, Aufenthaltsbescheinigung, Versicherungsnachweisheft usw.). Dann
versucht die Gruppe, in Form eines Flußdiagramms die einzelnen Schritte von der
Kündigung bis zum Erhalt des ersten Arbeitslosengeldes zu visualisieren und zu
diskutieren. Hieran ergeben sich Anknüpfungspunkte für zahlreiche weitere Themen. Bei
diesem Beispiel wird die Verbindung von sozialer Handlungsfähigkeit in unserer
Gesellschaft, Durchsetzen der eigenen Interessen und Kooperation mit anderen sowie
die Verbindung von gesellschaftlicher und kommunikativer Tätigkeit besonders deutlich.
(17)
Der Erfolg einer solchermaßen betriebenen Entwicklung der Kommunikationsfähigkeit
ausländischer Arbeiter kann nicht im Erwerb und der Beherrschung des
hochsprachlichen Standards der deutschen Sprache bestehen. Er zeigt sich aber in der
Befähigung der Lernstatt-Teilnehmer, ihre Interessen durchzusetzen, ihre Rechte
wahrzunehmen und in Kooperation mit anderen ihr eigenes Leben selbstverantwortlich
zu gestalten. Als Indiz für den Erfolg der Lernstatt kann ein Zitat aus dem Bericht der
Frauengruppe dienen:
Die Frauen haben gelernt, sich besser zu artikulieren, sie haben ein größeres
Selbstvertrauen gewonnen, sie kommen heute nicht mehr und sagen: «Mach' das für
mich!», sondern sie kommen und fordern: «Zeig' mir, wie man das macht!» (IFZ/CAD
1978, S, 213).
Probleme der Sprachvermittlung
Ein Indiz für die Stabilisierung der Identität und die Entwicklung der Handlungsfähigkeit
kann es dann sein, wenn Lernstatt-Teilnehrner in eigener Initiative den Wunsch äußern,
ihre bis dahin erworbene Kommunikationsfähigkeit zu systematisieren, etwa durch den
Besuch von Volkshochschulkursen - eine Aktivität, die zu Beginn der Lernstatt-Arbeit
deutlich abgelehnt worden war - oder durch einige eigens angesetzte Gruppensitzungen
mit systematischem Sprachunterricht. (18) Dieses Stadium ist seit einiger Zeit bei einigen
Lernstatt-Besuchern erreicht.
Als Probleme zeigen sich in diesem Zusammenhang aber zum einen, daß die
Volkshochschulen mit ihren Unterrichtsmaterialien und didaktischen und
lernorganisatorischen Konzepten oft den Bedürfnissen der ausländischen Arbeiter und
ihrer konkreten Situation nicht entsprechen können, so daß nicht selten eine
Demotivation stattfindet. (19) In der Lernstatt sind dagegen die «cadsen» oft überfordert,
die ja gerade nicht Spezialisten für Sprachunterricht sind, sondern als Nachbarn und
Kollegen «native speakers» des Deutschen, die ihre eigene Sprache eher unbewußt als
reflektiert verwenden und daher häufig Schwierigkeiten bei der Vermittlung komplexer
sprachlicher Erscheinungen haben. Abhilfe könnte hier die - im Konzept vorgesehene Hinzuziehung eines Spezialisten zu Gruppensitzungen schaffen, der eine an den
Interessen und Bedürfnissen der Teilnehmer orientierte Vermittlung sprachlicher
Kenntnisse leistet, in dem Rahmen, den ihm «cadsen» und Teilnehmer setzen. Die
Initiative hierzu kann aber nur von den Teilnehmern der Lernstatt-Gruppen ausgehen,
von außen herangetragen würde sie gegen das didaktische Prinzip der
Eigenverantwortlichkeit und der Selbstregulation in der Lernstatt verstoßen und die
Entwicklung der sozialen Handlungsfähigkeit beeinträchtigen. Bisher ist eine solche
[Ende Seite 54]
Initiative noch nicht entwickelt worden, und «cadsen» und Teilnehmer bemühen sich
immer wieder gemeinsam, um auftauchendes Interesse zu befriedigen.
Prinzipiell ist aber sowohl eine größere Bereitschaft der Lernstatt-Teilnehmer zur
Verwendung der deutschen Sprache als auch eine größere Sicherheit im Umgang mit ihr
festzustellen. Die Furcht vor inkorrektem Gebrauch ist durch die Erfahrung der eigenen
Kommunikations- und Handlungsfähigkeit im Rahmen der Lernstatt stark
zurückgegangen.
Spiele als Formen kommunikativer Tätigkeit in der Lernstatt
Wesentliche Elemente in der Lernstatt-Arbeit stellen auch Musik und Spiele dar, und
zwar in einem Umfang, der für bürgerlich sozialisierte Mitteleuropäer überraschend ist.
Ohne hier eine genaue Definition des vieldeutigen Begriffs «Spiel» versuchen zu wollen,
(20) sind Definitionsversuche etwa in Richtung einer Abgrenzung zwischen arbeiten und
spielen, Ernsthaftigkeit und Unverbindlichkeit für Spiele in der Lernstatt - und nicht nur
dort - ungeeignet. Spiele können durchaus produktiv auf die Erreichung bestimmter
Ergebnisse und Ziele angelegt sein oder der Bewußtwerdung und Realitätsbewältigung
dienen. Insofern sind sie Tätigkeitsformen, die zur Entwicklung und Ausgestaltung
sozialer Handlungsfähigkeit und kommunikativer Tätigkeit beitragen und in diesem Sinne
auch in der Lernstatt eingesetzt werden.
Wenn auch auf Wunsch der Teilnehmer übliche Karten- und Brettspiele, wie z. B. Tavla
und Schach, in der Lernstatt bereitgestellt wurden, (21) sind die für die Lernstatt-Arbeit
bedeutsamen Spiele durch ihre kommunikative Orientierung charakterisiert.
Die wesentlichen Formen, in denen die Verbindung von gesellschaftlicher und
kommunikativer Tätigkeit besonders zutage tritt und die sich der besonderen
Zustimmung der Ausländer erfreuen, sind
- Rollenspiele,
- Visualisierungsspiele,
- Spiele zur extraverbalen Kommunikation.
Rollenspiele, in denen das gesamte Spektrum kommunikativer Tätigkeit angesprochen
und eingesetzt werden kann, gestatten eine realitätsnahe Simulation und Bearbeitung
von Problemen und Erfahrungen. Sie ermöglichen gerade bei der Ausgestaltung von
eigenen Erfahrungen eine Spontaneität und Impulsivität, die den sozialen
Handlungsnormen der mediterranen Ausländer sehr entsprechen, die aber unterdrückt
werden, wenn ihre kommunikative Tätigkeit auf den Einsatz des Mediums deutsche
Sprache reduziert wird.
Ein «warming-up», eine Motivations- und Erwärmungsphase, wie sie vor allem bei
erwachsenen Mitteleuropäern in der Regel erforderlich ist, ist bei den Lernstatt-Gruppen
nicht erforderlich. Die Beschränkung der kommunikativen Möglichkeiten im sprachlichen
Bereich führte dazu, daß auch ohne Animation durch die «cadsen» bereits zu Beginn der
Lernstatt-Arbeit immer wieder Rollenspielansätze - zum Teil bewußt, zum Teil unbewußt
- als extraverbales Medium kommunikativer Tätigkeit eingesetzt wurden, besonders etwa
bei der Schilderung affektiv besetzter Vorgänge oder Erlebnisse, bei der die
sprachlichkommunikative Behinderung als störend empfunden wird. So sind Erzählungen
wie z. B. «Gestern war ich bei der Ausländerpolizei, da ... » oder der Bericht über einen
Streit mit
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dem Vorarbeiter oder dem Hausbesitzer sehr häufig von kleineren Spielhandlungen
begleitet, die über eine lebhafte Gestik deutlich hinausgehen.
Das Aufgreifen und Ausgestalten dieser Form kommunikativer Tätigkeit in den LernstattGruppen erschloß nahezu das gesamte Spektrum von Problembereichen ausländischer
Familien in unserer Gesellschaft der gemeinsamen Diskussion und Bearbeitung in den
Lernstatt-Gruppen, Themenbereiche also, die bei einer Beschränkung auf verbale
Kommunikationsformen nur sehr unbefriedigend hätten behandelt werden können. So
thematisierten die Rollenspiele
- in der Männergruppe vorwiegend die Bereiche des Alltagslebens wie
Arbeitsplatzsituation, Ämter und Behörden, Kontakt zu Deutschen,
- in der Frauengruppe Familienprobleme, wie z. B. Mitarbeit des Mannes im Haushalt,
Autoritätsprobleme, Geburt und Empfängnisverhütung,
- bei den Jugendlichen das Verhältnis der Geschlechter, Arbeitslosigkeit und
Zukunftsperspektiven, Auseinandersetzungen mit den Eltern.
Diese Themenbereiche zeigen, daß der Spielcharakter ihrer Behandlung nicht
gleichzusetzen ist mit «spielerisch» im landläufigen Sinn oder mit Unernsthaftigkeit; es
handelt sich vielmehr um die brennendsten Probleme der sozialen Existenz dieser
Menschen, die sie bei einem Verweis auf die nur-sprachliche Form der Kommunikation
wohl in absehbarer Zeit niemals mit ihren deutschen Nachbarn zur Sprache bringen
könnten. Auch aus diesem Grund erscheint mir die Akzeptierung des sog.
«Ausländerdeutsch» in Verbindung mit anderen Kommunikationsformen sinnvoll, wenn
mit der Kommunikationsfähigkeit auch die soziale Handlungsfähigkeit gestärkt und
entfaltet wird. (22)
Visualisierungsspiele wurden in der Regel eingebettet in Gesprächs- und
Handlungszusammenhänge eingebracht. Der kreative Umgang mit Materialien wie
Packpapier, Filzschreibern, Schere und Klebstoff schafft eine - im Vergleich zum
Rollenspiel - eher distanzierte Haltung zu den Gegenständen und Themen, da ein
Medium zwischengeschaltet ist, das Reflexion und Abstraktion in stärkerem Maße
verlangt als die spontane Darstellung mit Hilfe der ganzen Person. Kommunikative
Inhalte müssen auf den wesentlichen Kern reduziert und der kommunikativen Intention
entsprechend materiell-gegenständlich dargestellt werden. In diesem Sinn stellen
Visualisierungsspiele hohe Anforderungen an die kommunikative Kompetenz, befreien
sie aber gleichzeitig vom Zwang der Verbalisierung. Für die Kooperation zwischen
Deutschen und Ausländern sind solche Spiele vor allem auch deshalb von Bedeutung,
weil in ihnen sozio-kulturelle Besonderheiten etwa der Symbolik, der Metaphorik, der
Anspielung und des Zitats deutlich werden. Darüber hinaus sind Collagen, Montagen,
selbst gefertigte Memories und Bildgeschichten über ihren Erklärungs- und
Mitteilungswert hinaus auch geeignet, die Teilnehmer zum Erklären, Begründen und
Diskutieren zu motivieren und damit zur Umsetzung der kommunikativen Tätigkeit aus
dem einen Medium in ein anderes.
In den Jugendlichen- und Frauengruppen konnten Visualisierungsspiele meist ohne
Schwierigkeiten eingebracht werden, bei den Frauen stießen sie sogar auf ein ganz
ausgeprägtes Interesse, während es in den Männergruppen oft einer expliziten Klärung
von Sinn und Ziel der Visualisierung im gegebenen Kontext bedurfte, um sie dazu zu
motivieren. Prinzipielle Ablehnung tauchte aber auch hier nicht auf.
Die Spiele zur extraverbalen Kommunikation umfaßten sowohl Wahrnehmungsübungen
mit Hilfe des Video-Recorders als auch Spiele zur Interpretation von Mimik und Gestik
bis hin zur Pantomime, die sich bei den türkischen Lernstatt-Besuchern besonders
großer Beliebtheit erfreut. Das Ziel dieser Spiele besteht sowohl darin, den Bereich der
extraverbalen
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Kommunikation als Medium kommunikativer Tätigkeit zu aktivieren und bewußt zu
machen, als auch die Problematik der Uneindeutigkeit dieser Form der
zwischenmenschlichen Kommunikation zu verdeutlichen. Für die Ausländer spielt die
extraverbale Kommunikation als Ergänzung der anderen Möglichkeiten, die ihnen zur
Verfügung stehen, eine wesentliche Rolle bei der Realisierung der jeweiligen
kommunikativen Intention. Da aber die extraverbalen Zeichen nicht in dem Sinne
konventionalisiert und eindeutig sind wie die sprachlichen, besteht immer die Gefahr,
daß die kommunikative Interaktion scheitert, wenn sie zu stark auf dem extraverbalen
Bereich basiert. Die Uneindeutigkeit wird in der interkulturellen Kommunikation noch
dadurch verstärkt, daß auch die extraverbalen Zeichen gesellschaftlich bedingt und nicht
in ihrer Bedeutung naturhaft vorgegeben sind. (23) So bedeutet für einen Türken z. B.
das An-die-Stirn-Tippen eine Anerkennung der intellektuellen Leistung seines
Gegenübers und nicht, wie im Deutschen, seine Diskriminierung. In diesem Bereich ist
eine Sensibilisierung und Bewußtmachung sowohl der Deutschen als auch der
Ausländer für Einsatz und Wirkung der extraverbalen Kommunikationsmittel erforderlich
und Ziel der Lernstatt-Arbeit.
Zum Stellenwert von Musik in der Lernstatt-Arbeit
Musik taucht in der Lernstatt in verschiedenen Funktionen auf, wobei der reine Konsum
nicht die wichtigste ist. Es sollte allerdings unterschieden werden zwischen den
Funktionen von Musik, wie sie die «cadsen» einsetzen und denjenigen, die sie spontan
für die Ausländer hat.
Für die Ausländer steht dabei die affektive Funktion im Vordergrund und eine solche, die
ich «kommunikativ» und «sozial aktiv» nennen möchte. Das gemeinsame Hören
heimatlicher Musik hat für die Ausländer einen starken gruppenbildenden Effekt; das
Gefühl der Zusammengehörigkeit wie das der Andersartigkeit in der nach wie vor
fremden Umgebung finden in der eigenen Musik ihren Ausdruck: Erinnerungen und
Heimwehgefühle werden wachgerufen, können aber auch in der Gruppe aufgefangen
und verarbeitet werden. In diesem Sinn spielt die Musik eine wesentliche Rolle bei der
Stabilisierung der eigenen Identität, die durch das ständige Anstürmen fremder Einflüsse
gefährdet ist, Vor allem bei Jugendlichen zeigt sich der Zwiespalt zwischen Anpassung
an die westliche Einheitsorientierung und der idealisierenden Überhöhung der eigenen
nationalen Folklore. Andererseits vermittelt das Nebeneinander von türkischer und
europäisch-amerikanischer Musik in den Hörgewohnheiten vieler türkischer Jugendlicher
einen Eindruck von der Verschiedenheit der bikulturellen Sozialisationseinflüsse, denen
sie ausgesetzt sind. (24)
Das Interesse der deutschen Lernstatt-Teilnehmer an der fremden Musik versetzt die
Ausländer in die Lage, einen Informationsvorsprung zu empfinden. Sie können «ihre»
Musik vorstellen, sie erklären und das Interesse an ihr in ein aktives
Kommunikationsangebot an die Deutschen umsetzen. Ein Beispiel zeigt einmal mehr,
daß es die Deutschen sind, die hier etwas zu lernen haben: Während eines erneuten
Versuchs, eine Frauengruppe zu gründen, (25) wurden Dias aus der Türkei gezeigt und
durch gemeinsame Erzählungen der türkischen Frauen erläutert. Die Türkinnen waren
sehr motiviert, und einige von ihnen begannen, mit kleinen Handtrommeln, die sie
schnell von zu Hause geholt hatten, Musik zu machen und zu singen. Andere von ihnen
tanzten zu dieser Musik, aber weniger in konventionellen, standardisierten Schrittfolgen,
sondern eher in Form von Ausdruckstanz und Selbstdarstellung. Nach einiger Zeit
brachen sie ab und forderten die anwesenden deutschen Frauen auf, nun ihrerseits sich
tänzerisch darzustellen. Die Reaktionen der deutschen Frauen auf dieses Ansinnen
reichten von peinlicher Berührtheit bis zum Vertrö[Ende Seite 57]
sten auf die nächste Gruppensitzung. Musik und Tanz gehören für die türkischen Frauen
zum selbstverständlichen Repertoire der Selbstdarstellung und -verwirklichung in
gesellschaftlichen Zusammenhängen, Musizieren und Tanzen sind für sie Formen
kommunikativer Tätigkeit. In der Erwartung einer «Erwiderung» der deutschen Frauen
liegt ein Kommunikationsangebot, das sowohl Information über die eigene Person, über
die eigenen kulturellen Besonderheiten beinhaltet wie ein Interesse an Informationen
über die Entsprechungen in der deutschen Gesellschaft. Wenn die deutschen Frauen bei
der nächsten Gelegenheit auf dieses Kommunikationsangebot nicht eingehen, ist
sicherlich eine Demotivation der Türkinnen zu erwarten.
Für die moderierten Gruppensitzungen spielt aktives Musizieren ebenfalls eine Rolle:
Musikinstrumente werden innerhalb der Gruppenarbeit als Hilfsmittel verwendet, um
nicht verbalisierte oder noch nicht verbalisierte Inhalte zu vermitteln. (IFZ/CAD 1978, S.
137).
Ähnlich wie bei den Visualisierungsspielen wird hier versucht, abstrakte Begrifflichkeiten,
Gefühle oder Zusammenhänge musikalisch zu realisieren. So spielt z. B. ein Teilnehmer
auf einem Xylophon, und die Gruppe soll beschreiben, wie sie sein Spiel empfindet; oder
ein Teilnehmer erhält den Auftrag, eine Situation, ein Gespräch, eine Diskussion
musikalisch zu beschreiben.
Problematisch ist hierbei allerdings die zugrundeliegende Erwartung, daß in
verschiedenen Kulturen musikalische Elemente gleiche oder ähnliche Assoziationen und
Wirkungen haben. Aber auch wenn diese Erwartungen nicht zutreffen sollten, so wird
doch auf diese Weise durch gemeinsames Handeln ein Kommunikations- und
Verstehensprozeß ermöglicht, der zur Erleichterung des Zusammenlebens der
verschiedenen nationalen Gruppen beitragen kann.
Zusammenfassung
Die «Lernstatt im Wohnbezirk» versteht sich als ein Versuch, Ausländer und Deutsche
auf der Basis gleicher Interessen, Probleme und Konflikte zusammenzuführen, mit dem
Ziel, aus der Erkenntnis dieser Gemeinsamkeit zu gemeinsamem Handeln zu kommen.
Für die Deutschen sollen so Möglichkeiten geschaffen werden, durch persönlichen
Kontakt und im gemeinschaftlichen Handeln mit Ausländern Vorurteile und Ablehnung
abzubauen, die Ausländer sollen in Kooperation mit Deutschen gesellschaftliche
Handlungsfähigkeit erlangen, die es ihnen ermöglicht, ihr Leben eigenverantwortlich und
unter Beibehaltung ihrer national-kulturellen Besonderheiten im Rahmen unserer
Gesellschaft zu gestalten.
Das didaktische Konzept dieser Bemühungen basiert auf der Theorie der
kommunikativen Tätigkeit, die zwischen gesellschaftlichem Handeln und
zwischenmenschlicher Kommunikation eine dialektische Beziehung sieht:
gesellschaftliche Kooperation wird durch kommunikative Tätigkeit ermöglicht,
kommunikative Tätigkeit ergibt sich aber erst aus dem Zwang zu gesellschaftlicher
Kooperation. Für die Ausländer bedeutet das, daß die Entwicklung ihrer
gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit und die Entwicklung ihrer Fähigkeit zu
kommunikativer Tätigkeit sich gegenseitig bedingen, daß die eine Fähigkeit nur in
Verbindung mit der anderen erworben und entwickelt werden kann.
Die «Lernstatt» ist daher nicht in erster Linie ein Modell für veränderten Sprachunterricht;
Vermittlung und Einüben der deutschen Sprache geschieht eher nebenbei, als eine wenn auch notwendige - Begleiterscheinung des gemeinsamen Handelns. Die
Entwicklung der Kommunikationsfähigkeit der Ausländer wird auf diese Weise nie zum
Selbstzweck, sondern sie bleibt funktional auf ihre gesellschaftliche Handlungsfähigkeit
bezogen.
Daß eine solche Arbeit nicht ohne Probleme und Rückschläge bleibt, ergibt sich schon
aus dem nicht unproblematischen Zusammenleben von Deutschen und Ausländern.
Wenn es
[Ende Seite 58]
aber gelingt, eine Identifikation der Zielgruppen mit der «Lernstatt» zu erreichen, sind
gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche Arbeit gegeben. Die «Lernstatt» in BerlinWedding funktioniert weiter, auch nach Beendigung der wissenschaftlichen Begleitung.
Die Erfahrungen, die hier gemacht wurden, im negativen wie im positiven Sinne,
erscheinen mir überall dort anwendbar, wo im Zusammenleben von Deutschen und
Ausländern Probleme und Konflikte, aber auch Berührungspunkte und Interesse
aneinander bestehen.
Die «Lernstatt im Wohnbezirk» ist ein praktikables Modell praktischer Stadtteilarbeit, bei
dem es gelungen ist, die funktionale Beziehung zwischen gesellschaftlichem Handeln
und kommunikativer Tätigkeit didaktisch sinnvoll umzusetzen.
Literatur
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Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik 2/1970
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Fremdsprachenunterrichts», in: Glottodidactica 1/1968
[Ende Seite 59]
Anmerkungen
(1) An anderer Stelle ist dies bereits mehrfach dargestellt, vgl. z. B.: Geiselberger (1972),
Keim (1974), Reimann/Reimann (1976), Uçar (1975).
2) Vgl. Kasprzik (1974) und CAD/IFZ (1976).
3) Ich bin mir der Problematik dieses Ausgangspunkts durchaus bewußt, bei dem die
Sorge für ausländische Arbeiter vom Profitinteresse diktiert wurde. Die Korrektheit
verlangt aber, daß dieser Ausgangspunkt erwähnt wird, auch wenn die Arbeit der
«Lernstatt im Wohnbezirk» sich weit davon entfernt hat, nicht, was das MethodischDidaktische, sondern was Intention und Zielstellung betrifft (Orientierung an den
Bedürfnissen und Interessen der ausländischen und deutschen arbeitenden
Bevölkerung).
4) Über den Sinn und den Erfolg eines formellen Sprachunterrichts für ausländische
Arbeiter unter den vorliegenden Bedingungen habe ich mich bereits an anderer Stelle
geäußert; vgl. Steinmüller (1979).
5) Das Projekt wurde von einem Team wissenschaftlicher Berater begleitet, zu dem
neben dem türkischen Erziehungswissenschaftler Ünal Akpinar und dem deutschen
Politologen Niels Diederich der Verfasser des vorliegenden Beitrags als
kommunikationstheoretischer und sprachdidaktischer Berater gehörte.
6) Vgl. Steinmüller (1977).
7) Vgl. hierzu ausführlicher Steinmüller (1977).
8) Vgl. hierzu ausführlicher IFZ/CAD (1978), S. 97 ff.
9) Vgl. Cohn (1970) und Cloyd /Schnelle/ Schrader-Klebert (1973),
10) Unter bestimmten Bedingungen kann und muß diese Aussage allerdings modifiziert
werden. Die konkrete Erfahrung in der Lernstatt-Arbeit hat nämlich gezeigt, daß unter
bestimmten Voraussetzungen explizite Sprachvermittlung eine Ergänzung der
Gruppenarbeit sein kann,
11) Vgl. z. B. Wienold (1973) und Zabrocki (1968).
12) Vgl. Quasthoff (1973), S. 100.
13) Vgl. Hoffmann-Nowotny (1976), S. 46 f.
14) Vgl. Jung (1971), S. 692 f.
15) Für die Kinder, die sog. zweite und dritte Generation, für die Deutsch z. T. schon als
Sozialisationssprache und in Ansätzen als Medium der Kognition fungieren muß, stellt
sich das Problem anders.
16) Vgl. zum Problem der zusammengesetzten Verben für Türken MeyerIngwersen/Neumann/Kummer (1977), S. 226 ff.
17) In diesem Zusammenhang muß darauf hingewiesen werden, daß die Kritik, in der
Lernstatt würden die hinter der alltäglichen Realität stehenden kausalen
Zusammenhänge nicht kritisch untersucht (Bendit/Heimbucher 1977, S. 156), bzw. daß
Diskussionen, die durch die behandelten Themen und Gegenstände ausgelöst werden
könnten, nicht stattfänden (Bendit 1979, S. 62), an der Realität der Lernstatt-Arbeit
vorbeigeht; denn gerade die kritische Auseinandersetzung mit den Strukturen und
Verhältnissen, die die Ausländer hier vorfinden, das Durchschauen von
Zusammenhängen und das Entwickeln von Alternativen sind als wesentliche, sogar
grundlegende Elemente gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit Inhalt und Ziel der
Lernstatt-Arbeit.
18) Vgl. das oben angeführte Beispiel der Verb-Komposita.
19) Als Stichworte lassen sich hier z. B. nennen: Schichtarbeit und starke physische
Belastung, die eine regelmäßige Teilnahme erschweren oder gar unmöglich machen und
die oft recht hohen Anforderungen an schulische und sogar grammatiktheoretische
Voraussetzungen.
20) Vgl. z. B. die Definitionsversuche bei Flitner (1972).
21) Die Lernstatt hat für viele der ausländischen Besucher die Funktion des CafféHauses als Treffpunkt und Kristallisationspunkt der Freizeit übernommen, so daß auch
außerhalb der regelmäßigen Gruppenstunden Zusammenkünfte und Aktivitäten
stattfinden; die Möglichkeit, Kaffee und Tee zu kochen und zu trinken, spielt dabei
ebenso eine Rolle wie ausgelegte deutsche und türkische Zeitungen und Magazine
sowie die konventionellen Spiele.
22) Zum Rollenspiel im Rahmen der Lernstatt vgl. IFZ/CAD (1978), S. 124 ff.; vgl. auch
Kochan (1976).
23) Vgl. u.a. Steinmüller (1977), S. 62ff.
24) Vgl. IFZ/CAD (1978), S. 136f.
25) Zur Problematik der Aktivierung ausländischer Frauen vgl. IFZ/CAD (1978), S. 211ff.
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