Swiss Medical Forum 35/2016

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SMF – FMS Schweizerisches Medizin-Forum – Forum Médical Suisse – Forum Medico Svizzero – Forum Medical Svizzer
Swiss
Medical Forum
35 31. 8. 2016
702 M. P. Arnold, T. Rychen
Knieprothetik nach Mass
aus dem 3D-Drucker
716 E. Holsboer-Trachsler,
J. Hättenschwiler, J. Beck, et al.
Die Akutbehandlung
depressiver Episoden
725 S. Güntert, M. Brutsche,
R. Rodriguez, D. Güntert
Wenn doch alles «unter einen
Hut zu bringen» ist
With extended abstracts from “Swiss Medical Weekly”
707 S. Maitre, J. Jaafar,
G. Gastaldi, J. Philippe
Hypoglykämie bei
Patienten mit Diabetes
Offizielles Fortbildungsorgan der FMH
Organe officiel de la FMH pour la formation continue
Bollettino ufficiale per la formazione della FMH
Organ da perfecziunament uffizial da la FMH
www.medicalforum.ch
699
INHALTSVERZEICHNIS
Redaktion
Beratende Redaktoren
Prof. Dr. Nicolas Rodondi, Bern (Chefredaktor); Prof. Dr. Stefano Bassetti,
Prof. Dr. Reto Krapf, Luzern; Dr. Pierre Périat, Basel;
Basel; Dr. Ana M. Cettuzzi-Grozaj, Basel (Managing editor);
Prof. Dr. Rolf A. Streuli, Langenthal
Prof. Dr. Martin Krause, Münsterlingen; Prof. Dr. Klaus Neftel, Bern;
Prof. Dr. Antoine de Torrenté, La Chaux-de-Fonds; Prof. Dr. Gérard
Waeber, Lausanne; PD Dr. Maria Monika Wertli, Bern
Advisory Board
Dr. Sebastian Carballo, Genève; Dr. Daniel Franzen, Zürich;
Dr. Francine Glassey Perrenoud, La Chaux-de-Fonds;
Dr. Markus Gnädinger, Steinach; Dr. Matteo Monti, Lausanne;
Dr. Sven Streit, Bern
Und anderswo …?
A. de Torrenté
701 Frischobst und kardiovaskuläre Erkrankungen: wirksame Prävention?
Aktuell
M. P. Arnold, T. Rychen
Knieprothetik nach Mass aus dem 3D-Drucker
702
Bei fortgeschrittener Osteoarthritis ist die Prothetik ein bewährtes Konzept. Sie birgt jedoch
einige Probleme. Um diese Probleme anzugehen, hat sich in der Kniechirurgie ein Prinzip sehr
gut bewährt: Rekonstruiere die Anatomie so genau wie möglich.
Übersichtsartikel
S. Maitre, J. Jaafar, G. Gastaldi, J. Philippe
Hypoglykämie bei Patienten mit Diabetes
707
Die Hypoglykämie ist eine unvermeidliche Nebenwirkung der Insulintherapie und bestimmter
oraler Antidiabetika. Die Morbidität und die damit verbundenen Kosten sind erheblich.
Von zentraler Bedeutung für die Behandlung des Diabetes ist es, die Anzeichen und Ursachen
zu erkennen und dementsprechend zu handeln.
Richtlinien
E. Holsboer-Trachsler, J. Hättenschwiler, J. Beck, S. Brand, U. M. Hemmeter, M. Ekkehard Keck, S. Rennhard, M. Hatzinger, M. Merlo,
G. Bondolfi, M. Preisig, A. Gehret, D. Bielinski, E. Seifritz
716 Die Akutbehandlung depressiver Episoden
Diese Behandlungsempfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression und der Schweizerischen Gesellschaft
für Biologische Psychiatrie wurden in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie
auf der Grundlage von Leitlinien der «World Federation of Societies of Biological Psychiatry» und der Deutschen Gesellschaft für
Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde erstellt.
Rösli Näf – Porträt einer Unbeugsamen
Franziska Greising
¡ AM LEBEN
Roman
2016. Geb., 500 Seiten
CHF 38.– / EUR 36,–
ISBN 978-3-7296-0913-6
Zytglogge Verlag
Der Süden Frankreichs 1940: Die dreissigjährige Rose aus Glarus übernimmt die Leitung eines Heims für jüdische Kinder aus
Deutschland und Österreich. Sie bietet den Kindern in der noch unbesetzten Zone Schutz und Geborgenheit. Nachdem Nazideutschland auch Frankreichs Süden besetzt, nimmt die Bedrohung dramatisch zu. Eines Morgens werden die älteren Jugendlichen in ein
Lager verschleppt. Die offizielle Schweiz und das Rote Kreuz kommen nicht zu Hilfe. Rose trifft eine Entscheidung.
Zytglogge Verlag | Steinentorstrasse 11 | CH-4010 Basel
Tel. +41 (0)61 278 95 77 | Fax +41 55 418 89 19 | [email protected]
700
INHALTSVERZEICHNIS
Fallberichte
S. Güntert, M. Brutsche, R. Rodriguez, D. Güntert
725 Wenn doch alles «unter einen Hut zu bringen» ist
Die Zuweisung des Patienten erfolgte zur weiteren Abklärung, als diverse Befunde wie Anämie, Thrombozytose und Transaminasenerhöhung im klinischen Kontext mit anhaltendem Nachtschweiss, vorübergehendem Gewichtsverlust und trockenem Husten
nach einer antibiotisch behandelten Sinusitis und Otitis media drei Monate zuvor nicht «unter einen Hut zu bringen» waren.
Extended abstracts from SMW
New articles from the online journal “Swiss Medical Weekly” are presented after page 728.
Bleiben, wie ich bin
Peter Schneider
¡ IDENTITÄT UND SOLCHE
SACHEN
Kolumnen
Klappenbroschur, 13 × 21 cm, ca. 220 Seiten
Coverfoto: Claudia Herzog
CHF / EUR 29.–
ISBN 978-3-7296-0919-8
Zytglogge Verlag
In seinen Kolumnen beantwortet Peter Schneider regelmässig Leserfragen. Deren Bandbreite reicht von vermeintlich banalen Alltagsfragen, hinter denen sich plötzlich Abgründe aus vorgefassten Meinungen und allzu bequemen Denkmustern auftun, bis zu den
grossen und ganz grossen Fragen unseres Seins. Scharfsinnig und zuweilen scharfzüngig geht der Autor diesen Fragen nach, bis er
deren eigentlichen Kern freigelegt hat. Seine Antworten sind ernsthaft, auch wenn sie mit Sprachwitz daherkommen, treffsicher,
überraschend und anregend.
Zytglogge Verlag | Steinentorstrasse 11 | CH-4010 Basel
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701
UND ANDERSWO …?
Und anderswo …?
Antoine de Torrenté
Frischobst und kardiovaskuläre
Erkrankungen: wirksame Prävention?
Fragestellung
Kardiovaskuläre (cv) Erkrankungen sind die
Hauptursache für vorzeitigen Tod und Invalidität. Die meisten cv Ereignisse treten in
Schwellenländern wie China auf. Ein geringer
Frischobstverzehr ist ein wichtiger Risikofaktor, vor allem im Westen, aber das sind oft nur
Schätzungen. Der Frischobstverzehr in China
ist, im Gegensatz zum quasi täglichen Gemüsekonsum, sehr gering. Ischämische und hämorrhagische Schlaganfälle sowie koronare Herzerkrankungen sind sehr häufig. Die nachfolgend zusammengefasste Studie soll die Frage
beantworten, ob Frischobstverzehr einen Einfluss auf das Auftreten cv Ereignisse hat.
Methode
Die analysierten Personen kamen aus 10 chinesischen Regionen, 5 städtischen und 5 ländlichen. Ihre Daten stammten aus einer riesigen Datenbank, der «China Kadoorie Biobank
Study». Die 35–74 Jahre alten Einwohner der
Regionen wurden von 2004–2008 eingeladen,
an der Studie teilzunehmen. Ca. 500 000
stimmten zu. Sie wurden in lokalen Einrich-
Pioglitazon nach ischämischem
Schlaganfall oder TIA: Nutzen?
Insulinresistenz ist ein wichtiger Faktor für das
Auftreten eines Schlaganfalls oder Myokardinfarkts. Pioglitazon (P) verbessert die Insulinsensitivität. Fast 4000 Patienten mit kürzlich aufgetretenem Schlaganfall oder transitorischer ischämischer Attacke (TIA) erhielten
entweder 45 mg Pioglitazon oder ein Plazebo.
Nach 4,8-jährigem Follow-up hatten 9% der PPatienten einen Schlaganfall oder Myokardinfarkt erlitten, gegenüber 11,8% der Patienten
unter Plazebo (Risk Ratio 0,76, p = 0,007). Die
Gesamtsterblichkeit wurde nicht beeinflusst.
Die Pioglitazon-Patienten nahmen häufiger
an Gewicht zu und entwickelten im Vergleich
zu Patienten unter Plazebo eher Ödeme und
Frakturen. Diese Nebenwirkungen sind signifikant. Lohnt sich die Einnahme tatsächlich?
Kenson WN, et al. New Engl J Med. 2016;374:1321–31.
Magenschutz bei dualer
Thrombozytenaggregationshemmung
Laut COGENT-Studie hat Omeprazol bei Patienten, die eine duale Thrombozytenaggregationshemmung mit Clopidogrel und Aspirin®
tungen von geschultem Personal zu ihren
Ernährungsgewohnheiten bezüglich 12 Nahrungsmittelgruppen wie Reis, Weizen, Eiern …
und Frischobst befragt. Dann wurde der
Frischobstverzehr der letzten 12 Monate evaluiert und stratifiziert: täglich, 4–6×/Woche,
1–3×/Woche, monatlich, nie. Weiter wurden
BMI, arterieller Blutdruck (BD) und NüchternBlutzucker (BZ) erfasst. Der Gesundheitsstatus
wurde regelmässig durch die Verwaltung der
Regionen und anhand von Versicherungsdaten geprüft. Die cv Ereignisse wurden gemäss
ICD-10-Code klassifiziert.
Resultate
Die Studie umfasst 3,2 Mio. Patientenjahre
mit ca. 450 000 Personen. In diesem Zeitraum
traten ~5000 cv Todesfälle auf. 18% der Probanden assen täglich Obst. Der systolische BD
dieser Personen war im Vergleich zu denjenigen, die nie Obst assen, um 4 mm Hg und der
BZ um 0,5 mmol/l niedriger. Ihre adjustierte
Hazard Ratio (HR) betrug im Vergleich zu Personen, die nie Obst assen, 0,6 für einen cv Tod
und 0,64 für ischämische oder hämorrhagische Schlaganfälle. Es bestand ein starkes loglineares Verhältnis zwischen den cv Ereignissen und den 5 Obstverzehrkategorien von nie
bis täglich. Alle Zahlen waren signifikant.
(A) erhalten, im Vergleich zu Plazebo eine
Schutzwirkung bezüglich gastrodudenaler
Komplikationen (1 vs. 3%). Es bestehen keine
Unterschiede bezüglich der verwendeten ADosis (<100 und >100 mg/Tag). Das Follow-up
betrug 110 Tage. Selbst bei einer geringen ADosis scheint die Therapie demnach von Nutzen zu sein. Zur Erinnerung: Bei der Einnahme
zusammen mit Ticagrelor wird eine geringe
A-Dosis empfohlen …
Vaduganathan M, et al. J Am Coll Cardiol.
2016;67(14):1661–71.
Grippeimpfung während der Schwangerschaft: sinnvoll?
Eine australische Studie verglich die Geburten
von 5000 Frauen, die während der Schwangerschaft einen trivalenten Grippeimpfstoff erhalten hatten, mit denen von 50 000 ungeimpften Frauen. Bei den Geimpften traten weniger
Totgeburten auf (3 vs. 5/100 000 Schwangerschaftstage). Anscheinend gab es keine Impfnebenwirkungen und somit keine Kontraindikation gegen die Impfung von Schwangeren.
Gut zu wissen …
Regan AK, et al. Clin Infect Dis. 2016;62:1221–7.
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(35):701
Probleme
Man weiss weder wie viel noch welche Arten
Obst verzehrt wurden. Trotz statistischer Bereinigung war das sozioökonomische Milieu
ein Störfaktor. Denn Personen im Quartil mit
dem höchsten Einkommen assen doppelt so
häufig täglich Obst als solche im Quartil mit
dem niedrigsten Einkommen.
Kommentar
Ein Pluspunkt der Studie ist die Zahl der beobachteten Patientenjahre. Es wurde per Zufall
eine kleine Unterstichprobe (5–6%) der Probanden ausgewählt, deren Daten zwei weitere
Male erfasst wurden, um die Gesamtstichprobe zu validieren. Alles in allem waren die
Personen mit täglichem Obstverzehr hauptsächlich gebildete Frauen aus den städtischen
Regionen mit hohem Einkommen, die nicht
rauchten, interessanterweise mehr Fleisch
und Milchprodukte konsumierten sowie einen
höheren BMI aufwiesen. Weiter ist anzumerken, dass die Resultate unabhängig vom arteriellen BD und BZ-Spiegel zu sein scheinen und
in den 10 analysierten Regionen identisch
waren. Hoffen wir, dass diese eindeutig positiven Resultate auch auf andere, darunter unsere,
Populationen anwendbar sind. Denn die Verringerung der HR ist wirklich beeindruckend …
Du H, et al. N Engl J Med. 2016;374:1332–43.
Hormonsubstitution nach der Menopause:
Arterioskleroseprogression?
Nach den Resultaten der «Women’s Health
Study», die einen ungünstigen Einfluss der
Hormonsubstitution (H) auf das kardiovaskuläre (cv) Risiko gezeigt hatte, waren die Verordnungen von Präparaten zur H zurückgegangen. In der ELITE-Studie wurden zwei Frauengruppen verglichen: 1) Alter von ca. 55 und
Menopause vor 3,5 Jahren, 2) Alter von ca. 63
und Menopause vor 14 Jahren. 643 Patientinnen wurden untersucht. In jeder Gruppe erhielten diese entweder 1 mg Estradiol (E)/Tag
oder ein Plazebo. Bei den jüngeren Frauen verringerte E die anhand der Intima-Media-Dicke
der A. carotis beurteilte Arteriosklerose progression. Bei den älteren Frauen bestand
jedoch kein Unterschied zwischen E und Plazebo. Demnach scheint die Studie für eine H
ohne erhöhtes cv Risiko bei Frauen kurz nach
Beginn der Menopause zu sprechen.
Hodis HN, et al. N Engl J Med. 2016;374:1221–31.
Keaney JF Jr, Solomon CG. N Engl J Med.
2016;374:1279–80.
702
AK TUELL
Neue Implantate, die bildbasiert individuell hergestellt werden
Knieprothetik nach Mass
aus dem 3D-Drucker
Prof. Dr. med. Markus P. Arnold, Dr. med. Thomas Rychen
LEONARDO – Ärzte für Orthopädie und Traumatologie, Kniezentrum
Hirslanden Klinik Birshof, Münchenstein
Bei fortgeschrittener Osteoarthritis ist die Prothetik ein bewährtes Konzept. Sie
birgt jedoch einige Probleme. Um diese Probleme anzugehen, hat sich in der Kniechirurgie ein Prinzip sehr gut bewährt: Rekonstruiere die Anatomie so genau wie
möglich.
Orthopädische Chirurgen versuchen, die Lebensqua-
mehrere Denkansätze verfolgt werden: Normaler-
lität ihrer Patienten zu verbessern – zunächst im Rah-
weise arbeiten wir mit einem bewährten Prothesen-
men der gelenkerhaltenden Chirurgie, die sich immer
system, das es in der tibialen Komponente in 10 und in
weiter entwickelt [1]. Bei zu weit fortgeschrittener
der femoralen in 16 verschiedenen Grössen gibt. Das
Osteoarthritis bleibt aber dennoch die Prothetik ein
passende Polyethylen ist in Millimeterschritten in den
bewährtes Konzept. Die Kniechirurgie hat zum Ziel,
notwendigen Dicken und Grössen erhältlich. Dennoch
dem Patienten zu einem schmerzfreien, stabilen, frei
müssen wir bei jeder Konfektions-Prothese grössere
beweglichen Kniegelenk zu verhelfen, dessen er sich
oder kleinere Kompromisse eingehen, sodass letztend-
im Idealfall nicht einmal bewusst ist. Das künstliche
lich das Knie an die Prothese angepasst wird – und
Gelenk wird dann nicht mehr als Fremdkörper wahr-
nicht umgekehrt. Dieser Umstand kann zu den in der
genommen, wenn es unmerklich genauso funktioniert,
Folge besprochenen Restproblemen führen.
wie es soll.
Restproblem 1
Restprobleme der klassischen
Knieprothetik
Beim Einbau einer klassischen Prothese bewegen wir
uns auf dem schmalen Grat zwischen idealer Beweglichkeit und guter Stabilität des Kniegelenkes [2]. Wenn
Die Knieprothetik will durch den Ersatz von arthro-
der Operateur während der Operation maximale
tisch veränderten Gelenkoberflächen mit Metall- und
Gelenkstabilität mit etwas erhöhter Bandspannung
Polyethylen-Implantaten erreichen, dass ein zuvor
anstrebt, ist es möglich, dass der Patient es in der frü-
jahrelang schmerzendes Gelenk wieder tadellos funk-
hen postoperativen Phase nicht schafft, die kritische
tioniert. Der Patient soll seinen Alltag beschwerdefrei
Grenze von etwa 100° Flexion zu übertreffen, eine per-
bestreiten können. Damit haben wir uns ein hohes Ziel
sistierende Flexionseinschränkung wäre die Folge.
gesteckt, das wir trotz differenzierter Möglichkeiten [2]
Wird maximale Beweglichkeit angestrebt, könnte sich
längst nicht immer erreichen [3–5]. Obschon sich die
das Knie nach dem Abklingen der arthrofibrotischen
Knieprothetik als eine erfolgreiche Routineoperation
Phase, also nach etwa einem Jahr, für den Patienten
etabliert hat, die wissenschaftlich gut untermauert ist,
unstabil anfühlen. Dieser Umstand, der durch das
müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass etwa 20% der
unangenehme Phänomen der zusätzlichen Instabilität
Patienten nach einer Knie-Totalprothese (Knie-TP) mit
in mittleren Flexionsgraden, also zwischen etwa 50
dem Ergebnis unzufrieden sind [6–8]. Bei jüngeren
und 80° noch verschärft werden kann [10, 11], wird
Patienten ist dies sogar bei jedem Dritten der Fall [9].
bereits durch die neuesten Konfektionsprothesen ver-
Junge Patienten und solche mit posttraumatischen
bessert.
Gonarthrosen sind bezüglich der Zufriedenheit nach
Markus P. Arnold
Knie-TP unsere anspruchsvollsten Patienten. Offenbar
Restproblem 2
gelingt es uns zu oft nicht, deren Erwartungen zu er-
Um eine möglichst stabile, kortikale Abstützung der
füllen.
Implantate zu erreichen, die besonders in osteoporo-
Woran liegt es, dass so viele Knie-TP-Patienten nach
tischen Knochen wichtig ist, muss eine komplette Ab-
ihrer Operation unzufrieden sind? Hierzu können
deckung der Sägefläche an Femur und Tibia erreicht
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703
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Abbildung 1 A–C: Drei anatomische Präparate rechter distaler Femora. Man beachte die individuell sehr unterschiedliche Morphologie.
Quelle: Prof. em. Werner Müller, Anatomisches Institut der Universtität Basel.
werden. Gleichzeitig sollte die Prothese nirgendwo stö-
passt die ligamentäre Anatomie nicht mehr perfekt,
rend überhängen, da sonst klinisch relevante, schmerz-
die Kinematik wird verändert [15–17]. Das Kniegelenk
hafte Weichteilirritationen resultieren können [12, 13].
mit seinen sechs Freiheitsgraden der Beweglichkeit ist
aber stark abhängig von seiner aktiven und passiven
Restproblem 3
Stabilisierung, der sogenannten sensomotorischen
Jedes Kniegelenk hat seine Gelenklinie, sein indivi-
Kontrolle. Bänder und Sehnen sind keine reinen Kabel.
duelles Niveau, seine Ebene, auf der sich Flexions-, Ex-
Sie sind mit Sensoren gespickte, aktive und passive Sta-
tensions- und Rotationsbewegungen zwischen Femur
bilisatoren der Kniebewegung [18, 19].
und Tibia abspielen. Nur wenn die Gelenklinie genau
rekonstruiert wird, ist es möglich, die normale Kinematik wiederherzustellen. Besonders unangenehm für
die Patienten sind asymmetrische Verschiebungen der
Gelenklinie. Beispielsweise kommt es bei Valgus-Gon-
Individueller Oberflächen-Ersatz –
Nur ersetzen, was tatsächlich arthrotisch
verändert ist
arthrosen immer wieder dazu, dass nach Prothese im
Neue Techniken wie das 3D-Druckverfahren eröffnen
lateralen Kompartiment die originale Gelenklinie re-
neue Möglichkeiten und verändern dadurch die Be-
konstruiert wird, aber medial eine deutliche Senkung
handlung unserer Prothesenpatienten: Erstmals ist es
der Gelenklinie in Kauf genommen werden muss.
jetzt möglich, die Prothese der Anatomie anzupassen.
Alle drei genannten Restprobleme erzwingen regel-
Die ConforMIS-Prothesen werden basierend auf CT-
mässig Kompromisslösungen beim Einbau von Kon-
Daten über eine virtuelle 3D-Rekonstruktion und dann
fektionsprothesen, seien es Total- oder Teilprothesen.
im 3D-Druckverfahren mit Hilfe der CAD/CAM (Computer Aided Design/Computer Aided Manufacturing)Technologie hergestellt. Gleichzeitig mit dem Implantat
Individuelle Anatomie
werden die individuellen, zur Ausrichtung und Im-
Um diese genannten Probleme anzugehen, hat sich in
plantation notwendigen Sägeblöcke hergestellt. Das
der Kniechirurgie ein klassisches Prinzip sehr gut be-
Portfolio umfasst mediale und laterale unikondyläre
währt, das von unseren grossen Lehrmeistern in den
Teilprothesen, mediale sowie laterale bikompartimen-
1980er Jahren stammt [14]: Rekonstruiere die Anato-
telle Teilprothesen, bei denen sowohl ein femorotibiales
mie so genau wie möglich. Dieses Prinzip funktioniert
als auch das femoropatellare Kompartiment kombiniert
bei ligamentären Rekonstruktionen, aber auch in der
beschichtet wird, und die klassischere kreuzbander-
Prothetik.
haltende und kreuzbandsubstituierende Totalprothese.
Dabei muss beachtet werden, dass vor allem die ossäre
Teilprothesen haben den Vorteil, dass damit die Kreuz-
Anatomie des distalen Femurs, aber auch jene der pro-
bänder erhalten werden können. Lediglich das arthro-
ximalen Tibia individuell sehr verschieden sind. Am
tisch veränderte Kompartiment wird mit Metall neu
eindrücklichsten zeigt sich dies am patellofemoralen
beschichtet, sodass die gewohnte Kniekinematik er-
Kompartiment (Abb. 1). Die ossäre Anatomie und die
halten bleibt. Nur in etwa 30% der Arthrosen sind alle
ligamentären Insertionspunkte bedingen sich gegen-
drei Kompartimente (medial, lateral und patellofe-
seitig. Jedes Knie hat seine individuellen anatomischen
moral) betroffen. Häufiger sind nur zwei Kompar-
Eigenheiten, Proportionen und damit seine persönli-
timente relevant erkrankt. Klassisch ist die Kombi-
che Kinematik. Wenn wir die Kondylenform verändern,
nation medial und patellofemoral, oder lateral und
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AK TUELL
Abb. 2: Gonarthrose im medialen und patellofemoralen
Kompartiment. Das laterale Kompartiment ist makroskopisch
intakt.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von ConforMIS.
Abb. 3: Bikompartimentelle individuelle Prothesenversorgung.
Die Herstellung eines derartigen Implantates ist zuverlässig
nur bildbasiert und individuell angepasst möglich.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von ConforMIS.
patellofemoral (Abb. 2). Bisher waren wir gezwungen,
Daten basierende, metallene Kleinimplantate an, die
mit einer TP ein nicht erkranktes Kompartiment trotz-
einen lokalen Defekt präzise anatomisch neu beschich-
dem zu «opfern». Eine revolutionäre, neue Methode,
ten können. Derartige, relativ kleine Metallknöpfe
die durch die individuelle, anatomisch geformte Pro-
existierten schon länger, erreichten bisher aber nur
thesenherstellung aus dem 3-D-Drucker möglich ist,
zum Teil gute Resultate, da sie sich nicht zuverlässig
kann hier Abhilfe schaffen. Beispielsweise kann eine
der individuellen femoralen Anatomie des Patienten
Oberflächenbeschichtung des medialen Komparti-
anpassen liessen. Zum Problem wurde daher häufig
ments, verbunden mit dem patellofemoralen Kompar-
ein relativ schnell auftretender Schaden auf der tibialen
timent, in einem Stück passgenau hergestellt werden
Gegenseite [21]. Mit einem neuartig hergestellten, auf
(Abb. 3). Da zwei Kompartimente anatomisch neu be-
MRI-Daten basierenden Kleinimplantat lassen sich
schichtet werden, das dritte Kompartiment jedoch un-
streng lokalisierte osteochondrale Schäden neuerdings
berührt gelassen wird, findet keine oder nur eine mini-
zuverlässig mit einem maximal 4–5 cm2 grossen Im-
male Veränderung der gewohnten Kniekinematik
plantat neu beschichten (Abb. 4 und 5). Das Implantat
statt. Daher kann erwartet werden, dass sich ein derart
wird ebenfalls der individuellen Anatomie, der Kurvatur
prothetisch versorgtes Kniegelenk normaler bewegt
von Femurcondylus oder Trochlea, angepasst herge-
und anfühlt.
stellt und mit einem individuell angefertigten Instru-
Es gibt erste Hinweise darauf, dass die theoretisch er-
mentarium anatomisch einsetzbar geliefert.
warteten Verbesserungen auch tatsächlich eintreffen.
Die CAD/CAM-Technologie hält also Einzug in den ortho-
Patienten, die mit der bikompartimentalen Prothese
pädischen Alltag. Die Technologie wird seit 2004 zur
auf Mass versorgt wurden, zeigten postoperativ prak-
Prothesenherstellung verwendet [22]. Klinische Erfah-
tisch normale Bewegungsabläufe – anders, als wir dies
rungen mit solchen Implantaten werden seit 2008 in
bisher von den klassisch mit einer Konfektionspro-
den USA gesammelt. Seit 2013 ist dies auch in Europa
these versorgten Patienten gewohnt waren [20].
der Fall. Vor allem in Deutschland liessen sich einige
Kollegen von dieser Technologie überzeugen, die unse-
Spezieller Fall: auf MRI-Daten basierendes
Kleinimplantat für den lokalisierten
osteochondralen Defekt
Ein spezieller Fall besteht, wenn ein lokalisierter osteo-
rer Ansicht nach zukunftsweisend ist. Seit 2015 verwenden wir sie selbst.
Erfahrungen in der Praxis
chondraler Defekt vorliegt, der sich beispielsweise
Die aufgeführten neuen Optionen sind eine ideale Er-
wegen des Alters des Patienten biologisch nicht re-
gänzung zu den bisherigen Implantaten. In unserer
parieren lässt. Hier bieten sich individuelle, auf MRI-
Praxis spielt sich in etwa eine 1:4-Verteilung zwischen
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AK TUELL
Abb. 4 A–C: Lokalisierter osteochondraler Schaden, ohne relevante Arthrose im Restgelenk.
A: MRI-Bild, coronal, T2, Defekt auf dem lateralen Femurcondylus
B: Arthroskopisches Bild des ausgebrochenen Stücks im ventralen Kniekompartiment
C: Arthroskopisches Bild der Defektzone auf dem lateralen Femurcondylus
CAD/CAM-Prothetik und klassischer Konfektionsprothetik ein, wodurch wir vergleichbare Erfahrungen
machen wie ähnlich strukturierte Gruppen in
Deutschland [23]. Bei der Aufklärung und Vorbereitung
der Patienten weisen wir sehr bewusst darauf hin,
dass, unabhängig vom Implantat, der Einbau einer
Knieprothese ein relativ grosser Eingriff ist und dass
sich der frühe postoperative Verlauf nach klassischer
TP und Massprothese kaum unterscheidet. Erst nach
etwa vier bis sechs Monaten entwickeln sich erfahrungsgemäss diskrete, aber spürbare Unterschiede. Individuell versorgte Patienten berichten nach unserer,
bisher natürlich noch limitierten, Erfahrung früher
und zu einem höheren Prozentsatz von einem natürlichen Kniegelenkgefühl.
Weshalb die 1:4-Verteilung? Dafür gibt es mehrere
Gründe:
– Zwischen Bildgebung und garantierter Lieferung
der ConforMIS-Prothese vergehen zwei Monate.
– Der Algorithmus der Prothesen- und Sägeblock-Herstellung garantiert eine korrekte Beinachsierung
nur innerhalb eines gewissen Fensters, mehr als 15°
Fehlstellung ist deshalb eine Kontraindikation.
Abb. 5: Massgefertigtes Metallimplantat zur individuellen
Beschichtung des lokalisierten osteochondralen Schadens
(Episealer®).
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(35):702–706
– Der Operateur muss sich planungstechnisch auf die
Vorgaben eines Ingenieurs verlassen und hat intraoperativ nur limitierten Spielraum.
706
AK TUELL
Korrespondenz:
– Zählt man den Preis für die Bildgebung und den et-
Prof. Dr. med.
was höheren Preis für das massgefertigte Implantat
Markus P. Arnold, PhD
zusammen, dann sind die Kosten für das Gesamt-
LEONARDO – Ärzte für
Orthopädie und Traumatologie
Kniezentrum
Hirslanden Klinik Birshof
5
paket höher als bei einer Konfektionsknieprothese.
– Es fehlen naturgemäss die Langzeiterfahrungen.
Neuerdings haben wir also unabhängig von der Grösse
CH-4142 Münchenstein
einer osteochondralen Läsion – von der streng loka-
Mparnold[at]leonardo-
lisierten, orthobiologisch nicht mehr reparierbaren
ortho.ch
4
Läsion, über die uni- und bikompartimentelle Arthrose bis hin zur Pangonarthrose – ein massgefertigtes
prothetisches Implantat zur Verfügung. Die frühen klinischen Resultate sind vielversprechend. Allerdings
6
7
8
9
werden erst die Langzeitresultate zeigen, ob wir mithilfe dieser Implantate aus dem 3D-Drucker tatsächlich den Prozentsatz der zufriedenen Prothesenträger
10
erhöhen können.
11
Disclosure statement
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen
im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
12
Literatur
1
2
3
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Gelenkerhaltende Konzepte. Schweiz Med Forum. 2014,33:594–8.
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13
14
15
16
17
Das Wichtigste für die Praxis
18
• Knieprothetik kann sehr differenziert angewandt werden.
• Bei etwa 70% der Patienten sind nicht alle drei Kompartimente gleicher-
19
massen arthrotisch verändert. In solchen Fällen bietet sich eine Teilprothese an. Neue Implantate, die individuell der persönlichen Anatomie
des Patienten angepasst im 3D-Druckverfahren hergestellt werden, ermöglichen die jeweils anatomisch genaue Beschichtung der arthrotisch
20
veränderten Kompartimente.
• Band- und Kondylenanatomie bedingen einander wechselseitig und
definieren die Kniekinematik. Da die osteochondrale Anatomie durch das
21
individuell hergestellte Knieimplantat kopiert wird, verändert sich die
dem Patienten gewohnte Kinematik seines Kniegelenkes kaum.
22
• Biomechanische und frühe klinische Resultate bestätigen die Richtigkeit
des Konzepts. Nachteil des neuen Verfahrens ist einerseits, dass naturgemäss Langzeitresultate fehlen, andererseits sind die unmittelbaren
Kosten höher, verursacht durch das etwas teurere Implantat sowie die
notwendige zusätzliche Bildgebung als Basis zur Implantatherstellung.
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(35):702–706
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707
ÜBERSICHTSARTIKEL
Unvermeidliche Folge der antidiabetischen Therapie
Hypoglykämie bei Patienten
mit Diabetes
Dr. med. Sophie Maitre, Dr. med. Jaafar Jaafar, Dr. med. Giacomo Gastaldi, Prof. Dr. med. Jacques Philippe
Service d’endocrinologie, diabétologie, hypertension et nutrition, Hôpitaux universitaires de Genève, Genève
Die Hypoglykämie ist eine unvermeidliche Nebenwirkung der Insulintherapie und
bestimmter oraler Antidiabetika. Die Morbidität und die damit verbundenen Kosten sind erheblich. Von zentraler Bedeutung für die Behandlung des Diabetes ist es,
die Anzeichen und Ursachen zu erkennen und dementsprechend zu handeln.
Einleitung
Die Hypoglykämie ist eine gefürchtete, aber unvermeidliche Nebenwirkung der Diabetestherapie. In der
Fachliteratur wird der Ausdruck iatrogene Hypoglykämie verwendet, um diese Form von der nicht diabetischen Hypoglykämie abzugrenzen. Die Behandlung
einer Hypoglykämie muss rasch erfolgen, wirksam
sein und eine Analyse der Begleitumstände umfassen.
Die epidemiologischen Daten ermöglichen es, das Ausmass des Problems zu erfassen, und dienen als Grundlage für Überlegungen über die aus medizinischer
Sicht akzeptable Häufigkeit einer Hypoglykämie. Bei
der Auswertung der Daten ist indes grosse Sorgfalt geboten [1].
Die Inzidenz leichter bis mittelgradiger Hypoglykämien
beträgt bei Patienten mit Typ-1-Diabetes etwa 30 Episoden pro Patient und Jahr (weniger als eine Episode pro
Woche). Hinsichtlich schwerer Hypoglykämien beträgt
sie 3,2 Episoden pro Patient und Jahr. Man schätzt, dass
2 bis 4% der Todesfälle bei Patienten mit Typ-1-Diabetes
auf Hypoglykämien zurückzuführen sind. Bei Patien-
Sophie Maitre
Definitionen und Pathophysiologie
ten mit Typ-2-Diabetes treten Hypoglykämien seltener
Die biomedizinischen Auswirkungen der Hypoglykä-
auf: Die Inzidenz mittelgradiger Hypoglykämien be-
mie hängen von drei Faktoren ab: Schweregrad, Dauer
trägt 2 bis 10 Episoden pro Patient und Jahr, diejenige
und Häufigkeit. Es ist folglich zweckmässig, eine ein-
schwerer Hypoglykämien 0,1 bis 0,7 Episoden pro Pa-
heitliche Terminologie zu verwenden. Der Blutzucker-
tient und Jahr.
wert, ab dem Symptome auftreten, kann bei Patienten
Aufgrund der Prävalenz von Typ-2-Diabetes und der
mit Diabetes abhängig von der Blutzuckereinstellung
Tatsache, dass in den westlichen Ländern mehr als ein
variieren: Er ist geringer bei gut eingestellten Patien-
Viertel dieser Patienten mit Insulin behandelt wird,
ten und höher bei chronisch schlechter Einstellung.
tritt der Grossteil der Hypoglykämieepisoden – auch
Bei Diabetes versteht man unter einer Hypoglykämie
der schweren – bei Patienten mit Typ-2-Diabetes auf.
eine Blutglukosekonzentration von 3,9 mmol/l oder da-
Die Hypoglykämie ist zudem der zweithäufigste Grund
runter. Diese Definition beruht auf einem Experten-
einer durch iatrogene Ursachen bedingten Hospitalisa-
konsens und zielt darauf ab, potenzielle Schädigungen
tion [2].
zu verhindern. Bei Gesunden sind die Anzeichen und
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(35):707–713
708
ÜBERSICHTSARTIKEL
Tabelle 1: Anzeichen und Symptome einer Hypoglykämie.
Die Elimination des zirkulierenden Insulins hängt bei
Diabetespatienten von den pharmakokinetischen Eigen-
Adrenerg
Neuroglykopenisch
schaften des Insulins oder des verabreichten Medika-
Zittern
Konzentrationsschwäche
mentes ab. Überdies leiden Patienten mit Typ-1-Diabe-
Palpitationen
Verringerung der intellektuellen
Schwitzen
tes oder mit seit Langem bestehendem Typ-2-Diabetes
Fähigkeiten
Angst
Reizbarkeit
an einer endogenen Störung der Glukagonsekretion,
Heisshunger
Schwäche
Übelkeit
Kopfschmerzen
Parästhesien
Sprachstörungen
Reaktion auf die Hypoglykämie («hypoglycemia-asso-
Sehstörungen
ciated autonomic failure [HAAF]»). Diese Störung wird
Verwirrtheit
durch wiederholte Hypoglykämien verstärkt. Bei Ver-
Schwindel
suchen mit gesunden Freiwilligen wurde gezeigt, dass
Bewusstseinsstörungen
Krämpfe
Koma
die auf dem Ungleichgewicht zwischen den α- und
β-Zellen beruht, sowie an einer Störung der autonomen
nach einer Exposition gegenüber zwei Episoden wiederholter Hypoglykämie (zwei respektive drei Episoden langanhaltender Hypoglykämie: zwei Stunden bei
Tod
2,8 mmol/l im Laufe von 48 h) die adrenergen SympSymptome der Hypoglykämie (Tab. 1) ab einem etwas
tome und die hormonelle Gegenregulation nach drei
geringeren Grenzwert zu beobachten. Diese Definition
Hypoglykämien schwächer ausfielen. HAAF-Syndrom
bietet den Vorteil, dass sie einen Toleranzbereich umfasst
und Unempfindlichkeit gegenüber Hypoglykämien
und die mit der mangelnden Präzision der Blutzucker-
sind zwei unterschiedliche Phänomene, auch wenn sie
messgeräte verbundenen Schwierigkeiten berücksich-
sich überschneiden. Die Definition der Hypoglykämie-
tigt (tolerierte Fehlerspanne: 11% seit 2015, davor 16%).
Unempfindlichkeit umfasst sowohl die Abschwächung
Wenn der Blutzuckerspiegel absinkt, werden zwei Sys-
und Veränderung der Symptome bei Patienten, die an ei-
teme gleichzeitig aktiviert (Abb. 1): Auf endokriner
ner autonomen Neuropathie oder an einem seit Langem
Ebene wird die Insulinsekretion vollständig gehemmt
bestehenden Diabetes leiden oder die mit Betablockern
und die Sekretion von Glukagon, das die Glykogeno-
behandelt werden, als auch das HAAF-Syndrom [1, 2].
lyse und die Glukoneogenese in der Leber fördert, akti-
Ein HAAF-Syndrom ist bisweilen schwierig zu erfas-
viert, bis das zirkulierende Insulin eliminiert ist. Gleich-
sen, besonders wenn die Hypoglykämieepisoden in
zeitig aktiviert das Zentralnervensystem (ZNS) das
der Nacht auftreten. In diesem Falle führen die wieder-
sympathische Nervensystem und die Hypothalamus-
holten Hypoglykämien zu einer progressiven Verrin-
Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (autonome Re-
gerung des Grenzwertes für die Aktivierung der Ge-
aktion auf die Hypoglykämie). Das sympathische Ner-
genregulation und langfristig zum Verschwinden der
vensystem stimuliert die Sekretion von Noradrenalin,
klinischen Anzeichen. Die wahre Situation wird erst
das für die adrenergen Symptome der Hypoglykämie
offensichtlich, wenn eine unbemerkte Hypoglykämie
verantwortlich ist, das heisst Schwitzen, Zittern, Palpi-
am Tage ein plötzliches Koma auslöst. Die neurobiolo-
tationen und Ruhelosigkeit. Heisshunger und Schwit-
gischen Mechanismen des HAAF-Syndroms sind der-
zen sind Symptome, die auf die Wirkung des von den
zeit noch nicht vollständig geklärt, es unterscheidet
präganglionären Neuronen freigesetzten Acetylcho-
sich jedoch von der Hypoglykämie-Unempfindlichkeit
lins zurückgehen. Die Stimulation der Hypothalamus-
durch eine gewisse Reversibilität: Gelingt es, die Hypo-
Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse wiederum löst
glykämien zu verringern oder gänzlich zu verhindern,
einen Anstieg der Blutkonzentration von Adrenalin
kann sich die Reaktion auf Hypoglykämien bereits
und Kortisol aus, welche die Sekretion von Glukagon
nach drei Wochen normalisieren [3].
in der Bauchspeicheldrüse fördern, direkt auf die Leber
wirken (gesteigerte Glykogenolyse und Glukoneo-
Bedeutung der Hypoglykämieklassifikation
genese), den Glukoseverbrauch durch die peripheren
Aufgrund der Mechanismen zur Anpassung an eine
Muskeln verringern und die renale Glykogenolyse
Hypoglykämie und der Möglichkeit, dass die Symp-
stimulieren. Darüber hinaus wirkt das Absinken des
tome verändert sein können, ist es von grosser Wich-
Blutzuckers als direkter Stimulus für die Sekretion des
tigkeit, dass jede Episode auf Basis ihres Schweregrades
Wachstumshormons, von Vasopressin und Oxytocin.
klassifiziert wird (Tab. 2), denn davon hängt auch die
Mithilfe der kombinierten Wirkung all dieser Regulati-
Behandlung ab. Der Arzt muss in der klinischen Praxis
onsmechanismen kann das ZNS wirksam gegen die mit
ebenfalls sicherstellen, dass der Grenzwert nahe
einer Hypoglykämie verbundenen Gefahren geschützt
4 mmol/l liegt. Der Patient sollte die Ursache der klini-
werden.
schen Symptome, den Zusammenhang zwischen dem
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(35):707–713
709
ÜBERSICHTSARTIKEL
Schweregrad und der Art der Störung und vor allem
der Gegenregulationsmechanismen bei höheren Blut-
die Wichtigkeit einer systematischen Korrektur verste-
zuckerwerten bedingt, besonders bei Patienten, bei de-
hen, auch im Falle einer leichten Hypoglykämie. Die In-
nen der Blutzucker dauerhaft und in beträchtlichem
tensität der Symptome wird ausserdem durch folgende
Ausmass schlecht eingestellt ist. Die Situation erfor-
Faktoren beeinflusst: Geschwindigkeit der Senkung
dert besonderes Augenmerk, vor allem bei Patienten,
des Blutzuckerspiegels, Dauer des Diabetes, beglei-
die den Blutzucker nur selten messen und aufgrund
tende Therapien (Betablocker) und Art der Komplikati-
der Diskrepanz zwischen den ermittelten Werten und
onen (autonome Neuropathie).
der gefühlten Unterzuckerung verunsichert sind.
Jede Situation, in welcher der Blutzucker nur mit Unterstützung Dritter korrigiert werden kann, ist als
schwere Hypoglykämie zu werten. Jede schwere Hypoglykämie (Tab. 2) muss mit dem Patienten ausführlich
Erfassung des individuellen Risikos
und der ätiologischen Faktoren
analysiert und eine allfällige Hypoglykämie-Unemp-
Bei therapiebedingten Hypoglykämien muss jeder
findlichkeit erfasst werden. Der Einsatz eines Glukose-
Patient über seine individuelle Situation informiert
sensors und einer fachärztlichen Beurteilung sollten
werden. Das grösste Risiko birgt die Insulintherapie
systematisch sein.
und insbesondere jene, bei denen mehrere Injektionen
Es kann auch vorkommen, dass ein Patient über Anzei-
kombiniert (langsam wirkendes Insulin und schnell
chen von Hypoglykämie klagt, ohne dass diese durch
wirkendes Insulin zum Essen) oder Mischinsuline ver-
Labortests bestätigt wird. Liegen keine anderen Ursa-
abreicht werden. Eine einzelne Injektion von Basalin-
chen für eine Stimulierung der Hypothalamus-Hypo-
sulin geht mit einem geringeren Risiko einher. Sulfo-
physen-Nebennierenrinden-Achse vor (Panikattacke,
nylharnstoffe können ebenfalls eine Hypoglykämie
kurze Herzrhythmusstörung usw.), verwendet man in
hervorrufen. In dieser Wirkstoffklasse unterscheidet
diesem Fall den Begriff Pseudohypoglykämie. Dieses
sich das Gliclazid von den älteren Vertretern (etwa
Gefühl der Unterzuckerung ist durch die Aktivierung
Glibenclamid und Glimepirid) durch ein geringeres Hypoglykämierisiko (bei ähnlich blutzuckersenkender
Wirkung). Die übrigen Sulfonylharnstoffe sollten
nicht mehr verschrieben werden. Die Glinide bergen
Abfall des Blutzuckerspiegels (<3,9 mmol/l)
zwar ein reelles Risiko einer Hypoglykämie, dieses ist
allerdings aufgrund ihrer kurzen Wirkdauer zeitlich
Bauchspeicheldrüse
begrenzt.
Gehirn
Hingegen verursachen Metformin, Glitazone (Thiazolidindione), Inhibitoren der Dipeptidylpeptidase 4
Ì Insulin
Ê Glukagon
Ê Wachstumshormon
Ê Kortisol
Ê Sympathikus
Ê Adrenalin
(DPP4), Inkretinmimetika (Analoga des Glucagon-like
peptide-1 [GLP-1]) und Hemmer des natriumabhängigen Glukosetransporters 2 (SGLT-2) keine signifikante
Hypoglykämie, sofern keine entsprechende Begleiter-
ÊGlykogenolyse in der Leber
ÊGlukoneogenese (Leber und Nieren)
Ì Glukoseverbrauch in
der Peripherie (Muskeln)
Ê Magenentleerung
Ê Zerebrale Durchblutung
krankung oder besondere Stoffwechselsituationen bestehen (längere Nüchternphase, übermässige körperliche Betätigung usw.). In manchen Fällen sind im
Rahmen von Therapien, die als nicht blutzuckersenkend
Abbildung 1: Gegenregulationsmechanismen.
gelten, Blutzuckerwerte von unter 4 mmol/l zu beobach-
Tabelle 2: Schweregrad einer Hypoglykämie bei Patienten mit Diabetes*
(adaptiert nach [1]).
ten. Dies basiert häufig auf einem technischen Problem
oder ist durch die Fehlerspanne des Systems erklärbar.
Sofern keine klinischen Auswirkungen festzustellen
Leicht
Blutzucker <3,9 mmol/l. Adrenerge Symptome.
Der Patient kann den Blutzucker selbst korrigieren.
sind, kann der Patient beruhigt werden. Im seltenen
Mittelgradig
Blutzucker <3,9 mmol/l. Adrenerge und neuroglykopenische Symptome.
Der Patient kann den Blutzucker weiterhin selbst korrigieren.
nicht blutzuckersenkenden Therapie muss jedoch
Schwer
Blutzucker <3,9, oftmals <2,8 mmol/l. Schwere neuroglykopenische
Störungen (Verwirrtheit, Bewusstseinsstörungen).
Der Patient braucht fremde Hilfe, um den Blutzucker zu korrigieren.
Unbemerkte
Blutzucker <3,9 mmol/l. Keine typischen Symptome. (Grenzwert für
Hypoglykämie
die Aktivierung der Gegenregulation verringert, Grenzwert für die
(asymptomatisch) Sekretion der Katecholamine verringert).
* Diese Definitionen gelten nur für Patienten unter blutzuckersenkender Therapie.
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(35):707–713
Falle einer schweren Hypoglykämie im Rahmen einer
sorgfältig nach einer allfälligen nicht diabetischen Hypoglykämie gesucht werden.
Um das Risiko für einen Patienten zu bestimmen, müssen verschiedene Faktoren berücksichtigt werden.
Besonderes Risiko bergen jene Phasen, in denen die
Behandlung umgestellt wird, in denen sich der Aufent-
710
ÜBERSICHTSARTIKEL
haltsort des Patienten (etwa Heimkehr nach einer stationären Behandlung) oder seine Gewohnheiten ändern
Tabelle 3: Prädisponierende Faktoren (adaptiert nach [9]).
(Zahl der Mahlzeiten, Aufnahme einer sportlichen Be-
Alter (Kinder, ältere Menschen)
tätigung usw.). Bestimmte Risikofaktoren für Hypogly-
Chronische Niereninsuffizienz
kämie sind intrinsisch mit dem Diabetes verbunden,
Leberinsuffizienz
etwa der endogene Insulinmangel, die Dauer des Dia-
Hypoglykämie-Unempfindlichkeit
betes, eine seit Langem verabreichte Insulintherapie
und eine schwere Hypoglykämie in den 48 vorangegangenen Stunden (HAAF). Bei einer Hypoglykämie-Unempfindlichkeit ist das Risiko sechsmal höher, bei einer
Dauer des Diabetes und der Insulintherapie
Insulinmangel (Typ 1, pankreatopriv, langfristiger Typ-2Diabetes)
Kognitive Störungen, Demenz
Soziale Isolation
mangelhaften autonomen Reaktion auf Hypoglykä-
Multiple Begleiterkrankungen
mien 25-fach erhöht. Es ist somit nicht überraschend,
Krankheit wird nicht erkannt
dass das Auftreten einer schweren Hypoglykämie der
Technische Schwierigkeiten (Injektionen, Selbstmessung,
Insulinpumpe, Lipodystrophie usw.)
grösste Risikofaktor für ein Rezidiv innert eines Jahres
ist. Weitere Risikofaktoren sind in Tabelle 3 aufgelistet.
Nicht zuletzt gilt es auch den Faktor Mensch zu berücksichtigen. Oftmals werden dabei im Zusammenhang
mit dem Auftreten einer Hypoglykämie folgende
Akute Erkrankung
Mangelernährung
Hypoglykämien in der Vergangenheit
Kürzliche Hospitalisation
Punkte angeführt: technische Fähigkeiten (schlecht
Polymedikation (>5 Medikamente) und komplexe Insulintherapie
gelöstes Insulin: NPH), Erfahrungen mit der Krankheit
Depression
und mit Hypoglykämien (Unsicherheit bei Blutzucker-
Herzinsuffizienz
werten nahe einer Hypoglykämie), Fähigkeit zur Be-
Alkoholkonsum
rechnung der Kohlenhydratmenge, Umgang mit
Polyneuropathie
Korrekturinsulin, körperliche Betätigung, unvorhergesehene Ereignisse und nicht zuletzt der Umgang mit
Die Gefährlichkeit einer leichten bis mittelgradigen
der Hypoglykämie selbst (Tab. 4).
Hypoglykämie hängt mit zwei Faktoren zusammen:
Um die durch eine Hypoglykämie bedingte Situation
einer risikoreichen Umgebung und dem Fehlen von
zu meistern, muss der Arzt den körperlichen Allgemein-
Korrekturmöglichkeiten, etwa im Falle eines erhöhten
zustand und die mit dem Diabetes verbundenen Um-
Sturzrisikos (Bauarbeiter, Kranführer usw.), beim Auto-,
stände – etwa die Möglichkeit eines HAAF-Syndroms –,
Motorrad- und Fahrradfahren, bei einer sportlichen
den Kontext des Auftretens und den Faktor Mensch be-
Betätigung (Klettern, Skitouren, Tauchen usw.) oder zu
rücksichtigen. Damit das erneute Auftreten einer Hy-
Beginn der Krankheit (mangels Erfahrung nicht er-
poglykämie verhindert werden kann, ist es dagegen
kannt). Diese Problemsituationen müssen vorherge-
entscheidend, dass der Patient in der Lage ist, analoge
sehen und systematisiert werden. Das Thema ist sensi-
Situationen zu erkennen und den Umgang damit ent-
bel, da die Situationen nicht ignoriert werden dürfen,
sprechend zu ändern.
das Gespräch darüber aber Ängste auslösen kann. Sie
müssen aus rechtlichen Gründen im Patientendossier
Kurz- und langfristige Folgen
Die Folgen einer Hypoglykämie können nach dem Zeit-
festgehalten werden, und es schadet nicht, zu Beginn
jeder neuen Therapie erneut darauf hinzuweisen,
besonders bei Patienten, die Auto fahren (http://
punkts des Auftretens der Symptome oder nach der Art
sgedssed.ch/informationen-fuer-fachpersonen/
der Auswirkungen eingeteilt werden. In den allermeis-
praxis-empfehlungen-fuer-allgemein-internisten/). In
ten Fällen sind die Folgen negativ, wie auch in zahlrei-
den Leitlinien aus dem Jahr 2015 wird das Hypoglykä-
chen wissenschaftlichen Arbeiten dargelegt wird.
mierisiko bei Patienten, die einmal täglich mit langsam
Leichte bis mittelgradige und rasch identifizierte Hypo-
wirkenden Insulinanaloga, mit Gliclazid oder einem
glykämien sind kurzfristig und einfach zu korrigieren
Glinid (Repaglinid oder Nateglinid) behandelt werden,
und haben keine reellen somatischen Folgen, abgese-
als gering eingeschätzt.
hen von der unangenehmen Aktivierung des adrener-
Bei länger andauernder, mittelgradiger Hypoglykämie
gen Systems, die durchschnittlich 30 Minuten andau-
und bei schwerer Hypoglykämie beeinträchtigen die
ert. Demgegenüber ist oftmals zu beobachten, dass
Symptome der Neuroglykopenie (Tab. 1), etwa Verstim-
sowohl die Patienten als auch die Pflegenden die Fol-
mung und Konzentrationsschwäche, die aktuelle Tätig-
gen übermässig fürchten und sie fälschlicherweise als
keit oder führen gar zu einem plötzlichen Koma. Das
lebensbedrohend ansehen.
Rezidivrisiko ist in den folgenden 48 Stunden erhöht
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
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711
ÜBERSICHTSARTIKEL
der Aktivierung des adrenergen Systems besteht auch
Tabelle 4: Faktoren, die den Blutzuckerspiegel beeinflussen.
Zubereitung des
Insulins/ oralen
Antidiabetikums
Unterschiede
aufgrund der
Injektionsstelle
Insulinresistenzfaktoren
Dosis
Injektionsstelle
(intramuskulär oder
subkutan)
Adipositas (Gewichts- Berechnung der
zunahme) und Ernäh- Kohlenhydratmenge
rung (Fettsäuren)
Faktor Mensch
eine Neigung zur Hypokaliämie, die Herzrhythmusstörungen begünstigt. Ausserdem können bestehende
arteriosklerotische Plaques durch die Tachykardie und
den Blutdruckanstieg instabil werden.
All dies legt eine enge Verbindung zwischen kardiovaskulären Ereignissen und isolierten, schweren Hypogly-
Physikalisch-chemi- Injektionstiefe
sche Eigenschaften
(Suspension, löslich)
Körperliche
Betätigung
Umfang der körperlichen Betätigung
Konzentration
Körperstelle
Zirrhose,
Niereninsuffizienz
Behandlung der
Hypoglykämie
Allerdings sind Hypoglykämien beim Diabetespatien-
Volumen
Lipodystrophie
Azidose
Alkohol, unvorhergesehene Ereignisse
die, bei der Glukosesensoren verwendet wurden, stellte
Typ
Veränderung der
Tabak
kutanen Durchblutung
Einsatz von
Korrekturinsulin
Vormischung
Massage
Alter
Unsicherheit
standen als Hyperglykämiephasen. In der ACCORD-
Temperatur
Kognitive Probleme
Studie («Action to Control Cardiovascular Risk in Dia-
Injektionsmaterial
Zusätzliche Krankheiten (Infektionen)
kämien nahe. Wissenschaftliche Belege zum Nachweis
eines direkten Zusammenhangs liegen noch nicht vor.
ten an sich ein prädisponierender Faktor. In einer Stusich heraus, dass Hypoglykämieepisoden in einem
stärkeren Zusammenhang mit kardialen Ischämien
betes») war unter jenen Patienten, bei denen eine oder
mehrere Episoden schwerer Hypoglykämie beobachtet
(HAAF-Phänomen), und im Falle einer Wiederholung
wurden, die Mortalität in beiden Studiengruppen (in-
kommt es schliesslich zur gänzlichen Unterdrückung
tensiv oder Standard) erhöht, auch wenn nur ein Drittel
der Alarmzeichen. Dieses Problem ist seit der Veröf-
der Todesfälle auf kardiovaskuläre Ursachen zurück-
fentlichung des «Diabetes Control and Complications
zuführen war. Die Hypoglykämieepisoden standen zu-
Trial (DCCT)» bekannt und betraf beinahe ein Drittel
dem im Zusammenhang mit einer erhöhten Herz-
der Typ-1-Diabetiker unter Intensivbehandlung. Heute
Kreislauf-Mortalität [4, 5].
ist es auch bei Patienten mit Typ-2-Diabetes, die seit
Langem mit Insulin behandelt werden, sowie im Falle
einer Insulinüberdosierung zu beobachten [3].
Hypoglykämien und kognitive Funktionen
bei Patienten mit Typ-2-Diabetes
Die Auswirkungen schwerer und wiederholter Hypo-
Hypoglykämie und Letalität [2]
glykämien auf die kognitiven Funktionen sind eben-
Pflegenden und Patienten gemein ist die Angst vor der
falls Gegenstand von Diskussionen. Die vorliegenden
Letalität einer Hypoglykämie. Die wissenschaftliche
Daten weisen auf einen Zusammenhang mit dem Le-
Diskussion zu diesem Thema ist ziemlich ausgeprägt.
bensalter hin. Für Kinder und ältere Menschen scheint
Das Risiko darf jedenfalls nicht negiert, sollte jedoch
ein höheres Risiko für ZNS-Störungen zu bestehen. In
sorgfältig abgewogen werden. Schwere, länger andau-
einer umfassenden, zwischen 1980 und 2002 durch-
ernde Hypoglykämien (mehrere Stunden) können zum
geführten Populationsstudie standen schwere Hypo-
Hirntod führen. Die Todesursache im Zusammenhang
glykämien, die zu einer Hospitalisation oder Notauf-
mit einer Hypoglykämieepisode ist letztlich wohl eine
nahme führten, im Zusammenhang mit einer doppelt
Herzrhythmusstörung. Der Mechanismus, der dies-
so hohen Inzidenz von Demenz nach 2003. Zu Beginn
bezüglich postuliert wird, ist mit der Beobachtung ver-
der Studie wurde allerdings der kognitive Zustand der
bunden, dass die Sekretion der gegenregulierenden
Patienten nicht bewertet [6]. In der Untergruppe AC-
Hormone und die Aktivierung des Sympathikus zu
CORD MIND («ACCORD Memory in Diabetes Sub Study»)
einer Steigerung der Herzfrequenz und des systolischen
wurde die Kognition im gesamten Verlauf der Studie
Blutdrucks führen. Daraus folgt eine Erhöhung des
untersucht. Aus den Daten geht zwischen der Intensiv-
Energie- und Sauerstoffbedarfs des Herzens und somit
und der Standardgruppe kein Unterschied bei den kog-
des koronaren Blutflusses. Bei Patienten mit Koronar-
nitiven Funktionen hervor [1].
krankheit kann dies zu einer Rhythmusstörung, Ischämie oder gar zum Tode führen. Zu den Herzrhythmus-
Hypoglykämie und Lebensqualität
anomalien, die infolge einer Hypoglykämie beobachtet
Zusätzlich zu den somatischen Folgen kommt es auch
werden, zählen Tachykardien oder Sinusbradykardien,
zu zahlreichen Auswirkungen auf emotionaler und
aber auch supraventrikuläre und ventrikuläre Extra-
sozialer Ebene. Sie bleiben oftmals unbeachtet, da sie
systolen. Verlängerte QT-Intervalle und Erregungs-
nur wenig erforscht sind (Tab. 5). In dieser Hinsicht ist
rückbildungsstörungen wurden ebenfalls im Zusam-
zu unterstreichen, dass die Angst vor einer Hypogly-
menhang mit einer Hypoglykämie beobachtet. Infolge
kämie die grösste Beeinträchtigung der Lebensqualität
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ÜBERSICHTSARTIKEL
Blutzuckertests selbst durchzuführen. Zudem wird emp-
Tabelle 5: Kurz- und langfristige Folgen der Hypoglykämie.
fohlen, Grundkenntnisse des Wirkmechanismus und
Kurzfristig
Langfristig
der Pharmakodynamik der verordneten Medikamente
Akutsymptome (autonom, Neuro glykopenie, allgemeines Unwohlsein)
Verringerte Lebensqualität
sowie ernährungswissenschaftliche Grundlagen (koh-
Kognitionsstörungen
Angst vor Hypoglykämien
(→ Blutzuckerschwankungen)
Verstimmung
Gewichtszunahme
werden, stets einen schnell resorbierbaren Zucker bei
Verringerte Fähigkeit, Auto zu fahren
und zu arbeiten
Einschränkungen der Fahreignung und
im Beruf
sich zu tragen und darüber nachzudenken, wie sie im
Beeinträchtigung der sozialen und
sportlichen Aktivität
Beeinträchtigung des Familien- und
Gesellschaftslebens
Einfache Mittel sollten bevorzugt und persönliche Vor-
Hypothermie
Verlust der Empfindlichkeit gegenüber
Hypoglykämien
Akute Morbidität: Unfälle,
Verletzungen, Frakturen
Erhöhte Inzidenz von Demenz (?)
lenhydratreiche Lebensmittel) zu vermitteln.
In der Praxis sollten Risikopatienten dazu gebracht
Alltag einer Hypoglykämie entgegenwirken können.
lieben beachtet werden (damit der Patient das Produkt
immer bei sich hat und umständliche Verpackungen
vermieden werden).
Jeder Patient muss über die Risiken körperlicher Be-
Epilepsieanfälle, Koma
tätigung aufgeklärt werden. Folgende Faktoren be-
Kardiovaskuläre Ereignisse (akutes
Koronarsyndrom, Rhythmusstörung)
günstigen Hypoglykämien: längere oder ungewohnte
Zerebrovaskuläre Ereignisse (transitorische
ischämische Attacke, Schlaganfall)
Anstrengungen, im Verhältnis zum Insulinspiegel unzureichende Kohlenhydratzufuhr, keine Blutzuckerkontrolle vor oder während der Aktivität sowie Un-
bei Patienten mit Diabetes darstellt, unabhängig von
empfindlichkeit gegenüber Hypoglykämien. In den
der Art des Diabetes. Häufig kommt es bei Patienten,
Stunden nach der sportlichen Betätigung kommt es zu
die wiederholt unter Hypoglykämien leiden, zu zwi-
einem Abfall des Blutzuckerspiegels, der keineswegs
schenmenschlichen Konflikten, die durch die Angst
banal ist. Eine entsprechende Kontrolle ist deshalb
vor Abhängigkeit und Kontrollverlust bedingt sind.
nach der Aktivität ebenso wichtig wie davor und wäh-
Nach einer schweren Hypoglykämie besteht überdies
rend der Aktivität.
ein reelles Risiko, stigmatisiert zu werden, insbeson-
Wenn der Blutzuckerspiegel vor der körperlichen Betä-
dere durch den Arbeitgeber oder von Rechts wegen
tigung niedrig bis normal ist, wird empfohlen, eine
(beispielsweise Beschränkung der Fahreignung) [7].
Kleinigkeit zu essen und während der Aktivität Koh-
Die Datenlage zu den sozioprofessionellen Kosten von
lenhydrate zur Verfügung zu haben. Ist absehbar, dass
Hypoglykämien ist relativ gut, etwa im Hinblick auf
die Aktivität länger als drei Stunden dauert, sollte die
ausgefallene Arbeitstage, Produktivitätsverlust und
Dosis langsam wirkenden Insulins möglichst angepasst
gesundheitliches Risiko für Patienten und Angehörige
werden. Damit der Patient diese Ziele erreichen kann,
(Angst, Depression, Gefühl der Isolation usw.). So beein-
wird empfohlen, ein Pflegeteam aus Diabetesexperten
trächtigen nächtliche Hypoglykämien die Schlafquali-
beizuziehen.
tät und -quantität und wirken sich auf den folgenden
Tag aus. Auch besteht infolge schwerer und wiederhol-
Definition der Blutzuckerziele
ter Hypoglykämie ein höheres Risiko für Affektstörun-
Je strenger das Therapieziel, desto höher ist das Hypoglykämierisiko. Der HbA1c-Zielwert muss ebenso indi-
gen (Depression oder Angst).
viduell festgelegt werden wie jener des Blutzuckers. Es
Behandlung der Hypoglykämie
wird empfohlen, dabei den klinischen Kontext und die
kardiovaskulären Risikofaktoren ebenso zu berücksich-
Grundlage der Bekämpfung von Hypoglykämien ist
tigen wie die Lebenserwartung und die Möglichkeiten
die Prävention. Sie erfordert theoretische und prakti-
des Patienten, sich an der Therapie zu beteiligen. Im
sche Schulung und die Definition geeigneter Blutzucker-
Rahmen blutzuckersenkender Therapien besteht ein
ziele.
erhöhtes Hypoglykämierisiko, wenn der HbA1c-Wert
nahe bei oder unter 6,5% liegt. Aber auch wenn der
Wie sollen die Patienten geschult werden? [8]
Wert über dieser Schwelle liegt, lässt sich ein Risiko
Ziel der Patientenschulung ist es, dass Betroffene in der
nicht ausschliessen.
Lage sind, eine Hypoglykämie zu erkennen (Tab. 1) und
Bei Patienten, die mit Insulin behandelt werden oder
sie mithilfe schnell resorbierbarer Kohlenhydrate
bei denen bereits Hypoglykämien auftraten, ist es
wirksam zu korrigieren (Tab. 6). Es ist folglich von ent-
sinnvoll, eine Höchstzahl von Hypoglykämieepisoden
scheidender Bedeutung, den mit Insulin oder Sulfo-
pro Woche festzulegen; wird diese Zahl erreicht, so ist
nylharnstoffen behandelten Patienten beizubringen,
die Therapie zwingend anzupassen. Für Patienten, die
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ÜBERSICHTSARTIKEL
Tabelle 6: Korrektur von Hypoglykämien in Abhängigkeit vom Schweregrad.
Wenn Hypoglykämie <4 mmol/l und Patient bei Bewusstsein: Korrektur mit 15 g Glukose
4 Stück Würfelzucker oder 2 Teelöffel Honig oder 2 Esslöffel Sirup oder 1,75 dl zuckerhaltiges Getränk (Fruchtsaft, Coca Cola* oder Limonade* usw.)
Wenn Hypoglykämie <2,5 mmol/l und Patient bei Bewusstsein: Korrektur mit 30 g
Glukose
8 Stück Würfelzucker oder 4 Teelöffel Honig oder 4 Esslöffel Sirup oder 3,5 dl zuckerhaltiges Getränk (Fruchtsaft, Coca Cola* oder Limonade* usw.)
–
–
Erneuter Blutzuckertest 20 bis 30 Minuten nach Kohlenhydratzufuhr
Wenn Blutzucker <4 mmol/l: erneute Korrektur mit 15 bis 30 g Glukose
Bei Hypoglykämie und Veränderung des Bewusstseinszustands/Koma: intramuskuläre
oder intravenöse Injektion von Glukagon 1 mg bei Erwachsenen und Korrektur mit
>30 g Glukose, sobald der Patient das Bewusstsein wiedererlangt
(Hilfe Dritter anfordern und einen Arzt beiziehen)
schnittlich um 1 bis 2 mmol/l. Im Falle einer schweren
Hypoglykämie sollte die doppelte Menge verwendet
werden. Wenn es länger als eine Stunde vor der nächsten
Mahlzeit zu einer Hypoglykämie kommt, ist es zudem
sehr wichtig, dass der Patient zusätzlich zur Korrektur
der Hypoglykämie einen langsam resorbierten Zucker
einnimmt (Tab. 6). Die Angehörigen von Patienten, die
werden.
Nicht selten ist zu beobachten, dass Hypoglykämien
sie besteht ein kleineres Risiko schwerer Hypoglykä-
übertherapiert werden. Die Situation wird empfunden,
mien, da das Gegenregulationssystem gut funktioniert.
als ob Verbote nicht mehr gelten und nicht empfoh-
Ausserdem werden – angesichts des heute verfügbaren
lene Lebensmittel wie Schokolade und Kekse gegessen
therapeutischen Arsenals – blutzuckersenkende Medi-
werden können. Diese Verhaltensweise birgt die Ge-
kamente nur selten als erstes Mittel eingesetzt. Mit der
fahr, dass sich der Blutzucker langsamer erholt und die
Entwicklung des Diabetes und im Falle einer Polymedi-
Gewichtszunahme gefördert wird (Tab. 6).
Hypoglykämien sollte bei jenen Patienten gesucht
werden, deren HbA1c-Wert unter 6,5% liegt und besonKorrespondenz:
ders bei Patienten mit Typ-2-Diabetes, deren Verzöge-
Prof. Dr. med.
rungsinsulindosis 1 IE/kg/Tag übersteigt (Patienten
Service d’endocrinologie,
mit Typ-1-Diabetes: >0,5 IE/kg/Tag). Dies kann etwa mit
diabétologie, hypertension
der Frage erreicht werden, ob der Patient allfällige Hy-
Hôpitaux universitaires
poglykämien jeweils spürt. Zudem sollte nicht verges-
de Genève
sen werden, das Problem der Hypoglykämie bei jeder
jacques.philippe[at]hcuge.ch
werden. Dadurch steigt der Blutzuckerspiegel durch-
ist das Hypoglykämierisiko ein geringeres Problem: Für
Nach einer verringerten Empfindlichkeit gegenüber
CH-1211 Geneva
dazu 15 g schnell resorbierbaren Zuckers eingenommen
den, sollten in der Verwendung von Glukagon geschult
wachsam zu sein.
Rue Gabrielle-Perret-Gentil 4
fehlungen sollten in leichten bis mittelgradigen Fällen
erst seit kürzerer Zeit an einem Typ-2-Diabetes leiden,
kation ändert sich die Lage. Es ist also stets angebracht,
et nutrition,
Jede Hypoglykämie muss korrigiert werden. Laut Emp-
mit verschiedenen Insulininjektionen behandelt wer-
* Nicht light oder Zero.
Jacques Philippe
Korrektur von Hypoglykämien in der Praxis
ärztlichen Konsultation zu erwähnen (Häufigkeit, Zeitpunkt, Ursachen, Symptome, Schweregrad).
Anpassung der Medikation
Wenn der Patient in der Lage ist, die Ursache oder die
auslösenden Faktoren einer Hypoglykämie zu identifizieren (Auslassen einer Mahlzeit, unvorhergesehene
körperliche Betätigung, Alkoholkonsum, Fehler bei der
Insulindosierung usw.), ist das Rezidivrisiko im Allgemeinen begrenzt. Ist hingegen keine eindeutige und
aussergewöhnliche Ursache feststellbar, muss die Therapie systematisch angepasst werden. Bei schweren
Hypoglykämien muss die Dosis langsam wirkender Insuline unverzüglich um mindestens 20% verringert
werden, zusätzlich wird empfohlen, die Einschätzung
eines Spezialisten einzuholen.
Um die risikoreichen Tages- und Nachtphasen zu identifizieren, ist es hilfreich, ein Blutzuckertagebuch zu
Das Wichtigste für die Praxis
führen. Wenn der Patient den Blutzucker nicht regel-
• Die Hypoglykämie ist eine unvermeidliche Nebenwirkung der Insulintherapie und einiger insulinsekretionsfördernder Medikamente. Das Risiko
ist bei Intensivtherapien und bestimmten Begleiterkrankungen höher.
• Die Symptome können adrenerg oder neuroglykopenisch sein. Besteht
der Diabetes (Typ 1 oder 2) seit vielen Jahren und wird schon längere
Zeit Insulin verabreicht, können die Gegenregulationsmechanismen beeinträchtigt sein.
• Nach wiederholten Hypoglykämien ist die Unempfindlichkeit gegenüber
Hypoglykämien ausgeprägter und das Risiko schwerer Hypoglykämien
beträchtlich.
• Bei Risikopatienten muss aktiv nach Phasen der Hypoglykämie geforscht
und deren wirksame Behandlung sichergestellt werden.
• Die Prävention von Hypoglykämien erfordert die Festlegung individueller Therapieziele und strukturierte Patientenschulungen.
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
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mässig selbst testet, kann sich ein Glukosesensor als
sinnvoll erweisen. Bei Patienten mit Typ-2-Diabetes
muss stets zuerst die Möglichkeit bewertet werden,
nicht blutzuckersenkende Therapien einzuleiten.
Disclosure Statement
JP hat von den Firmen Lilly, Novonordisk und Sanofi Honorare für
Beratungen und Vorträge erhalten. Die übrigen Autoren haben keine
finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang
mit diesem Artikel deklariert.
Bildnachweis
© Sergey Lavrentev | Dreamstime.com
Literatur
Die vollständige nummerierte Literaturliste finden Sie als Anhang
des Online-Artikels unter www.medicalforum.ch.
«Hypoglykämie bei Patienten ohne Diabetes» erschien in der vorangehenden SMF-Ausgabe.
LITERATUR / RÉFÉRENCES Online-Appendix
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716
RICHTLINIEN
Die somatische Behandlung der unipolaren depressiven Störungen: Update 2016, Teil 11
Die Akutbehandlung depressiver
Episoden
Prof. Dr. med. Edith Holsboer-Trachsler a , Dr. med. Josef Hättenschwiler a , PD Dr. med. Johannes Beck b ,
PD Dr. phil. Serge Brand b , PD Dr. med. et Dr. phil. Ulrich Michael Hemmeter a , Prof. Dr. med. Martin Ekkehard
Keck a , Dr. med. Stefan Rennhard a , Prof. Dr. med. Martin Hatzinger b , Prof. Dr. med. Marco Merlo c ,
Prof. Dr. med. Guido Bondolfi a , Prof. Dr. med. Martin Preisig a , Dr. med. Anouk Gehret c , Dr. med. Daniel
Bielinski c , Prof. Dr. med. Erich Seifritz a
a
c
1
Schweizerische Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD); b Schweizerische Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (SGBP);
Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP)
Teil 2, «Erhaltungstherapie
und Rezidivprophylaxe»,
erscheint im Heft 36 des
«Swiss Medical Forum».
Diese Behandlungsempfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) und der Schweizerischen
Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (SGBP) wurden in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie
und Psychotherapie (SGPP) auf der Grundlage der Leitlinien der
«World Federation of Societies of Biological Psychiatry» (WFSBP)
2013 [1] sowie der S3-Leitlinie /Nationalen Versorgungsleitlinie
«Unipolare Depression» der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) 2015 [3] erstellt. Der vorliegende Text ist ein Update der Version von 2010 [2].
Die Artikel in der Rubrik «Richtlinien» geben nicht unbedingt die
Ansicht der SMF-Redaktion wieder. Die Inhalte unterstehen der
redaktionellen Verantwortung der unterzeichnenden Fachgesellschaft bzw. Arbeitsgruppe.
während der gesamten Behandlung angemessen eingesetzt werden, unter Berücksichtigung von klinischen Faktoren wie Symptomschwere, Erkrankungsverlauf und Patientenpräferenz. Der Behandlungsplan
richtet sich in erster Linie nach dem Schweregrad der
Depression (Abb. 1). Eine aktiv-abwartende Begleitung
(watchful waiting) kann bei Patienten mit leichter depressiver Episode genügen. Jedoch sollte die Besserung
der Symptomatik innerhalb der ersten beiden Wochen
überprüft werden. Antidepressiva sollten nicht generell zur Erstbehandlung von leichten depressiven Episoden eingesetzt werden, sondern nur nach kritischer
Abwägung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses. Das berücksichtigt u.a. den Wunsch des Patienten, positives
Einleitung
Ansprechen in der Vergangenheit, Fortbestehen von
Symptomen nach anderen Interventionen sowie mit-
Edith Holsboer-Trachsler
Diese Behandlungsempfehlungen (Aktualisierung der
telgradige oder schwere Depressionen in der Vorge-
Version von 2010 [2]) orientieren sich an der internatio-
schichte. Zur Behandlung von leichten bis mittel-
nalen Leitlinie der «World Federation of Societies of
schweren
Biological Psychiatry» (WFSBP) [1] und der S3-Leitlinie /
Psychotherapie angeboten werden. Der Einsatz von An-
Nationalen Versorgungsleitlinie der Deutschen Gesell-
tidepressiva ist insbesondere bei mittelgradigen und
schaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheil-
schweren depressiven Episoden indiziert. Ein wesent-
kunde (DGPPN) [3]. Sie fassen die evidenzbasierten The-
liches Behandlungsmoment ist die vertrauensvolle Be-
rapiestrategien (bester Stand der wissenschaft lichen
ziehung zwischen Patient und Behandler, weshalb jede
Erkenntnisse nach den Kriterien der evidenzbasierten
Pharmakotherapie in ein entsprechendes Gesprächs-
Medizin) zur Akutbehandlung der depressiven Episoden
angebot eingebettet gehört. Der Evidenzgrad der ein-
nach den Kriterien der «International Classification of
zelnen Therapien wird in Stufen (Level A–D) angegeben
Disease» (ICD-10, WHO 1992) sowie des «Diagnostic and
(Tab. 1). Methodische Kriterien bestimmen die Evidenz,
Statistical Manual of Mental Disorders» (DSM-V) zu-
d.h. die Bewertung der Wirksamkeit einer Intervention
sammen. Die Behandlungsempfehlungen setzen eine
basiert in der Regel auf randomisierten klinischen
gründliche diagnostische Abklärung durch eine ärztli-
Studien (RCT). Aus dem Fehlen von solchen Studien für
che Fachperson voraus, wobei andere psychische sowie
einzelne Behandlungen kann aber nicht geschlossen
somatische Erkrankungen ausgeschlossen und depres-
werden, dass diese Verfahren nicht wirksam sind.
sionsauslösende Faktoren (z.B. Medikamente, Alkohol,
Die psychiatrische Theorie und Praxis beruht in der
Drogen, psychosoziale Stressfaktoren usw.) berück-
Schweiz auf einem biopsychosozialen Ansatz in der
sichtigt werden müssen. Die vier Grundelemente der
Diagnostik und Behandlung psychischer Störungen
psychiatrischen Behandlung (aktiv abwartende Beglei-
(vgl. Weiterbildungsprogramm und Leitbild der SGPP).
tung, medikamentöse und psychotherapeutische
Entsprechend wurden ergänzend zu den vorliegenden
Behandlungen sowie Kombinationstherapie) sollten
evidenzbasierten somatischen Behandlungsempfeh-
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2016;16(35):716 –724
Depressionen
soll
eine
angemessene
717
RICHTLINIEN
Übersicht der Antidepressiva
Leichte Depression?
Mittelgradige / schwere Depression?
Ja
Ja
Aufklärung/Psychoedukation
Aufklärung/Psychoedukation
Partizipative Entscheidung
Partizipative Entscheidung
Zur Pharmakotherapie von Depressionen steht eine
Vielzahl von Substanzen zur Verfügung, die sich im
Hinblick auf ihre depressionslösende Wirkung nicht
wesentlich unterscheiden (Tab. 2). Unterschiede beste-
Ja
hen jedoch im neurochemischen Wirk- und Neben-
Aktiv abwartende Begleitung (14 Tage)
Ja
Anhaltende/verschlechterte Symptomatik?
siven Episode ist die vollständige Remission (Abb. 2).
Ja
Psychotherapie
ODER
Pharmakotherapie
Monitoring (1×/W.)
klinische Wirkungsprüfung n. 3–4 W.
therapeutisches Drug-Monitoring
und ABCB1-Gentest* n. 3–4 W.
Besserung > 50%
wirkungsprofil [5]. Behandlungsziel jeder akuten depres-
Psychotherapie
ODER / UND
Pharmakotherapie
über die zur Verfügung stehenden Behandlungsoptionen, Wirklatenz, unerwünschte Arzneimittelwirkungen
und deren Linderung sind unverzichtbar.
Besserung <50%
Ja
Die Information des Patienten und seiner Angehörigen
Ja
Fortsetzen der Therapie
Therapieanpassung/Ergänzung
(Augmentation)
Monitoring alle 2–4 W.
Ab dem 3. Mt. >4 W.
Monitoring alle 1–2 W.
Wirkungsprüfung n. 3–4 W.
* Die ABCB1-Diagnostik ist nur einmal im Leben erforderlich und erlaubt es, die Behandlung
mit Antidepressiva auf den individuellen ABCB1-Genotyp abzustimmen.
Abbildung 1: Algorithmus zur Therapie depressiver Störungen. Diese TherapieplanEmpfehlung basiert auf folgenden Kriterien: Evidenz und Konsens; ethische Verpflichtung;
klinische Relevanz; Anwendbarkeit; Patientenpräferenz und Umsetzbarkeit (nach [3]).
Für die Akutbehandlung schwerer depressiver Störungen (Abb. 1) sind Antidepressiva neben der Elektrokrampftherapie die wirksamsten und am besten belegten Therapieverfahren. So zeigen Metaanalysen, dass
die depressive Symptomatik durch eine medikamentöse antidepressive Behandlung innerhalb von 4–8 Wochen wirksamer reduziert wird als durch die Gabe von
Plazebo (Level A). Neben den klassischen trizyklischen
Antidepressiva (TZA) stehen heute Antidepressiva der
2. Generation (Mianserin, Maprotilin, Trazodon) und
der 3. Generation zur Verfügung. Zu letzterer gehören
Tabelle 1: Evidenzbasierte Klassifikation der Empfehlungen. Jede Behandlungsempfehlung wurde im Hinblick auf ihre Evidenzstärke für ihre Wirksamkeit, Sicherheit und
Durchführbarkeit bewertet und in vier Evidenz-Level eingeteilt.
Level A
Level B
Level C
Level D
Kein Evidenz-Level
Gute studienbasierte Evidenz, um die Empfehlung zu belegen.
Mindestens drei mittelgrosse randomisierte, kontrollierte
(doppelblinde) Studien (randomized controlled trials RCT),
die einen Vorteil der Intervention zeigten. Mindestens eine
dieser drei Studien musste eine gut durchgeführte, plazebokontrollierte Studie sein.
Mittelmässige studienbasierte Evidenz. Wirksamkeit in
mindestens zwei mittelgrossen randomisierten, doppelblinden
Studien (zwei oder mehr Vergleichsstudien gegen andere
Substanzen oder eine Vergleichsstudie gegen eine andere
Substanz und eine plazebo-kontrollierte Studie) oder in einer
mittelgrossen randomisierten, doppelblinden Studie
(plazebo-kontrolliert oder gegen eine andere Substanz) und
in einer oder mehreren prospektiven, mittelgrossen (mit
mindestens 50 Studienteilnehmern), offenen, naturalistischen
Studien.
Geringe studienbasierte Evidenz. Dieser Level wird erreicht,
wenn eine randomisierte, doppelblinde Studie gegen eine
andere Substanz und eine prospektive, offene Studie/Fallserie
(mit mindestens 10 Studienteilnehmern) oder mindestens
zwei prospektive, offene Studien/Fallserien (mit mindestens
10 Studienteilnehmern) eine Wirksamkeit zeigen.
die selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
(SSRI) wie Citalopram, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin und Sertralin sowie andere neuere Substanzen mit unterschiedlichen Wirkprinzipien: Mirtazapin als noradrenerges und spezifisch serotonerges
Antidepressivum (NaSSA), Duloxetin und Venlafaxin
als selektive Serotonin-/Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRI), Reboxetin als selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI), Moclobemid
als reversibler Inhibitor der MAO-A (RIMA), Bupropion
als selektiver Noradrenalin-/Dopamin-Wiederaufnahmehemmer (SNDRI) sowie Agomelatin, ein Melatonin-1und Melatonin-2-Rezeptoren-Agonist und 5-HT-2C-Antagonist (Tab. 2). Für die Behandlung von leichten bis
mittelschweren, nicht aber schweren Depressionen
steht in der Schweiz zudem Hypericum zur Verfügung.
Neu ist in der Schweiz auch das multimodale Antidepressivum Vortioxetin zugelassen, es moduliert verschiedene Serotoninrezeptor-Subtypen (5-HT-1A, 5-HT-
Auf Expertenmeinung basierend (Autoren und Mitglieder
der WFSBP-Task Force für unipolare depressive Störungen),
unterstützt von Evidenz aus mindestens einer prospektiven
Studie/Fallserie (mit mindestens 10 Studienteilnehmern).
1B; 5-HT-7; 5-HT-1D sowie 5-HT-3) und inhibiert den
Expertenmeinung zu allgemeinen Behandlungsverfahren und
-prinzipien.
Verträglichkeit und Wirksamkeit
Serotonintransporter.
Die Verträglichkeit der SSRI und neueren Antidepressiva
ist meist besser als die der TZA, so dass die Behandlungs-
lungen auch Empfehlungen für die Psychotherapie der
abbruchraten unter SSRI-Therapie deutlich geringer sind
Depressionen inklusive dem sozialen Blickwinkel (so-
(Level A) [6]. SSRI haben auch gegenüber tri- und tetrazy-
ziales Netz, Arbeitsfähigkeit usw.) mit der SGPP als He-
klischen Substanzen ein günstigeres Sicherheitsprofil,
rausgeberin erarbeitet und veröffentlicht [4].
indem sie weniger anticholinerge Nebenwirkungen und
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
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718
RICHTLINIEN
Tabelle 2: Antidepressiva – Wirkmechanismus und Standarddosierungen.
Generischera
Handelsname
Name (alphabetisch) CH
Agomelatin
Valdoxan®
Amineptin
(nicht zugelassen)
Traditionelle
strukturelle
Klassifikationb
MT-Agonist
Amitriptylinf
Saroten® Ret.
TZA
Amoxapin
(nicht zugelassen)
TetraZA
Bupropiong
Citalopram
i
Klassifikation
gemäss neurochemischem
Wirkungsmechanismus b
Anfangsdosis c
(mg/d)
Standarddosis d
(mg/d)
25
25–50
100
200–300
25–50
100–300
50
100–400
Wellbutrin XR®
NDRI
150
150–450**
Seropram®
SSRI
20
20–40 (60)
Plasmaspiegele
(therapeutischer
Bereich) [ng/ml]
80–200*
Clomipraminh,i
Anafranil®
TZA
25–50
100–250
175–450*
Desipramin
(nicht zugelassen)
TZA
25–50
100–300
100–300
Dibenzepin
Noveril TR®
TZA
120–180
240–720
Doslepin
(nicht zugelassen)
TZA
75
75–150
Dothiepin
(nicht zugelassen)
TZA
25–50
100–300
Doxepini
Sinquan®
TZA
25–50
100–300
Cymbalta®
SNRI
30–60
60–120
Escitaloprami
Cipralex ®
SSRI
10
10–20
Fluoxetin
Fluctine ®
SSRI
20
20–60
Fluvoxamin
Floxyfral®
Imipramin
Tofranil®
Isocarboxazid
(nicht zugelassen)
Johanniskraut l
Deprivita®
Hyperiplant ® Rx
Rebalance ® Rx
Duloxetin
j,k
SSRI
TZA
(nicht zugelassen)
TZA
Maprotilin
Ludiomil® a.H.
TetraZA
Mianserin
Tolvon®
TetraZA
100–300
100–300
20
20–60
Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung + präsynapt. Alpha2-Blockade
70
140–210
25–50
150–225
30
60–120
50–100
100–200
15
15–45
150
300–600
Milnacipran
(nicht zugelassen)
SNRI
Mirtazapin
Remeron®
NASSA
(Alpha2-Antagonist)
Moclobemid
Aurorix ®
Nortriptylin
Nortrilen® a.H.
Paroxetinh, I, j
Deroxat ®
Phenelzini
(nicht zugelassen)
Protriptylin
(nicht zugelassen)
Reboxetin
Edronax ®
NARI
4–8
8–12
Zoloft ®
SSRI
50
50–150
Sertralin
h, I, j
RIMA
TZA
SSRI
MAOI
TZA
Setiptilin
(nicht zugelassen)
Tianeptin
(nicht zugelassen)
Serotonin-(5-HT-)Wiederaufnahmeverstärker
MAOI
Tranylcypromini
(nicht zugelassen)
Trazodon
Trittico ®
Trimipraminf, i
Surmontil®
Venlafaxinj
Efexor ®
Viloxazin
(nicht zugelassen)
Vortioxetin
Brintellix ®
TetraZA
25–50
75–200
20
20–40 (60)
15
30–90
10
20–60
3
3–6
12,5
25–37,5
10
20–60
50–100
200–600
TZA
25–50
100–300
SNRI
37,5–75
75–375
100
200–500
5
20
SSRI
175–300*
500–1000
Trockenextrakt
Phytopharmakon
Lofepramin
50
25–50
Agonist 5HT1A und 1B,
Antagonist 5HT3/7/1D
a
70–170
195–400*
Erhältlichkeit auf dem Markt divergiert beträchtlich von Land zu Land.
Abkürzungen: MAOI = irreversible Hemmer der Monoaminoxidase; MT-Agonist = Agonist der Melatonin-Rezeptoren (MT1 und MT2); NARI = Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer;
NASSA = noradrenerg und spezifisch serotonerges Antidepressivum; NDRI = Noradrenalin- und Dopamin-Wiederaufnahmehemmer; RIMA = reversible Hemmer der Monoaminoxidase
A; SNRI = selektive Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer; SSRI = selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer; TZA = trizyklische Antidepressiva;
TetraZA = tetrazyklische Antidepressiva; a.H. = ausser Handel.
c
Bei älteren Menschen (> 60 Jahren) oder mit Patienten mit komorbiden körperlichen Erkrankungen (besonders kardiovaskuläre Erkrankungen; s. Text) können niedrigere Anfangsdosen
nötig sein.
d
Standarddosierungen sind in Japan im Allgemeinen niedriger.
e
Nur für Antidepressiva mit gut etabliertem, therapeutischem Bereich angegeben.
Andere Indikation als Depression (bewährt in einigen Ländern) oder häufige Anwendungsgebiete: f chronischer Schmerz; g Nikotinentwöhnung; h Zwangsstörungen (obsessive-compulsive
disorder, OCD); i Angststörungen (Panikstörungen, PTSD [post-traumatic stress disorder], soziale Phobie); j generalisierte Angststörung; k diabetischer und peripherer neuropathischer
Schmerz, Stressinkontinenz; l nur leichte bis mittelschwere depressive Episode.
b
* Der empfohlene therapeutische Bereich ist die Summe aus Arzneistoff und aktivem Metabolit.
** Nach europäischer Zulassung Tageshöchstdosis 300 mg.
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2016;16(35):716 –724
719
RICHTLINIEN
Patienten beurteilt werden. Wichtigste Risikofaktoren
sind frühere Suizidversuche, suizidales Verhalten in der
Familienanamnese, Substanzmissbrauch und fehlende
soziale Unterstützung. Bei schwerer akuter Suizidalität
ist oft eine stationäre Therapie indiziert, wobei auch
eine Einweisung unter dem Titel einer fürsorgerischen
Unterbringung (FU) gegen den Patientenwillen nötig
sein kann. Patienten mit Risiko für Selbstintoxikation
sollte ein Antidepressivum mit geringer Toxizität verschrieben und nur die Menge für eine Woche abgegeben werden (Tab. 3). In jedem Fall muss ein enges
Monitoring des Patienten erfolgen. Je nach Schwere des
Zustandsbildes sollten eine bis mehrere wöchentliche
Konsultationen stattfinden, ausserdem sollte das BeAbbildung 2: Modell des typischen Verlaufes einer depressiven Störung und deren
Behandlung nach Kupfer [19].
kaum kardiovaskuläre Toxizität aufweisen (Level A) [7].
Daher sind SSRI und andere «neuere» Antidepressiva bei
handlungsteam niederschwellig erreichbar sein.
Beurteilung der Wirksamkeit
der Behandlung
leichten bis mittelschweren Depressionen erste Wahl,
Um die Wirksamkeit der Behandlung beurteilen zu kön-
besonders bei Patienten mit kardiovaskulären Begleit-
nen, sollte das Ansprechen auf die Therapie («response»)
erkrankungen. Dosisabhängig besteht bei Citalopram,
klinisch und allenfalls unter Nutzung von spezifischen
Escitalopram, Fluoxetin, Venlafaxin, Mianserin, Mirta-
Beurteilungsskalen, z.B. des «Beck Depression Inven-
zapin, Trazodon und Bupropion das Risiko für eine Ver-
tory» (BDI), evaluiert werden [8]. Bei unzureichendem
längerung der QTc-Zeit, so dass bei Dosierungen oberhalb
Ansprechen nach einer 2- bis 4-wöchigen antidepressi-
der Standarddosis EKG-Kontrollen unverzichtbar sind.
ven Behandlung sollten Strategien zur Behandlungs-
Zur Behandlung einer schweren Depression können
optimierung zum Einsatz kommen (Abb. 1).
TZA, SSRI und SNRI sowie – falls geeignet – eine Elektro-
Vor einem Wechsel der Behandlungsstrategie muss die
krampftherapie (EKT) empfohlen werden (Level B).
Diagnose überprüft werden und allfällige pharmako-
Die Nebenwirkungsrate variiert zwischen den Anti-
kinetische Faktoren, die den Plasmaspiegel der Antide-
depressiva-Klassen und auch zwischen einzelnen
pressiva beeinflussen können, sind zu beachten. Solche
Wirkstoffen (Tab. 3). Liegen somatische Begleiterkran-
Faktoren sind u.a. der Metabolisierungstyp («rapid/
kungen vor, werden einige Wirkstoffe aufgrund ihres
ultra-rapid metaboliser»), Enzym-induzierende Begleit-
Nebenwirkungsprofils bevorzugt. Die häufigsten Ne-
medikation oder Nahrungsbestandteile.
benwirkungen von TZA und tetrazyklischen Antide-
Therapeutisches Drug-Monitoring (TDM) dient der Er-
pressiva sind anticholinerg/antimuskarinerg, kardio-
mittlung der Plasmakonzentration eines Medika-
vaskulär, antihistaminerg und neurologisch (Tab. 3).
ments. Weiter können mittels TDM Hinweise hinsicht-
Deshalb sollten TZA und tetrazyklische Antidepressiva
lich der Compliance der Medikamenteneinnahme
nicht bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankun-
gewonnen werden. Da die Plasmakonzentration der
gen, kognitiven Einschränkungen, Epilepsie und sol-
Antidepressiva zwischen einzelnen Patienten erheblich
chen im Delirium angewandt werden. Die häufigsten
variieren kann, muss darauf geachtet werden, dass Pa-
unerwünschten Wirkungen von SSRI sind Ruhelosig-
tienten nicht fälschlicherweise der Non-Compliance
keit, sexuelle Dysfunktion, gastrointestinale und neu-
beschuldigt werden. Eine Optimierung der Behand-
rologische Nebenwirkungen (Tab. 3).
lung kann oft allein schon durch eine Dosiserhöhung
Kontraindiziert ist die Anwendung von SSRI in Kombi-
des Antidepressivums erreicht werden.
nation mit irreversiblen MAO-Hemmern aufgrund des
Ein wesentlicher Einflussfaktor für die Wirksamkeit
Risikos eines Serotonin-Syndroms. Dies kann auch bei
von Antidepressiva ist die Durchlässigkeit der Blut-
der gleichzeitigen Einnahme mehrerer serotonerg
Hirn-Schranke, die durch in den Blutgefässen loka-
wirksamer Substanzen auftreten.
lisierte
P-Glykoproteine,
sogenannte
«Wächter-
moleküle», bestimmt wird.
Suizidalität
Mit dem neuen, am Max-Planck-Institut für Psychiatrie
Das Suizidrisiko muss nicht nur am Anfang, sondern
in München entwickelten ABCB1-Gentest lassen sich
auch regelmässig während der Behandlung depressiver
die DNA-Sequenzvarianten im ABCB1-Gen messen,
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720
RICHTLINIEN
Tabelle 3: Nebenwirkungsprofile der Antidepressivaa.
Generischer
Name (in
alphabetischer
Reihenfolge)
Handelsname
CH
Agomelatin
Valdoxan®
–
+
–
–
–
–
–
Kann Leberschädigung
verursachen (selten)
Gering
Amineptin
(nicht zugelassen)
–
+
–
++
+
+
+
Gefahr des Missbrauchs
(Amphetamin-ähnliche
Wirkung)
Gering
Amitriptylin
Saroten®,
Tryptizol®
+++
–
+++
–
+
+++
+++
EKG-Veränderungenc;
kann die Krampfschwelle
herabsetzen
Hoch
Amoxapin
(nicht zugelassen)
+++
–
+
++
+
+
+
Hyperprolaktinämie
Hoch
Bupropion
Wellbutrin XR®
+
+
–
+
–
–
–
Kann die Krampfschwelle
herabsetzen
Gering
Citalopram
Seropram®
–
++
–
++
++
–
–
Clomipramin
Anafranil®
+++
+
+
+
++
++
++
EKG-Veränderungenc;
kann die Krampfschwelle
herabsetzen
Mittel
Desipramin
(nicht zugelassen)
+
–
–
++
+
+
+
EKG-Veränderungenc;
kann die Krampfschwelle
herabsetzen
Hoch
Dibenzepin
Noveril TR®
+
–
+
–
+
+
+
EKG-Veränderungenc;
kann die Krampfschwelle
herabsetzen
Mittel
Dosulepin
(nicht zugelassen)
++
–
++
–
+
+
+
EKG-Veränderungenc;
kann die Krampfschwelle
herabsetzen
Hoch
Doxepin
Sinquan®
+++
–
+++
–
++
+++
++
EKG-Veränderungenc;
kann die Krampfschwelle
herabsetzen
Hoch
Duloxetin
Cymbalta®
–
++
–
++
+
–
–
Escitalopram
Cipralex ®
–
++
–
++
++
–
–
Fluoxetin
Fluctine ®
Fluvoxamin
Floxyfral®
Imipramin
Tofranil®
Isocarboxazid
Anticholinergb
Übelkeit/
gastrointestinal
Sedierung Schlaflosigkeit/
Erregung
++
Sexuelle
Dysfunktion
Orthostatische
Hypotension
Gewichts- Spezifische
zunahme unerwünschte Nebenwirkungen
Gering
Gering
Gering
+
Gering
+
+++
+
+
++
–
+
++
+
++
++
(nicht zugelassen)
+
+
–
++
+
++
Johanniskraut
Deprivita®
Hyperiplant ® Rx
Rebalance ® Rx
–
+
+
–
–
Lofepramin
(nicht zugelassen)
+
–
+
++
Maprotilin
Ludiomil® a.H.
Mianserin
Tolvon®
Milnacipran
Mirtazapin
++
Letalität
bei Überdosierung
Gering
EKG-Veränderungenc;
kann die Krampfschwelle
herabsetzen
Hoch
+
Hypertensive Krise e;
Gefahr eines SerotoninSyndroms f
Hoch
–
–
Allergische Reaktion;
sehr selten phototoxisch;
CYP3A4-Induktion
+
+
+
EKG-Veränderungenc;
kann die Krampfschwelle
herabsetzen
Gering
–
++
–
+
++
++
Erhöhtes Anfallrisiko
Hoch
+
–
++
–
–
+
+
Blutdyskrasie (selten)
Gering
(nicht zugelassen)
–
++
–
++
++
–
–
Gering
Remeron®
–
–
++
–
–
+
++
Gering
Moclobemid
Aurorix ®
+
+
–
+
–
–
–
Nortriptylin
Nortrilen® a.H.
+
–
+
+
+
+
+
EKG-Veränderungenc;
kann die Krampfschwelle
herabsetzen
Hoch
Paroxetin
Deroxat ®
+
++
–
++
++
–
+
Inhibitorische Wirkungen
auf CYP2D6 d
Gering
Phenelzin
(nicht zugelassen)
+
+
+
++
++
++
+
Hypertensive Krisee;
Gefahr eines SerotoninSyndroms f
Hoch
Protriptylin
(nicht zugelassen)
+++
–
+
++
+
++
+
EKG-Veränderungenc;
kann die Krampfschwelle
herabsetzen
Hoch
Reboxetin
Edronax ®
–
+
–
++
+
++
–
Gering
Sertralin
Zoloft ®
–
++
–
++
++
–
–
Gering
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
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Gering
721
RICHTLINIEN
Tabelle 3: Nebenwirkungsprofile der Antidepressivaa (Fortsetzung).
Setiptilin
(nicht zugelassen)
+
–
++
–
+
+
+
Tianeptin
(nicht zugelassen)
+
+
–
+
–
–
–
EKG-Veränderungenc;
kann die Krampfschwelle
herabsetzen
Gering
Tranylcypromin (nicht zugelassen)
–
+
–
++
+
++
–
Hypertensive Krise e;
Gefahr eines SerotoninSyndroms f
Hoch
Priapismus (selten)
Gering
EKG-Veränderungenc;
kann die Krampfschwelle
herabsetzen
Hoch
Hypertension
Gering
Trazodon
Trittico ®
Trimipramin
Surmontil®
Venlafaxin
Violoxazin
Vortioxetin
–
+
++
–
++
+
+
++
–
+++
–
+
++
++
Efexor ®
–
++
–
++
++
–
–
(nicht zugelassen)
–
+
–
++
–
–
–
Brintellix ®
–
++
–
–
+
–
–
Mittel
Gering
Kategorien der Stärke der Nebenwirkungen: +++ hoch/stark, ++ mittel, + gering/schwach, – sehr gering/keine.
Abkürzung: a.H. = ausser Handel.
a
Die Nebenwirkungsprofile der Antidepressiva sind nicht vollständig und nur für einen ersten Vergleich geeignet. Details zu den verwendeten Medikamenten, wichtige Warnhinweise und Wechselwirkungen sollten in einem Lehrbuch oder in Reviews, in der Originalliteratur, im Beipackzettel oder in der Roten Liste (D) oder im Arzneimittelkompendium
der Schweiz nachgelesen werden.
b
Diese beziehen sich auf Symptome, die gewöhnlich durch muskarinerge Rezeptorblockade ausgelöst werden, einschliesslich Mundtrockenheit, Schwitzen, verschwommenes
Sehen, Obstipation und Urinretention.
c
Reizleitungsstörungen
d
Es werden nur die inhibitorischen Wirkungen auf die hepatischen CYP450-Enzyme gezeigt, die klinisch relevant sind.
e
Erhöhtes Risiko in Kombination mit Nahrungsmitteln, die einen erhöhten Tyramingehalt haben, und mit Sympathomimetika
f
In Kombination mit serotonergen Medikamenten
welches das P-Glykoprotein kodiert. Dadurch können
nis [9]. Mit Hilfe dieser Messung (zurzeit im Labor Viol-
Patienten identifiziert werden, bei denen aufgrund
lier durchführbar) erhält der behandelnde Arzt Thera-
von Polymorphismen viele der gängigen Antidepres-
pieempfehlungen, die von der Bestätigung der Wahl
siva die Blut-Hirn-Schranke weniger leicht passieren
des verordneten Antidepressivums über Dosissteige-
können und die deshalb ungenügend auf die Therapie
rung, Augmentationsstrategien und den Wechsel des
ansprechen.
Antidepressivums reichen können (Abb. 3).
Zahlreiche Studien belegen den Einfluss einiger leicht
zu messender Polymorphismen auf das Therapieergeb-
Teilweises oder kein Ansprechen auf eine 2- bis 4-wöchige Behandlung mit einer antidepressiven Medikation in adäquater Dosierung1
Behandlungsoptionen bei Teilund Non-Response
Unabhängig von der anfänglichen Wahl des Antidepressivums zeigt sich bei mindestens 30% der Depressionen
eine ungenügende Therapieantwort auf die Behandlung
[10]. Es werden verschiedene Behandlungsstrategien für
ABCB1-Gentest*
Depressionen mit unzureichendem Ansprechen vorgeOptimierung der Behandlung (Dosiserhöhung)
schlagen (Abb. 3). Die wichtigsten sind: (1.) Wechsel zu einem Antidepressivum einer anderen pharmakologi-
Kombination
zweier
Antidepressiva
verschiedener
Klassen2,3
Augmentationsstrategien
1. Wahl: Lithium
Andere: atypische Antipsychotika, Schilddrüsenhormon (T3)
Wechsel zu einem neuen
Antidepressivum einer
anderen oder derselben
pharmakologischen Klasse2,3
schen Klasse (z.B. von einem SSRI zu einem dual
wirkenden Antidepressivum) oder Wechsel zu einem
Antidepressivum innerhalb der gleichen Klasse. (2.)
Kombination zweier Antidepressiva verschiedener Klas-
Angemessene zusätzliche
Psychotherapie zu jedem
Zeitpunkt während der
Behandlung
Erwägen einer EKT4 zu
jedem Zeitpunkt
während der Behandlung
Augmentation eines Antidepressivums mit einem anderen Wirkstoff (z.B. Lithium oder atypische Antipsy-
Abbildung 3: Therapeutische Möglichkeiten bei teilweisem oder fehlendem Ansprechen auf
die Behandlung mit einem Antidepressivum bei depressiver Episode (adaptiert nach [15]).
1
Teilweises Ansprechen (Partial Response): 26–49% Abnahme der Schwere der
depressiven Grundsymptomatik; kein Ansprechen: ≤25% Abnahme der Schwere der
depressiven Grundsymptomatik.
2
Siehe Tabelle 2.
3
Vorsicht bei der Kombination mit irreversiblen MAO-Hemmern (siehe Text).
4
Für Indikationen siehe Text.
* Die ABCB1-Diagnostik ist nur einmal im Leben erforderlich und erlaubt es, die Behandlung mit Antidepressiva auf den individuellen ABCB1-Genotyp abzustimmen.
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
sen (z.B. Kombination eines SSRI mit Mirtazapin). (3.)
2016;16(35):716 –724
chotika), um die antidepressive Wirkung zu erhöhen.
(4.) Eine individuell angemessene Psychoedukation,
psychotherapeutische Führung bzw. spezifische Psychotherapie gehören zu den Grundelementen jeder Behandlung. Sie ist ebenfalls zu überprüfen und ggf. zu
adaptieren (siehe unten, Abschnitt «Psychotherapie»).
Gegenwärtig gibt es keine einheitliche Meinung zur
Strategie bei Non-Response, da noch keine randomisierten, doppelblinden klinischen Studien vorliegen,
722
RICHTLINIEN
welche diese Fragestellung ausreichend beantworten.
schwere Depression» zugelassen. Die anderen standar-
Hingegen liegen zur Augmentation mit Lithium be-
disierten Johanniskrautpräparate sind für unspezifische
reits Plazebo-kontrollierte klinische Studien mit guten
Verstimmungszustände (keine ICD- oder DSM-Diagno-
Ergebnissen vor.
sen) zugelassen.
Strategie 1: Wechsel zu einem Antidepressivum einer
Elektrokrampftherapie (EKT)
anderen Klasse
Es kann sowohl der Wechsel von einem SSRI zu einem dual wirkenden Antidepressivum als auch zu einem noradrenergen/
EKT ist indiziert bei schwerer depressiver Episode mit
psychotischen Symptomen, echter behandlungsresis-
dopaminergen Wirkstoff erfolgreich sein.
tenter depressiver Episode oder besonderen Situatio-
Beim Wechsel von oder zu einem irreversiblen MAO-Hemmer
nen, z.B. schwere Suizidalität oder Schwangerschaft,
soll eine zweiwöchige Auswaschperiode zwischen den Medika-
welche eine rasche Besserung der Depression verlan-
menten (beim Wechsel von Fluoxetin sogar eine fünfwöchige
gen. Im Allgemeinen wird jedoch eine Erhaltungsthe-
Auswaschperiode) eingehalten werden (Level B). Patienten, die
auf einen ersten SSRI nicht ansprechen, haben eine 40–70-prozentige Chance, auf einen anderen anzusprechen (Level C).
rapie in Form einer Psychopharmakotherapie oder EKT
benötigt. Wenige Zentren in der Schweiz bieten EKT als
ambulante Therapieoption an.
Strategie 2: Kombination zweier Antidepressiva unterschiedlicher Klassen
Lichttherapie
Es gibt nur wenig kontrollierte Daten zugunsten des Nutzens
dieser Strategie (z.B. Mirtazapin mit SSRI) (Level A).
Die saisonale depressive Störung (seasonal affective
Die Kombination von Antidepressiva mit einem irreversiblen
MAO-Hemmer oder mit L-Tryptophan muss aufgrund potentiell
schwerwiegender Komplikationen vermieden werden (Serotonin-Syndrom).
disorder, SAD) stellt einen speziellen Subtyp der rezidivierenden depressiven Störung dar, die in einem saisonalen Muster auftritt. Die Winterdepression ist die
häufigste Form einer SAD. Die Behandlung der ersten
Wahl bei SAD ist die Lichttherapie (Phototherapie)
Strategie 3: Augmentation eines Antidepressivums
Unter Augmentationstherapie versteht man das Zufügen eines
zweiten Wirkstoffs, mit dem Ziel, die Wirkung des ersten Wirkstoffs zu verstärken und damit die Behandlung zu optimieren.
Die Augmentation mit Lithium ist die wichtigste und am besten
dokumentierte Strategie und damit erste Wahl (Level A, Review
[11]). Eine neuere Intervention ist die Augmentation mit atypischen Antipsychotika [12]. Positive Wirknachweise gibt es für
Quetiapin, Aripiprazol, Olanzapin und Risperidon in niedrigeren
Dosierungen als bei akuter Schizophrenie üblich. Die Wirksamkeit der Schilddrüsenhormone Trijodthyronin-T3 (Level B) sowie
Tetrajodthyronin-T4 (Level D) zur Augmentation bei TZA konnte
für T3 in einigen prospektiven Studien und für T4 in offenen Studien gezeigt werden. Wegen möglicher Nebenwirkungen sollten
sie mit Vorsicht durch einen erfahrenen Psychiater oder in Zusammenarbeit mit einem Internisten oder Allgemeinpraktiker
verabreicht werden.
Pflanzliche Wirkstoffe
(Level A). Falls eine Therapielampe nicht zur Verfügung
steht, kann eine Behandlung mit natürlichem Licht in
Form eines täglichen einstündigen Morgenspaziergangs
durchgeführt werden. Patienten mit Risikofaktoren
sollten vor der Behandlung einen Ophthalmologen
aufsuchen. SSRI scheinen eine ähnlich gute Wirksamkeit wie die Lichttherapie zu haben.
Zusätzliche Therapien
Für die zusätzliche Behandlung depressiver Episoden
wurden pharmakologische wie auch nicht-pharmakologische Zusatzbehandlungen untersucht. Dazu gehören
Antipsychotika, Tranquilizer/Anxiolytika, Schlafentzug, körperliches Training, transkranielle Magnetstimulation, Vagus-Nerv-Stimulation, Ketamin.
Antipsychotika
Die depressive Episode kann mit Wahn und/oder Hallu-
Evidenz für antidepressive Wirksamkeit aus kontrol-
zinationen assoziiert sein. Patienten mit psychotischen
lierten Studien besteht für Auszüge der Pflanze Hyperi-
Symptomen im Rahmen einer depressiven Störung
cum perforatum (Johanniskraut) für die Kurzzeit-
zeigen deutlich höhere Ansprechraten bei Kombination
behandlung
mittelschweren
eines Antidepressivums mit einem Antipsychotikum
depressiven Störungen gegenüber Plazebo (Level A)
von
leichten
als unter einer Monotherapie der einzelnen Substan-
[13]. Potenzielle Nebenwirkungen mit einigen anderen
zen (Level A). Die neueren atypischen Antipsychotika
Arzneimitteln sind zu beachten. In der Schweiz sind
sollten aufgrund ihres geringeren Risikos für extrapy-
nur die Präparate Deprivita®, Hyperiplant® Rx und
ramidalmotorische Symptome den klassischen Anti-
Rebalance® Rx für die Diagnose «leichte bis mittel-
psychotika vorgezogen werden.
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
bis
2016;16(35):716 –724
723
RICHTLINIEN
Psychotherapie
Tranquilizer/Anxiolytika
Der Nutzen einer Therapie mit Anxiolytika muss sorgfältig gegen das mögliche, jedoch in der Praxis geringe,
Risiko einer Abhängigkeit und einer erhöhten Neigung
zu Stürzen und Unfällen abgewogen werden. Die Kombination von Antidepressiva und Anxiolytika ist besonders bei Angst, Erregung und Schlaflosigkeit erfolgreich.
Diese empfiehlt es sich auch in der Einleitungsphase
einer antidepressiven Behandlung mit Antidepressiva.
Die Dauer der Benzodiazepingabe bei depressiven Patienten sollte vier Wochen nicht überschreiten. Wichtig ist es, die Indikation der Benzodiazepin-Komedikation ständig zu überprüfen.
Die Kombination von Antidepressivum mit Psychotherapie ist wirksamer als die alleinige Pharmakotherapie [18]. Psychotherapie sollte bei leichter bis mittelgradiger depressiver Episode erwogen werden. Darüber
hinaus wird sie in Kombination mit Antidepressiva bei
mittelschwerer bis schwerer Depression oder bei Teilresponse auf eine antidepressive Medikation empfohlen.
Für die kurzen strukturierten Psychotherapien konnte
gezeigt werden, dass sie in der Akutphase der Behandlung einer depressiven Episode wirksam sind und
einem Rückfall während der Erhaltungsphase vorbeugen können. Die beste Evidenz besteht derzeit für die
Schlafentzug (Wachtherapie)
Partieller oder vollständiger Schlafentzug zeigt bei rund
60% der Patienten eine antidepressive Wirkung noch
am gleichen Tag (Level A). Jedoch erleiden die meisten
Patienten einen Rückfall nach nur einer Nacht normalen Schlafs. Die antidepressive Wirkung kann durch
wiederholten Schlafentzug (Level B) oder durch eine
Kombination aus Schlafentzug, Lichttherapie und/oder
antidepressiver Pharmakotherapie stabilisiert werden.
kognitive Verhaltenstherapie (KVT), die interpersonelle
Therapie und das kognitive Verhaltensanalysesystem
(CBASP, Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy).
Die Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und
Psychotherapie anerkennt folgende wissenschaftlich
begründeten Psychotherapiemethoden: die psychoanalytisch orientierte Therapie, kognitive und Verhaltenstherapie sowie systemische Therapie (vgl. Weiterbildungsprogramm Kap. 3.1.2.3.). Alle drei Methoden tragen
zur Behandlung von Depressionen in verschiedenarti-
Körperliches Training
Studien mit gesunden jungen Menschen haben gezeigt, dass körperliche Aktivität eine positive Wirkung
auf die Stimmung haben kann. Cochrane-Analysen
ger Weise bei. Ergänzende Behandlungsempfehlungen
zur Psychotherapie bei depressiven Störungen werden
in Zusammenarbeit mit der SGPP veröffentlicht [4].
zeigen, dass Sport zwar als Augmentationstherapie
wirksam sein kann, jedoch eine antidepressive Behandlung nicht ersetzen kann [14].
Behandlung in speziellen Situationen
In speziellen Situationen muss die Therapie einer de-
Weitere Behandlungsmöglichkeiten
pressiven Episode individuell angepasst werden. Zu
Bei der repetitiven Transkraniellen Magnet-Stimulation
diesen Situationen zählen Depressionen, die komorbid
(rTMS) werden kortikale Neurone nicht-invasiv durch
mit anderen psychiatrischen Erkrankungen auftreten
magnetische Induktion stimuliert. Die akute Wirksam-
(z.B. Angststörungen, Substanzmissbrauch), Depressio-
keit der rTMS bei nicht-psychotischer unipolarer
nen bei älteren Menschen, somatische Erkrankungen
Depression ist belegt (Level A) [15]. Transkranielle Mag-
als Depressionsursache sowie schwangere oder stil-
net-Stimulation kann alleine oder mit antidepressiver
lende Frauen. In diesen Fällen wird empfohlen, einen
Begleitmedikation angewendet werden. Bei der Vielzahl
Psychiater oder Spezialisten auf dem Gebiet hinzu-
der möglichen Stimulationsparameter (z.B. Frequenz,
zuziehen.
Stimulationsstärke, Lokalisation, Dauer) wird jedoch
empfohlen, dass die Therapie nur von einem mit rTMSerfahrenen Psychiater durchgeführt wird [16].
Depressionen und Komorbidität mit anderen
psychiatrischen Erkrankungen
Die Vagus-Nerv-Stimulation (VNS) ist eine Technologie
zur indirekten Gehirnstimulation über den linken Va-
Komorbide Angststörungen
gusnerv. Die Studienlage zur Wirksamkeit ist jedoch
Bis zu 30% der unipolar depressiven Patienten leiden
sehr heterogen [17].
zusätzlich unter Angststörungen. SSRI und dual wirk-
Ketamin wirkt am Glutamatsystem und zeigte nach in-
same Antidepressiva, aber auch TZA und MAO-Hem-
travenöser oder intranasaler Verabreichung eine rasche,
mer, können ebenso wie KVT wirksam zur Behandlung
hohe Wirksamkeit bei therapierefraktären Depressio-
eingesetzt werden. Anxiolytika (Benzodiazepine) kön-
nen. Wenige Zentren in der Schweiz bieten diese statio-
nen über einen begrenzten Zeitraum zum Einsatz
näre Behandlungsoption an.
kommen, falls Angst ein relevantes Zielsymptom ist.
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RICHTLINIEN
Komorbider Substanzmissbrauch und Abhängigkeit
mit Antidepressiva behandelt wurden, traten vorüber-
Substanzmissbrauch tritt bei Depression mit einer
gehende Absetzphänomene auf. Für die neueren Anti-
hohen Prävalenz auf. Es ist dabei besonders wichtig,
depressiva liegen aktuell nur wenige Daten vor. Irrever-
beide Störungen adäquat zu behandeln. Eine auf den
sible MAO-Hemmer sind während der Schwangerschaft
Patienten zugeschnittene Psychotherapie hat sich als
aufgrund möglicher hypertensiver Krisen kontraindi-
wirksam erwiesen.
ziert. Die Anwendung von Antidepressiva während der
Schwangerschaft sollte unter sorgfältiger Risiko -
Depressionsbehandlung bei älteren Patienten
abwägung der pränatalen Exposition gegenüber einem
Physiologische Veränderungen führen im Alter zu Ver-
depressiven Rückfall der Mutter durchgeführt werden.
änderungen in der Metabolisierung und Pharmakoki-
Als Behandlungsalternativen sollten Psychotherapie,
netik der Medikamente. Die Wirksamkeit und Verträg-
Lichttherapie und EKT in Betracht gezogen werden.
lichkeit der SSRI bei älteren Patienten wurde in einer
Nach der Geburt haben viele Frauen ein erhöhtes Risiko
Reihe von klinischen Studien mit Sertralin, Paroxetin
für affektive Störungen. Das vorübergehende, 7–10 Tage
und Fluoxetin untersucht (Level A). Für die Rezidiv-
andauernde depressive Syndrom nach der Geburt,
prophylaxe gibt es Evidenz, dass Antidepressiva, insbe-
auch als «postpartum blues» bekannt, erfordert in der
sondere Citalopram, sowie auch Lithium, das zusätz-
Regel keine medikamentöse Intervention. Als «post-
lich zu einem Antidepressivum gegeben wird, wirksam
partale Depression» wird eine depressive Episode be-
sind (Level B). Da ältere Patienten einerseits häufiger zu
zeichnet, die innerhalb von vier Wochen nach der Ge-
orthostatischer Hypotension neigen und andererseits
burt auftritt.
vulnerabler für andere kardiovaskuläre und anticho-
Studien haben Antidepressiva identifiziert, die wäh-
linerge Nebenwirkungen sind, werden SSRI und andere
rend der Stillzeit angewandt werden können (Level C).
neuere Antidepressiva den TZA vorgezogen (Level A).
Die bei stillenden Müttern am besten untersuchten
Substanzen sind Paroxetin, Sertralin, Fluoxetin, Clo-
Therapieresistente Depression
mipramin und Nortriptylin. Kinder von stillenden
Es gibt keine allgemein akzeptierte Definition der The-
Müttern, die Antidepressiva einnehmen, sollten durch
rapieresistenz. Sie ist wahrscheinlich, wenn der Patient
den Kinderarzt speziell überwacht werden.
auf mindestens zwei Behandlungszyklen mit Medi-
Laufend aktualisierte Behandlungsempfehlungen zur
kamenten unterschiedlicher Antidepressivaklassen in
Behandlung der Depression in der Schwangerschaft und
adäquater Dosierung, genügender Dauer und guter
während der Stillzeit finden sich auf www.mediq.ch.
Compliance nicht anspricht. Bei Therapieresistenz wird
die Überweisung an einen Facharzt für Psychiatrie und
Psychotherapie empfohlen.
Depressionsbehandlung während Schwangerschaft und Stillzeit
Depressive Störungen während der Schwangerschaft
stellen eine grosse therapeutische Herausforderung
dar. Im Gegensatz zu den Stimmungsstabilisierern wie
Lithium, Carbamazepin und Valproinsäure, die alle ein
Teratogenitätsrisiko aufweisen, scheinen Antidepressiva (TZA, SSRI) kaum ein erhöhtes Risiko für eine
Organfehlentwicklung zu haben. TZA und SSRI zeigen
kein erhöhtes Risiko für intrauterinen Fruchttod oder
grössere Geburtsschäden. Wegen eines geringfügig erKorrespondenz:
höhten Risikos für Fehlbildungen sollten Paroxetin
Dr. med. Josef Hätten-
und Fluoxetin nicht als Antidepressiva der ersten Wahl
schwiler
in der Schwangerschaft neu verordnet werden. Die Ent-
Zentrum für Angst- und
Depressionsbehandlung
wicklung von Kindern, deren Mütter während der
Zürich ZADZ
Schwangerschaft TZA oder Fluoxetin einnahmen, un-
Riesbachstrasse 61
CH-8008 Zürich
jhaettenschwiler[at]zadz.ch
terschied sich nicht von der von Kontrollen. Bei einigen
Kindern, deren Mütter kurz vor dem Geburtstermin
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Aktualisierung der Behandlungsempfehlungen
Diese Behandlungsempfehlungen werden in Abstimmung mit
den WFSBP-Leitlinien sowie den Leitlinien S3 der DGPPN aktualisiert
und auf der Website der SGAD (www.sgad.ch), und der SGPP
(www.psychiatrie.ch) publiziert.
Disclaimer
Die SGPP entwickelt Behandlungs- und andere Empfehlungen zu
wichtigen Fragen der psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlung, um ihren Mitgliedern bei ihren Bemühungen um Qualitätssicherung behilflich zu sein. Die Empfehlungen beruhen auf aktuellen
wissenschaftlichen Erkenntnissen und in der Praxis bewährten Verfahren. Im Einzelfall können auch andere Behandlungsarten und
-vorgehen zum Ziel führen. Die Empfehlungen der SGPP werden regelmässig auf ihre Gültigkeit überprüft und von der SGPP mit grösster
Sorgfalt in der für die Mitglieder und allenfalls andere Interessierte
geeigneten Form publiziert. Die Befolgung oder Nichtbefolgung dieser
Empfehlungen hat für den Arzt oder die Ärztin weder haftungsbefreiende noch haftungsbegründende Wirkung.
Disclosure statement
Die Erstellung dieser schweizerischen Leitlinien der SGAD, SGBP und
SGPP wurde von keiner kommerziellen Organisation finanziell
unterstützt.
Literatur
Die vollständige nummerierte Literaturliste finden Sie als Anhang des
Online-Artikels unter www.medicalforum.ch.
LITERATUR / RÉFÉRENCES Online-Appendix
Literatur
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Hemmeter U, Keck ME et al. Die somatische Behandlung
der unipolaren depressiven Störungen 1. Teil.
Behandlungsempfehlung der Schweizerischen
Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD), der
Schweizerischen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie
(SGBP), in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen
Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP)
und auf der Grundlage der Leitlinien der World Federation
of Societies of Biological Psychiatry (WFSBP 2008) sowie
der S3-Leitlinie/Nationalen Versorgungsleitlinie
„Unipolare Depression“ der Deutschen Gesellschaft für
Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN
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725
FALLBERICHTE
Ein diagnostischer «Leckerbissen» aus der Praxis
Wenn doch alles «unter einen Hut
zu bringen» ist
Dr. med. Silvia Güntert a , Prof. Dr. med. Martin Brutsche b , Dr. med. Regulo Rodriguez c , Dr. med. Daniel Güntert a
a
Gemeinschaftspraxis, Wattwil; b Kantonsspital St. Gallen, Chefarzt Pneumologie; c Kantonsspital St. Gallen, Oberarzt mbF, Institut für Pathologie
Fallbeschreibung
leicht dolente linke Glandula parotis. Bronchoskopisch
zeigten sich unspezifische, chronische bronchitische
Die Zuweisung des Patienten erfolgte zur weiteren
Veränderungen und eine linksseitige Stimmbandpa-
Abklärung, als diverse Befunde wie Anämie, Thrombo-
rese (Abb. 4). Die bronchoalveoläre Lavage wies eine
zytose und Transaminasenerhöhung im klinischen
leicht erhöhte Zellzahl auf mit mässig vermehrtem
Kontext mit anhaltendem Nachtschweiss, vorüberge-
Lymphozyten-Anteil bei normalem CD4/CD8-Quotien-
hendem Gewichtsverlust und trockenem Husten nach
ten sowie diskret vermehrten neutrophilen Granulo-
einer antibiotisch behandelten Sinusitis und Otitis
zyten – wiederum unspezifische Befunde, die mit einer
media drei Monate zuvor nicht «unter einen Hut zu
Tuberkulose gut vereinbar gewesen wären. Doch waren
bringen» waren.
sowohl der mikroskopische Direktnachweis als auch
Es präsentierte sich initial ein 36-jähriger, febriler
die PCR (polymerase chain reaction), später auch die
(38°C) Patient deutsch-jemenitischer Abstammung in
Kulturen negativ. In den transbronchial entnommenen
gutem Allgemein- und Ernährungszustand. Bis auf
Biopsien des Mittellappens waren schliesslich histolo-
beidseits gerötete Augen war der übrige Status zunächst
gisch wenige kleine, epitheloidzellige Granulome mit
unauffällig. Das Labor zeigte eine leichte normochrome,
Riesenzellen ohne Nekrosen erkennbar (Abb. 5). Die
normozytäre Anämie, leichte Thrombozytose und dis-
kardialen Untersuchungen (Ruhe- und 24-Stunden-EKG
kret erhöhte GPT (Glutamat-Pyruvat-Transaminase);
und Echokardiographie) waren unauffällig.
das CRP und die Blutsenkungsreaktion waren normal.
Somit erhärtete sich unsere Hypothese einer Sarkoi-
Die ophthalmologische Untersuchung führte zur Dia-
dose mit Multiorgan-Manifestation (Pneumonitis,
gnose einer moderaten, beidseitigen vorderen Uveitis
hiläre und mediastinale Lymphadenopathie, Uveitis,
bei nachfolgend positivem HLA-B27-Antigen. Das Tho-
Neuritis, Parotitis und möglicherweise auch Befall der
rax-Röntgenbild zeigte neben einem retikulonodulären
Leber). Die leichtgradige Anämie und Thrombozytose
Infiltrat im rechten Mittelfeld eine beidseitige Hilusvergrösserung (Abb. 1). Im entsprechenden Thorax-CT
bestätigten sich diffuse feinnoduläre, teils konfluierende Lungenparenchymverdichtungen in den Mittellappen- und basalen Unterlappensegmenten (Abb. 2)
sowie diskret im apikalen linken Oberlappen bei deutlicher bihilärer und subcarinärer Lymphadenopathie
(Abb. 3). Die lungenfunktionellen Befunde inklusive
CO-Diffusion waren normal. Das erweiterte Labor ergab
als Hauptbefunde einen mit 1768 ng/l (Norm: <477 ng/l)
fast vierfach erhöhten löslichen Interleukin-2-Rezeptor
(sIl-2) sowie ein mit 80,9 U/l (Norm: ≤70 U/l) leicht über
der Norm liegendes ACE (Angiotensin-converting enzyme). Beide Befunde sind aber unspezifisch. Infektionsserologische Untersuchungen waren durchwegs
negativ, das Kalzium im Serum und 24-Stunden-Urin
war normal. Im weiteren Verlauf fielen eine leichte
Heiserkeit, und bei der Racheninspektion ein herabhängendes linkes Gaumensegel mit positivem Kulissenphänomen bei subjektiv leichten SchluckstörunSilvia Güntert
gen auf sowie eine deutlich vergrösserte, derbe und
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Abbildung 1: Thorax-Röntgenbild. Feinnoduläre Lungenparenchymverdichtungen im rechten Mittelfeld, entsprechend
dem lateralen Mittellappen (Pfeil). Diskrete Veränderungen
auch im apikalen Oberlappen links. Beidseits deutlich polyzyklisch veränderte Hili.
726
FALLBERICHTE
Abbildung 2: Computertomographie des Thorax. Feinnoduläre
Lungenparenchymverdichtungen im lateralen Mittellappen
und apikalen Unterlappen rechts (Pfeil). Weitere Veränderungen bestanden im apikalen Oberlappen links sowie im
posterioren Oberlappen rechts.
Abbildung 3: Computertomographie des Thorax. Pathologische, vergrösserte Lymphknoten subcarinär (Pfeil) und bihilär
beurteilten wir als Ausdruck des chronischen Entzün-
nologischen Pathogenese der Sarkoidose verständlich.
dungszustandes.
So stellen die nicht-verkäsenden Epitheloidzellgranulome als Charakteristikum der Sarkoidose wahrscheinlich das Endresultat einer übersteigerten Immunreak-
Diskussion
tion auf noch unbekannte endogene oder exogene
Der Chronologie der Symptome unseres Patienten
Trigger dar. Geht man beim Nachtschweiss von einer
folgend, möchten wir das bunte Bild der Sarkoidose be-
durch Zytokine ausgelösten thermoregulatorischen
leuchten und unsere differentialdiagnostischen Über-
Dysfunktion aus, so ist er bei der Sarkoidose aus darge-
legungen diskutieren.
legten Gründen durchaus nachvollziehbar.
Allgemeinsymptome
Uveitis anterior
Der vordergründige Nachtschweiss war, zusammen
Im Verlauf entwickelte unser Patient eine vordere
mit dem trockenen Husten, Fieber und Gewichtsverlust,
Uveitis im Sinne einer Iritis und Iridozyklitis mit dem
primär suggestiv für einen chronischen Infekt oder
dafür typischen Symptom einer Visusminderung. Eine
einen malignen Prozess, vorab ein malignes Lymphom.
tuberkulöse Uveitis konnte aufgrund des negativen Er-
Fieber, Nachtschweiss und Gewichtsverlust stellen
regernachweises ausgeschlossen werden. Mit dem Nach-
aber auch bei der Sarkoidose bekannte Allgemeinsym-
weis des HLA-B27-Antigens im Rahmen des Uveitis-
ptome dar und sind vor dem Hintergrund der immu-
Screenings erwies sich unser Patient als Träger eines
genetischen Risikofaktors für eine anteriore Uveitis.
Die Prävalenz des HLA-B27 in der Allgemeinbevölkerung
Mitteleuropas beträgt etwa 8% und im eurasischen
Raum 2–15%. In diesem Sinne scheint unser Patient
HLA-B27-Merkmalsträger zu sein, ohne unter einer damit assoziierten Erkrankung zu leiden. Denn zusammen
mit den erwähnten Befunden schien uns eine Sarkoidose mit anteriorer Uveitis als deren häufigste okuläre
Manifestation wahrscheinlicher.
Heerfordt-Syndrom
Eine uni- oder bilaterale Parotisschwellung, die bei
lediglich 6–8% der Sarkoidosepatienten auftritt, definiert zusammen mit einer Uveitis und Fieber sowie faAbbildung 4: Stimmbandparese links (Pfeil), Aufnahme bei
Inspiration. Das linke Stimmband wird bei der Inspiration
nicht geöffnet und verbleibt in Ruhestellung.
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kultativer Fazialisparese das nach dem gleichnamigen
dänischen Ophthalmologen Christian Frederick Heerfordt (1871–1953) benannte Heerfordt-Syndrom. Es ist
727
FALLBERICHTE
Neurosarkoidose
Das zentrale Nervensystem ist bei 5–15% der Sarkoidosepatienten befallen. Dabei kann jeder Abschnitt
des zentralen Nervensystems betroffen sein und mannigfaltigste Symptome hervorrufen. Auch hier sollte
deshalb die Sarkoidose als Differentialdiagnose stets
gegenwärtig sein. Am häufigsten involviert sind die
Hirnnerven, in erster Linie der Nervus facialis, der
Hypothalamus und die Hypophyse [1]. Es können aber
auch periphere Nerven betroffen sein mit Manifestation einer sensorischen oder motorischen Neuropathie.
Bei unserem Patienten musste angesichts der linksseitigen Stimmband- und Gaumensegelparese sowie den
Schluckstörungen eine in der Literatur an Einzelfällen
beschriebene sarkoide Neuritis des Nervus laryngeus
recurrens und des Nervus glossopharyngeus oder des
Abbildung 5: Transbronchiale Lungenparenchym-Biopsie mit kleinem Granulom (Pfeile)
mit Epitheloidzellen, Riesenzellen und wenigen perifokalen Lymphozyten ohne Nekrosen.
hoch suspekt für eine Sarkoidose [1] und gehörte auch
bei unserem Patienten zur Vielfalt seiner Sarkoidosemanifestationen.
Nervus vagus vermutet werden. Isolierte Läsionen
dieser zwei Hirnnerven sind aufgrund deren engen
topographischen Beziehung selten. Linksseitige sarkoide Recurrens-Paresen werden aufgrund der unmittelbaren Nähe dieses Nerven zu aortopulmonalen
Lymphknoten auch kompressionsbedingt durch eine
ausgeprägte
Pulmonale Beteiligung der Sarkoidose
Die Lungen sind bei der Sarkoidose neben den hilären
und mediastinalen Lymphknoten am häufigsten
betroffen. Klinische Symptome beinhalten Dyspnoe,
Husten, «Pfeifen» und unspezifische Thoraxbeschwerden. Sie sind Folge von vielgestaltigen, möglichen
Lungenveränderungen, die von diffusen, fein- oder
grobnodulären Lungenparenchymverdichtungen über
konfluierende Infiltrationen bis hin zu selteneren
Manifestationen wie Pleuraergüssen aber auch Atelektasen und Kavernen reichen [2].
Die radiologischen Thoraxveränderungen werden nach
Siltzbach und Scadding in fünf Stadien eingeteilt (Tab. 1).
Tabelle 1: Radiologische Thoraxveränderungen bei
Sarkoidose nach Siltzbach und Scadding.
paratracheale
oder
aortopulmonale
Lymphadenopathie, oder aber durch eine Mediastinitis
beschrieben [3]. Bei unserem Patienten bestanden
lediglich kleine Lymphknoten im aortopulmonalen
Segment.
Störung des Kalziumstoffwechsels
Während eine Hyperkalzurie, die bei jeder Sarkoidose
mittels Kalziumbestimmung im 24-Stunden-Urin systematisch gesucht werden sollte, bei ca. 40% der Sarkoidosepatienten nachgewiesen werden kann, findet sich
eine Hyperkalzämie bei lediglich ca. 11%. Ursache des
gestörten Kalziummetabolismus bei der Sarkoidose ist
eine unkontrollierte Bildung von 1,25(OH2)-Vitamin D3
in den Makrophagen der Granulome. Dabei konnte
gezeigt werden, dass über 1,25(OH2)D3 wahrscheinlich
eine Hemmung von INF-γ und IL-2 und damit eine vom
Organismus versuchte Kontrolle der Granulombildung
Stadium 0
Normalbefund
Stadium I
Bilaterale hiläre Lymphadenopathie ohne
Lungenparenchymbeteiligung
Stadium II
Bilaterale hiläre Lymphadenopathie mit
Lungenparenchymbeteiligung
Stadium III
Alleinige Lungenparenchymbeteiligung
Kardiale Manifestation
Stadium IV
Pulmonale Fibrose
Die autoptisch belegte kardiale Mitbeteiligung in bis
stattfindet [4]. Nephrolithiasis, Nephrokalzinose und
Niereninsuffizienz können mögliche Komplikationen
der Hyperkalzurie sein.
zu 30% der Fälle ist nur bei einem kleinen Teil auch kliLungenfunktionelle Ventilationsstörungen können res-
nisch manifest. Rhythmusstörungen, vorzugsweise
triktiver aber auch obstruktiver Art und mit bronchia-
blockierende Arrhythmien, aber auch Vorhofflimmern
ler Hyperreagibilität assoziiert sein. Eine pulmonal ar-
und ventrikuläre Tachykardien sowie die dilatative
terielle Hypertonie als relativ häufige Spätkomplikation
Kardiomyopathie sind zwar charakteristisch, aber un-
der Sarkoidose, und gewöhnlich Folge einer Lungenfib-
spezifisch. Angesichts der zudem limitierten Sensitivi-
rose, verschlechtert die Prognose massgebend.
tät und Spezifität diagnostischer Modalitäten ist der
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728
FALLBERICHTE
Korrespondenz:
Beweis einer kardialen Sarkoidose deswegen schwierig.
Fazit
Dres. med. S. und D. Güntert
Zum Basisscreening gehören die Anamnese, ein 12-Ka-
Bahnhofstrasse 4
nal-, 24-Stunden-Holter-EKG und eine Echokardio-
Unser Patient hat gezeigt, dass die Sarkoidose eine Sys-
graphie. Diese sind zusammen hoch sensitiv für das
temerkrankung mit vielfältigen klinischen Erschei-
Erfassen einer kardialen Beteiligung. Bei abnormen
nungsbildern ist. Ihre zudem variable Krankheitsakti-
Befunden sollte mittels kardialer Kernspintomographie
vität macht diese Krankheit zu einer anspruchsvollen
(CMR) oder PET-CT weiter abgeklärt werden. Während
Diagnose. Unser Fall zeigt, dass sie bei ätiologisch
die CMR eine Sensitivität von bis zu 100% bei einer Spe-
unklarer ophthalmologischer, kardiologischer, pneu-
zifität von 78% [5] aufweist, wird die Sensitivität für das
mologischer und neurologischer Symptomatik immer
PET-CT auf 89% und die Spezifität auf 78% [6] geschätzt.
als Differentialdiagnose erwogen werden sollte. Die
Die normalerweise rechts-ventrikulär entnommene
deutsch-jemenitische Herkunft unseres Patienten warf
endomyokardiale Biopsie weist wegen des fokalen kar-
zudem die Frage der Bedeutung des ethnischen Hinter-
dialen Befalls der Sarkoidose mit bevorzugter Lokalisa-
grundes bei den differentialdiagnostischen Überle-
tion der Granulome im linken Ventrikel und basalen
gungen auf. Gerade bei der Sarkoidose sind ethnische
ventrikulären Septum eine diagnostische Ausbeute
Unterschiede mit höherer Inzidenz und schwerer Aus-
von unter 20% auf [7].
prägung der Symptome bei Afroamerikanern hinläng-
CH-9630 Wattwil
silvia.guentert[at]hin.ch
lich bekannt. Im Jemen ist eine – zwar kleine – Bevöl-
Therapie und Verlauf
kerungsgruppe afrikanischer Herkunft. Schliesslich
Viele Patienten mit Sarkoidose sind durch die Erkran-
kommt am Beispiel der Sarkoidose sehr schön die Be-
kung nicht beeinträchtigt. Der Nutzen einer medika-
deutung der interdisziplinären Zusammenarbeit im
mentösen Therapie, meist Kortikosteroide, sollte des-
medizinischen Schaffen zum Ausdruck. Und nicht zu-
wegen gut gegen mögliche Nebenwirkungen abgewogen
letzt zeigt dieser Fall, wie spannend der Alltag eines
werden, zumal es bei der unbehandelten akuten Sarko-
niedergelassenen Arztes in der Praxis sein kann!
idose mit selbstlimitiertem Verlauf Hinweise auf eine
bessere Langzeitprognose gibt. Subjektive Beschwerden
oder Funktionseinschränkungen betroffener Organe
erfordern eine Behandlung.
Indikation zur Behandlung unseres Patienten war in
erster Linie der neurologische Befall aber auch die ausgeprägte subjektive Beeinträchtigung durch den Nachtschweiss. Entsprechend den Sarkoidose-Richtlinien
Informed consent
Die Publikation erfolgt im Einverständnis des Patienten.
Danksagung
Die Autoren danken Frau Prof. Dr. med. P. Otto, Leitende Ärztin,
Rheumatologie, Kantonsspital St. Gallen, für ihre initiale Unterstützung
und dem Radiologischen Institut, Kantonsspital St. Gallen, für das
Bildmaterial.
haben wir bei unserem Patienten eine systemische Ste-
Disclosure statement
roidbehandlung mit 50 mg Prednison pro Tag begon-
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen
im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
nen. Bei bisher promptem Ansprechen sämtlicher
Symptome bleibt der weitere Verlauf noch abzuwarten.
Die Uveitis hatte sich bereits auf die lokale ophthalmologische Behandlung deutlich regredient gezeigt.
Literatur
1
2
3
Das Wichtigste für die Praxis
• Die Sarkoidose ist eine Erkrankung mit vielfältigen klinischen Erscheinungsbildern.
• Allgemeinsymptome wie Fieber, Nachtschweiss und Gewichtsverlust
stellen auch bei der Sarkoidose bekannte Symptome dar.
4
5
6
• Gerade bei unterschiedlichen Symptomen und verschiedenen Organmanifestationen sollte die Sarkoidose als Differentialdiagnose stets gegenwärtig sein.
• Das Ziel, alle Symptome «unter einen Hut bringen» zu wollen, sollte bei
den differentialdiagnostischen Überlegungen stets Leitplanke sein. Ausnahmen bestätigen diese Regel.
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
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