19. Januar 1963

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Schreiben des deutschen Botschafters in Washington an Gerhard Schröder (19. Januar
1963)
Quelle: SCHWARZ, Hans-Peter (Hrsg.). Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland, 1963. Band I:
1. Januar bis 31. Mai. München: R. Oldenbourg Verlag, 1994. 601 S. ISBN 3-486-55964-8.
Urheberrecht: (c) Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München
URL:
http://www.cvce.eu/obj/schreiben_des_deutschen_botschafters_in_washington_an_gerhard_schroder_19_januar_1963de-91233da1-ee27-4a69-889a-ca71358ccbd1.html
Publication date: 14/09/2012
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Botschafter Knappstein, Washington, an Bundesminister Schröder (19. Januar 1963)
114-1/527/63 geheim
Fernschreiben Nr. 188
Citissime
Aufgabe: 19. Januar 1963, 21.00 Uhr
Ankunft: 20. Januar 1963, 04.45 Uhr
Nur für Bundesminister1 und Staatssekretär
Rusk bat mich heute nachmittag kurzfristig zu sich, um nochmals die Sorge der amerikanischen Regierung
über die jüngste Entwicklung zum Ausdruck zu bringen. Zunächst gab er mir Einblick in den gestrigen Brief
des Präsidenten an den Kanzler2, der inzwischen dort vorliegt.
In der Hitze der Auseinandersetzung seien - offenbar von Paris aus - Behauptungen über die Vereinigten
Staaten in die Welt gesetzt worden, die er, Rusk, nur bedauern könne, weil sie falsch seien, was man
teilweise sogar leicht nachweisen könne. Eines dieser Gerüchte enthalte die Behauptung, England und USA
hätten sich in Nassau3 über einen „deal“ zur Lösung der Berlinfrage geeinigt. Er könne nur mit größtem
Nachdruck sagen, daß das nicht wahr sei und daß die Deutschen ihm das glauben könnten. Ein weiteres
Gerücht behaupte, die USA würden in Kürze ihre nuklearen Kräfte aus Europa abziehen. Auch das sei
falsch. Vielmehr hätten die USA in den letzten zwei Jahren eine Bereitstellung großen Stils („major
buildup“) sowohl im konventionellen wie im nuklearen Bereich vorgenommen. Die nuklearen Einheiten, die
NATO zur Verfügung ständen, seien in den letzten zwei Jahren verstärkt und ihre nukleare Feuerkraft sei
verdoppelt worden. Ebenfalls seien die nuklearen Kräfte der USA außerhalb der NATO gewaltig verstärkt
worden. Im konventionellen Bereich sei alles so vorbereitet, daß im Notfall zwei weitere Divisionen
innerhalb von sieben Tagen kampfbereit in Europa stehen könnten.
Die Vereinigten Staaten hätten nun ein großes Anliegen an alle Verbündeten, besonders aber an uns. Wir
sollten doch mithelfen, daß durch die Auseinandersetzungen über das Nassau-Abkommen und über
Englands Eintritt in den Gemeinsamen Markt die große Verpflichtung der Allianz und ihre grundlegende
Einheit nicht gefährdet würden. Sonst würde man selber Moskau einen großen diplomatischen Sieg
zuspielen. Wir sollten doch mäßigend auf alle Verbündeten, vor allem auf Frankreich, zu wirken versuchen.
In diesem Zusammenhang sprach Rusk vom Besuch des Kanzlers in Paris4. Ihm falle eine historische
Aufgabe zu, die nur er allein und niemand anders lösen könne. Nachdem er das deutsch französische
Rapprochement zustandegebracht habe, und angesichts seines entscheidenden Beitrages für ein echt
koordiniertes Verteidigungssystem in der NATO und schließlich als einer der Architekten der europäischen
Einigung müsse er alles tun, um zu verhindern, daß sich aus den jetzigen Auseinandersetzungen eine
Kettenreaktion ergäbe, die am Ende sein eigenes Werk, nämlich die atlantische Verteidigung und die
europäische Einigung, gefährde. Der Kanzler könne und müsse das Abrutschen der Ereignisse („the
downward trend of events“) aufhalten und seinen eigenen, seit anderthalb Jahrzehnten verfolgten Kurs
weitergehen. Alle diese Dinge brachte Rusk in großer Ruhe, aber mit einem deutlichen beschwörenden
Unterton vor.
Im Zusammenhang mit den Brüsseler Ereignissen5 sagte er „I want to express my great appreciation for the
leadership shown by Mr. Schröder in Brüssels. Would you please tell him that.”
Da man hier offenbar mit einer gewissen Nervosität den nächsten Tagen entgegensieht, wäre ich dankbar,
wenn ich möglichst schnell und eingehend über den Verlauf und den Trend der einzelnen Phasen der Pariser
Gespräche unterrichtet werden könnte6.
[gez.] Knappstein
Ministerbüro, VS-Bd. 8475
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1
Hat Bundesminister Schröder am 20. Januar 1963 vorgelegen.
2
Vgl. Ministerbüro, VS-Bd. 8475. Zu diesem Schreiben, in dem Präsident Kennedy sich zur Rolle der MLF innerhalb der
NATO äußerte, vgl. auch OSTERHELD, Kanzlerjahre, S. 180. Für das Antwortschreiben vom 22. Januar 1963 vgl. Dok. 46.
3
Zum Nassau-Abkommen vom 21. Dezember 1962 vgl. Dok. 2, Anm. 2.
4
Zur Elysée-Konferenz am 21./22. Januar 1963 vgl. Dok. 37-39, Dok. 43 und Dok. 44.
5
Zur Sondersitzung des Ministerrats der EWG am 17./18. Januar 1963 vgl. Dok. 31.
6
Vgl. weiter Dok. 49 und Dok. 50 .
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