6. kammer- konzert - Staatstheater Darmstadt

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6.
k a m m e rkon z er t
Strawinsky – Satie – Poulenc – Saint-Saëns – Jandl – Schwitters
Silver-Garburg Klavierduo | Klischat – Schuster
6. Kammerkonzert
Donnerstag, 17. März 2016, 20.00 Uhr
Staatstheater Darmstadt, Kleines Haus
Ernst Jandl (1925–2000)
Talk
Camille Saint-Saëns (1835–1921)
„Kinder und Tiere
verstehen meine Musik
am besten.“
Igor Strawinsky
aus „Karneval der Tiere“ Nr. 3 „Hémiones“. Animaux veloces
(Maultiere. Schnelle Tiere) Presto furioso (1886)
Ernst Jandl
Karawane, La zeechn u bapp
Francis Poulenc (1899–1963)
Sonate pour piano aux quatre mains (1918)
Prélude – Rustique – Final
Ernst Jandl
Andantino, Ohren im Konzert, Viel Vieh
Erik Satie (1866–1925)
La belle excentrique. „Fantaisie sérieuse“ (1920)
Marche franco-lunaire – Valse du mystérieux baiser dans l’œil
(Walzer des mysteriösen Kusses im Auge) – Cancan Grand-Mondain
(High-Societey Can-Can)
Kurt Schwitters (1887–1948)
Ursonate (1923–32)
Igor Strawinsky (1882–1971)
Fünf leichte Stücke für Klavier zu vier Händen (1916–17)
Andante – Espanola – Balalaika – Napolitana – Galop
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Ernst Jandl
Sieben kleine Geschichten, Chanson
Camille Saint-Saëns (1835–1921)
Introduction und Rondo capricciso a-Moll op. 28 (1863)
Pause
Igor Strawinsky (1882–1971)
Le Sacre du printemps (1913). Version für Klavier zu vier Händen
Premier tableau: L’adoration de la terre (Anbetung der Erde)
Introduction Augures printaniers (Die Vorboten des Frühlings).– Danses
des adolescentes (Tanz der Jünglinge) – Jeu du rapt (Das Spiel der
Entführung) – Rondes printanières (Frühlingsreigen) – Jeu des cités rivales
(Kampfspiel der feindlichen Stämme) – Cortège du Sage (Zug des
Weisen) – L’ Adoration de la Terre (Anbetung der Erde) – Danse de la
terre (Tanz der Erde)
Second tableau: Le sacrifice (Das Opfer)
Introduction – Cercles mystérieux des adolescentes (Mystischer Reigen
der jungen Mädchen) – Glorification de l’élue (Verherrlichung der
Erwählten) – Èvocation des ancêtres (Beschwörung der Ahnen) – Action
rituelle des ancêtres (Ritualtanz der Geister der Ahnen) – Danse
sacrale (Opfertanz)
Sprecher Stefan Schuster und Christian Klischat
The Silver-Garburg Piano Duo
Klavier Sivan Silver und Gil Garburg
Ton und Bildaufnahmen sind aus rechtlichen Gründen nicht gestattet.
Bitte schalten Sie Ihre Mobiltelefone aus.
Humor und Frankreich
Man kann ganze Sinfonien und Opern allein auf dem Klavier darstellen:
also wären Pianisten folgerichtig einsame Musiker, gäbe es da nicht die
Möglichkeit, mit anderen Menschen Kammermusik oder zusammen vierhändig oder an zwei Klavieren zu spielen. Jeder, der Klavier gelernt hat,
hat auch diese Erfahrung gemacht, wie es ist, wenn man „vierhändig“ oder
an zwei Klavieren musiziert. Das hat mit dem, was man als Klavierduo
bezeichnet, nur wenig zu tun. Hier haben die beiden gleichberechtigten
Partien den gleichen virtuosen und musikalischen Anspruch. Das Zusammenspiel ist schwierig und heikel. Die wirklich gute Original-Literatur
ist überschaubar, wenn man sie mit der Menge von exzellenten Werken
für Solo-Klavier vergleicht. Ein Klavier-Duo ist eine Kategorie für sich.
In der Vorbereitung des Programms für Darmstadt war das SilverGarburg-Duo mit der Frage „konfrontiert“ worden, eine Auswahl von
Stücken zusammenzustellen, die zu dem Thema „Humor in der Musik“,
dem Spielzeitmotto der Saison 2015/16, passen würde. Nach kurzem
Nachdenken stand die Auswahl fest. Und nun, bei Durchsicht des
fertigen Programms stellt sich die Frage: ist es ein Zufall, dass die Werke
des ersten Teils sämtlich aus dem französischen Kulturkreis stammen?
In seinem „Carneval der Tiere“ karikierte Saint-Saëns Zeitgenossen.
Es sind beileibe keine Kinderstückchen, die Saint-Saëns in seiner „Grande
fantaisie Zoologique“ da schrieb. Wen er mit seinen Werken satirisch
aufs Korn nahm, ist dem heutigen Zuhörer nicht mehr geläufig. Aber dass
man bei „Esel“, wie in der Nr. 3 des „Carneval“, nicht nur an Tiere denken
muss, ist immer noch Allgemeingut. Hatte Camille Saint-Saëns auch im
Alter Humor? Die Orchesterversion des „Carneval“ ließ er in der Schublade,
sie erschien erst 1921, nach seinem Tod. 1835 geboren (und nur zwei Jahre
jünger als Brahms), galt er später als unverbesserlich altmodischer Kauz.
„Niemand kennt die Musik der ganzen Welt besser als Monsieur SaintSaëns“, lobte Claude Debussy seinen Komponistenkollegen, und nur wenige
haben ein alle Gattungen abdeckendes Gesamtwerk hinterlassen
wie er. Das Geigenrepertoire hat Saint-Saëns dabei besonders bedacht,
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auch wegen seiner Freundschaft mit dem Virtuosen Pablo de Sarasate.
Er zeigte Saint-Saëns, was auf dem Instrument technisch möglich ist – ihm
widmete er auch sein drittes Violinkonzert und „Introduction et Rondo
capriccioso“, opus 28. Das effektvolle Bravourstück besitzt viel spanisches
Kolorit, was auch in der Version für Klavierduo zu hören ist. Poulencs
Sonate entstand drei Jahre vor dem Tod von Saint-Saëns und ist auch ein
Jugendwerk. Die Zeiten hatten sich gewandelt. Von Igor Strawinsky und
Maurice Chevalier (dem Chansonnier) war er ebenso beeinflusst wie vom
französischen Vaudeville. Poulenc gehörte nach dem Ersten Weltkrieg
zu der Gruppe junger Komponisten um Erik Satie und den Schriftsteller
Jean Cocteau, genannt „Les Six“, deren Mitglieder den Impressionismus
zugunsten einer größeren Einfachheit und Klarheit ablehnten. Der Stil der
„Six“ bestimmte Poulencs Musiksprache. Er übernahm Techniken der
Dadaisten und ließ sich von populären Melodien beeinflussen. Charmant
und doch irgendwie „gewöhnlich“ zu schreiben, erschien ihm wichtiger,
als die ach so innerliche Gefühlswelt der Romantik. Er war ein herausragender Pianist, und die Klaviermusik dominierte Poulencs frühe Werke.
Erst später wurde er ernster …
Ist Humor also doch ein Privileg der Jugend? Nicht so bei Erik Satie. Satie
ist der Urvater allen musikalischen Humors um 1900. Warf man ihm vor,
seine Musik sei formlos, schrieb er ein „Stück in Form einer Birne“. Über
den damals schon grassierenden Sport-Wahn macht er sich mit den
Miniaturen „Sports et Divertissements“ lustig. Versenkte sich die Musikwelt
in Bayreuth zu Wagner-Andachten, so schrieb er mit einer „Musique
d’ Ameublement“ Werke, die man bewusst nur nebenbei hören, also wie
Möbelstücke, die herumstehen, wahrnehmen sollte. Sein Einfluss bei
den Kollegen wie Debussy war immens. Und richtig ernst nahm er seine
Rolle als Künstler auch nicht. Seine „Memoires d’une Amnesique“
(die Memoiren eines Gedächtnislosen) sind auch heute noch eine herrliche
Lektüre über den Unsinn der meisten Künstlerbiographien.
„La belle Excentrique“ ist eigentlich eine Tanz-Suite für ein kleines
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Orchester, eine Parodie auf Klischees der Tanz-Salons der zwanziger Jahre.
Geschrieben zwischen Juli und Oktober 1920, besteht die Suite aus den
Tänzen Marsch, Walzer und Can-Can. Das Stück war in Auftrag gegeben
worden durch die Tänzerin und Choreographin Élisabeth Toulemont,
die unter dem Bühnen-Namen Caryathis auftrat. Von diese Künstlerin sprach
man in den Klatschspalten, auch, weil sie zu herrlich skandalösen Partys
lud. Man war eben in Paris. Bei den Proben zur Uraufführung assistierte
übrigens Poulenc … Hat(te) man in Frankreich doch mehr Humor?
Die Wahrheit über Dada
Mit dem Steckenpferd fing alles an. „Dada“, dieser naive Kindeslaut, in
dem so vieles liegt und doch auch nichts. Das erste Wort einer Kunst,
die keine sein wollte – sich als Anti-Kunst sah. Diese Einstellung machte
der Dada-Trommler Richard Huelsenbeck deutlich:
„Dada bedeutet nichts. Wir wollen die Welt mit nichts verändern.“
Aber ist es möglich, nichts zu sein? Kann es eine Kunst geben, die keine
ist? Oder ist alles Kunst?
1916. Der Erste Weltkrieg tobt. Viele sind auf der Flucht in die neutrale
Schweiz. Zürich ist der Anlaufpunkt vieler, auch der des bettelarmen
Künstlerpaares Hugo Ball und Emmy Hennings. Im Mai des Vorjahres aus
Deutschland gekommen, hielten sie sich mit Varieté-Auftritten über
Wasser, bevor Ball am 5. Februar 1916 in der Spiegelgasse das „Cabaret
Voltaire“ eröffnete. Weitere Mitglieder fanden sich durch Balls Pressenotiz
aus der Neuen Zürcher Zeitung. In dieser hatte er sich an jene aus der
„jungen Künstlerschaft Zürichs“ gewandt, die „sich ohne Rücksicht auf eine
besondere Richtung mit Vorschlägen und Beiträgen“ bei ihm einfinden
wollten. Der so gebildeten Gruppe gehörten Tristan Tzara, Richard
Huelsenbeck, Hans Arp und Marcel Janco an. Und der erste Aufreger ließ
nicht lange auf sich warten: Am 30. März 1916 brachten Huelsenbeck,
Tzara und Janco ein „Poème simultan“ auf die Bühne. Diese mehrsprachige
Wortkomposition in Deutsch, Englisch und Französisch war das erste
Dada-Erdbeben.
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Als eigentliche Urszene des Dadaismus zählt dennoch ein anderer Auftritt,
nämlich Hugo Balls erster Vortrag. „gadji beri bimba glandridi laula lonni
cadori …“ schallte es am 23. Juni 1916 aus dem Mund des „magischen
Bischofs“ Hugo Ball, dessen kubistisches Kostüm aus Karton samt Schamanenhut Sinnbild der Bewegung wurde. Drei Wochen später verlas er dann
das Eröffnungs-Manifest der 1. Dada-Soirée im Zunfthaus „Zur Waag“:
„Wie wird man berühmt? Indem man Dada sagt. Mit edlem Gestus
und mit feinem Anstand. Bis zum Irrsinn, bis zur Bewusstlosigkeit. Wie
kann man alles Aalige und Journalige, alles Nette und Adrette, alles
Vermoralisierte, Vertierte, Gezierte abtun? Indem man Dada sagt.“
Er wolle keine Worte, die andere erfunden haben. Er wolle seinen eigenen
Unfug und Vokale und Konsonanten dazu, die diesem entsprächen.
Und damit machte er deutlich, wofür er und seine Dada-Kollegen standen:
Dada, die Anti-Kunst, die Zerstörung von gefestigten Idealen und Normen
in Kunst und Gesellschaft, der Zufall als Schöpfungsprinzip und der Bruch
mit Tabus. Doch Dada hatte noch einen anderen, tieferen Sinn: Es war
eine Antwort auf den Irrsinn ein Protest und die künstlerische Reaktion auf
die Erschütterungen des Krieges. Die Dadaisten stellten der Zerstörung
des Ersten Weltkrieges und der daraus entstandenen kulturellen Leere ihre
freie, respektlose Form des Ausdrucks entgegen. Auf den Krieg schien ihnen
die vollständige Verweigerung aller Regeln und die Durchbrechung der
bisherigen Schranken die angemessene Antwort und so proklamierten sie:
„Nicht Dada ist Nonsens – sondern das Wesen unserer Zeit ist Nonsens.“
Aber woher kam eigentlich dieses Wort: „Dada“? Auf einen Namensgeber
konnten sich die Dadaisten nicht einigen. So behauptete Hugo Ball im
„Dadaistischen Manifest“, dass Dada aus dem Lexikon stamme. Im Französischen bedeute es „Steckenpferd“, im Rumänischen „Ja, wahrhaftig, Sie
haben Recht, so ist es“. Hans Arp dagegen nannte in einer „Deklaration“
Tristan Tzara den Erfinder. Arp sei mit seinen 12 Kindern dabei gewesen
und habe gerade eine Brioche im linken Nasenloch getragen, als Tzara zum
ersten Mal dieses Wort im Café Terrasse nannte. Johannes Baader sollte
jedenfalls recht behalten mit seinem Diktum:
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„Was Dada ist, wissen nicht einmal die Dadaisten, sondern nur der
Oberdada – und der sagt es niemandem!“.
Doch die gewünschte Undefinierbarkeit wurde schnell zu einem Problem.
Denn jede Art von Kunst hat ihre Schemata. So zeichnete sich das Lautgedicht dadurch aus, dass die Wörter in phonetische Silben zerlegt wurden.
Durch das Zusammenfügen dieser Laute zu einem rhythmischen Klangbild wurde die Sprache ihrer Funktionalität beraubt – die Silben selbst
standen nun im Vordergrund. Eine Steigerung dieser Form war das Simultangedicht, das von mehreren Personen gleichzeitig aufgeführt wurde,
wodurch sich die verschiedenen Beiträge zu einem frenetischen Stimmengewirr überlagerten. Als dritte Gruppe wurde das Zufallsgedicht eingesetzt, dessen Herstellungsprinzip schon im Namen erklärt ist.
Zu Beginn lösten die Veranstaltungen der Dadaisten noch den erwünschten Tumult im Publikum aus, es kam teils sogar zu Festnahmen der Künstler.
Mit den steigenden Erwartungen der Zuhörer, sich durch Provokationen
unterhalten zu lassen, verloren diese jedoch bald ihre Wirkung und liefen
ins Leere. Das sarkastische Lachen Dadas, von dem die Dadaisten gerne
sprachen, verkehrte sich in das vergnügte Lachen des Publikums.
Und so bedeutete die Festigung des Dadaismus gleichzeitig seine Vernichtung. Die „Urdadaisten“ zogen sich aus Zürich zurück, gründeten
aber eigene Dada-Gruppen. Spätestens die Abreise Tzaras aus Zürich im
Januar 1920 bedeutete das Ende des dortigen Dadaismus. Zu diesem Zeitpunkt hatte der internationale Siegeszug Dadas in Berlin, Paris, New York
aber auch Hannover und Köln gerade erst seinen Höhepunkt erreicht.
Aber ist Dada nun zur Kunst geworden? Zu dem, was es nie sein wollte?
Fest steht, dass der Dadaismus noch da ist. Seine ständige Neuerfindung
in den verschiedensten Kunst- und Musikströmungen verhindert, dass er
museal wird. Doch Anfang und Ende sind große Worte, denn:
„Bevor Dada da war, war Dada da“.
Hanneliese Lenk
190 waren die Beziehungen zwischen Russland und Frankreich vielfältig.
Die beiden Länder waren politische Bündnispartner und pflegten einen
kulturellen Austausch, der sich auf seinen Höhepunkt zubewegte, als Serge
Diaghilev auf den Plan trat. Nachdem er schon in Russland als Organisator
von Kunstausstellungen aufgefallen war, widmete er sich dem Export von
russischer Kunst, ab 1906 speziell nach Paris. 1907 organisierte er die Konzerte russischer Musik mit der Beteiligung von Rimsky-Korsakow, Glasunow,
Skrjabin, Rachmaninow, Nikisch und Schaljapin. Obwohl Musiker wie
Dukas und Debussy die Bedeutung der russischen Musik kannten, war doch
die Erstaufführung von Mussorgskys „Boris Godunow“ 1908 für die meisten
Franzosen eine Offenbarung: sie glaubten in diesem Werk, das von Rimsky
stark bearbeitet, ja verfälscht worden war, den Inbegriff dessen zu entdecken, was Debussy „die russische Seele“ nannte. Unter Diaghilev formierte
sich das „Russische Ballett“, das nicht nur die denkbar besten Tänzer wie
u.a. Nijinsky, die Pawlowa, die Karsawina und Ida Rubinstein präsentierte,
sondern auch den Rahmen für viele denkwürdige Uraufführungen von
Werken gab, die eigens von Diaghilev mitkonzipiert worden waren. Der
Stil des Balletts internationalisierte sich zusehends während der zwanziger
Jahre, und viele Künstler Westeuropas beteiligten sich an den meist
neuartigen Produktionen. Doch die weitaus stärkste Persönlichkeit des
Balletts war für alle Igor Strawinsky, der 1910 mit dem „Feuervogel“
Triumphe feierte, die sich ein Jahr darauf mit „Petruschka“ wiederholten.
Die Übereinstimmung zwischen Strawinskys Schaffen und dem Geschmack
des Pariser Publikums, schien vollkommen zu sein, bis 1913 das dritte
Ballett, „Le Sacre du printemps“, den bis dahin heftigsten Skandal der
Musikgeschichte auslöste.
An diesen Tumult im brandneuen Théatre des Champs-Elysees, erinnerte
sich Jean Cocteau: „Ich sah Maurice Delage (den Komponisten), der vor
Entrüstung puterrot angelaufen war, den kleinen Maurice Ravel, der sich
aufplusterte wie ein Kampfhahn, Leon-Paul Fargue, den Dichter, der die
zischenden Logeninsassen mit vernichtenden Bemerkungen überschüttete.
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Ich weiß nicht, wie es möglich war, dass dieses Ballett in einem solchen
Aufruhr zu Ende getanzt wurde? Ich stand zwischen den beiden mittleren
Logen, fühlte mich im Auge des Hurrikans ganz wohl und klatschte mit
meinen Freunden. (…) So hörten wir dieses Geschichte machende Werk
inmitten eines solchen Tumults, dass die Tänzer das Orchester nicht mehr
hörten und dem Rhythmus folgen mussten, den ihnen der stampfende und
schreiende Nijinsky in den Kulissen schlug. (…)
Man müsste tausend Nuancen von Snobismus, Übersnobismus, Gegensnobismus aufzählen, die für sich allein ein ganzes Kapitel benötigen
würden. Das Publikum spielte die ihm zugedachte Rolle, es empörte sich
sofort. Man lachte, spuckte, pfiff, ahmte Tierlaute nach, und vielleicht
hätte man es schon nach einiger Zeit aufgegeben, wenn nicht die Menge
der Ästheten und einige Musiker in ihrem Übereifer das Publikum in
den Logen beschimpft und sogar geschubst hätte. Der Lärm degenerierte
zum Handgemenge. Stehend in ihrer Loge, mit verrutschtem Diadem,
schwang die alte Gräfin de Pourtales ihren Fächer und schrie, ganz rot im
Gesicht: ‚Das ist das erste Mal seit sechzig Jahren, dass man wagt, sich
über mich lustig zu machen‘. Die brave Dame war ehrlich, sie glaubte an
ein abgekartetes Spiel. (…) ‚Le Sacre du printemps‘ wurde im Mai 1913
in einem neuen Saal ohne Patina gespielt, der zudem noch zu bequem und
kalt war für ein Publikum, das an Gefühlsaufwallungen in engen Sitzreihen,
in einer Hitze aus rotem Samt und Gold gewohnt war. Ich glaube nicht,
dass das ‚Sacre‘ in einem weniger bombastischen Theater adäquater aufgenommen worden wäre, aber dieser luxuriöse Saal symbolisierte im
ersten Augenblick den Irrtum, der darin bestand, dass man ein kräftiges
und jugendliches Werk mit einem dekadenten Publikum konfrontierte,
mit einem verweichlichten Publikum, das in den Girlanden-Stil Ludwig
XVI, den weichen Diwans und den Kissen von einem Orientalismus
ruhte, für den man (sonst) das Russische Ballett tadeln muss. Unter diesen
Umständen macht man einen Verdauungsschlaf in einer Hängematte,
man verjagt das wahre Neue (…) Eine Provinz schlimmer als die Provinz,
im Herzen von Paris …“
Strawinsky „Sacre“
Strawinsky „Sacre“
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Die Presse äußerte sich nach der Uraufführung meist negativ: wenn nicht
gerade eine Musik voll Abscheu verurteilt wurde, die man ja wegen des
Tumultes nicht richtig hatte hören können, so herrschte doch in den Berichten eine Mischung aus Bewunderung und Hass vor, die gerade jene
Faszination ausmachte, der das Publikum gegen seinen Willen ausgesetzt
war. Der Kritiker Leon Vallas prägte zwar das Bonmont vom „Massacre
du printemps“, jedoch wusste er sich sehr klug über die Musik auszudrücken,
die nicht nur von Cocteau, sondern auch von einigen anderen als „urgeschichtlich“ eingestuft wird. Es war wohl mehr ein Wunschbild, eine
Sehnsucht nach ursprünglicheren Formen menschlichen Lebens – nach
all den Verfeinerungen des Impressionismus und dem Pessimismus der
wagnerschen Musikdramen –, was die Leute auf „Sacre“ projizierten, der
im Grunde genommen ein höchst artifizielles Werk ist. Die Reduktion der
Melodien auf einige tatsächlich sehr primitiv wirkende Formeln wird längst
wettgemacht durch die äußerst kunstvolle rhythmische Struktur und das
Raffinement der Orchestration, das weit über das bei Rimsky und
Debussy Gewohnte hinausgeht.
Als 1914 „Sacre“ im Konzert ohne alle skandalösen Begleitumstände
gehört werden konnte, entdeckte Pierre Lalo, dass die Musik weder hässlich
noch barbarisch sei. Strawinsky feierte nun als Meister des Klangs und
des Rhythmus Triumphe. Der Skandal des vorausgegangenen Jahres wurde
noch erwähnt, doch er war schon ein Stück Musikgeschichte. 1920 brachte
Diaghilev den „Sacre“ in einer neuen choreographischen Version von
Massine heraus, die nun sehr frei war und keine durchlaufende Handlung
mehr aufwies. Ohne den ganzen ethnologischen Ballast von altrussischen
Kostümen, der noch die Uraufführung ausgezeichnet hatte, traf nun „Sacre“
auf ein Publikum, das sich überhaupt nicht mehr feindselig verhielt
und den „tollen Orkan dieser Musik“ genoss.
Das Jahrhundertereignis „Le Sacre du printemps“ wurde vom Komponisten
zunächst als Vision einer rituellen Frühlingshandlung gesehen, als er an
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den letzten Seiten seines Feuervogel-Balletts arbeitete: Weise Männer sitzen
im Kreis und schauen auf den Todestanz eines jungen Mädchens, das
geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen. Unversehens hatte sich in ihm als Beigabe intensiver kompositorischer Arbeitsprozesse das Sujet eines neuen Balletts gebildet. Es sind Bilder aus dem
heidnischen Russland, zusammengehalten von einer Hauptidee: dem
Geheimnis des großen Impulses der schöpferischen Kräfte des Frühlings.
Es gibt keine Handlung, aber eine choreographische Sukzession.
Eine heidnische Komponente soll und kann man dem „Sacre“ nicht
austreiben, die animalische Freude an kraftvollen Bewegungen und
der Fanatismus der jäh wiederholten Gebärden machen aus diesem Werk
ein berauschendes Fest der Vitalität und Lebenswut, das gerade in der
Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als so viele Ideale des alten Europa zerbrochen waren, voll verstanden und bejaht wurde. Der Skandal um „Sacre“,
der Strawinsky auch den Ruhm eines Neutöners eintrug, um den sich die
Neugierigen und jugendlich Begeisterungsfähigen scharten, hat sich
bei späteren Werken nicht wiederholt. In der endgültigen Fassung ist das
volkstümliche Element zurückgedrängt worden. Was den Parisern beim
ersten Kontakt mit der Musik Strawinskys als typisch russisch vorgekommen sein musste, ist nicht das Russland, in dem sich ein durchschnittlicher Russe wiedererkannt hätte. Es handelt sich dabei, außer bei den
unüberhörbaren rhythmischen Impulsen, um einige Intervallkonstellationen im Bau der Melodien, die auf eine nicht zu definierende Urzeit
der Menschheit zurückgehen und nicht einem bestimmten, engstirnigen
Nationalismus zugeschrieben werden können. So klingt Strawinskys
„Sacre“ irgendwie russisch und ist doch universal, er mag die Pariser zum
Heimweh nach ursprünglicher Lebensfreude inspiriert haben und er ist
doch unverwechselbar modern, ein authentischer Ausdruck des heutigen
Menschen, der in einer brutalen und technisierten Welt überlebt, ohne zu
resignieren. (Theo Hirsbrunner)
Strawinsky „Sacre“
Strawinsky „Sacre“
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S i lv e r - G a r b u r g K l av i e r d u o
Strawinsky „Sacre“
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Sacre ist: Abschaffung des Prinzips der Entwicklung, die Eliminierung
der Wertigkeit von Akkordfunktionen, die Gestaltung von Sätzen auf
der Basis reihender Motiv-Variation und über die Ablösung der homophonen oder polyphonen Anlage von Satzstrukturen durch das Prinzip
der Schichtung mehrerer Material- und Gestaltungsebenen. Dass „Le
Sacre du printemps“ bis heute eine größere Karriere als OrchesterPartitur machte, hat mit seiner immensen Energie zu tun. Die größten
Choreographen haben sich dem Stück angenommen. Mary Wigman
(1957), Maurice Béjart (1959), John Neumeier, Valery Panow, Martha
Graham und Pina Bausch.
Pierre Boulez schrieb: „Die überragende Bedeutung des Rhythmus’
schlägt sich nieder in der Reduktion von Polyphonie und Harmonik auf
untergeordnete Funktionen. Strawinsky hat die Richtung des rhythmischen Impulses geändert. Bis dahin beruhte Musik wesentlich auf einem
Grund-Metrum. Innerhalb dieses gleichförmigen Ablaufs wurden
„Konflikte“ produziert: Überschneidungen, Überlagerungen und Verschiebungen rhythmischer Formeln, die meist untrennbar mit melodischen
Einfällen und harmonischen Funktionen zusammenhingen. So ergab sich
eine Art Ordnung und Regelmäßigkeit, die durch momentan auftretende
Fremdkörper gestört wurde. Bei Strawinsky hingegen, und besonders im
„Sacre“, existiert zunächst nur ein fast körperlich wahrnehmbarer
Grundpuls. Dieser Grundpuls, der einer vorgegebenen Zählzeit entspricht,
wird nun vervielfältigt, teils regelmäßig, teils unregelmäßig. Dabei
entstehen natürlich die erregendsten Wirkungen durch die unregelmäßige
Folge, das Phänomen des Unvorhersehbaren innerhalb eines vorhersehbaren Zusammenhangs“.
Gernot Wojnarowicz
In der hohen, oft unterschätzten Kunst des Duospiels auf ein oder zwei
Flügeln setzen Sivan Silver und ihr Partner Gil Garburg Maßstäbe:
Publikum und Kritiker feiern sie, hochkarätige Orchester, Festivals und
Veranstalter laden sie immer wieder erneut als Gäste ein. Sie sind in der
Carnegie Hall und im Lincoln Center, im Wiener Musikverein, im Sydney
Opera House und in der Berliner Philharmonie aufgetreten, haben in rund
70 Ländern auf fünf Kontinenten konzertiert und spielen regelmäßig mit
Orchestern wie dem Israel Philharmonic Orchestra, der St. Petersburger
Philharmonie und der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen.
Ihre Aufnahme von Mendelssohns Konzerten für Klavierduo und Orchester mit der Bayerischen Kammerphilharmonie unter Christopher Hogwood,
um nur eine von mehreren CDs zu erwähnen, nannten der Bayerische
Rundfunk „atemberaubend“, die Süddeutsche Zeitung „höchst spannend“
und die Zeitschrift Rondo schlicht „brillant“. Der Kritiker der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung schwärmte von der „lyrischen Empfindsamkeit und
der hinreißenden technischen Meisterschaft“ des Duos und meldete, dass
S i lv e r - G a r b u r g K l av i e r d u o
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man „derart spontane Bravorufe“ am Ende eines Konzerts nur selten
erlebe. Und ein Kollege vom Independent formulierte als Fazit:
„Was für ein wundersamer Abend!“
Die beiden Israelis, die in Berlin wohnen, gastieren in Nord- und Lateinamerika, in Ostasien und Australien und Neuseeland, in Israel und
zahlreichen Ländern Europas – mit Orchestern oder in Klavierabenden.
Tourneen mit dem Münchner Kammerorchester, dem Israel Kammerorchester und der Philharmonie Brünn standen in ihrem Kalender. Im
Frühjahr 2015 erschien bei ihrem neuen Exklusivpartner Berlin Classics
„Petruschka“ und „Le Sacre du Printemps“ von Strawinsky für Klavier zu
vier Händen. Eine weitere CD wird sich den letzten Werken Schuberts
widmen. Sivan Silver und Gil Garburg waren auf dem Weg in vielversprechende Solokarrieren, ehe sie privat – und dann auch am Klavier – ein
Paar wurden. Dabei sind die Herausforderungen, die das Duospiel bietet,
enorm. Sechs Stunden am Tag arbeiten die erklärten Perfektionisten mit
Hingabe an ihrem „gemeinsamen Atmen“ und an Details, die man oft nicht
hört – und die doch den Unterschied ausmachen. Das funktioniert nur
mit blindem Verständnis. „Jeder von uns drückt sein eigenes und zugleich
ein gemeinsames Empfinden aus. Wir sind eins und dennoch im Dialog
miteinander – das ist Magie“, sagt Sivan Silver. 2014 berief die Kunstuniversität Graz sie auf eine der wenigen Professuren für Klavierduo. Zuvor
unterrichteten Silver-Garburg an der Hochschule Hannover, wo sie selbst
als Schüler von Arie Vardi 2007 ihr Studium abschlossen.
Sivan Silver und Gil Garburg reizt der permanente Wechsel zwischen
Duoabenden und Orchesterkonzerten, zwischen intimen Stücken, die
sie als Einheit fordern, dialogisch angelegten Werken und solchen, in denen
sie an zwei Flügeln die Klangmacht eines ganzen Orchesters evozieren.
„Es ist leicht, als Klavierduo mit Virtuosität Effekt zu machen. Aber das
allein ist uns viel zu wenig. Wir wollen die Zuhörer mit unserer Musik
im Herzen berühren.“ www.silvergarburg.com
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Christian Klischat, 1969 in Kirchheimbolanden geboren, aufgewachsen
in Habitzheim bei Darmstadt, erlebte im Staatstheater zum ersten Mal die
schönen Künste. Seine Lebensreise führte ihn dann nach Basel, Bonn – sei
es mit dem E-Bass in der Hand in diversen Rockbands oder in Jobs: vom
Bioladenverkäufer, Bauarbeiter, Altenpfleger bis hin zum Tongießer. Nach
der Schauspielausbildung an der Mainzer-Theaterwerkstatt ging es von
Senftenberg nach Berlin, wo er die letzten 14 Jahre mit seiner Familie lebte.
In der Hauptstadt baute er sein Basiscamp auf, pendelte von da aus nach
Potsdam, Weimar, Wien, Zürich, Worms und Rudolstadt durch die Theater,
Kirchen und andere Spielstätten. Auch im Kino ist er zu sehen u.a. beim
„Weißen Band“ oder im Fernsehen beim „Tatort“, bei diversen „SoKos“ sowie
als Hausmeister Herbert bei der Serie „Siebenstein“. Er wirkt bei verschiedenen Hörspielen mit und leiht beim interaktiven Internet-Hörspiel „Kwerks,
die Kunstwerke“ allen agierenden Figuren seine Stimme. Christian Klischat
arbeitet u.a. mit Michael Haneke, Götz Brandt, Paulus Manker, Uwe Eric
Laufenberg und Dieter Wedel. Sein Anliegen ist immer wieder der institutionell-staubfreie Spagat zwischen Theater und Theologie, zwischen Kunst
und Kirche. Hier ist er deutschlandweit in verschiedenen Kirchen mit
seinen eigenen Produktionen zu erleben. Seit der Spielzeit 2014/15 ist er
festes Ensemblemitglied am Staatstheater Darmstadt.
Stefan Schuster wurde 1976 in Aalen geboren und erhielt seine Schauspielausbildung an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig.
Während der Ausbildung arbeitete er bereits am Schauspiel Leipzig mit
Konstanze Lauterbach und Peter Kastenmüller. Sein erstes Engagement
führte ihn 2000 bis 2003 ans Düsseldorfer Schauspielhaus, wo er auf Regisseure wie Jürgen Gosch, Igor Bauersima und Peter Hailer traf. Weitere
Stationen waren das Stadttheater Gießen und im Jahr 2014 die Burgfestspiele Bad Vilbel. Wichtige Rollen waren dort unter anderem Mackie
Messer in der „Dreigroschenoper“, Truffaldino im „Diener zweier Herren“
und der „Tempelherr“ in „Nathan der Weise“. Seit 2005 gehört er zum
Ensemble des Staatstheaters Darmstadt, wo er unter anderem „Peer Gynt“
in der Regie von Axel Richter und den „Valmont“ in Heiner Müllers
„Quartett“ in der Regie von Patricia Benecke spielte.
Konzerthinweise
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5. Sinfoniekonzert
Sonntag, 3. April 2016, 11.00 Uhr, Großes Haus
Montag, 4. April 2016, 20.00 Uhr, Großes Haus
Werke von Hindemith, Prokofjew, Zimmermann, Mozart und Haydn
Das Staatsorchester Darmstadt
Sprecher Mathias Znidarec Dirigent Simon Gaudenz
7. Kammerkonzert
Donnerstag, 07. April 2016, 20.00 Uhr, Kleines Haus
Werke von Brahms und Ligeti
Violine Andrej Bielow Horn Felix Klieser Klavier Kit Armstrong
4. Konzert Soli fan tutti
Sonntag, 10. April 2016, 11.00 Uhr, Großes Haus
Werke von Glinka, Ravel und Martinů
Mitglieder des Staatsorchesters
Impressum
Spielzeit 2015 | 16, Programmheft Nr. 26 | Herausgeber: Staatstheater Darmstadt
Georg-Büchner-Platz 1, 64283 Darmstadt, Telefon 06151. 2811-1 |
Intendant: Karsten Wiegand | Geschäftsführender Direktor: Jürgen Pelz |
Redaktion und Texte: Gernot Wojnarowicz | Mitarbeit und Originalbeitrag zu
Dada: Hanneliese Lenk | Fotos: Regina Recht | Zur Aufführung der Werke
von Ernst Jandl: Ernst Jandl, poetische Werke von 6 Bänden (Neuausgabe) hrsg.
v. Klaus Siblewski ©2016 Luchterhand Literaturverlage, München in der
Verlagsgruppe Random House GmbH | Sollte es uns nicht gelungen sein, die Inhaber
aller Urheberrechte ausfindig zu machen, bitten wir die Urheber, sich bei uns zu melden |
Gestalterisches Konzept: sweetwater | holst, Darmstadt |
Ausführung: Hélène Beck | Herstellung: Drach Print Media, Darmstadt
„Denn Kunst
ist nichts anderes als
Gestaltung mit
beliebigem Material.“
Kurt Schwitters
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