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Edward Bond
Coffee
Der Balanceakt
»Ich arbeite auf der Landkarte der Zukunft«
Deutsch von Brigitte Landes
Originaltitel: The Balancing Act
Deutsch von Brigitte Landes
Edward Bond im Gespräch
Krieg hat die Städte überzogen. Eine Frau ist mit ihrer
kleinen Tochter in die Wälder geflohen. Weil vor langer Zeit jedwede Nahrung versiegt ist, sehnen Mutter
und Tochter den Tod herbei. Auch Nold und Gregory,
zwei Männer aus der Stadt, die sich in den Wäldern
verirrt haben, können ihren Hunger nicht stillen. Bevor Nold zu seinem Haus zurückgehen kann, um die
letzten Vorräte zu retten, hat sie der Krieg eingeholt.
Aus Nold und Gregory werden Soldat und Kommandant
eines Erschießungskommandos. Während die anderen
in den täglichen Massenexekutionen ihren Zynismus
ausleben, beginnt Nold zu revoltieren, als er unter den
Opfern die beiden Frauen aus den Wäldern wiedererkennt. Er tötet seine Kameraden und Gregory und rettet
damit Mutter und Tochter vor der Exekution.
Edward Bonds radikales Kriegs- und Endzeitszenario
setzt dort ein, wo eine Geschichte längst nicht mehr
erzählt werden kann, weil mit der Zerstörung alles
Menschlichen auch die Sprache in Frage gestellt ist.
(3 D, 7 H)
Die Welt ist in schlechtem Zustand. Sie ist aus dem
Gleichgewicht geraten. Kriege, Bomben, zu viele Menschen, Militär. Viv will die Welt vor ihrer Zerstörung
bewahren. Verbarrikadiert in einem alten Abbruchhaus bewacht sie die einzige Stelle, die die Welt noch
zusammenhält. Ein größenwahnsinniger Bauleiter, für
den Schokoladenkekse die letzte Bastion menschlicher
Zivilisation sind, schafft Platz für »ein paar richtig hübsche Eigenheime«. Er ist ein Meister der Zerstörung,
ein »Abrissexperte«. Kann Vivs Freund Nelson da noch
etwas bewirken? Er übernimmt Vivs Mission und begegnet dabei den skurrilsten Gestalten. Einem einbeinigen Dieb, einer alten Frau, die von dem Bus überfahren
wird, auf den sie seit Ewigkeiten gewartet hat, einer
Sozialarbeiterin, welche die Hilflosigkeit der Menschen
aufs tiefste verabscheut. Drehen jetzt alle durch? Der
Versuch, die aus den Fugen geratene Welt zu retten, gerät zur Groteske. (4 D, 3 H)
Edward Bonds Stücke erlebten jüngst eine Renaissance,
die 2011 mit Saved (Gerettet) im Lyric Hammersmith
und damit der ersten großen Produktion des Stückes
auf einer Londoner Bühne nach 25 Jahren eingeleitet
wurde. Kritik und Publikum waren begeistert angesichts der Aktualität und der aufrüttelnden Kraft des
Bühnenklassikers, der bei seiner Uraufführung 1965
wegen der expliziten Gewaltdarstellung einen veritablen Theater- und Justizskandal auslöste. Heute lächelt
Bond über diesen Urknall seiner Dramatikerkarriere:
Seine Stücke seien stets als brutal beschrieben worden,
dabei enthielten sie zusammen weniger Gewalt als eine
einzige Folge einer gewöhnlichen TV-Serie.
»Meine Stücke sind keine kommerziellen Produkte. Ich
schreibe nicht für den Markt. Mit meinem Schreiben geht
es mir um das Seelenheil.« – So klar und bestimmt, unzeitgemäß programmatisch und ungebrochen widerständig beschreibt der Dramatiker Bond sein ästhetisches
Programm. Nach wie vor sei man von jeder gesellschaftlichen Gerechtigkeit weit entfernt. »Wir haben Gesetze,
aber keine Gerechtigkeit.« Im Drama müsse es immer um
soziale Gerechtigkeit gehen, sagte Edward Bond in einem
Interview mit der britischen Zeitung The Guardian Anfang 2012. Theater sei als Gattung nach wie vor wie keine
andere Kunstform dazu geeignet, gesellschaftliche Widersprüche bewusst werden zu lassen. Das erneute Interesse
des britischen Theaters an den Stücken des 78-jährigen
Dramatikers war uns Anlass für eine Begegnung mit dem
sich nach wie vor politisch einmischenden Autor.
Edward Bond, 1934 geboren, schrieb 1956 erste Gedichte und
Stückentwürfe und trat 1960 einer Dramatikergruppe um John Osborne,
Arnold Wesker und John Arden bei. 1962 wurde Bonds erstes Stück, The
Pope’s Wedding (Die Hochzeit des Papstes), in London uraufgeführt. Sein
zweites Theaterstück, Saved (Gerettet), provozierte einen der größten
Skandale der britischen Theatergeschichte. Große Erfolge wurden Anfang
der 1970er Jahre seine Lear-Bearbeitung und das Stück The Sea (Die
See). In den darauffolgenden Jahrzehnten entstanden zahlreiche Stücke,
Opernlibretti für Hans Werner Henze, Bond arbeitete an Theatern, für den
Film (u.a. Mitarbeit am Drehbuch zu Antonionis Film Blow-up) und das
Fernsehen. Edward Bond lebt in der Nähe von Cambridge.
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Foto: holger-andre.de
Uraufführung: 12. Mai 2000, Théâtre National de la Colline,
Paris. Regie: Alain Françon
Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung
Uraufführung: 13. Oktober 2003, Big Brum Theatre,
Birmingham. Regie: Chris Cooper
Frei zur deutschsprachigen Erstaufführung
Nina Peters: In einer Rede, die Sie im Sommer 2012 vor
Studenten der Ruhr-Universität in Bochum hielten, sagten Sie: »When you are walking on the stage, you walk
on yourself.« Welche Rolle hat der Zuschauer im Theater?
Edward Bond: Wir müssen zuerst verstehen, was Drama
bedeutet. Das Drama selbst ist nicht kompliziert, es gibt
nur viele falsche Vorstellungen davon, die beiseitegeräumt werden müssen, bevor man die Einfachheit sieht.
Wir sind die »dramatische Gattung«: das heißt, wir werden uns unser selbst bewusst, indem wir unser Leben,
von der Wiege bis zum Grab, dramatisieren. Die Mächtigen nutzen Ideologie, um diesen Prozess zu kontrollieren.
Mir wird nachgesagt, dass ich Menschen dazu auffordere,
ihr Selbstverständnis und das ihrer Gesellschaft auf den
Kopf zu stellen, um die Realität anders zu sehen. Dabei
ist das doch der Zweck von Theater. Die Bühne kann das
auf eine formale und radikale Art und Weise tun. Meine
Stücke spitzen die Probleme unserer Zeit zu krisenhaften
Situationen zu. Krisen aber sind die Realität der Zuschauer. Und wenn Drama so etwas tut, dann ist die Bühne das
Publikum und das Publikum die Bühne.
Ihr Stück ›Coffee‹ spielt in Babi Yar, dem Ort in der Ukraine, an dem die Nazis ein Massaker verübten und nahezu
die gesamte jüdische Bevölkerung von Kiew umbrachten.
Um das Undenkbare zu erzählen, entwerfen Sie hier eine
Grundsituation, in der sich der Zuschauer sofort wiederfindet. Sie sprachen einmal davon, dass es Ihnen nicht
»Wir haben Gesetze, aber keine Gerechtigkeit. Im Drama muss
es immer um soziale Gerechtigkeit gehen.« Edward Bond
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EDWARD BOND
darum gegangen sei, Opfer vor Maschinengewehren zu
zeigen. Das wäre dann eine Hollywood-Sicht auf solche
Stoffe, die Zuschauern eine Distanzierung von geschichtlichen Vorgängen ermögliche. Vielmehr ging es auch in diesem Stück darum, dem Zuschauer eine Distanzierungsmöglichkeit zu nehmen – durch Identifikation.
Das Stück basiert auf einer wahren Begebenheit. Soldaten verbrachten den ganzen Tag damit, die Zivilbevölkerung in Reihen abzuknallen. Sie dachten, sie seien
fertig, also kochten sie Kaffee. Aber es kamen weitere
Lastwagen mit noch mehr Zivilisten, die getötet werden
sollten. Ein Soldat ärgerte sich, er hatte genug gearbeitet und wollte Feierabend haben. Und deshalb – also aus
einer Verärgerung heraus – schüttete er seinen Kaffee
weg. Ich habe nicht das Massaker gezeigt, ich habe den
Kaffee gezeigt. Wenn man sich vorstellen kann, dass
ein ganzes Volk gekreuzigt wird, dann hat das auch mit
dem von mir beschriebenen Vorgang um die Tasse Kaffee zu tun. Die Soldaten haben getötet, aber sie haben
nicht gewusst, was sie tun. Das Stück greift den Kaffee
heraus, um zu zeigen, was sie taten. Aber auch, was wir
unserer Zukunft bereits antun.
Der Soldat, der in seinem Stück den Kaffee wegschüttet,
ist ein Extremist.
Er ist in einer extremen Situation. Und die Zuschauer
sind in einer extremen Situation, weil auch sie in der
Pause ihren Kaffee schlürfen. Wenn ein Stück den Zuschauer in eine extreme Situation versetzt, dann begegnet er sich selbst – und er hat die Wahl. Diese Wahl
entscheidet, wer man ist. Der Kaffee ist keine Entfremdung im Brecht’schen Sinne. Er erzählt vielmehr von einer menschlichen Situation. Brechts Verfremdung geht
dem Problem aus dem Weg.
Warum haben Sie entschieden, Babi Yar aus der Perspektive einer Kaffeepause zu beschreiben?
Als Sie in den 50er Jahren mit Schreiben begannen, hatten Sie den Zweiten Weltkrieg erlebt, von Hiroshima erfahren, und diese Erfahrungen hatten Auswirkungen auf Ihr
Schreiben bis heute. Sie haben einmal davon gesprochen,
dass die letzte Szene von ›Coffee‹, die in einem Haus in
einer ausgebombten Stadt spielt, einer Fotografie ähnelt
von einer Welt, in der Sie als Schuljunge aufwuchsen. Ist
das Nachkriegslondon Teil einer inneren Landschaft, die
Sie noch immer betreten, wenn Sie ein Stück schreiben?
Ich habe einmal eine Kurzgeschichte über eine bombardierte deutsche Stadt geschrieben, die auf einer wahren
Begebenheit beruhte. Darin liefen einige alliierte Soldaten durch die Ruinen. Sie kamen zu einem Haus, in
dem ein Fenster nicht zerstört worden war – das einzige unversehrte Fenster in der ganzen Gegend. Eine
Frau stand auf einem Hocker und putzte das Fenster.
Wie rechtschaffen, wie mutig, welch Standhaftigkeit!
Nein, eben nicht. Einer der Soldaten warf einen Stein
und schmiss das Fenster ein. Der Soldat, der den Kaffee
Ausgebombt sein ist nicht meine innere Landschaft.
Das wäre absurd. Die letzte Szene von Coffee ist so angelegt, als hätte die Welt den Krieg gerade vergessen,
als wäre sie zur Normalität übergegangen und würde
nun ihre Fenster wischen. Als ich anfing zu schreiben,
hatte es zwei Weltkriege gegeben, es gab Auschwitz, Hiroshima – die Zivilisation schien zwei-, dreimal in der
Woche zu ihrem Ende zu kommen. Wir wussten, dass
wir umgeben waren von Problemen. Und deshalb gingen wir auch von der Vergangenheit aus, um über die
Meinen Sie, das Stück ist wegen dieser Erzählperspektive
bisher in Deutschland nicht gespielt worden?
Ja. Deutsche Theatermacher greifen eher zu Kettensägen, als Stücke über eine Tasse Kaffee zu inszenieren.
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weggeschüttet hat, wusste nicht, wer er war oder was
er tat. Der Soldat, der den Stein schmiss, wusste genau,
was Krieg, Massaker und Bomben bedeuteten. Die Frau,
die das Fenster putzte, hat vielleicht ihr Spiegelbild im
Fenster bewundert – aber sie wusste nicht, was sie tat.
Drama unterbricht die korrupten Verbindungen zwischen Fühlen und Denken und entlarvt Ideologie als
Lüge. Aber es muss angemessene Mittel dazu haben.
Und wenn es sie hat, dann definiert es Menschsein neu.
Gegenwart zu schreiben. Für jüngere Autoren liegen die
Probleme in der Zukunft, aber sie dürfen nicht darüber
schreiben. Die fünf Stücke von The Paris Pendat (Coffee
ist eines davon, Anm. der Redakteurin) enden im Jahr
2077. Ich arbeite auf der Landkarte der Zukunft.
Sie haben ein gutes Dutzend Stücke für ein junges Publikum geschrieben, etwa ›Die Kinder‹ oder ›Der Balanceakt‹.
In ›Der Balanceakt‹ geht es um ein Mädchen, das glaubt, in
einem Abrisshaus den Nabel der Welt gefunden zu haben.
Die Hauptfigur, ein Abrissexperte, ist, wie alle Erwachsenen im Stück, offensichtlich inkompetent. Das Stück ist
eine Farce, in der die Welt am Schluss auseinanderfällt.
Wie reagieren Kinder auf so ein Stück?
Der Balanceakt ist eine Farce über einen Abrissexperten, der Slums abreißt, damit neue City-Büros und
Einkaufsmeilen gebaut werden können. Er ist ehrgeizig und möchte etwas wirklich Großes einreißen. Also
beschließt er, die ganze Welt abzureißen. Einige meiner
Stücke habe ich zunächst einmal für ein junges Publikum geschrieben – obwohl sie später auch vor Erwachsenen gespielt wurden. Ich sah mir einmal eine Vorstellung mit Kindern an. Die Erwachsenen sagten, meine
Stücke seien zu anspruchsvoll für Kinder, weil die keine
zehn Minuten still sitzen und sich konzentrieren könnten. Allerdings schauten die Kinder eine Stunde lang
völlig konzentriert zu. Den Ausdruck in ihren Gesichtern hatte ich irgendwo schon einmal gesehen, aber ich
konnte mich nicht erinnern wo. Ein paar Tage später
erinnerte ich mich. Sie erinnerten mich an die Gesichter von hungernden Kindern in Afrika. Die hungernden
Kinder wollten Essen. Und was wollten diese anderen
Kinder? Sie hatten etwas gesehen und gehört, das sie
so konzentriert dasitzen ließ, obwohl ihre Lehrer gesagt
hatten, sie könnten keine zehn Minuten still sitzen. Sie
hungerten nach etwas in unserer Konsumgesellschaft.
war schockiert über ihre selbstgefällige, arrogante Art
der Selbstverblendung. Sie hielten ihr Selbstmitleid für
Mitgefühl für andere. Ein Berg verstellt ihre Türschwelle. Sie fürchten sich davor, die Türe zu öffnen, brüsten
sich aber damit, durch das Schlüsselloch zu schauen.
Es ist ein Nacht-und-Nebel-Theater. Weil es nicht weiß,
wie es mit dem vergangenen Jahrhundert umgehen soll,
kann es nicht mit der Zukunft umgehen. In der Tat ist
das deutsche Theater besessen vom Krieg, der Krieg ist
in seinem Unterbewusstsein. Seine Regisseure haben
Angst vor Schauspielern. Sie trauen sich nicht, sie herauszufordern, ihnen Ausblicke zu geben, die zu weit
führen würden. Also wird der Schauspielstil stylisch,
perfekt, manieriert und bestimmt von Tradition. Und
stattdessen versuchen Regisseure, Realität in überzeichneten Spielsituationen zu finden. Sie überdrehen,
dehnen und schütteln sie, aber sie bleiben leer und halten Schauspieler wie Zuschauer davon ab zu erfahren,
welche Bedeutung hinter dem Spiel steht. Das deutsche
Theater hat Angst vor Menschen.
Für wen schreiben Sie Ihre Stücke?
Ich schreibe für die Toten, in Solidarität mit den Opfern
des vergangenen und dieses Jahrhunderts, aber ich hoffe, dass die Lebenden mich hören. Das sage ich jetzt
dem deutschen Theater. Es steht da, mit einer Tasse
Kaffee in der Hand.
Deutsch von Nina Peters
Der Suhrkamp Verlag vertritt mehr als 30 Stücke von
Bond, darunter auch die bisher weniger bekannten Stücke
›Coffee‹ sowie das Jugendstück ›Der Balanceakt‹, die frei
sind für eine deutschsprachige Erstaufführung.
Ihre Haltung gegenüber der aktuellen deutschen Theaterpraxis ist skeptisch, Sie polemisieren da gerne. Warum?
Ich war einmal gemeinsam mit den wichtigsten Vertretern des deutschen Theaters auf einer Konferenz. Ich
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