Und dann jubelte das ganze Stadion!

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Sport und Gesellschaft – Sport and Society  Jahrgang 5 (2008), Heft 3, S. 221- 250
© Lucius & Lucius Verlag Stuttgart
Lars Riedl
„Und dann jubelte das ganze Stadion!“
Zur Entstehung und Steuerung kollektiver Emotionen im Spitzensport
„And the whole stadium erupted into jubilation!“ – Understanding how
collective emotions are generated in elite sports and how they can be
steered and controlled
Zusammenfassung
Obwohl eine Vielzahl an Studien darauf verweist, dass das gemeinsame Erleben und Ausleben von
Emotionen ein ganz wichtiges Moment des Zuschauerinteresses am Spitzensport darstellt, ist bislang
weitgehend ungeklärt, wie der Spitzensport solche kollektive Emotionen hervorruft und steuern kann.
Dieses Defizit zu beheben ist das Ziel des vorliegenden Artikels. Dazu wird ein allgemeines emotionssoziologisches Modell entworfen, mittels dessen zunächst Form und Funktion von Emotionen als psychisches Phänomen beschrieben und mit Blick auf den Sportzuschauer reflektiert werden. Im Anschluss hieran werden die sozialen Strukturen und Prozesse markiert, die einerseits maßgeblichen Einfluss auf das individuelle Emotionserleben ausüben, andererseits aber auch für das Entstehen kollektiver Emotionen verantwortlich zeichnen. Auf Basis dieser Analyse wird in einem letzten Schritt der
Frage nach den Steuerungsmöglichkeiten kollektiver Emotionen eines Sportpublikums nachgegangen.
Summary
Although numerous studies have shown how important emotions are for sports spectators’ collective
experience and for keeping their interest in the event alive, there is a dearth of research on how sports
generates such emotions and how they can be steered and controlled. In the present article, we attempt
to fill this gap using an emotional-sociological model that, first, allows the emotions displayed by spectators at sporting events to be described as a psychological phenomenon. Second, it enables the social
patterns and processes to be identified that have a significant influence on individual emotions but that
are also responsible for rousing the collective emotions of the spectators. Finally, it allows us to closely
examine the question of how to steer and control collective emotions at sporting events and to present
suggestions for how to achieve this.
1 Einleitung
Noch immer sind die Bilder des so genannten Sommermärchens bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 im öffentlichen Bewusstsein präsent. Auch wenn die einzelnen sportlichen Stationen der deutschen Nationalmannschaft in diesem Turnier zum
größten Teil schon wieder in Vergessenheit geraten sind, so löst doch die Erinnerung
an die große Begeisterung, die sich in diesen fünf Wochen entwickelte, noch heute eine Gänsehaut aus. Diese Stimmung, zunächst noch sehr skeptisch und zurückhaltend,
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steigerte sich von Spiel zu Spiel, zog immer mehr Menschen in ihren Bann und mündete letztlich in einer kollektiven Euphorie, die sich keineswegs auf die Stadien beschränkte. Davon zeugen die Unmengen von Fahnen an Autos und Häusern ebenso
wie die vielen „Fußballfeste“, bei denen oftmals Tausende einander unbekannte Menschen gemeinsam die Spiele per Public Viewing verfolgten. Kaum einer, der hier nicht
mit der deutschen Mannschaft mitgefiebert hat, und kaum einer, der hier nicht in den
kollektiven Jubel mit eingefallen ist.
Zweifellos: Bei einer Fußballweltmeisterschaft handelt es sich um ein sehr außergewöhnliches Ereignis. Gleichwohl verdeutlicht es aber stellvertretend für eine Vielzahl
spitzensportlicher Wettkämpfe, dass Emotionen für den Zusammenhang von Spitzensport und Publikum eine ausgesprochen wichtige Einflussgröße darstellen. Offensichtlich bilden Emotionen ein zentrales Erklärungsmoment für das Zuschauerinteresse, wobei zu bemerken ist, dass der Zuschauer im Spitzensport Bestandteil eines
Publikums in den Stadien und Hallen ist, und er insofern – anders als der Leser eines
spannenden Buches oder der TV-Zuschauer eines rührseligen Fernsehfilms – mit seinen Emotionen zumeist nicht allein bleibt. Vielmehr können sich die Sportzuschauer
wechselseitig wahrnehmen und beobachten, aufeinander reagieren und sich in ihren
Emotionen bis zu einem „Enthusiasmus über den Enthusiasmus“ (Bette & Schimank,
2000, S. 315) aufschaukeln. Dies macht deutlich, dass mit Blick auf den Spitzensport
nicht nur der Aspekt der individuellen Emotionen, sondern vor allem der Aspekt des
gemeinsamen Erlebens und Auslebens von Emotionen von Bedeutung ist. Doch wie
kommen solche Emotionen überhaupt zu Stande? Wie kann der Spitzensport solcherart kollektive Emotionen hervorbringen, und wie kann er sie steuern?
Fragt man nach Forschungen zu diesem Konnex von Spitzensport, Publikum und
Emotionen, so stößt man vor allem auf überwiegend psychologisch orientierte Studien zu den Motiven von Sportzuschauern, also auf Arbeiten, die untersuchen, wieso
sich Menschen für Spitzensport interessieren. Unabhängig davon, ob sie eher theoretisch bzw. systematisierend (z.B. Sloan, 1997; Bette & Schimank, 1995, 2000; Gabler,
1998; Raney, 2004) oder aber empirisch ausgerichtet sind, (z.B. Messing & Lames,
1996; Wann, 1995; Wann, Schrader & Wilson, 1999), kommen diese Studien zu dem
Ergebnis, dass emotionsbezogene Aspekte, wie z.B. das Erleben von Spannung, positiver Stress (Eustress), die Flucht aus der Routine des Alltags oder das Ausleben von
Emotionen, eine wichtige Dimension des Publikumsinteresses bilden. Die weiterführende Frage aber, wie es denn dem Spitzensport überhaupt gelingt, diese emotionalen
Belange der Zuschauer zu befriedigen bzw. zu steuern, scheint hingegen kaum bearbeitet worden zu sein. Vielmehr konstatieren die wenigen theoretisch ausgerichteten
Arbeiten an dieser Stelle zumeist ein „Passungsverhältnis“ zwischen den Erlebnisangeboten des Spitzensports einerseits und den Zuschauermotiven andererseits, sprich:
Der Spitzensport wird als eine potente Gelegenheitsstruktur für die Befriedigung der
emotionalen Anliegen des Publikums gesehen. Ganz im Sinne der Denkfigur „The
Quest for Excitement in Unexciting Societies“ (Elias & Dunning, 1970) gehen z.B.
Zur Entstehung und Steuerung kollektiver Emotionen im Spitzensport
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Bette & Schimank (2000) davon aus, dass mit der Entwicklung der Gesellschaft hin
zur (Ersten) Moderne zugleich eine Veränderung individueller Bedürfnislagen und
vor allem deren Befriedigungsmöglichkeiten einhergeht. Dabei wird Bedürfnissen, wie
z.B. dem nach Gemeinschaftserleben, nach Identifikation und Werteorientierung,
nach Spannung oder nach dem Ausleben von Emotionen, implizit nahezu der Status
von quasi-anthropologischer Konstanten eingeräumt, während sich die sozialen bzw.
gesellschaftlichen Möglichkeiten ihrer Befriedigung verändert haben. Der Ansatz eignet sich hervorragend dafür, den Events des Spitzensports Charakteristika der Zweiten Moderne und somit eine kompensatorische Funktion bezüglich der aus der Ersten Moderne resultierenden Probleme zuzuschreiben, und es lässt sich damit auch
begründen, warum der Spitzensport einen so großen Publikumszuspruch erfährt. Offen bleibt dabei allerdings, welche Mechanismen in diesem Zusammenhang von Spitzensport, Publikum und Emotionen zum Tragen kommen, welche Strukturen und
Prozesse überhaupt Emotionen im Sportpublikum entstehen lassen. D.h., zur Beantwortung der Frage, wie der Spitzensport kollektive Emotionen erzeugen und steuern
kann, reichen diese Überlegungen keineswegs aus. Dieses Defizit zu beheben, ist das
Ziel des vorliegenden Artikels. Nötig ist hierzu die Entwicklung eines theoretischen
Ansatzes, mit dem sich auch die sozialen Voraussetzungen individueller und kollektiver Emotionen bestimmen lassen. Dies bedeutet zunächst, ein allgemeines emotionssoziologisches Modell zu entwerfen, das die Erklärung kollektiver Emotionen in ganz unterschiedlichen Kontexten, wie z.B. bei Konzerten, Theateraufführungen, politischen
Veranstaltungen, aber eben auch im Sport ermöglicht.1 Dazu werden vorab einige
wenige Grundannahmen über Emotionen dargestellt, die verdeutlichen, dass Emotionen zwar vor allem als psychische Prozesse zu verstehen sind, allerdings stets in einem engen Zusammenhang zu sozialen Prozessen und Strukturen stehen (2). Entsprechend werden dann vor allem auf Basis systemtheoretisch orientierter Überlegungen zunächst die Entstehungsmöglichkeiten und Funktionen von Emotionen in psychischen Systemen erörtert und hinsichtlich der Sportzuschauer reflektiert (3), bevor
das Modell um die Seite des sozialen Systems erweitert und nach den allgemeinen sowie sportspezifischen sozialen Strukturen und Prozessen gefragt wird, die maßgeblichen Einfluss auf das individuelle Emotionserleben haben und darüber hinaus kollektive Emotionen entstehen lassen (4). Abschließend wird der Frage nach den Steuerungsmöglichkeiten kollektiver Emotionen des Sportpublikums nachgegangen (5).
2 Zum Grundverständnis von Emotionen
Für die Entwicklung eines emotionssoziologischen Modells erscheint es sinnvoll, sich
vorab auf ein Grundverständnis von Emotionen einzulassen. Dazu wird auf eine all1
Die Entwicklung dieses theoretischen Modells erfolgt in mehreren Schritten und erfordert vom Leser etwas Geduld, da die Übertragung dieser zunächst allgemein gehaltenen Überlegungen auf den
Zusammenhang von Sportpublikum und Emotionen am Ende der jeweiligen Abschnitte erfolgt.
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gemeine Definition bzw. Charakterisierung aus der Psychologie zurückgegriffen, die
bereits wesentliche Aspekte von Emotionen beinhaltet und an der sich insofern auch
Ansatzpunkte für die Modellkonstruktion aufzeigen lassen. So weisen Emotionen
nach Meyer et al. (1993, S. 22ff) insbesondere vier Merkmale auf, wobei sie erstens, in
Abgrenzung zu emotionalen Dispositionen, als aktuelle Zustände von Personen zu verstehen sind. Zweitens lassen sie sich nach ihrer Qualität und Intensität unterscheiden.
Dies meint zum einen, dass sich die Vielzahl emotionaler Erlebnisformen unter
Oberbegriffe, wie z.B. Angst, Ärger, Freude usw., in mehr oder weniger klar unterscheidbare Gruppen bzw. Klassen zusammenfassen lässt. Zum anderen können diese
Emotionsqualitäten unterschiedlich intensiv erlebt werden. Drittens sind Emotionen
in der Regel objektgerichtet, d.h., sie weisen eine Referenz oder einen Bezug auf etwas
auf, denn man freut sich beispielsweise über etwas, ist stolz auf etwas oder hat Angst
vor etwas. Und viertens verbindet sich mit Emotionen ein charakteristisches Erleben (Erlebnisaspekt), wobei auch bestimmte physiologische Veränderungen (physiologischer Aspekt) und spezifische Verhaltensweisen (Verhaltensaspekt) auftreten. Dabei verweist der
Erlebnisaspekt von Emotionen in erster Linie darauf, dass Emotionen eine „subjektive“ Komponente haben, womit gemeint ist, dass es sich für den Einzelnen in jeweils
ganz bestimmter Weise anfühlt, Emotionen zu haben, und man sie daher von anderen bewussten Zuständen (z.B. von Vorstellungen oder Gedanken) unterscheiden
kann. Emotionen sind demnach also keine Ereignisse per se, sondern sie müssen stets
entsprechend interpretiert bzw. konstruiert werden.2 Doch auch wenn das Erleben
von Emotionen als psychischer Prozess der Informationsverarbeitung aufzufassen ist,
weisen Emotionen immer auch einen physiologischen Aspekt auf. So denke man hier
beispielsweise an das Erröten bei Scham, an die feuchten Hände bei Aufregung oder
an die Veränderung des Adrenalinspiegels bei Angst. Dieser starke Körperbezug
bleibt ein zentrales Unterscheidungskriterium von Emotionen gegenüber anderen
bewussten Zuständen3 und bildet die „Brücke“ zum Verhaltenaspekt von Emotionen,
womit deren expressive Funktion respektive deren Ausdruck angesprochen wird.
Hierunter fallen z.B. Mimik, Gestik, Körperhaltung, Körperbewegungen (z.B. plötzliches Zusammenzucken), die Körperpositionierung in Bezug auf Interaktionspartner
oder bestimmte Merkmale der Sprechstimme, aber auch komplexere Verhaltensweisen, wie z.B. das Fluchtverhalten bei Furcht oder das Angriffsverhalten bei Wut.4
2
3
4
An diesem Punkt der Informationsgenerierung und -verarbeitung setzen kognitive Emotionstheorien an, wie z.B. die Attributionstheorie Weiners (vgl. Meyer et al., 1993, S. 160 ff.).
Gerade die behavioristische Emotionsforschung stellte diesen Aspekt in den Vordergrund bzw.
setzte ihn mit Emotionen gleich. Entsprechend ist es natürlich auch naheliegend, Emotionen aus
der Perspektive der Neurologie und Biologie zu erforschen.
An diesen Verhaltensaspekt docken vor allem die evolutionstheoretischen Emotionstheorien an.
Diese Theorien gehen davon aus, dass es eine bestimmte Anzahl an Primär- oder Basisemotionen
gibt, die bestimmte Verhaltensweisen auslösen. Da sie im Laufe der Evolution zur Bewältigung von
Zur Entstehung und Steuerung kollektiver Emotionen im Spitzensport
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Mit Blick auf diese hier nur knapp skizzierten Aspekte lässt sich festhalten, dass Emotionen vor allem als psychische Prozesse bzw. als Ereignisse psychischer Systeme zu
verstehen sind. Dabei weisen sie einerseits einen engen Zusammenhang zum Körper
und zum Verhalten auf, zum anderen deutet sich aber auch an, dass Emotionen in
Abhängigkeit von sozialen Prozessen entstehen, von diesen beeinflusst oder gar reguliert werden. So ist z.B. die angeführte Distinktion verschiedener Emotionen nur
möglich, wenn entsprechende Bedeutungen von Emotionen gelernt werden, denn die
spezifische Qualität menschlicher Emotionen ist dadurch gekennzeichnet, „... dass
sowohl die Art des Erlebens, die Art des Ausdrucks und die Wahl der geeigneten
Handlung als Reaktion bedeutungsvermittelt sind. Dieses Bedeutungssystem wird kulturell im Sozialisationsprozess vermittelt“ (Friedmeier, 1999, S. 35). Entsprechend ist
die angesprochene „Objektgerichtetheit“ von Emotionen auch nicht nur als psychologische Gesetzmäßigkeit zu verstehen. Vielmehr wird von vornherein auf eine soziale Referenz der Emotionen gedrängt, nicht nur, um Anschlussmöglichkeiten für die
weitere Kommunikation zu eröffnen, sondern zugleich, um z.B. zu prüfen, ob diese
Emotionen überhaupt berechtigt sind.5 Darüber hinaus wird am Verhaltensaspekt der
Emotionen deutlich, dass diese ihrerseits über das Auslösen von Verhalten bzw. von
Handlungen Auswirkungen auf die soziale Umwelt haben können. Und selbst der
physiologische Aspekt der Emotionen lässt sich aus einem soziologischen Blickwinkel
beobachten, denn er findet sich u.a. in den sozialen Beschreibungen von Emotionen
wieder (wie z.B. mir stehen die Haare zu Berge, das Herz klopft mir bis zum Hals, mir
läuft ein Schauer über den Rücken etc.).
In Anbetracht dieser allgemeinen Charakteristika sollte das zu entwickelnde emotionssoziologische Modell vor allem auf Theorien zurückgreifen, die psychische und
soziale Systeme gleichermaßen in den Blick nehmen und dabei einerseits deren jeweils
eigenständiges Operieren beschreiben, andererseits aber auch deren wechselseitige
Einflussnahme aufzeigen können. In dieser Hinsicht scheint vor allem ein Rekurs auf
die Theorie der Affektlogik (Ciompi, 1997, 2004) sowie die soziologische Systemtheorie (Luhmann, 1984, 1997) geeignet, den theoretischen Rahmen der weiteren Überlegungen abzugeben.6 Denn beiden Ansätzen ist zum einen gemein, dass sie von der
operativen Geschlossenheit psychischer und sozialer Systeme ausgehen, sprich: Psy-
5
6
allgemeinen Anpassungsproblemen entstanden sind, existieren sie oftmals kulturübergreifend (vgl.
Meyer et al., 1997).
Dies kann man sich schnell in einem Gedankenspiel verdeutlichen: Geht man von einer Situation
aus, in der man äußert, dass man sich freut (oder ärgert), so ist die wahrscheinlichste Entgegnung
die Frage „Wieso?“ bzw. „Worüber?“. Kann man auf diese Frage keine Antwort geben, entsteht
meist ein befremdliches Schweigen, denn grund- und bezuglose Emotionen sind sozial kaum akzeptiert.
Der vorliegende Beitrag verzichtet im Folgenden auf eine einführende Darstellung des Forschungsfeldes Emotionssoziologie. Einen guten Überblick liefern Harré (1986), Gerhards (1988), Flam
(2002), Baecker (2004), Schützeichel (2006), Riedl (2006). Für erste emotionssoziologische Überlegungen im Bereich der Sportwissenschaft vgl. Heinemann (2001).
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chische wie soziale Systeme haben keinen operativen Umweltkontakt, sondern sie
können ihre Umwelt nur über ihre eigenen Operationen – im Falle sozialer Systeme
sind dies Kommunikationen, im Falle psychischer Systeme hingegen Gedanken – systemintern konstruieren. Zum anderen liefern die beiden genannten theoretischen Ansätze gerade aus dieser Differenz von psychischem und sozialem System Anhaltspunkte für die Beantwortung der Frage, wie soziale Systeme auf der Basis von Kommunikation etwas erzeugen, an dem psychische Systeme mit ihren Emotionen anschließen können, und wie daraus möglicherweise wiederum Rückwirkungen für das
soziale System erwachsen können.7
3 Psychisches System und Emotionen
Der hier gewählte theoretische Rahmen impliziert, psychische Systeme als operativ
geschlossene und sich aus Gedanken konstituierende Systeme zu beschreiben. Mit
Blick auf den systeminternen Operationszusammenhang kommt daher dem Aspekt
der permanenten Informationsverarbeitung eine zentrale Bedeutung zu. Aus dieser
Perspektive lassen sich Emotionen und Kognitionen als konstitutive Bestandteile, als
die zwei Seiten des Informationsverarbeitungsprozesses psychischer Systeme auffassen, und es wird möglich, nach ihren funktionalen Beziehungen zueinander sowie
zum Gesamtsystem zu fragen (Vester, 1991, S. 72).
Grundsätzlich gilt, dass sich Emotionen und Kognitionen in ihren Operationsweisen
unterscheiden. Kognitionen beruhen auf sequenzieller, Emotionen hingegen auf simultaner Informationsverarbeitung. Kognitionen nehmen also Schritt für Schritt die
verschiedenen Elemente auf, aus denen sich eine Situation zusammensetzt, sortieren
und verknüpfen die Elemente unter anderem mit Hilfe kausaler Schemata und leiten
daraus eine Situationsinterpretation ab. Gefühle schaffen demgegenüber eine ganz
andere Art der Informationsverarbeitung. In dem Maße, in dem eine Situation gefühlsbestimmt erlebt wird, fügen sich solche Abfolgen von Wahrnehmungs- und
Denkvorschriften gleichsam zu einem einzigen Bild zusammen, ohne dass aber der
7
Eben auf Grund dieser theoretischen Möglichkeiten wird hier auf systemtheoretische Überlegungen
zurückgegriffen, obwohl das Thema „Emotionen“ bislang in der Systemtheorie nahezu unberücksichtigt geblieben ist. Die prominenteste Ausnahme bildet wohl Luhmanns Studie (1982) „Liebe als
Passion“. Allerdings beschränkt sie sich auf die Analyse der historischen Entwicklung von Liebessemantiken. Die sozialstrukturellen Voraussetzungen des operativen Vollzugs von Emotionen bleiben dabei weitgehend ausgeblendet, und eine allgemeine Theorie der Emotionen fehlt gänzlich. Zu
letzterem lassen sich lediglich einige kurze Andeutungen finden (Luhmann, 1984), die aber bislang
nicht ausgearbeitet wurden. Darüber hinaus widmete sich in jüngerer Zeit auch eine Ausgabe der
Zeitschrift „Soziale Systeme“ dem Schwerpunktthema „Emotionen“ (Baecker, 2004), doch bleibt
abzuwarten, inwieweit dies Anschlusskommunikationen hervorrufen wird. Auch wenn Luhmann
einmal konstatierte: „Gefühle spielen doch eine Rolle“ (vgl. Königswieser, 1999, S. 40 f.), bleibt der
Eindruck bestehen, dass in Luhmanns Werk der Stellenwert von Emotionen nicht viel höher einzuschätzen ist als der Stellenwert des Sports.
Zur Entstehung und Steuerung kollektiver Emotionen im Spitzensport
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Kurzschluss rein instinktiven Verhaltens auftritt. Emotionen versorgen das Bewusstseinssystem mit einem gestalthaften Bild der Situation. Sie sind somit eher als eine
Form der Informationsverarbeitung zu beschreiben, die im individuellen Erleben
Ganzheitscharakter aufweist (Gerhards, 1988, S. 79 ff.; Schimank, 2000, S. 109 f.; Simon, 2004, S. 129).
Dieser Unterschied zwischen Emotionen und Kognitionen lässt sich zudem dahingehend zuspitzen, dass Emotionen im Gegensatz zu Kognitionen nicht zur Beobachtung zweiter Ordnung und damit auch nicht zur Reflexion fähig sind. Sie bleiben stets
Beobachtungen erster Ordnung, denn die einheitliche Gefühlslage unterscheidet zwar
zwischen dem aktuellen Gefühl und denen, die dadurch ausgeschlossen sind, kann
aber die Einheit der Differenz nicht „fühlend“ beobachten. Mit anderen Worten: Das
psychische System kann sich mit Hilfe von Emotionen selbst nicht reflektieren, sich
also nicht selbst in Relation zu seiner Umwelt beobachten und so seine eigene Einheit
betrachten. Dies können nur Kognitionen. Wenn nun aber Emotionen nicht zur Beobachtung zweiter Ordnung fähig sind, dann bedeutet dies, dass sie sich selbst auch
nicht kontingent setzen können. Insofern könnte eine mögliche Antwort auf die Frage nach der Funktion von Emotionen für psychische Systeme lauten, dass Emotionen
eine ganz spezifische Form der Seins-Gewissheit erzeugen können: „Ich fühle, also
bin ich. Und ich bin so, wie ich mich fühle.“ Zweifel treten erst dann auf, wenn man
anfängt, über diese den Flow-Erlebnissen (Csikszentmihalyi, 2000) ähnlichen Zustände nachzudenken, also über Kognitionen Beobachtungen zweiter Ordnung in das System einzuführen.
Wenn nun Emotionen und Kognitionen die zwei Seiten der Informationsverarbeitung psychischer Systeme bilden, so ist es im Hinblick auf die Entstehung und Steuerung von Emotionen naheliegend zu fragen, in welchen Zusammenhang diese beiden
zueinander stehen. Eine mögliche Antwort bietet die Theorie der Affektlogik von Ciompi (1997), da sie von einer engen Verknüpfung von Emotionen und Kognitionen
ausgeht.8 Bereits der Begriff macht deutlich, dass hier Fühlen einerseits und Denken
andererseits zusammengebracht werden. Der erste Teil des Begriffs, der Affekt, wird
definiert als „... eine von inneren und äußeren Reizen ausgelöste, ganzheitliche psycho-physische Gestimmtheit von unterschiedlicher Qualität, Dauer und Bewusstseinsnähe“ (Ciompi, 1997, S. 67). Der zweite Teil des Begriffs, die Logik, wird bestimmt als die Art und Weise, wie kognitive Inhalte miteinander verknüpft werden
(Ciompi, 1997, S. 78). Es handelt sich also um einen weit gefassten Logikbegriff, der
über den der formalen Logik („tertium non datur“) hinausgeht und sich insofern
nicht allein auf das folgerichtige, in sich schlüssige oder aber auch nur gewohnte Verknüpfen von Sachverhalten, Handlungen und Verhaltensweisen bezieht. Ein zentrales
Anliegen Ciompis ist es zu zeigen, wie sich Emotionen auf das Denken auswirken;
8
In der Sportsoziologie integrierte Thiel (2003) Ciompis Überlegungen zur Affektlogik in einen Ansatz zur Erklärung der Entstehung sozialer Konflikte.
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deshalb geht es in dieser allgemeineren Bedeutung von Logik auch nicht um Vorschriften, wie korrekterweise gedacht werden soll, sondern vielmehr darum, wie in bestimmten Kontexten gedacht wird. So werden z.B. unter Angst andere Muster aktiviert und verknüpft als unter Freude, und es entsteht auf diese Weise gewissermaßen
eine ganz spezifische Angstlogik oder Freudenlogik. Entsprechend kann man zwar als
außen stehender Beobachter der Ansicht sein, dass es unlogisch sei oder kein Grund
bestehe, Angst zu haben, dem verängstigten psychischen System erscheint die Situation aber als stimmig und sein Verhalten demgemäß als schlüssig und damit als logisch.
Im psychischen System kann es demnach zur Ausbildung spezifischer Gefühlswelten
kommen, wie z.B. einer Angstlogik, Wutlogik, Trauerlogik oder Freudenlogik, zu affektspezifischen Fühl-, Denk- und Verhaltensmustern, „... die, solange der betreffende Affekt vorherrscht, alles Wahrnehmen und Denken in ihren Bann ziehen. Man
könnte sie auch als ‚affektiv-kognitive Eigenwelten‘ bezeichnen, auf die hin sich, einmal eingespurt, innerhalb einer spezifischen affektiven Befindlichkeit jedes Fühlen
und Denken fast zwangsläufig zubewegt“ (Ciompi, 1997, S. 153). D.h., durch diese
Affektlogiken wird die Selektivität der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung
letztlich derart gesteuert, dass es zu Selbstverstärkungs- oder Stabilisierungsprozessen
von Strukturen im psychischen System kommt.9 Dieses Prinzip ist allen Affektlogiken
gemeinsam, aber jede spezifische Affektlogik erzeugt dann entsprechende Operatorenwirkungen (vgl. Ciompi, 2004, S. 31). Dies lässt sich am Beispiel der so genannten
Primäremotionen andeuten. So führt das Gefühl von Interesse oder Neugier dazu,
dass man sich einer Sache zuwendet. Aus Angst resultiert dagegen die Abwendung
von oder die Flucht vor etwas Gefährlichem bzw. etwas, was als gefährlich eingeschätzt wird. Wut und Hass legen den Angriff auf oder die Verteidigung gegen etwas
Feindliches nahe, und entsprechend wird auch die Umwelt vor allem nach möglichen
Feinden abgesucht. Freude und Liebe führen zur Annäherung und Bindung, und das
Gefühl der Trauer löst eben diese Bindungen wieder auf. Das bedeutet, dass in jeder
Affektlogik bestimmte Emotionen, Kognitionen und Verhaltensweisen so eng miteinander verknüpft sind, dass sie, so lange sie im psychischen System vorherrschen,
eine affektiv-kognitive Eigenwelt bilden und auch deren weitere selektive Informationswahrnehmung und -verarbeitung steuern.
Fragt man vor diesem Hintergrund nach den Funktionen von Emotionen für das
psychische System, um Ansatzpunkte der Emotionssteuerung durch soziale Systeme
aufzeigen zu können, so lassen sich für das hier zu entwickelnde emotionssoziologische Modell insbesondere zwei Funktionen benennen: Zum einen übernehmen Emotionen als Resultat von Kognitionen eine Art Bewertungsfunktion. Zum anderen erfüllen sie eine Filterfunktion, indem sie vorstrukturieren, was als weitere Gedanken
9
Der systemtheoretisch interessierte Leser wird sich zu Recht an dieser Stelle an die „Eigenwerte“
von Heinz von Foerster (1993) erinnert fühlen, deren Stabilität sich aus der Rekursivität der Operationen ergibt.
Zur Entstehung und Steuerung kollektiver Emotionen im Spitzensport
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überhaupt bewusst wird und was als bedeutsam bzw. unbedeutsam für weitere Kognitionen anzusehen ist. Dabei erschließt sich die Idee der Bewertungsfunktion, wenn man
Ciompis Überlegung aufgreift (1997, S. 145, S. 154 f.), dass die grundsätzliche Richtung des Bewusstseins- und Aufmerksamkeitsfokus’ in Richtung Lustgewinn bzw.
Unlustvermeidung drängt. Demzufolge ist die zentrale Unterscheidung bei der Informationsbewertung die Differenz von Lust und Unlust. Ohne eine hedonistische
Bewertung der Erlebnisse, ohne die Verknüpfung mit Lust und Unlust könnte das
psychische System seine Erfahrungen nicht mehr entsprechend organisieren und
strukturieren, und es gäbe keine Unterschiede in der Bedeutsamkeit der Relevanz der
Informationen. Aus dieser Perspektive kann man daher auch sagen, dass Gefühle wie
sprachlose Meinungen sind (Konopka, 1996, S. 91 ff.). Im Anschluss an Luhmann
(1984, S. 362 ff.) lassen sich diese Überlegungen zur Bewertungsfunktion noch weiter
spezifizieren, insofern Emotionen als Resultate von Erwartungsenttäuschungen10 entstehen, und zwar dann, wenn diese Erwartungen vorab zu Ansprüchen verdichten
wurden. Dies geschieht durch Verstärkung der Selbstbindung an die Erwartung und
der damit einhergehenden Steigerung des Betroffenseins von einer Erwartungserfüllung bzw. -enttäuschung. Damit wird das Risiko der Erwartung gesteigert und „... der
Prozess der internen Anpassung an Erfüllung bzw. Enttäuschungen ist komplexer
und erscheint im System als Gefühl. Im Übergang von Erwartungen zu Ansprüchen
erhöht sich die Chance und die Gefahr der Gefühlsbildung, so wie man umgekehrt
Gefühle abdämpfen kann, wenn man sich auf bloßes Erwarten zurückzieht“ (Luhmann, 1984, S. 364, Herv. i. Org.).
Führt man diese Überlegungen weiter, so lassen sich zwei Faktoren erkennen, die für
die Entstehung von Emotionen bzw. für ihre Intensität bedeutsam sind: das Ausmaß
der Erwartungsenttäuschungen und die Stärke der Selbstbindung. Emotionen entstehen demnach zum einen in Abhängigkeit vom Grad der Erwartungsenttäuschung. Je größer die
Enttäuschung ist, desto stärker wird das Gefühl sein. Und dies hängt vor allem mit
der wahrgenommen Wahrscheinlichkeit der Erwartungserfüllung zusammen, sprich:
Je überraschender ein Ereignis ist, je weniger man es erwartet hat, desto größer wird
die Emotionsintensität sein. Zum anderen ist die Entstehung von Gefühlen aber auch
von der Stärke der Selbstbindung an eine Erwartung bzw. von der Größe der eigenen
Betroffenheit durch die Erfüllung/Enttäuschung abhängig. Das Risiko einer Erwartung ergibt sich nicht nur aus der Unwahrscheinlichkeit der Erfüllung, sondern auch
aus der Relevanz dieser Erwartung für die Autopoiesis des psychischen Systems. So
ist beispielsweise die Trauer über den Tod des geliebten Ehepartners weitaus größer
als über den eines flüchtigen Bekannten, und man freut sich über die guten Schulnoten seiner eigenen Kinder mehr als über die ihrer Klassenkameraden. Ein Abflauen
10
Der Begriff der Erwartungsenttäuschung erscheint zumindest im Alltagssprachgebrauch eher negativ konnotiert zu sein. Man hat etwas erwartet, dies ist nicht eingetroffen, deshalb ist man enttäuscht.
In der Theorie ist aber auch der andere Fall damit bezeichnet: die positiv empfundene Überraschung.
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von Gefühlen kommt demnach dann zu Stande, wenn sich die Ansprüche auf einfache Erwartungen reduzieren, also Selbstbindung und Betroffenheit zurückgefahren
oder die Erwartungen routinemäßig erfüllt werden, entsprechend das Risiko und die
Unwahrscheinlichkeit sinken.
Eine weitere Funktion, die Emotionen bezüglich der Informationsverarbeitung psychischer Systeme übernehmen, lässt sich wie erwähnt als Filterfunktion bezeichnen.
Während bei der Bewertungsfunktion sich Emotionen als Resultate von Kognitionen
einstellen, zeigt sich dieses Verhältnis in Bezug auf die Filterfunktion umgekehrt:
Emotionen scheinen als den Kognitionen vorgelagert bzw. scheinen diese zu bestimmen.11 Gefühle lassen dann immer nur bestimmte Kognitionen zu und lenken das
Denken in ganz bestimmte Bahnen. Sie steuern somit den Fokus der Aufmerksamkeit
und der Wahrnehmung und bilden damit einen Filter für die weitere Informationsverarbeitung. Sie bestimmen mit, was als bedeutsam und was als unbedeutsam anzusehen ist; und sie tun dies in einer Weise, dass in positiver Stimmung primär Erfreuliches, Schönes, Angenehmes wahrgenommen wird, bei negativer Stimmung sich das
Augenmerk vor allem auf Störendes, Unangenehmes, Widerliches richtet. Emotionen
wirken sich aber nicht nur auf jeweils aktuelle Informationsverarbeitungsprozesse, auf
die Selbst- und Umweltbeobachtungen aus, sondern über das selektive Erinnern und
Vergessen auch auf den Rückgriff bereits erfolgter Informationsverarbeitungsprozesse, was ebenso zentral für die Entstehung und Stabilisierung spezifischer Affektlogiken ist.
Welche spezifischen Einsichten lassen sich nun aus diesen ersten Überlegungen zu
einem allgemeinen emotionssoziologischen Modell bezüglich des Sportzuschauers
und seinen Emotionen gewinnen? Zunächst einmal erhält man eine mögliche Antwort auf die Frage, weshalb das Erleben von Emotionen für das Sportpublikum so
attraktiv ist und damit einen wichtigen Grund für den Besuch von Sportereignissen
darstellt. So verweisen die Überlegungen zur Filterfunktion von Emotionen darauf,
dass eine ganz zentrale Differenz der Informationsverarbeitung psychischer Systeme
die Unterscheidung von Lust/Unlust bildet. Grundsätzlich wird Lustvolles angestrebt, Unlust möglichst vermieden. Demnach erscheint es plausibel, dass die Sportzuschauer ins Stadion gehen, um positive Emotionen zu erleben. Diese Attraktorenfunktion positiver Emotionen ist unbestreitbar, sich ausschließlich darauf festzulegen
würde aber wohl zu kurz greifen, denn das Sportpublikum muss ja immer wieder
auch negative Emotionen und Enttäuschungen erfahren, ohne dass es in Folge dessen
den Wettkämpfen fern bleibt. Fasst man allerdings Emotionen als eine Form ganzheitli11
Zu berücksichtigen gilt an dieser Stelle, dass Emotionen nicht nur in Folge von Kognitionen entstehen, sondern eben auch durch Stimmungsübertragungen und physiologische Prozesse hervorgerufen werden können. Gute Beispiele für derartige emotionsauslösende Ursachen sind die Wirkungen
von Endorphinen oder Psychopharmaka, die über die Erzeugung einer Gefühlslage die Denkinhalte
mitbestimmen.
Zur Entstehung und Steuerung kollektiver Emotionen im Spitzensport
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cher Informationsverarbeitung, die selbst nicht zur Beobachtung zweiter Ordnung fähig
sind, so lässt sich die Vermutung äußern, dass die generelle Attraktivität des Erlebens
von Emotionen – also unabhängig davon, ob es sich um positiv oder negativ konnotierte Emotionen handelt – in einer spezifischen Form der Erzeugung von SeinsGewissheit zu sehen ist. Damit liegt aber der Schluss nahe, dass die Wettkämpfe des
Spitzensports für das Publikum nicht nur eine „spannende“ Alternative zu den
„langweiligen“ Routinen der Moderne (Bette & Schimank, 2000, S. 316) bilden, sondern vor allem auch Ereignisse in einer Gesellschaft darstellen, in der Kontingenz den
zentralen Eigenwert bildet (Luhmann, 1992), die also vor allem durch fundamentale
Unsicherheiten und Möglichkeitsüberschüsse gekennzeichnet ist und ihre Mitglieder
zu permanenten Entscheidungen und Reflexionen zwingt. Vor diesem Hintergrund
ermöglicht das Emotionserleben den Zuschauern von Sportereignissen zumindest für
einen begrenzten Zeitraum, den permanenten Entscheidungs- und Reflexionsdruck
auszublenden.
Fasst man Emotionen als Prozesse der Informationsverarbeitung, wird es auch möglich, eine Antwort auf die Frage zu entwickeln, weshalb die Veranstalter von Sportwettkämpfen sowie die Massenmedien bei ihrer Berichterstattung zunehmend auf
Emotionalisierungsprozesse setzen (vgl. Digel & Burg 1999, S. 37-39): Sie versuchen
ein möglichst großes Publikum zu gewinnen. Je größer das Publikum aber wird, desto
größer wird auch der Anteil der Laien unter den Zuschauern, also der Anteil derer,
die bezüglich der jeweiligen Sportart über nur geringe Kenntnisse und Erfahrungen
verfügen und somit die dargebotenen sportlichen Leistungen lediglich oberflächlich
einschätzen, nachvollziehen bzw. verstehen können. Während Experten über ein differenziertes Wissen und Unterscheidungsvermögen verfügen, sich auf Grund dessen
bei der Beobachtung eines Wettkampfes eine Vielzahl an Informationen erschließen
und sich an den vielfältigen Feinheiten erfreuen können, verfügen Laien nicht über
derartig komplexe Wissensbestände und Bebachtungsmöglichkeiten. Emotionalisierungsprozesse bieten daher den Laien nicht zuletzt Ansatzpunkte, sportlichen Wettkämpfen dennoch ein hohes Maß an Information abzugewinnen und ihnen somit
entsprechende Erlebniswerte beizumessen.
Mit dem Begriff der Affektlogik und der rekursiven Verknüpfung von Emotionen
und Kognitionen wiederum lässt sich erklären, weshalb Sportfans eine oftmals sehr
selektive bzw. gerichtete Wahrnehmung aufweisen. Forciert und fokussiert durch ein
hohes Maß an Identifikation kommt es zur emotionalen Bindung an die entsprechenden Sportler oder Vereine und zur Ausbildung entsprechender sich selbst stabilisierender Denk- und Gefühlsstrukturen. Dies kann dann bezüglich der Sachdimension
beispielsweise in der (Über-)Bewertung der sportlichen Leistungen münden. Auch
kann es mit Blick auf die Zeitdimension zum „verklärenden“ Erinnern an vergangene
Ereignisse sowie zu überzogenen Hoffnungen auf zukünftige Erfolge kommen. Hinsichtlich der Sozialdimension schließlich werden die Qualitäten des eigenen Vereins
nicht nur überhöht sondern auch die der Gegner, insbesondere der sogenannten Erz-
232
Lars Riedl
rivalen, abgewertet. Aus der wechselseitigen Bezugnahme von Emotionen und Kognitionen resultiert dann die je spezifischen Weltsicht des Fans, mit der Folge, dass
sich seine Zuneigung zu einem bestimmten Verein zwar oftmals einer rationalen Begründung entzieht, sich aber affektlogisch erklären lässt.
Mit Blick auf die Bewertungsfunktion von Emotionen wird schließlich deutlich, dass vor
allem zwei Aspekte maßgeblich Einfluss auf die Emotionsintensität der Sportzuschauer haben können. So ist diese erstens vom Ausmaß der Erwartungsenttäuschung abhängig, was im Sport z.B. daran deutlich wird, dass die Freude über einen Sieg umso
größer ist, je überraschender er zu Stande kommt. D.h., die ursprüngliche Erwartung,
dass man das Spiel wohl verlieren werde, wurde enttäuscht. Dies gilt in umgekehrter
Weise dann auch für Niederlagen und den daraus resultierenden Emotionen wie
Trauer und Ärger. Dagegen lösen Siege und Niederlagen, die man fest erwartet hat,
keine tief greifenden Emotionen aus. Bemerkenswert bleibt hier, dass – im Gegensatz
zu Ereignissen und Elementen der Kunst und Unterhaltung, wie z.B. Konzerte und
Theateraufführungen, Filme und Bücher, die ja oftmals auch darauf ausgerichtet sind,
Emotionen bei ihrem jeweiligen Publikum zu erzeugen, – Sportwettkämpfe über eine
ganz spezifische Qualität zur Erzeugung von Überraschungen und Enttäuschungen
verfügen. Denn der Verlauf und der Ausgang eines Wettkampfes ist ungewiss, und
dies gilt sowohl für die Zuschauer als auch für die Athleten.12 Sportwettkämpfe sind
keine Aufführungen, die extra für das Publikum gemacht werden, sondern der Zuschauer wohnt vielmehr einem Geschehen bei, welches sich als Entscheidungsverfahren beschreiben lässt und an dessen Ende erst Sieger und Verlierer feststehen (Bette
1989, S. 187). Insofern bemüht man sich ja auch Seitens des Sports stets darum, möglichst annähernd gleichstarke Konkurrenten gegeneinander antreten zu lassen, so dass
die prinzipiell gegebene Ergebnisoffenheit nicht durch die faktische Erwartungen des
Gegenteils seitens der Zuschauer konterkariert wird.
Wie gesehen bleibt die Emotionsintensität darüber hinaus von der Stärke der Selbstbindung an die Erwartungserfüllung abhängig. Denn Emotionen, wie Spannung, Freude,
Trauer, Ärger etc., intensivieren sich in dem Maße, in dem die Siege oder Niederlagen
eine entsprechende Bedeutung für den Zuschauer bzw. das psychische System haben
und sich hieraus möglicherweise größere Konsequenzen ergeben, wie es z.B. im
Kampf um die Meisterschaft oder um den Abstieg der Fall ist. D.h., je mehr sprichwörtlich auf dem Spiel steht, desto stärker werden die Emotionen. So fiebert man bei
einem Weltmeisterschaftsfinale wohl eher mit als bei einem unbedeutenden Freundschaftsspiel. Doch ist an dieser Stelle nicht nur die soziale Bedeutung eines Ereignis12
Seel (1996, S. 194) spricht in diesem Zusammenhang auch vom Gesetz der verzögerten Kulmination: „Die Begeisterung für den Sport ist ganz wesentlich die Begeisterung für diese Dramaturgie, die
einem Gesetz der verzögerten Kulmination. Sportliche Wettkämpfe steuern auf plötzliche Höhepunkte zu, und zwar so, dass man nie genau weiß, ob der Höhepunkt schon da war oder aber noch
kommen wird.“
Zur Entstehung und Steuerung kollektiver Emotionen im Spitzensport
233
ses anzuführen, sondern vor allem auch die Bedeutung, die der Zuschauer ihm individuell beimisst. Und dies hängt ganz wesentlich mit einer zweiten ganz wichtige Dimension der Publikumsbindung im Spitzensport zusammen, nämlich mit der Dimension der Identifikation (vgl. Riedl 2006, S. 74-85). Hier gilt: Je größer die Identifikation des Zuschauers mit Sportlern oder Vereinen ist, desto intensiver ist auch sein spezifisches Emotionserleben, desto größer wird auch die Bedeutung der sportliche
Wettkämpfe, weshalb unter Umständen auch schon Vorbereitungsspiele für Aufregung sorgen können.
Im nächsten Schritt gilt es nun wiederum zunächst auf einer allgemeinen Ebene, die
bisherigen Überlegungen um die Seite des Sozialen zu erweitern und nach der Bedeutung von Emotionen in sozialen Systemen zu fragen, um daran anschließend klären
zu können, wie der Spitzensport auf die individuellen Affektlogiken zugreifen und
kollektive Emotionen erzeugen kann.
4 Soziales System und Emotionen
Wie verhält es sich nun mit Emotionen in sozialen Systemen? Auf diese Frage lässt
sich zunächst eine verblüffend einfache Antwort gegeben: Soziale Systeme haben keine Emotionen. Emotionen sind Zustände von Personen bzw. psychischen Systemen.
Dies ist u.a. auf den physiologischen Aspekt von Emotionen zurückzuführen, der eine wesentliche Qualität des Emotionserlebens ausmacht. Aber diese Grundlage fehlt
sozialen Systemen, denn sie bestehen ja ausschließlich aus Kommunikationen. So
kann es zwar eine emotional gefärbte Kommunikation geben: Man schreit sich wutschnaubend an, die Stimme zittert vor Angst und Aufregung. Das bedeutet aber nur,
dass die Emotionen an der Art der Mitteilung der Kommunikation abzulesen sind, sie
selbst stellen jedoch nicht den Informationsverarbeitungsmechanismus des sozialen
Systems dar. Ein soziales System kann nicht fühlen. Zwar kann eine Gruppe von Personen in Panik geraten, d.h., die Personen haben Angst und das Interaktionssystem
wird durch entsprechende Schreie, Handlungen u.ä. bestimmt, das Interaktionssystem
selbst kann aber keine Angst haben. Im Umkehrschluss bedeutet dies nun allerdings
nicht, dass Emotionen in sozialen Systemen keine Bedeutung hätten. Vielmehr lassen
sich hier zwei grundlegende Aspekte benennen:
a) Soziale Systeme können über Emotionen kommunizieren, indem sie Emotionen
zum Thema oder Inhalt von Kommunikation machen. Aus dieser Perspektive
kommt vor allem der Informationsaspekt der Kommunikation in den Blick.
b) Soziale Systeme können auf emotionalisierten Kommunikationen basieren, was
meint, dass sich aus der Art und Weise, wie kommuniziert wird und Informa-
Lars Riedl
234
tionen mitgeteilt werden, Emotionen erschließen lassen. Diese Perspektive
fokussiert demzufolge den Mitteilungsaspekt von Kommunikationen.13
Diese beiden grundsätzlichen Formen der Emotionskommunikation bilden die Ansatzpunkte für die weiteren Überlegungen zur sozialen Erzeugung und Steuerung von
Emotionen. So lässt sich aus der Kommunikation über Emotionen die strukturelle Dimension kollektiver Emotionen ableiten. Damit ist gemeint, dass es soziale Strukturen gibt,
die maßgeblich auf die Emotionsentstehung und -regulierung Einfluss nehmen und
festlegen, welche Emotionen unter welchen Bedingungen sozial akzeptiert werden,
wie sie darzustellen sind und auf sie reagiert werden kann. Aus der emotionalisierten
Kommunikation wiederum lässt sich die operationale Dimension kollektiver Emotionen gewinnen. Diese bezieht sich auf Kommunikationsprozesse, wie z.B. Rituale und emotionale Ansteckung, die weniger durch ihre Inhalte als dadurch, wie sie diese mitteilen,
Emotionen auslösen. Diese beiden Dimensionen kollektiver Emotionen sollen im
Folgenden erörtert werden.
4.1 Die strukturelle Dimension kollektiver Emotionen
Die Strukturen sozialer Systeme werden allgemein auch als Erwartungen beschrieben
(Luhmann, 1984, S. 139). Insofern gilt es zu fragen, welche Erwartungen in sozialen
Systemen im Zusammenhang mit Emotionen von Bedeutung sind. Hier sind vor allem Emotionsregeln und Emotionssemantiken zu nennen.14 Mit Emotionsregeln ist gemeint, dass es in der Gesellschaft Regeln gibt, die festlegen, wann welche Emotion in
welchem Maße gefühlt oder gezeigt werden dürfen bzw. gezeigt werden müssen. Derartige Erwartungen existieren sowohl im Hinblick auf das Fühlen selbst als auch auf
den Ausdruck der jeweiligen Emotionen. Zum einen weiß man, wann man Schuldgefühle entwickeln sollte, wann man das Recht hat, sich zu ärgern, wann man sich freuen kann. Zum anderen gibt es mehr oder weniger deutliche Erwartungen darüber,
wann und wie man bestimmte Gefühle ausdrückt oder darstellt. So weiß man z.B.,
dass man auf einer Beerdigung nicht jubeln, sondern Trauer ausdrücken soll, es für
einen entfernten Bekannten des Verstorbenen allerdings auch nicht angemessen wäre,
laut schluchzend vor dem offenen Grab auf die Knie zu fallen. Derartige Gefühlsregeln sind dem sozialen Geschehen oft nur implizit und werden häufig erst durch abweichendes Verhalten deutlich. Als Erwartungserwartungen sind sie Strukturen sozia-
13
14
Simon (2004, S. 120) merkt zu Recht an, dass bei emotionalisierter Kommunikation der Kommunikationsmodus oftmals nicht eindeutig vom kommunizierten Inhalt zu trennen ist.
Nicht zuletzt ist an dieser Stelle vor allem auf die Arbeit von Arlie Hochschild (1990) zu verweisen,
deren zentrale Begriffe Emotionsnormen und Emotionsarbeit sind. Der Titel ihrer Studie „The Managed Heart“ wurde ins Deutsche leider etwas unpassend mit „Das gekaufte Herz“ übersetzt.
Zur Entstehung und Steuerung kollektiver Emotionen im Spitzensport
235
ler Systeme, bedingen die Konstruktion sozialer Wirklichkeit und wirken sich damit
auch auf die individuelle Realität und die individuellen Emotionen aus.15
Der Begriff der Emotionsregeln deutet darauf hin, dass es sich primär um normative
Erwartungen, also um Strukturen, wie z.B. Gesetze und Vorschriften, handelt. In unserem Zusammenhang ist der Begriff der Regel allerdings weiter in Richtung Regelmäßigkeit, Muster und Beobachtungs- bzw. Interpretationsschemata zu fassen, die
weiteres Operieren regulieren bzw. organisieren. Folgt man einer Einteilung von
Fiehler (1990, S. 78 ff.), so lassen sich vier Typen von Emotionsregeln unterscheiden:
Emotionsnormen, Kodifizierungsregeln, Manifestationsregeln und Korrespondenzregeln.
Emotionsnormen: Hierbei handelt es sich laut Fiehler um Emotionsregeln „im engeren
Sinne“16, die kodifizieren, welche Emotion für einen bestimmten Situationstyp aus
Sicht der betroffenen Person angemessen und aus Sicht anderer Beteiligter sozial erwartbar ist. Emotionsnormen schaffen also bestimmte „Auslösebedingungen“ und
stellen sozusagen Dramaturgien für das Spiel der Emotionen bereit. D.h., wenn bestimmte Konstellationen gegeben sind, dann entstehen mit einiger Wahrscheinlichkeit
bestimmte Emotionen (Vester, 1991, S. 95).
Kodierungsregeln: Einen ähnlich starken definitorischen, wenngleich weniger normativen
Charakter haben auch die Kodierungsregeln, denn mit ihnen wird bestimmt, welche
Verhaltensweisen, Gestiken, Mimiken, Ausrufe etc. als Ausdruck von Emotionen gelten. Sie setzen also überwiegend am Verhaltensaspekt von Emotionen an und
bestimmen, welche Manifestationen welche Emotionen erkennbar machen. So steht
z.B. Weinen für Traurigkeit, Lachen für Freude und Fingernägelkauen für Nervosität.
Die Kodierungsregeln legen die Symbole und Zeichen fest, die für bestimmte Emotionen stehen. „Die in der Interaktion von außen direkt beobachtbaren Phänomene
(körperliche Veränderungen, Mimik, Gestik, Verhalten etc.) werden durch ihnen unterstellte zugrunde liegende Emotionen (generierender Mechanismus) erklärt; d.h., sie
werden als ‚Ausdrucksverhalten‘ interpretiert“ (Simon, 2004, S. 121). Damit ist es ei15
16
Hochschild (1990) verdeutlicht dies am Beispiel einer Braut, deren Bräutigam nicht zur Trauung erscheint. Die Braut ist hin- und hergerissen zwischen der Trauer über den Verlust des zukünftigen
Ehemanns, der Scham wegen des Missgeschicks der falschen Partnerwahl und der Wut über das
Verhalten des Bräutigams. Erst als ihre Verwandten sich über das Verhalten des Bräutigams ärgern
und ihm die Schuld an der misslichen Situation zuweisen, ist die Braut in der Lage, als relativ eindeutiges Gefühl Wut zu empfinden. Hätte die Verwandtschaft die Braut überwiegend getröstet und
die Situation als Unglück oder Schicksal dargestellt, so hätten die entsprechenden Emotionsregeln
die Trauer in den Vordergrund geschoben. Und in dem Fall, dass die Schuld an der Situation der
Braut selbst zugerechnet worden wäre, weil sie sich den falschen Mann ausgesucht hat, hätte das
Schamgefühl überwogen.
Diese von Fiehler (1990) präferierte Engführung des Begriffs der Emotionsregeln kann zu unnötiger Verwirrung führen. Um bessere Differenzierungsmöglichkeiten zu erhalten, wird nachfolgend
eindeutig zwischen Emotionsregeln als Überbegriff sowie Emotionsnormen als Unterkategorie unterschieden.
236
Lars Riedl
nem Beobachter möglich, über Verhaltensweisen auf die Gefühlslage des anderen zu
schließen.
Manifestationsregeln: Ebenso wie die Kodierungsregeln setzen die Manifestationsregeln
– auch display rules genannt – am Verhaltensaspekt der Emotionen an, denn auch
bei ihnen geht es um den Zusammenhang von Emotion und Darstellung der Emotion, allerdings unter Einbeziehung der sozialen Situation. So legen Manifestationsregeln fest, welches Gefühl in welcher Situation wie intensiv zum Ausdruck gebracht
werden muss oder darf, beziehen sich also auf die Darstellung von Emotionen und
geben an, welcher Emotionsausdruck in welcher Situation angemessen, welcher unangemessen ist.
Korrespondenzregeln: Diese Regeln steuern die emotionale Reaktion auf Emotionen im
sozialen Kontext. Wenn also Alter in einer Situation als spezifisch emotional eingeschätzt wird, dann kodifizieren diese Regeln, wie Ego darauf zu reagieren hat. So ist
es z.B. nicht angemessen, über jemanden zu lachen, der gerade traurig ist, sondern es
wird erwartet, dass man eher verständnisvoll und tröstend reagiert oder aber ebenfalls trauert.
Die Ausbildung von Emotionsregeln steht im engen Zusammenhang mit Emotionssemantiken, also mit den gesellschaftlichen Vorstellungen und Beschreibungen von
Emotionen. Dabei gilt sowohl für die normativen als auch die semantischen Codierungen von Emotionen, dass sie durch ein Verhältnis der Inkommensurabilität gekennzeichnet sind. Die Regeln und Semantiken gehen nie vollständig auf, codieren
nicht alles und jedes in einem 1:1-Entsprechungsverhältnis. Vielmehr treten Überund Untercodierungen auf. Eine übercodierte Emotion ist durch eine Vielzahl von
Bedeutungselementen und Assoziationen bestimmt, wie z.B. die Liebe, deren Semantiken sich in der Lyrik übercodiert darstellen. „Ein spontaner emotionaler Ausdruck
hingegen, z.B. ein Lachen, isoliert von seinen Kontexten oder in Kontexten, die aufgrund der Unvertrautheit mit einer fremden Kultur unverständlich sind, ist untercodiert“ (Vester, 1991, S. 96).
Emotionsregeln und Emotionssemantiken limitieren die Möglichkeiten sozial anerkannter Formen des Emotionserlebens und emotionaler Reaktionen, aber sie determinieren Emotionen nicht. Gleichwohl bilden sie das gesellschaftliche Wissen über
Emotionen. Sie schaffen die Begrifflichkeiten, die zur Unterscheidung und Bezeichnung von Emotionen notwendig sind, wenn diese kommuniziert werden sollen. Sie
liefern die Beschreibungen von Emotionen und die Vorstellungen darüber, was „richtige“ bzw. „wahre“ Gefühle sind, und sie sind daher zentral für das Verstehen von
Emotionen, denn „mitgeteilte Emotionen können nur verstanden werden, wenn derjenige, der verstehen soll oder will, die mitgeteilten Emotionen kennt“ (Simon, 2004,
S. 121). Dies bedeutet, dass es letztlich einer gemeinsamen Wissensbasis bedarf, wenn
die Kommunikation über Emotionen und auch die emotionalisierte Kommunikation
verstanden werden soll. In Ansehung dieses Problems einer geteilten Wissensbasis
Zur Entstehung und Steuerung kollektiver Emotionen im Spitzensport
237
greift Ciompi (1997) im Rahmen seiner Theorie der kollektiven Affektlogik auf den
Begriff des Denkstils zurück, der bereits in den 1930er Jahren von dem Mikrobiologen Ludwik Fleck geprägt wurde. Flecks Annahme ist, dass die „Entstehung und
Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“ – so der Titel seines Buches (Fleck,
1980) – durch Denkstile und Denkkollektive geprägt wird.17 In diesem Konzept begegnen demnach Annahmen, die für die Emotionssoziologie interessant sein können.
So geht Fleck einesteils davon aus, dass es kein gefühlsfreies Denken gibt. „Der Begriff des überhaupt gefühlsfreien Denkens hat keinen Sinn. Es gibt keine Gefühlsfreiheit an sich oder reine Verstandesmäßigkeit an sich“ (Fleck, 1980, S. 67), womit genau
der Punkt angesprochen, der sich auch im Begriff der Affektlogik und in der Unterscheidung von Emotionen und Kognitionen als den zwei Seiten des Informationsverarbeitungsprozesses wiederfindet. Zum anderen verweisen Flecks Überlegungen aber
eben auch darauf, dass es durch Denkstile in Denkkollektiven zu gerichteten Wahrnehmungen, zu selektiven, aber sozial weitgehend geteilten Beobachtungen kommt,
worin der Begriff der Emotionsregeln seine Entsprechung findet.
4.2 Die operationale Dimension kollektiver Emotionen
Nun werden Emotionen allerdings nicht nur durch soziale Strukturen hervorgerufen
und gesteuert, sondern immer auch dadurch, wie Personen in bestimmten sozialen Situationen miteinander kommunizieren. So sind z.B. Interaktionssysteme, die sich ja
auf der Grundlage wechselseitiger Wahrnehmung konstituieren, dafür prädestiniert,
bei ihren Teilnehmern bestimmte Emotionen zu erzeugen, weil in ihnen emotionalisierte Kommunikationen besonders gut möglich und sichtbar werden. D.h., soziale
Systeme können Emotionen auch durch die Art und Weise ihrer Kommunikationsprozesse, also durch die spezifischen Formen ihrer Operationen erzeugen. Daher gilt
es im Folgenden die operationale Dimension kollektiver Emotionen näher zu betrachten, wenngleich der Soziologie für diese operationale Dimension kollektiver
Emotionen immer noch eine stabile fachwissenschaftliche Grundlage fehlt. Fragt man
nämlich nach Erklärungen zu emotionalisierten oder affektbasierten Kommunikationen in größeren Gruppen, so wird man schnell in den Bereich sozialpsychologischer
Theorien zur Masse und zu Menschenansammlungen verwiesen. Und für dieses Forschungsfeld gilt: “Crowds are the elephant man of the social sciences. They are
viewed as something strange, something pathological, something monstrous. At the
same time they are viewed with awe and with fascination” (Reicher, 2001, S. 182). Seit
den Arbeiten LeBon’s (1895), der als Begründer der Massenpsychologie gilt, wird davon ausgegangen, dass durch die Teilnahme an Massenveranstaltungen die normalen
psychologischen Fähigkeiten des Menschen ausgeschaltet werden und statt dessen
17
Mit seinen Überlegungen zu den Begriffen des Denkstils und des Denkkollektivs hat Fleck weitgehend Thomas Kuhns Begriff des Paradigmas und dessen Überlegungen zur „Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ vorweggenommen (Kuhn, 1976).
238
Lars Riedl
seine sonst so gut verborgene ursprüngliche Natur offengelegt wird. Damit ist den
Massentheorien ein Bias inhärent, der die Massen bzw. Menschenansammlungen als
den Einzelnen anonymisierend, destruktiv und irrational erscheinen lässt.18 Die Masse
stellt sowohl eine Gefahr für den Einzelnen dar, weil seine Selbstkontrolle geschwächt und antisoziales Verhalten gefördert wird, als auch für die Gesellschaft, deren soziale Ordnung zerstört werden könnte.
Ungeachtet dieser recht grundsätzlichen Diskussion ist nun aber für die Entstehung
und Steuerung kollektiver Emotionen vor allem die Erklärung eines ganz bestimmten
Sachverhalts von Bedeutung: Wie kommt es dazu, dass das Verhalten weniger durch
viele übernommen wird und damit so etwas wie kollektives Verhalten entsteht? Eine
mögliche Antwort hierauf liefert die Idee der emotionalen Ansteckungprozesse. Dabei basiert emotionale Ansteckung auf einer Tendenz zur Nachahmung und Synchronisierung von Gesichtsausdrücken, Vokalisierungen, Körperhaltungen und Bewegungen
mit anderen Personen mit dem Ziel, sich diesen Personen emotional anzunähern oder
anzugleichen (Hatfield, et al., 1994). Diese Prozesse verlaufen oftmals in einer eher
unbewussten Form der Mimese, sie können aber auch intentional erfolgen, weil eine
Person ihr Verhalten mit anderen Personen koordinieren oder synchronisieren will
(Kelly, 2001, S. 169). Damit es zu einer „Ansteckung“ kommt, ist es entscheidend –
wenn man bei diesem Bild bleiben möchte –, dass eine „Immunschwelle“ übersprungen wird. Allerdings sollte angesichts der bislang genutzten Theorie autopoietischer
Systeme – also Systeme, die über keinen operativen Umweltkontakt verfügen – klar
sein, dass der Begriff der Ansteckung nur eine Metapher sein kann, welche die eigentlichen Prozesse nur ungenügend abbildet, insofern sie impliziert, dass aus einem System ein „Krankheitserreger“ in ein anderes System übertragen wird. Demgegenüber
lautet der hier zu machende Vorschlag, dass der Prozess der Ansteckung, aus dem eine Synchronisierung des Erlebens und ein Nachahmen von Verhaltensweisen resultiert, stets über eine systeminterne Zustimmung hinsichtlich der eigenen Beobachtungen psychischer Systeme erfolgt. Dies ist analog zur vierten Selektion im Kommunikationsprozess zu denken, nämlich der Annahme/Ablehnung einer Kommunikation
(Luhmann, 1984, S. 203),19 mit dem Unterschied, dass diese Bewertungsprozesse ausschließlich im psychischen System erfolgen und sich auf die Wahrnehmung von Verhaltensweisen anderer beziehen. Genau in dieser Differenz der Annahme/Ablehnung
ist dann die Immunschwelle zu sehen.
Als ein Faktor, der maßgeblich die Höhe der Immunschwelle bestimmt, ist anzuführen, ob und in welchem Maße sich der Anzusteckende mit dem Ansteckenden identifiziert. Insbesondere in Situationen, in denen kaum Zeit zum Reflektieren bleibt,
18
19
Entsprechend wählte McPhail (1991) für seinen Überblick über die Theorieentwicklung der letzten
hundert Jahre den Titel „The Myth of the Madding Crowd“.
Luhmann beschreibt Kommunikation als ein Prozessieren von Selektionen, nämlich von Information, Mitteilung, Verstehen und eben der Annahme bzw. Ablehnung einer Kommunikationsofferte.
Zur Entstehung und Steuerung kollektiver Emotionen im Spitzensport
239
kommt demnach dem Zugehörigkeitsgefühl eine wichtige Funktion bei der Informationsverarbeitung zu, da es Kontingenz ausblendet (vgl. Vester, 1991, S. 195).20 Durch
das Zugehörigkeitsgefühl muss das Verhalten der anderen nicht geprüft werden, denn
wenn etwas wichtig, richtig oder gut für die anderen ist, so muss es auch für einen
selbst relevant sein.21 Oder anders formuliert: Soziale Nähe und Identifikation sind
zentrale Größen für die Wahrscheinlichkeit einer „Infektion“. Ähnlich äußert sich
auch Ciompi (1997, S. 247 f.): „Die potenzierenden Effekte einer großräumigen emotionalen Ansteckung hängen aller Wahrscheinlichkeit stark mit Gruppenzugehörigkeitsgefühlen zusammen. […] Noch deutlicher als im individuellen Feld sind im kollektiven Bereich ebenfalls die Attraktorenfunktionen von derartigen Eigenwelten
(oder Denkstilen, Denkkollektiven) erkennbar, da diese hier durch affektive Ansteckung und imitatorisch-identifikatorische Rückkopplungsprozesse noch mächtig potenziert werden.“ Darüber hinaus sind die in den jeweiligen Situationen zur Geltung
kommenden Emotionsregeln von Bedeutung. D.h., es müssen die entsprechenden
Auslösebedingungen für Emotionen er- und gekannt werden (Emotionsnormen),
Wissensbestände bezüglich der Emotionsdarstellung verfügbar sein (Manifestationsregeln) sowie die Möglichkeiten gegeben sein, abschätzen zu können, ob das eigene
Verhalten eine legitime Reaktion auf die Emotionen der anderen darstellt (Korrespondenzregeln), so dass es auf der Basis derartig kollektiv geteilter Affektlogiken zu
emotionalen Ansteckungsprozessen kommen kann.
An das Konzept der emotionalen Ansteckung lässt sich Granovetter’s threshold model of collective behavior anschließen (Grannovetter, 1978; Schimank 2000, S. 244ff).
Ausgangspunkt seiner Überlegung ist, dass jeder Akteur eine individuelle Immunschwelle bzw. einen eigenen Schwellenwert aufweist, der überschritten werden muss,
damit er sich anstecken bzw. zu einem kollektiven Verhalten mobilisieren lässt. Der
jeweilige Schwellenwert eines Akteurs ergibt sich aus dem Anteil der anderen Akteure,
die bereits mobilisiert sein müssen, damit sich auch dieser Akteur anstecken lässt
(Granovetter, 1978; S. 1422). Während manch einer leicht mobilisierbar ist, also anteilmäßig nur wenige Mitstreiter benötigt, schließen sich andere erst an, wenn bereits
mehr als die Hälfte oder fast alle Beteiligten mobilisiert sind. Damit es zu einer Ansteckung aller Beteiligten kommt, ist es daher notwendig, dass eine entsprechend günstige Verteilung der Schwellenwerte vorliegt, es also genügend Akteure mit niedrigen
und mittleren Schwellenwerten gibt, so dass der Anteil der Mobilisierten kontinuierlich wächst und letztlich auch die Akteure mit hohen Schwellenwerten von der kollektiven Dynamik erfasst werden. Andernfalls wird dieser Prozess, der mit dem Dominoeffekt bzw. einer Kettenreaktion vergleichbar ist, unterbrochen und kommt zum
20
21
Man kann darin auch eine wichtige adaptive Funktion sozialer Einheiten sehen (Kelly, 2001, S. 168).
Thiel (2003) beschreibt diese Ausrichtung an Denkkollektiven als einen typischen Mechanismus der
Koalitionsbildung in eskalierenden Konfliktsystemen.
240
Lars Riedl
Erliegen, mit der Folge, dass nur ein kleinerer Anteil der Beteiligten mobilisiert wird,
während der Rest passiv bleibt.
Das Konzept der emotionalen Ansteckung ist ein Modell von Emotionsprozessen in
Gruppen oder Menschenmengen, mit dem man vor allem die unkontrollierte, epidemische Ausbreitung von Emotionen assoziiert. Die kollektiven Emotionen entstehen
quasi als „bottom up“-Prozess innerhalb unstrukturierter Menschenmengen. Darüber
hinaus lassen sich auch stärker strukturierte und regulierte Ansteckungsprozesse benennen, die eher „top-down“ erfolgen. Gemeint sind hier vor allem Rituale und Inszenierungen, deren generelle Funktion im Hinblick auf kollektive Emotionen darin zu sehen ist, dass sie Ereignisse mit Bedeutungen aufladen und somit eine höhere Emotionalität ermöglichen. Gleichzeitig schaffen sie Verhaltenssicherheit, denn sie laufen
nach vorab festgelegten und damit durch die Tradition sanktionierten Mustern ab.
Damit tendiert das Ritual dazu, formalistisch, stereotyp und rigide zu sein, und es
verhindert spontane Ausdrücke von Gefühlen, sofern sie nicht den vom Ritual geforderten öffentlichen Emotionen entsprechen (Platvoet, 1998, S. 176). Jedes Ritual ermöglicht also nur das Ausleben jeweils ganz spezifischer Emotionen, dieses Ausleben
wird dann allerdings auch gefordert. Während spontane Ansteckungsprozesse unkontrolliert und prinzipiell in jede emotionale Richtung verlaufen können, sind Rituale also extrem (emotions-)regelgeleitete Prozesse, die jeweils ganz spezifische Affektlogiken einspuren. Hier gibt es keine Beliebigkeit, sondern es handelt sich um einen Mechanismus zur Reduktion von Unsicherheit, der die Kontingenz der Ordnung und
Werte, die sie repräsentieren, überdeckt. In Ritualen sind Kritik und Zweifel am Ritual selbst fehl am Platz und müssen ausgegrenzt werden, soll das Ritual funktionieren.
Rituale ermöglichen daher die Synchronisierung individueller Affektlogiken und erzeugen somit kollektive Emotionen.
Fragt man nun nach der Entstehung kollektiver Emotionen bzw. Affektlogiken im Sport,
so lassen sich die wichtigsten Emotionen des Sportpublikums in einem ersten Schritt
aus der Handlungslogik des Spitzensports, die sich über den binären Code
„Sieg/Niederlage“ konstituiert, herleiten: Da ist zunächst einmal Spannung zu nennen, denn (lustvolles) Spannungsempfinden resultiert grundlegend aus der Ergebnisoffenheit von Wettkämpfen (vgl. Bette & Schimank 1995, S. 59ff). Im Umkehrschluss
bedeutet dies, dass Wettkämpfe, bei denen es eine hohe Erwartungssicherheit bezüglich des Ausgangs gibt, als langweilig empfunden werden und daher für viele Zuschauer nicht interessant sind. Während die Emotion „Spannungsempfinden“ daraus
resultiert, dass noch nicht zwischen Sieg und Niederlage entschieden wurde, ergeben
sich andere Emotionen vor allem durch den Bezug auf jeweils nur einen der beiden
Codewerte. So lassen sich mit Siegen Emotionen wie Freude und Stolz verbinden, mit
Niederlagen hingegen Wut, Ärger und Trauer. Mit der Theorie der Affektlogik wird
dann erklärbar, weshalb z.B. bei Freude über einen Sieg sportliche Leistungen so
schnell überbewertet, Schwachpunkte hingegen nicht gesehen werden. Ebenso ist unter Wut oder Ärger oftmals nur eine sehr einseitige, wenig differenzierte Sichtweise
Zur Entstehung und Steuerung kollektiver Emotionen im Spitzensport
241
möglich, denn die vorherrschenden Affekte lassen eben nur ganz bestimmte Kognitionen zu. Die Konkurrenzsituation in sportlichen Wettkämpfen drängt gewissermaßen
das Publikum zur Parteinahme und lässt dabei eine Konfliktlogik entstehen, welche
die bekanntermaßen oftmals sehr einseitige Sichtweise der Zuschauer hervorruft. Alles wird mit dem Schema „Freund/Feind“ beobachtet, Objektivität ist dabei kaum
möglich, und sie wäre unter dem Aspekt des Emotionserlebens wohl auch eher als
hinderlich einzuschätzen, insofern sie die Selbstbindung an die eine oder andere Partei und damit die Gefühlsintensität reduziert.
Für die Frage nach den konkreten Ausprägungen von Affektlogiken beim Sportpublikum ist man zunächst maßgeblich auf die strukturelle Dimension kollektiver Emotionen
verwiesen, die durch Emotionsregeln und Emotionssemantiken bestimmt wird. Eine grundlegende Erwartung, die sich mit der Zuschauerrolle verbindet, ist, dass die Sportzuschauer ihre Emotionen zeigen und ausleben sollen (vgl. Melnick, 1993; Bette &
Schimank, 2000). In welcher Weise dies geschehen kann, wird durch spezifische
Emotionsregeln und Verhaltenscodizes festgelegt, die aber je nach Kontext – wie z.B.
der Sportart, dem jeweiligen Publikumssegment oder aber auch in zeitlicher Hinsicht
– variieren können. So sind beispielweise die anerkannten Formen des Jubelns im
Eishockey andere als im Golfsport. Gilt im ersten Fall zumeist die Devise „möglichst
lange und laut“, so hat im zweiten Fall während der Schlagvorbereitung und Ausführung absolute Ruhe zu gelten. Jubel ist weitgehend nur als gemäßigter Applaus nach
den einzelnen Aktionen zulässig. Deutliche Unterschiede zeigen sich auch innerhalb
des jeweiligen Stadionpublikums, denn während man in den Fanblöcken seine Anhängerschaft durch möglichst permanente Anfeuerung demonstriert, gelten auf den
VIP-Tribünen oftmals andere Verhaltensregeln. Und auch aus historischer Perspektive wird deutlich, dass sich die Emotionsregeln für das Sportpublikum ändern können.
Man denke hier nur an das Aufkommen und Abebben der so genannten La-OláWelle oder an die mit den Ultra-Gruppierungen entstandenen neuen Formen der
Selbstinszenierung der Fußball-Fans. D.h., Emotionsregeln gelten nicht überall und
für jeden im gleichen Maße. Vielmehr ist ihre Entstehung, ihr Geltungsbereich sowie
ihre Reproduktion als kontextabhängig zu verstehen. Gemeinsame Voraussetzung für
die Wirksamkeit der Emotionsregeln ist, dass sie dem Publikum bekannt sind und gelernt wurden. Es bedarf also entsprechender Sozialisations- oder gar Erziehungsprozesse. Als Normalfall ist dabei wohl anzusehen, dass neue Zuschauer durch Beobachtungen des erfahrenen Publikums und entsprechende Vermittlungsversuche seitens
der Veranstalter oder der Athleten sozialisiert werden.
Über diesen Aspekt der Handlungssteuerung hinaus fungieren Emotionsregeln auch
im Sport zugleich als Beobachtungs- und Interpretationsschemata. Man denke beispielsweise nur an den Aufschrei (hier bereits als Singular), der durchs Stadion geht,
wenn ein Spieler der Heimmannschaft rüde gefoult wird. D.h., ein rüdes Foul ist nicht
nur qua Spielregel verboten und von Schiedsrichtern zu ahnden, sondern das Publikum hat in diesem Moment die Möglichkeit, über die übertriebene Härte entrüstet zu
242
Lars Riedl
sein. Die mit der Identifikation mit der Heimmannschaft in Verbindung stehenden
Affektlogiken und Emotionsregeln führen hier zu einer Aufmerksamkeitsfokussierung, zu einer spezifischen Bewertung bestimmter Situationen sowie entsprechender
Kommentierung, so dass es zu einer Synchronisierung der Entrüstungsäußerungen
kommt. Emotionsregeln sind demnach also nicht nur als Vorschriften, sondern ebenso als Deutungsmuster für Situationen zu verstehen, an denen sich Emotionen entzünden können. Als funktional äquivalent einzuschätzen sind auch die semantischen
Aufladungen von Wettkämpfen (wie z.B. „David gegen Goliath“, „das Derby“ etc.)
und von Sportlern, indem sie als Helden stilisiert werden (vgl. Bette 2007).22
Wie verhält es sich nun mit der operationalen Dimension kollektiver Emotionen beim Sportpublikum? Mit Blick auf emotionale Ansteckungsprozesse lässt sich festhalten, dass sie im
Spitzensport en masse vorkommen und oftmals bei den Zuschauern sogar einen „Enthusiasmus über den Enthusiasmus der Anderen“ nach sich ziehen (Bette & Schimank, 2000, S. 315). Dies wird im Sport, im Gegensatz z.B. zu Rockkonzerten, besonders durch die räumliche Anordnung des Publikums in den Stadien und Hallen
gefördert. Denn die Zuschauer sind nicht alle gleichermaßen frontal auf eine Bühne
ausgerichtet, sondern sie sind vielmehr rund um das Wettkampfgeschehen verteilt, so
dass nicht nur die Athleten von allen Seiten gesehen werden, sondern auch die wechselseitige Beobachtung der Zuschauer untereinander gefördert wird. Und diese wechselseitige Wahrnehmung ist im Sinne des Schwellenwertmodells von Granovetter
(1978) eine Grundvoraussetzung für Mobilisierungs- bzw. emotionale Ansteckungsprozesse, denn so kann der Zuschauer leicht erkennen, wie viele jubeln und ob sein
Schwellenwert bereits überschritten wurde. Wie bereits allgemein ausgeführt variiert
die Höhe des jeweiligen Schwellenwertes unter den Zuschauern. Dies erklärt, weshalb
nicht bei jeder Aktion immer gleich das ganze Stadion Kopf steht. Dabei steht bezüglich des den Schwellenwert absenkenden Faktors „Identifikation“ zu vermuten, dass
dieses Zugehörigkeitsgefühl insbesondere bei den Zuschauern in den Fan-Blöcken
besonders hoch ausgeprägt ist, so dass es dort bereits auf Grund dieses Sachverhalts
zu emotionsintensiven Stimmungen kommt. Auch ist davon auszugehen, dass in diesem Zusammenhang Emotionsregeln eine besondere, wenngleich oftmals auch differenzierende Rolle spielen. Denn für das Gelingen von Ansteckungsprozessen ist es
wichtig, dass die jeweiligen Auslösesituationen erkannt und verstanden werden. Doch
während ein Tor eigentlich für jedermann als Anlass für Freude oder Ärger erkannt
wird, können nur relativ wenige eine den Raum öffnende Flanke oder ein schlechtes
Stellungsspiel als Auslösemoment für eine emotionale Reaktion decodieren. Darüber
hinaus lassen sich auch Unterschiede hinsichtlich der Wirksamkeit von Manifestati22
Aber auch hier bleibt wie bezüglich der Emotionsregeln festzuhalten, dass die Frage, welche Emotionssemantiken sich ausbilden, auf einer theoretischen Ebene kaum mehr beantwortet werden kann,
sondern ihr auf der Basis empirischer Analysen nachgegangen werden muss. Es ist davon auszugehen, dass hierbei Variablen wie lokale/regionale Besonderheiten, die Historie und dem Image des
Vereins, spezifische Spieler(-typen) oder die Sportart ihren Niederschlag finden.
Zur Entstehung und Steuerung kollektiver Emotionen im Spitzensport
243
ons- und Korrespondenzregeln vermuten, denn während es auf denVIP-Tribünen
möglicherweise eher schicklich ist, sich kühl und distanziert zu geben, gilt unter den
Fans ja vielmehr die Norm, lautstark seine Mannschaft zu unterstützen. Daher kann
es für das Gelingen großflächiger Ansteckungsprozesse im Sportpublikum auch besonders bedeutsam sein, dass die Sportler selbst ihre Emotionen sichtbar machen. So
können sie, indem sie über den Torjubel ihrer Freude Ausdruck geben oder mit der
sogenannten „Beckerfaust“ ihre Entschlossenheit demonstrieren, und so erheblich zu
einer Emotionalisierung der Situation beitragen und das Publikum anstecken.
Ohne Zweifel ist der Spitzensport auch durch vielfältige Rituale und Inszenierungen gekennzeichnet, die darauf abzielen, kollektive Emotionen beim Publikum zu erzeugen
und in den Stadien und Hallen entsprechende Stimmungen und Atmosphären herzustellen, die Prozesse der emotionalen Ansteckung auslösen oder befördern können.
Hier sind insbesondere die Zuschauer in den Fan-Blöcke zu nennen, die das Erzeugen von Stimmung als zentrales Moment ihres Fan-Seins definieren und über entsprechende Rituale ihren kollektiven Zusammenhalt zu befördern versuchen (Balke,
2007). Im Hinblick auf Emotionen ist die Funktion der Rituale vor allem in der Bewältigung der Ergebnisunsicherheit sowie der Unsicherheiten im individuellen Emotionsmanagement zu sehen, denn „the quasi-religious behavior helps followers to
dance towards the unknown“ (Percy & Taylor, 1997, S. 43). D.h., gerade weil sich die
Fans so stark mit ihren Vereinen identifizieren, erleben sie die entsprechenden Emotionen viel intensiver und benötigen daher Rituale, um jene wieder zu kanalisieren.
Rituale und kollektive Stimmungserzeugung werden aber nicht nur von den Fans hervorgebracht und getragen, sondern seit einigen Jahren lässt sich beobachten, dass nahezu alle Spitzensportereignisse dem Trend zum Event folgen. Die Veranstalter entwickeln Rahmenprogramme und – was in diesem Zusammenhang noch wichtiger ist
– setzen gezielt auf Inszenierungen, wie z.B. beim Einlaufen der Spieler oder während
des Wettkampfes durch Animationsversuche per Videowürfel oder Hallensprecher,
um ihrerseits Einfluss auf die Emotionen des Publikums zu nehmen. Inwieweit derartige Versuche erfolgreich sind, ist davon abhängig, ob es den Veranstaltern und Hallensprechern gelingt, die jeweils aktuell vorherrschende Affektlogik zu erkennen und
nachzuvollziehen und diese im Falle von positiven Stimmungen zu verstärken, im negativen Falle hingegen zumindest hinsichtlich ihrer Intensität zu reduzieren und in
Richtung einer positiveren Affektlogik einzuspuren. An welchen Punkten derartige
Steuerungsversuche kollektiver Emotionen ansetzen können, soll im abschließenden
Kapitel skizziert werden.
5 Zur Steuerung von Publikumsemotionen
Mit der Entwicklung des vorliegenden emotionssoziologischen Modells war die Zielsetzung verbunden, eine theoretische Erklärung dafür zu finden, wie der Spitzensport
als soziales System auf das Erleben und Ausleben von Emotionen der Zuschauer
244
Lars Riedl
zugreifen und Einfluss nehmen kann. Um eine hinreichende theoretische Tiefenschärfe zu erlangen, war es notwendig, dieses Modell über den spezifischen Kontext
des Spitzensports hinaus zu generalisieren und als ein allgemeines emotionssoziologisches Modell zu konzipieren. Folgende Grundeinsichten bleiben daher festzuhalten:
Auf der Basis der Theorie der Affektlogik kann unter der Annahme der permanenten
Informationsverarbeitung für psychische Systeme ein rekursiver Operationszusammenhang von Emotionen und Kognitionen aufgezeigt werden, der affektiv-kognitive
Eigenwelten erzeugt und alles Denken und Wahrnehmen in diese Affektlogiken einspurt. Emotionen können in diesen Zusammenhang sowohl eine Filter- als auch eine
Bewertungsfunktion übernehmen. In letzterem Falle ist die Emotionsentstehung
grundlegend auf zwei Faktoren zurückzuführen, nämlich die Höhe der Erwartungsenttäuschung und die Stärke der Selbstbindung an die Erwartung.
Blickt man auf die Seite sozialer Systeme, bleibt festzuhalten, dass diese selbst zwar
über keine Emotionen verfügen, dass Emotionen aber dennoch in zwei unterschiedlichen Formen eine Rolle spielen. So können aus Kommunikationen bestehende Systeme zum einen über Emotionen kommunizieren, zum anderen können sie emotionalisierte Kommunikationsprozesse erzeugen. Aus diesen beiden Formen lassen sich
zwei Dimensionen kollektiver Emotionen ableiten: die strukturelle und die operationale Dimension kollektiver Emotionen. Ersterer sind vor allem die Emotionsregeln
und Emotionssemantiken zuzuordnen. Diese bilden einen wesentlichen Bestandteil
des gesellschaftlichen Wissens über Emotionen, kodifizieren das Erleben und Ausleben von Emotionen und regulieren soziales Handeln, d.h., sie zielen auf den Verhaltensaspekt von Emotionen und damit auch auf die Auswirkungen individueller Emotionen in Form von Kommunikationen oder Handlungen in sozialen Systemen. Darüber hinaus liefern sie den psychischen Systemen auch sozial vermittelte Interpretationsschemata, über die diese ihre Wahrnehmungen steuern und an denen sie ihre eigene Erwartungsbildung ausrichten können.
Setzten Emotionsregeln und -semantiken vor allem im Bereich kognitiver Informationsverarbeitungsprozesse psychischer Systeme an, greift die operationale Dimension
kollektiver Emotionen primär auf den Bereich der emotionalen Informationsverarbeitungsprozesse zu. Ansteckungsprozesse, die durch spontanes Gruppenverhalten oder
Inszenierungen und Rituale ausgelöst werden, versuchen, über die Erzeugung von
Stimmungen spezifische Affektlogiken einzuspuren. Eine wichtige Vorraussetzung
für das Gelingen großflächiger Ansteckungsprozesse ist, dass eine hinreichende Zahl
an Gruppenmitgliedern niedrige „Immunschwellen“ aufweisen, sich frühzeitig „infizieren“, um dann auch diejenigen mit höheren Schwellenwerten anzustecken. Maßgeblichen Einfluss auf die Höhe der jeweiligen Schwellenwerte haben die kontextspezifischen Emotionsregeln sowie das Ausmaß der Identifikation mit der sozialen
Gruppe. Denn je höher diese Bindung an die Gruppe ist, desto größer wird die
Wahrscheinlichkeit der Ansteckung bzw. „Infektion“. D.h., obwohl soziale Systeme
über keine eigenen Emotionen verfügen, können sie auf der Basis ihrer Strukturen –
Zur Entstehung und Steuerung kollektiver Emotionen im Spitzensport
245
also der sozialen Regulierung von Emotionen und eines geteilten Wissens über Emotionen – sowie ihrer Operationen – also emotionalisierter Kommunikation bzw. emotionaler Ansteckungsprozesse – eine Synchronisierung individueller Affektlogiken erreichen und so gewissermaßen kollektive Emotionen erzeugen.
psychisches System
strukturelle Dimension
kollektiver Emotionen
• Emotionsregeln
• Semantiken
soziales System
Filterfunktion
Handlungen/
Kommunikation
Emotion
Kognition
a) Kommunikation über Emotionen
b) Emotionalisierte Kommunikation
Bewertungsfunktion
(Substitutionsfunktion)
Verhaltensaspekt
Erlebnisaspekt
physiologischer
Aspekt
operationale Dimension
kollektiver Emotionen
• Ansteckungsprozesse
• Inszenierungen/Rituale
Abbildung 1: Das emotionssoziologische Modell kollektiver Emotionen
Es ist klar, dass die aus diesem allgemeinen emotionssoziologischen Modell ableitbaren Ansatzpunkte zur Steuerung der Zuschaueremotionen im Spitzensport ebenfalls
auf einer allgemeinen Ebene liegen. D.h., konkrete Anleitungen und schnell umzusetzende Maßnahmen können und sollen im Rahmen dieses Aufsatzes nicht vorgestellt
werden. Denn dies erfordert Kenntnisse über die jeweiligen Strukturen und spezifischen Affektlogiken vor Ort. Folgte man hier scheinbar allgemeingültigen „Erfolgsrezepten“ ohne Berücksichtigung der jeweiligen Hintergründe und spezifischen Kontextbedingungen, so liefe man schnell Gefahr, Probleme zu verstärken, anstatt sie zu
lösen. Gleichwohl ist damit nicht ausgeschlossen, an Hand des vorliegenden Modells
drei grundlegende Möglichkeiten der Steuerung von Zuschaueremotionen aufzuzeigen, bietet dies dem Praktiker doch zumindest die Möglichkeit, seine spezifischen
Strategien im Umgang mit seinem Publikum im Lichte der hier dargelegten Theorie
246
Lars Riedl
zu beobachten und zu reflektieren, welche Prozesse und Folgen damit ausgelöst werden.
In diesem Sinne bildet den ersten Ansatzpunkt der Reflexion das Auslösen und die Förderung von Ansteckungsprozessen. Dies meint zunächst einmal, spontanen Ansteckungen
bezüglich positiver Emotionen den notwendigen Raum zu lassen, diese nicht zu unterdrücken, sondern eher zu befördern. Nicht ohne Grund werden oftmals die Ticketpreise im Bereich der Fanblocks niedrig gehalten, denn so gewinnt man ein spezifisches Teilpublikum, das eigeninitiativ Stimmung erzeugt und damit das restliche
Publikum, was sich nur schwerer begeistern lässt, anstecken kann. Darüber hinaus
können entsprechende Inszenierungsprozesse – beispielsweise mittels Hallensprecher
und Einpeitscher, Musik und Lichteffekte, einstudierter Choreografien und tradierter
Rituale – spezifische Affektlogiken hervorrufen. Dabei ist aber zu beachten, dass diese kollektiven Affektlogiken auf kollektiven Denkstilen, also auf sozial geteiltem Wissen basieren. Es ist daher auch nicht jeder Inszenierungs- und Animationsversuch geeignet, Emotionen auszulösen. Dies gelingt nur, wenn er nicht den vorherrschenden
Affektlogiken des Publikums widerspricht, sondern sich in diese Logiken einfügen
lässt. Insofern empfiehlt sich für die Veranstalter eine enge Zusammenarbeit mit den
Fan-Clubs, denn jene lernen auf diese Weise deren spezifische Affektlogiken besser
kennen, reduzieren das Risiko künstlich wirkender „Stimmungsmache“ und können
sich darüber hinaus auch noch der Unterstützung durch die Fan-Blöcke vergewissern.
Der zweite Ansatzpunkt zur Steuerung des Emotionserlebens des Sportpublikums ist
in der Erzeugung und Justierung von kognitiven und normativen Erwartungshaltungen zu sehen.
Insbesondere im Hinblick auf sportliche Erfolge kann es von Bedeutung sein, auf die
Erwartungen des Publikums Einfluss zu nehmen, denn Emotionen entstehen durch
Überraschungen und Enttäuschungen von Erwartungen. Hier gilt es letztlich, eine
passende Abstimmung zu finden, die mittelfristig sowohl die Freude über Siege als
auch die Trauer über Niederlagen ermöglicht, denn Freude ist nur möglich, wenn
Enttäuschungen die Erwartungen nicht zu stark steigen lassen, also die Anspruchshaltung nicht zu hoch wird. Damit werden zwar kurzfristig jeweils unterschiedliche Operatorenwirkungen der Emotionen ausgelöst (Freude führt zu Bindung, Trauer hingegen löst sie auf), dennoch wird durch die unterschiedlichen Emotionen letztlich ein
intensiviertes Emotionserleben ermöglicht, dass langfristig zu einer stabileren Publikumsbindung führen kann. Insofern gilt es, mit einer entsprechend ausgerichteten
Öffentlichkeitsarbeit die Anspruchshaltungen des Publikums gezielt zu beeinflussen.
Darüber hinaus können über die Einführung neuer Emotionsregeln neue Verhaltensstandards und Darstellungsformen der Publikumsemotionen entwickelt werden, wie
z.B. neue Formen der Anfeuerung, aber auch die Ablehnung von Beleidigungen des
Schiedsrichters oder gegnerischer Spieler. Auch hier empfiehlt sich eine Zusammenarbeit mit den Fan-Clubs.
Zur Entstehung und Steuerung kollektiver Emotionen im Spitzensport
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Der dritte Ansatzpunkt liegt in der Verstärkung der Identifikation und Bindung des Publikums. Eine engere Bindung lässt sich beispielsweise durch die Herausstellung der besonderen Relevanz eines Sportereignisses (entscheidendes Spiel, Finale etc.) und vor
allem durch die Verstärkung der Identifikation der Zuschauer mit den Sportlern und
Vereinen befördern, so dass dem Ausgang eines Wettkampfes letztlich eine höhere
Bedeutung zugemessen würde. Nur auf Grund der emotionalen Nähe zu den Sportlern oder Clubs bekommen Erwartungsenttäuschungen und -überraschungen überhaupt eine größere Relevanz für das Emotionserleben. Deshalb ist es entscheidend,
dass Sportler und Vereine attraktive Profile entwickeln und damit die Herausbildung
kollektiver Identitäten ermöglichen. Denn eine enge Bindung steigert zum einen die
Emotionsintensität, zum anderen erhöht sie die Wahrscheinlichkeit der emotionalen
Ansteckung.
Um nun allerdings einem überzogenen Steuerungsoptimismus vorzubeugen, ist es
wichtig zu sehen, dass die Protagonisten des Spitzensports, also Sportler und Mannschaften, Vereine und Verbände stets nur einen Teil des Kollektivs darstellen. Sie
können daher bei ihren Versuchen, kollektive Emotionen zu wecken, immer nur
kommunikative Anstöße geben, sie aber keineswegs per Dekret beschließen. Ob sie
beim Publikum dann auch Resonanz erzeugen, ist vor allem davon abhängig, dass
derartige Offerten nicht den Affektlogiken der Zuschauer zu widerlaufen, sondern an
diese passend anschließen. Hierin ist die eigentliche Kunst gelingender Steuerungsversuche zu sehen. Denn diese Affektlogiken sind stets kontextabhängig. Sie entwickeln
sich auf der Basis der gemeinsamen Geschichte von Sportlern, Vereinen und Zuschauern, und sie entwickeln sich auf der Basis gemeinsamer Werte und kultureller
Gepflogenheiten. Während man z.B. in Köln mit einem Karnevalslied innerhalb von
wenigen Sekunden ein ganzes Stadion zum Schunkeln bekommt, würde man in Bielefeld nur eisiges Schweigen oder gar Pfiffe ernten.
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Dr. Lars Riedl
Universität Bielefeld
Abteilung Sportwissenschaft
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