Wundermittel mit Nebenwirkungen

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18 TITELTHEMA KREBS
Beobachter 16/2017
Wundermittel mit
Nebenwirkungen
Neue Krebsmedikamente aktivieren die Abwehrkräfte des Körpers.
Die Erfolge der Immuntherapie sind traumhaft. Die Kosten ein Alptraum.
TEXT: IRÈNE DIETSCHI; FOTOS: JOSEPH KHAKSHOURI
20 TITELTHEMA KREBS
K
Das Immunsystem solls richten
Die Chemotherapie zielt darauf ab,
­Tumorzellen mit hochtoxischen Subs­
tanzen zu bekämpfen, wobei neben
dem erkrankten auch gesundes Ge­
webe zugrunde geht. Die Immun­
therapie dagegen stärkt die Fähigkeit
des Körpers, Krankheitserreger zu be­
seitigen. Sie powert das körpereigene
Immunsystem so auf, dass es wieder
imstande ist, Tumorzellen zu erken­
nen und aus dem Weg zu räumen.
Die Idee dahinter ist alt. Schon vor
über 100 Jahren formulierte der deut­
sche Arzt Paul Ehrlich die These, das
menschliche Immunsystem könne
Der lange
Kampf gegen
den Krebs
*Name geändert
schnitten mir dann einen halben Lun­
genflügel heraus», erzählt er. 14 Tage
Spital, 14 Tage Reha auf Heiligen­
schwendi, dort oben sei er wieder rich­
tig «zwäg gekommen».
Aber nicht für lange. Wiget hatte
gegen Ende 2016 einen Rückfall mit
Ablegern in Lymphknoten in Brust
und Hals. «Ein Problem, das wir bei
Patienten mit Lungenkrebs oft sehen»,
sagt Onkologe Gautschi. Eine Chemo­
therapie hätte in seinem Fall nur eine
geringe Chance auf Erfolg ­gehabt.
Medikamententest: Unter­halb
des Schlüsselbeins ist ein Port
implantiert, über den die Mittel
in die Blutbahn tröpfeln.
nebst Viren oder Bakterien wahr­
scheinlich auch Krebszellen abweh­
ren. Aber erst in den 1990ern gelang es
Forschern im Labor, die Immun­
antwort bei Krebs mit einem Trick zu
stimulieren. Das erste Medikament
kam 2011 auf den Markt.
Zurzeit würde zwar nur einer von
zwölf Krebspatienten die Krankheit
dank der Immuntherapie überleben,
rechnete kürzlich die «New York
Times» vor. Doch bei gewissen Krebs­
formen erzielt sie erstaunliche Erfolge.
So sprechen zum Beispiel 20 bis 25
Prozent der Lungenkrebspatienten auf
die neuen Wirkstoffe an – nachhaltig.
Einer von ihnen ist Toni Wiget*.
«Wenn ich da nicht mitgemacht hätte,
wäre ich nicht mehr hier», sagt der
61-Jährige in seinem urchigen Urner
Dialekt. «Und wenn ich damit auch
anderen helfe, ist der Nutzen umso
grösser.» Wiget ist braun­gebrannt und
wirkt drahtig. Jedenfalls sieht er nicht
aus wie einer, der todkrank ist. Auf­
recht sitzt er im Besprechungszimmer
seines Onkologen Oliver Gautschi im
Luzerner Kantons­spital, wo er seit De­
zember letzten Jahres behandelt wird.
«Wenn ich bei dem
Medikamenten­test
nicht mitgemacht
hätte, wäre ich nicht
mehr hier. Und wenn
ich damit auch anderen
helfe, ist der Nutzen
umso grösser.»
Operation, Reha, Rückfall
Wiget wirkt bei einer klinischen Studie
mit. Im Juni 2015 hatte der Urner
Schmerzen im Brustraum und dachte,
er habe sich eine Rippe gequetscht.
Nach der Untersuchung im regionalen
Spital eröffnete ihm die Ärztin, er habe
einen Tumor auf der Lunge. «Sie
Toni Wiget*, Lungenkrebspatient
Chirurgie: Schon im Mittel­
alter schnitten Wundärzte
den Menschen bösartige
Geschwulste aus dem
­Körper. Der Chirurg war
ein Handwerker, die Medizin
eine Bücherwissenschaft. Im
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts kam
die Krebschirurgie auf. Die Entwicklung
der Anästhesie und von Desinfektions­
mitteln spielte eine entscheidende Rolle.
Strahlentherapie: Nach der Entdeckung
der Röntgenstrahlen und der Radioaktivi­
tät Ende des 19. Jahrhunderts kam die
Idee auf, sie auch ­gegen Krebs einzu­
setzen. Durch Kombination mit
Operationen liessen sich so ab
den 1930ern einzelne Krebs­
arten erfolgreich ­behandeln.
Seit den 1970ern führt man
die Strahlen­therapie mit
­Linearbeschleunigern durch.
Chemotherapie: Anfang des
20. Jahrhunderts kam die Idee
auf, Krebszellen – ähnlich
wie Bakterien – gezielt mit
Medi­kamenten zu bekämpfen.
Im Zweiten Weltkrieg fand man
bei Experimenten mit chemischen
Kampfstoffen zufällig Substanzen, die
das Zellwachstum hemmen. Ab 1950
­verbreitete sich die Chemotherapie von
den USA aus auf der ganzen Welt.
ILLUSTRATIONEN: BEOBACHTER/SEE
einen Franken» hätte der
Krebsspezialist Roger von
Moos vor zehn Jahren für
die Erforschung der Im­
muntherapie
investiert.
«Ich glaubte damals nicht, dass dieser
Ansatz jemals funktionieren würde»,
sagt der Chefonkologe des Kantons­
spitals Graubünden und Präsident der
Schweizerischen Arbeits­gemeinschaft
für Klinische Krebsforschung.
Von Moos hat seine Meinung geän­
dert und mit ihm viele Krebsspezialis­
ten und Forscher weltweit. Denn die
Immuntherapie erweist sich immer
mehr als Quantensprung in der Krebs­
behandlung, als Revolution gar. Sie
könnte die bisherigen Krebsmedika­
mente langfristig ersetzen.
2013 feierte das Fachblatt «Science»
die Immuntherapie als Durchbruch
des Jahres. Vier Jahre später ist das Ver­
fahren zwar noch immer mehrheitlich
in der experimentellen Phase, die ers­
ten Wirkstoffe sind aber zugelassen.
Die grossen Pharmafirmen wie
­Roche, Novartis, Bristol-Myers Squibb
und Merck Sharp & Dohme wetteifern
um Innovationen und Marktanteile.
Die Immuntherapie ist, wie Roger von
Moos sagt, «in der Realität angekom­
men» (siehe Interview, Seite 26).
21
Beobachter 16/2017
«Es gibt vielleicht eine Möglichkeit»
Die Ärztin überwies Wiget ins Zen­
trumsspital in Luzern. Es gebe viel­
leicht eine Möglichkeit, ihn in eine
Studie mit einem neuen Medikament
einzuschliessen. Das Medikament
hiess Atezolizu­
mab – ein Immun­
therapeutikum, das damals erst in den
USA zugelassen war. Hersteller Roche
testete seine Wirksamkeit in einer
weltweiten randomisierten Studie.
Etwa 500 Teilnehmer erhielten eine
­
herkömmliche Chemotherapie, rund
500 Teilnehmer bekamen die Chemo
in Kombination mit der Immunthera­
pie. «Wir wussten nicht, welcher der
beiden Studiengruppen Herr Wiget
zugeteilt würde. Das geschieht jeweils
nach dem Zufallsprinzip per Compu­
ter», sagt Onkologe Gautschi.
«Ich habe mich natürlich gefreut,
als ich in die Gruppe mit der Kombina­
tionstherapie kam», sagt Wiget. Seit
Dezember 2016 reist der Urner alle
drei Wochen nach Luzern ins Kan­
tonsspital. In der ersten Zeit wurden
ihm die Tage sehr lang: morgens die
Infusion mit der Immuntherapie,
nachmittags das gleiche Prozedere,
aber mit der Chemo. Dazwischen viele
Blutproben, unzählige Röhrchen zap­
fen sie ihm jeweils ab. Wiget versteht
nicht immer alles, was Ärzte und
­Pflegefachpersonen ihm erklären. «Ich
will gar nicht zu viel wissen», sagt er.
Targeted Therapies: Ab 2000 nutzten
«gezielte Therapien» mit neuartigen
­Arzneimitteln bestimmte Eigenschaften
des Krebsgewebes aus. Ein Beispiel ist
die Angiogenese-Hem­
mung: Spezielle Wirk­
stoffe hemmen das
Wachstum der Blut­
gefässe, die den Tumor
versorgen. So wird der
Krebs ausgehungert.
Nach vier Zyklen war die Chemo­
therapie abgeschlossen, seither be­
kommt er nur noch Atezolizumab, das
in der Schweiz seit Anfang Juni zu­
gelassen ist. Wiget wird nach wie vor
innerhalb der Studie behandelt.
«Ich fühle mich gut», sagt er. Er
brauche zwar viel Schlaf, doch er kön­
ne sogar wieder arbeiten, 40 Prozent.
Seine Arbeitgeberin, die SBB, habe
­eine Stelle für ihn massgeschneidert,
nicht mehr im Lösch- und Rettungs­
zug des Gotthard-Basistunnels wie zu­
vor («ich bin nicht mehr atemschutz­
tauglich»), sondern handwerkliche
Aufgaben, die er auch gern mache.
«Das hat mir sehr geholfen», sagt er.
Nebenwirkungen der Therapie habe er
ausser der Müdigkeit keine gehabt.
Wiget hat sehr gut auf die Therapie
angesprochen. Untersuchungen mit
Computertomografie hätten gezeigt,
dass der Tumor auch nach Absetzen
der Chemotherapie geschrumpft sei
und immer noch schrumpfe, sagt
­Onkologe Gautschi. Das deute darauf
hin, dass die Immuntherapie wirke.
NIcht alle haben Glück
Was wirkt da genau? «PD-L1», sagt
Gautschi, nun ganz Wissenschaftler.
«Das ist ein Schutzschild des Tumors
gegen die Immunzellen. Den kann das
Medikament neutralisieren.» (Zur
Wirkungsweise der neuen Medika­
mente siehe auch die Infografik auf
Seite 23.)
Auch Gertrud Seidl* aus dem liech­
tensteinischen Triesen hatte auf eine
Immuntherapie gehofft. Die 48-Jäh­
rige ist im Kantonsspital Chur in Be­
handlung. 2014 war sie an Nierenzell­
krebs erkrankt, der anderthalb Jahre
später Ableger in der Lunge und der
Blase bildete. Der Onkologe in Chur
hatte ihr gesagt, sie komme für eine
klinische Studie mit einer Immun­
therapie in Frage, falls die Metastasen
weiterwachsen. Immuntherapie: Seit über 100
Jahren versuchen Forscher
im Kampf gegen den Krebs,
das Immun­system und so
die Selbst­heilungskräfte zu
aktivieren. Das gelingt, indem
man die Krebszellen überlistet
und es den Immunzellen ermöglicht, sie
zu erkennen. ­Erstmals klappte dies in den
1990ern. 2011 kam das erste Mittel auf
den Markt.
22 TITELTHEMA KREBS
Eine bahnbrechende Entdeckung
Es war in den 1990er Jahren, als die US-­
Wissenschaftler James Allison und Jeffrey
Bluestone unabhängig voneinander dieselbe
Auch im
Kantons­spital
Graubünden
forscht man
intensiv zu
neuen Krebs­
therapien.
«Dass ich in der
Kontroll­gruppe
landete, war
im Moment hart.
Denn ich hatte
mit der Therapie
zugewartet,
um die Studien­
kriterien für die
Immun­therapie
zu erfüllen.»
Gertrud Seidl*,
­Nieren­zell­kreb­spatientin
Krebs
bekämpfen
Entdeckung machten: Sie bewiesen, dass ein
Molekül, von dem man bisher an­genommen
hatte, dass es das Immunsystem aktiviert,
dieses in Wahrheit blockiert. Das Molekül ist
ein Eiweiss auf der Oberfläche der T-Zellen –
der Zellen des Immunsystems, die die Auf­
gabe haben, kranke Zellen zu zerstören.
Die T-Zellen haben verschiedene solcher
Moleküle oder Checkpoints. Das erste Mole­
kül, das Allison entziffert hat, heisst CTLA-4
(der Name ziert heute das Nummernschild
seines Porsches). Dank ihm greifen die T-Zel­
len kein gesundes Gewebe an. Fatalerweise
können aber auch Tumorzellen an die Check­
points der T-Zellen andocken und ihnen so
vorgaukeln, sie seien gesund.
Allison kam nun auf die Idee, mit einem
synthetischen Antikörper dieses Andocken
zu verhindern, damit die T-Zellen die Tumor­
zellen wieder als Feinde erkennen und sie an­
greifen. Im Tierversuch klappte es. Spritzte
Allison den Antikörper krebskranken Mäu­
sen, verschwanden die Tumoren.
Doch bis dieser Mechanismus auch beim
Menschen funktionierte, vergingen Jahre.
Der erste Antikörper wurde 2011 in den USA
zugelassen. Ipilimumab von Bristol-Myers
Squibb hatte sich für die Behandlung fort­
geschrittener Melanome bewährt. 22 Prozent
der Studienteilnehmer überlebten die Krank­
heit dank dem neuen Mittel mehr als drei
­Jahre – ohne Anzeichen eines Rückfalls. Ein
Immuntherapien sollen das körpereigene Abwehrsystem in die Lage
­versetzen, Krebszellen von gesunden Körperzellen zu unterscheiden und
sie dann zu bekämpfen. Zwei der neuen Therapieformen werden hier
vorgestellt. Eine ist bereits zur Behandlung von Patienten zugelassen,
die andere wird gegenwärtig getestet.
Krebszellen entwickeln sich
aus normalen Zellen, die sich
­unkontrolliert vermehren und im
Körper aus­breiten. Mediziner versuchen
diese bösartig wuchernden Tumoren
auf­zuhalten. Bekämpft werden die rund
200 verschiedenen Krebsarten mit
konventionellen Methoden wie Opera­
tionen, Bestrahlung, Chemotherapien
und nun auch mit neuartigen
­Therapien. Oft kommen mehrere
Verfahren gleichzeitig zum
Einsatz.
INFOGRAFIK: ANNE SEEGER
T-Zelle
gesunde Zellen
Krebszellen
Antikörper einsetzen
Bei der Antikörpertherapie greifen die Medikamente in
die Kommunikation zwischen Immunsystem und Tumor­
zellen ein. Diese Kommunikation verläuft mit Hilfe von
Proteinen beziehungsweise Checkpoints.
Hallo, ich
bin gesund.
QUELLEN: SAKK, CHUV, «SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT», «SCIENCE», CANCER RESEARCH INSTITUTE; FOTO: ISTOCKPHOTO
Das taten sie, und Seidl ergriff die Chance,
ein vielleicht bahnbrechendes Medikament
zu erhalten, ebenfalls Atezolizumab. Doch sie
hatte weniger Glück. Der Losentscheid des
Computers teilte sie der Kontrollgruppe zu –
der Gruppe also, die mit der herkömmlichen
Therapie behandelt wird. Ziel dieses Ver­
fahrens mit Zufallsentscheid ist es, direkt zu
vergleichen, welche der beiden Therapien
besser wirkt.
«Für mich war das im Moment schon
hart», erzählt Gertrud Seidl. «Ich hatte mit
der Therapie zugewartet, um die Studien­
kriterien für die Immuntherapie zu erfüllen.»
Nun fährt sie seit November 2015 alle drei
Wochen nach Chur zur Chemotherapie. Sie
lässt Untersuchungen über sich ergehen, füllt
jedes Mal eine lange Liste mit Fragen zu
­ihrem Befinden aus und wartet geduldig, bis
die Krebsmedikamente über den Port, der
unterhalb ihres Schlüsselbeins implantiert
ist, in ihre Blutbahn getröpfelt sind.
«Es geht mir gut, ich arbeite 90 Prozent»,
sagt sie. Gäbe es keine Patientinnen wie sie,
die sich auf die 50:50-Lotterie einer randomi­
sierten Studie einlassen, würde kein Krebs­
medikament die Zulassung schaffen.
Die neuen Krebskiller
Beobachter 16/2017
PD-L1
PD-1
Dann lass ich
dich in Ruhe.
Krebszellen täuschen die Immunzellen
Lange hat man nicht verstanden, wieso T-Zellen
­Krebszellen nicht zerstören. Heute weiss man, dass
Krebszellen Signale gesunder Zellen imitieren.
Antikörper
Hallo, ich
bin gesund.
Ich verstehe
dich nicht.
Krebszelle
Spezialisierte Immunzellen, die T-Lymphozyten,
erkennen Krankheitserreger und normalerweise
auch Krebszellen durch biochemisches Abtasten.
Was fremd und störend ist, zerstören sie.
Immunzellen vermehren
Auch die adoptive Immuntherapie soll das Immunsystem so stärken, dass es
den Krebs selbst bekämpfen kann. Das Verfahren ist noch in der Testphase,
ein erstes Leukämie-Medikament steht kurz vor der Zulassung.
Entnehmen
Zurückspritzen
Dem Patienten werden
Immunzellen entnommen.
Gut geeignet sind
Immunzellen, die direkt
aus dem Tumor stammen.
Sie haben schon gelernt,
Tumorzellen zu erkennen
und anzugreifen.
Viel einfacher ist es aber,
die Immunzellen aus
dem Blut zu isolieren.
Die Forscher müssen
ihnen allerdings mit
gen­technischen Methoden
beibringen, den Tumor
zu bekämpfen.
…und anschliessend
wieder injiziert, damit
sie gezielt gegen den
Krebs vorgehen.
Vermehren
Die entnommenen
Immunzellen werden
vermehrt und aktiviert…
Immunzellen
Antikörper blockieren die Kommunikation
Neue Medikamente enthalten Antikörper, die die
Übertragung irreführender Signale verhindern.
Immunzellen
Tumorzellen
Die Krebszelle wird zerstört
Weil sie keine falschen Botschaften mehr empfängt,
wird die T-Zelle aktiv. Sie zerstört die Krebszelle.
Blutkörperchen
24 TITELTHEMA KREBS
Beobachter 16/2017
Gabriela Manetsch-Dalla Torre
ist Teamleiterin klinische Forschung
am Kantonsspital Graubünden.
erstaunliches Resultat für einen Krebs, der als
einer der gefährlichsten überhaupt gilt.
James Allison ist heute für v­ iele Krebs­
patienten ein Held. Und für viele Wissen­
schaftler ein Anwärter auf den Nobelpreis.
Es herrscht Wildwuchs in der Forschung
Kombinationstherapien wie diejenige, die bei
Toni Wiget die Metastasen in Schach hält,
werden inzwischen zahlreich getestet. Teils
werden verschiedene Antikörper miteinan­
der, teils Antikörper mit Zellwachstumshem­
mern kombiniert. «Zurzeit sind über 1000
Stu­d ien mit Immuntherapie am Laufen, die
Möglichkeiten sind praktisch grenzenlos»,
sagt Onkologe Roger von Moos.
Das ist zugleich eines der grossen Pro­
bleme der Immuntherapie – es herrscht Wild­
wuchs. Es sei völlig unklar, nach welchen
­K riterien welche Kombinationen bei welchen
Patienten erforscht werden sollen, kritisiert
etwa Viviane Hess, Leiterin klinische For­
schung Onkologie am Unispital Basel. «Die
Entwicklung der Immuntherapie wird mit
überwiegender Macht von der Industrie
­vorangetrieben.» Es brauche aber die gleich­
berechtigten Stimmen vieler Beteiligter – von
Ärzten, der unabhängigen Forschung und
von Patienten.
Je mehr Studien es gibt, desto klarer zeigt
sich ein weiteres Problem: Das entfesselte Im­
munsystem greift manchmal auch gesundes
Gewebe und ganze Organe an. Es kommt zu
Was ist ein
fairer Preis?
Welche Krebs­
patienten
kommen für
eine Immun­
therapie in
Frage, welche
nicht?
Nebenwirkungen wie Hautausschlag, Darmoder Leberentzündungen. Manchmal treten
diese Autoimmunreaktionen schnell, manch­
mal erst nach Wochen und Monaten auf. In
seltenen Fällen bleibt es nicht bei leichten
Nebenwirkungen. Dokumentiert sind Fälle
­
von tödlich verlaufenen Herzerkrankungen
in den USA und in Deutschland.
Ein drittes ungelöstes Problem: Immun­
therapeutika sind unglaublich teuer. Für
­einen einzelnen Patienten fallen nicht selten
100 000 bis 150 000 Franken im Jahr an. Ein
Mittel gegen eine schwere Form von Leukä­
mie, das kurz vor der Zulassung steht, soll so­
gar bis zu 500 000 Dollar pro Patient kosten.
Letztes Jahr verursachten Krebsmedika­
mente in der Schweiz Kosten von 600 Millio­
nen Franken. Tendenz stark steigend. So hat
etwa die Krankenkasse Helsana dafür 2016
dreimal so viel bezahlt wie 2006. Und ­gemäss
Zahlen der amerikanischen Zulassungs­
behörde für Medikamente haben sich die
Kosten für neu zugelassene Krebsmittel in
den letzten 25 Jahren verzehnfacht.
Selbst wenn die neuen Medikamente von
den Behörden zugelassen sind, tun sich die
Krankenkassen schwer damit, sie zu vergü­
ten. Was ist ein fairer Preis? Welche Krebs­
patienten kommen für eine Immuntherapie
in Frage, welche nicht? Solche Fragen werden
die Gesellschaft noch lange beschäftigen. Lesen Sie mehr zum Thema auf Seite 26.
27
Beobachter 16/2017
Vorteil Volg :
InstitutionDorfladen.
«So etwas haben wir bisher kaum gesehen»
Krebstherapien müssen für alle bezahlbar bleiben – auch Immuntherapien, sagt Krebsspezialist
Roger von Moos. Doch dazu müsse man die unabhängige Forschung stärken.
INTERVIEW: IRÈNE DIETSCHI
Beobachter: Sie gehörten zu den
Skeptikern der Immuntherapie.
Wann änderten Sie Ihre Meinung?
Roger von Moos: Jahrelang wurde mit
konventionellen Impftherapien kaum
ein Fortschritt erzielt. Erst als wir lern­
ten, wie Tumor- und Immunzellen
kommunizieren, gelang ein Durch­
bruch. Restlos überzeugt war ich, als
wir sahen, dass dieser Ansatz
bei den Pa­t ienten anschlug und
sie viel länger lebten als erwar­
tet. Zum Teil über Jahre, und
dies, obwohl die Tumoren nicht
immer schrumpften.
Ist die Immuntherapie eine
Revolution für die Krebsmedizin?
Ich sehe sie als Evolu­tion, die
jetzt den Durchbruch geschafft
hat. Viele Jahre lang setzte man
in der medikamentösen Krebs­
behandlung darauf, Tumor­
zellen mit Chemotherapeutika
oder später mit gezielten Thera­
pien zu bekämpfen. Jetzt hat
man Medikamente, die das
körpereigene Immunsystem
stimulieren und so die Tumor­
zellen aus dem Verkehr ziehen.
Das ist ein völlig neuer Ansatz,
weil die Selbstheilungskräfte
­a ktiviert werden.
nicht zugelassen oder kassenpflichtig
sind. Vor 20 Jahren gehörte die
Schweiz bei Zulassungen zu den
schnellsten, heute hinken wir anderen
Ländern hinterher.
Was sind die wichtigsten Vorteile
der neuen Therapieform?
Erstens wird eine Immuntherapie be­
züglich Nebenwirkungen meist besser
vertragen als eine Chemotherapie.
liche Spitzfindigkeit, ob man bei die­
sen Pa­
t ienten von Remission, also
­L inderung, oder von Heilung spricht,
denn dazu fehlen einfach die Lang­
zeitdaten. So etwas haben wir mit der
Chemotherapie bisher kaum gesehen,
von kleinen Wundern abgesehen.
Und die Nachteile der Immuntherapie?
Wir haben es mit einem völlig neuen
Spektrum von Nebenwirkungen zu
tun, die wir ganz anders be­
handeln müssen als bei einer
Chemotherapie, wo sie sich
rasch dramatisch verschlech­
tern und lebensbedrohlich
werden können. Das Pro­blem
ist, dass wir nicht voraussagen
können, ob und wann ein Pati­
ent von schweren Nebenwir­
kungen betroffen sein wird.
Zurzeit laufen bei uns gut 40
Studien zu verschiedensten
Krebsindikationen, neun da­
von im Bereich Immunthera­
pien. Also knapp ein Viertel.
«Bei Zulassungen hinkt die Schweiz
anderen Ländern hinterher.»
Genau. Das wünsche ich unserem Ge­
sundheitswesen nicht.
Wie lässt sich das verhindern?
Wir müssen an einen Punkt kommen, wo
der Patient respektive seine Versicherung
für den Erfolg einer Behandlung bezahlt.
Ohne Erfolg keine Vergütung.
Drei Viertel der Immuntherapien versagen.
Genau. Die Medikamentenkosten hierfür
nicht zu tragen wäre allenfalls ein Ausweg
aus dem Problem.
Man muss die Kostenentwicklung ins­
gesamt bremsen. Es kann nicht sein, dass
jede neue Generation von Medikamenten
10 bis 50 Prozent mehr kostet als die vor­
hergehende.
Ein grosser Kostentreiber ist etwa die
­Regulationsdichte für klinische Studien.
Der Aufwand, einen einzigen Teilnehmer
zu dokumentieren, ist heute das 20-­Fache
gegenüber Anfang der nuller Jahre. Das
grenzt ans Absurde. So entstehen Kosten,
die unabhängige akademische Organi­
sationen wie die Schweizerische Arbeits­
gemeinschaft für Klinische Krebsfor­
schung kaum mehr stemmen können. Ei­
ne Phase-I-Studie kostet zwei Millionen,
Zulassungsstudien der Indus­trie schnell
einmal 40 bis 60 Millionen Franken. Das
können sich nur noch gros­se Firmen leis­
ten – und das ist keine gute Entwicklung.
Sie sagten mal, Ihnen werde
angesichts der Kostenentwick­
lung in der Onkologie schwindlig.
Im Moment habe ich kein Pro­
blem mit den Kosten für Krebs­
Roger von Moos, 51, ist Professor für medizinische Onkologie,
Verabreichen Sie in Ihrem Spital
medikamente. Es sind jährlich
Chefarzt Onkologie/Hämatologie am Kantonsspital Graubünden
die neuen Wirkstoffe bei
600 Mil­l ionen Franken, bei Ge­
und Präsident der Schweizerischen Arbeits­gemeinschaft
gewissen Krebsarten
samtgesundheitskosten von
für Klinische Krebsforschung (SAKK).
standardmässig?
rund 70 Milliarden im Jahr. Das
Ja, wir setzen sie dort ein, wo sie regis­
Zweitens steigen mit ihr die Chancen,
ist ein Betrag, den die reiche Schweiz
triert und kassenpflichtig sind, also
eine Krebserkrankung zu überleben,
durchaus tragen kann. Wenn man
beim metastasierten Haut-‚ Lungendie früher fast sicher zum Tod führte.
aber die Kostenentwicklung der letz­
oder Nierenzellkrebs. Zudem wenden
Wir haben etwa Patienten mit Lungenten fünf Jahre auf die nächsten fünf
wir sie verschiedentlich im Off-Labelund schwarzem Hautkrebs, die seit
Jahre extrapoliert, wird einem tat­
Use an – in Situationen also, wo die
Jahren in einer Komplettremission
sächlich schwindlig. Es gibt ja noch
Medikamente in der Schweiz noch
­leben. Und es ist letztlich eine sprach­
andere Bereiche der Medizin, die
Der Dorfladen – ein echter Klassiker: beliebter Ort für
den täglichen Einkauf, den regelmässigen Austausch und
den kurzen Schwatz. Der Volg im Dorf ist darum sowohl
Laden als auch Treffpunkt und erbringt einen wertvollen
Beitrag zur Erhaltung der dörflichen Gemeinschaft.
Weitere Ideen, um Kosten einzudämmen?
Woher kommt das denn?
Wenn Sie dafür jemanden hei­
len, ist das immer noch ange­
messen. Wenn ein Krebspatient
dauernd behandelt, aber nicht
geheilt wird, dann laufen die
Kosten aus dem Ruder.
Wie wichtig sind klinische
Studien mit Immuntherapien?
Das Gespenst der Zweiklassenmedizin.
Wir sehen manchmal Haut­
ausschläge, Durchfall, Schild­
drüsen- und Lungenprobleme.
Im Prinzip kann aber jedes
­Organ betroffen sein.
Eine Immuntherapie kostet
100 000 bis 150 000 Franken.
Ist sie das wert?
Volg –
unddas
Dorflebt.
rasch massiv teurer werden. Ich fürchte
mich vor dem Moment, in dem diese The­
rapien nicht mehr für alle verfügbar sind.
Was für Nebenwirkungen?
r Blaskapellen« Wie unsebrin
gt auch der
Verein
Volg-Laden die Gemeindemitglieder zusammen.
»
Jost Arnold, Gemeinderat
& Baritonhorn-Bläser
Was braucht es denn?
Der Stellenwert der unabhängigen klini­
schen Forschung muss gestärkt werden.
Dazu braucht es mehr Ressourcen, sei es
vom Staat oder über eine Abgabe auf
Krebsmedikamente für unabhängige For­
schung. Und wir bräuchten mehr Studien,
die den Nutzen von Therapien prüfen, die
zum Beispiel fragen: «Ist weniger nicht
gleich gut?» Weniger intensive, aber gleich
wirksame Regimes würden Patienten
entlasten und Kosten senken. Das gilt
­
auch für Immuntherapien. Dass es billiger
wird, glaube ich nicht. Aber dass die Kos­
ten weniger stark ansteigen, das müssen
wir hinbekommen.
brandinghouse
26 TITELTHEMA KREBS
Volg .ImDorfdaheim.
InAllenwindenZGzuhause.
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