destabilisierung und prekarisierung

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Abstiegsängste, verletztes Gerechtigkeitsempfinden
und Ohnmachtsgefühle – zur Wahrnehmung und
Verarbeitung zunehmender Unsicherheit und
Ungleichheit in der Arbeitswelt
Jörg Flecker
Manfred Krenn
Erschienen in: Zilian, Hans Georg (Hg.), Insider und Outsider, Rainer Hampp
Verlag, München und Mering
Forschungs- und Beratungsstelle Arbeitswelt
Aspernbrückengasse 4/5
A-1020 WIEN
Tel: +431 21 24 700
Fax: +431 21 24 700-77
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Inhalt
INHALT
EINLEITUNG ................................................................................................................................................ 1
1.
PROBLEMSTELLUNG: DESTABILISIERUNG UND PREKARISIERUNG .................................. 2
2.
WAHRNEHMUNG UND VERARBEITUNG ZUNEHMENDER UNSICHERHEIT UND
UNGLEICHHEIT DURCH ARBEITERINNEN UND ARBEITER................................................... 7
2.1.
Grundlagen für die Wahrnehmung und Bewertung des sozioökonomischen Wandels:
Arbeitsethos, Leistungsorientierung und Identitätskonstruktionen ............................................... 7
2.2.
Das Ende des Tauschs von Leistungswillen und Unterordnung gegen Sicherheit und
Lebensstandard ......................................................................................................................... 10
2.3.
„Schön langsam weiß man überhaupt wirklich nicht mehr, was jetzt wirklich sicher ist“
– Sicherheit und Berechenbarkeit als Basis der Lebensführung ................................................ 12
2.4.
Die Bedeutung der Region als (latenter) Referenzrahmen der eigenen
abstiegsbedrohten Position........................................................................................................ 15
3.
SCHLUSSFOLGERUNGEN: DIE WAHRNEHMUNG DES ZERFALLS DER
LOHNARBEITSGESELLSCHAFT UND DIE POLITISCHEN FOLGEN ..................................... 17
LITERATUR................................................................................................................................................ 22
Forschungsbericht xxx/2003 _______________________________________________________________________I
Einleitung
EINLEITUNG
Der österreichische Arbeitsmarkt war in den letzten 15 Jahren außergewöhnlich tiefgreifenden Umbrüchen unterworfen. Noch Mitte der 1980er Jahre waren etwa über 30%
der Industriebeschäftigten in der verstaatlichten Industrie tätig, was damals noch mit
hoher Arbeitsplatzsicherheit gleichzusetzen war. Inzwischen bestimmt dort bekanntermaßen nicht mehr das Vollbeschäftigungsziel, sondern der Börsenkurs die Managementstrategien. Doch auch der öffentliche Dienst musste Federn lassen. Am anderen
Ende der Sicherheits-Unsicherheits-Skala kam es in diesem Zeitraum zu einer deutlichen Ausweitung der wenig oder nicht geschützten Beschäftigung. Parallel dazu
wurde der Zugang zu sozialstaatlicher Absicherung erschwert und deren Leistungen
gekürzt. Damit ist die Unsicherheit in die Kernbereiche der Lohnarbeitsgesellschaft
eingedrungen, und es hat sich gleichzeitig die Zone prekärer Arbeits- und Lebenssituationen ausgeweitet.
Wie nehmen nun die Betroffenen die Veränderungen wahr, wie verarbeiten sie die
Enttäuschungen, Bedrohungen oder neuen Chancen und welche Folgen für ihre politischen Orientierungen ergeben sich daraus? Diesen Fragen geht das internationale
Forschungsprojekt SIREN1 nach, in dem im Laufe des Jahres 2002 u.a. über 300
ausführliche Interviews mit prekär Beschäftigten, Abstiegsbedrohten und AufsteigerInnen in acht Ländern geführt wurden. Schwerpunkte der Untersuchung bilden liberalisierte und privatisierte öffentliche Dienstleistungen, Industriebranchen und personenbezogene Dienste. In Österreich konzentrierten sich die insgesamt 32 Tiefeninterviews
auf eine Industrieregion in der Steiermark, Wien und das ländliche Niederösterreich.
In unserem Beitrag geht es im Kern um die subjektive Wahrnehmung und Verarbeitung
von zunehmender Unsicherheit als Folge sozioökonomischer Veränderungsprozesse.
Wir konzentrieren uns dabei auf zwei Gruppen von ArbeitnehmerInnen: Arbeitslose
und Beschäftigte in prekären Situationen einerseits und unbefristet Vollzeitbeschäftigte
andererseits, die aber auch starke Gefährdungsmomente ihres Status aufweisen. Die
Grenzen zwischen drinnen und draußen sind, wie sich zeigt, zwar noch vorhanden, aber
durchaus nicht mehr so starr, wie das auf den ersten Blick erscheinen mag. Dörre (2001)
nennt das die Rückkehr sozialer Unsicherheit in die Stammbelegschaften und Facharbeiterränge, die den vorherrschenden Erwartungen an stabilen oder steigenden
Lebensstandard sowie einer Minimierung von Lohnarbeiterrisiken schmerzliche
Einschnitte zufügt. Castel (2000) spricht von einer Ausweitung der Zone der Verwundbarkeit.
Als Rechtspopulisten die daraus folgenden Probleme aufgriffen, versuchten die sozialdemokratischen Parteien den Protesten mit der Aufforderung zu politischer Korrektheit
zu begegnen, was aber eher Öl ins Feuer zu gießen bedeutete und dem Rechtpopulismus
mehr Zulauf bescherte (Zilian 2002).
1
Das Projekt „Socio-economic change, individual reactions and the appeal of the extreme right“ (SIREN) umfasst 8 Länder, wird
von der EU-Kommission und nationalen Stellen gefördert und von FORBA, Wien, koordiniert.
Schriftenreihe 3/2004 ____________________________________________________________________________1
Destabilisierung und Prekarisierung
1.
PROBLEMSTELLUNG: DESTABILISIERUNG UND
PREKARISIERUNG
Bevor wir im folgenden die Wahrnehmungen der zunehmenden Unsicherheit und der
Gefahren der Ausgrenzung genauer beschreiben, wollen wir uns in diesem Abschnitt
kurz mit diesen Phänomenen des sozio-ökonomischen Wandels auseinander setzen.
Warum dringt Unsicherheit in Kernbereiche der Arbeiterschaft ein? Wie kommt es zur
Ausweitung der Zone der Verwundbarkeit?
In der zweiten Hälfte der 80er Jahre und in den 90er Jahren ist die Arbeitslosigkeit in
Österreich stark angestiegen. Auch den nicht direkt davon Betroffenen führte dies das
Risiko die Beschäftigung zu verlieren deutlicher vor Augen und konfrontierte viele
wohl auch mit ihrer leichteren Ersetzbarkeit. In dieser Periode nahm die Zahl der
Erwerbstätigen in minder geschützten Beschäftigungsformen zu. Vor allem die
geringfügige Beschäftigung erfuhr in den 90er Jahren eine erhebliche Ausweitung.
Vielfach wird deshalb die Zunahme der Unsicherheit am Arbeitsmarkt mit einem Trend
zu „atypischer“ Beschäftigung oder einer „Erosion des Normalarbeitsverhältnisses“ in
Zusammenhang gebracht. Auch wenn keineswegs in diesem hohen Ausmaß geschützte
Vollzeitarbeitsplätze in „atypische“ umgewandelt wurden, sondern der Anstieg letzterer
zu einem Gutteil zusätzliche Beschäftigung darstellte (Wörister 2001), kann insgesamt
von einer Zunahme der Unsicherheit gesprochen werden.
Zwar steht der Wandel der Beschäftigungsformen im Zentrum der Diskussion über
Flexibilisierung und Unsicherheit, aber in Österreich sind andere Entwicklungen
vermutlich von gleich großer, wenn nicht größerer Bedeutung. So haben sich die
konkreten Bedingungen der Arbeit und Beschäftigung innerhalb von Normalarbeitsverhältnissen, also bei aufrechter sozialversicherungspflichtiger, unbefristeter Vollzeitbeschäftigung, in sehr vielen Wirtschaftsbereichen und Unternehmen drastisch
geändert. Auch wenn der „neue Geist des Kapitalismus“ vermutlich überall in Form der
Veränderung der Verteilungsrelationen zu Ungunsten der ArbeitnehmerInnen und in
größerer Unsicherheit der Arbeitsplätze spürbar wurde, war in Österreich der Umbruch
in der verstaatlichten Industrie und in den öffentlichen Dienstleistungen wohl am
stärksten.
Seit dem Ende der 80er Jahre privatisierten die Regierungen Unternehmen, die direkt
oder indirekt in staatlichem Eigentum gestanden hatten, zu einem Teil oder vollständig.
Schon bei einer teilweisen Privatisierung, oder auch in Vorbereitung darauf, zogen mit
einem Schlag neue Managementmethoden ein, da nunmehr der Börsenkurs zur bestimmenden Größe avancierte. Zugeständnisse der Arbeitnehmerseite bei Sozialleistungen
und anderen Beschäftigungsbedingungen sind dabei nicht die wichtigsten Auswirkungen. Vielmehr ist es neben teils umfangreichem Personalabbau die grundsätzliche
Aufkündigung der Sicherheitsversprechen. Die Tragweite dieses Umbruchs ist nicht
richtig einzuschätzen, wenn man unter dem Eindruck von drei Jahrzehnten neoliberaler
Propaganda dauerhafte oder gar garantierte Beschäftigung beim gleichen Arbeitgeber
als eben „nicht mehr zeitgemäß“ einstuft. Was tatsächlich passierte – und bei Post und
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Destabilisierung und Prekarisierung
Bahn gerade passiert – ist nicht weniger als ein krasser Vertrauensbruch und der Versuch das Prinzip der Gegenseitigkeit einseitig außer Kraft zu setzen. Während die eine
Seite sich klammheimlich über den rauen Wind freuen kann, der ihre Segel bläht, bricht
für die andere eine Welt zusammen.
Diese Welt war durch das Leistungsprinzip und, wenn man sich diesem unterwarf,
durch Möglichkeiten zur Teilhabe an der Gesellschaft geordnet. Insbesondere die
Entschädigungsfunktion des Leistungsprinzips ist hier hervorzuheben: Für jede
Leistung kann eine adäquate Gegenleistung erwartet werden (Offe 1970). Durch den
Bruch in den Arbeitsbeziehungen und die allgemeine Beschäftigungsunsicherheit
werden nicht nur die Gegenleistungen gekürzt, sondern es wird auch fraglich, ob man
für die jahrelangen, in der Hoffnung auf spätere Erträge erbrachten Vorleistungen
überhaupt etwas erhält. Verschärft wird der Umbruch dadurch, dass die soziale
Absicherung die erhöhten Risiken auf dem Arbeitsmarkt nicht kompensiert. Im
Gegenteil: In einer Zeit, in der die Unternehmen und der Arbeitsmarkt immer weniger
Sicherheit bieten, schränkte der Staat die Unterstützungsleistungen des sozialen
Sicherungssystems ein und erschwerte den Zugang zu diesen (Tálos/Wörister 1998,
Mairhuber 2001). Lebensstandard, Integration in die Gesellschaft und auch das soziale
Ansehen werden gerade in einer Phase wieder stärker an die Erwerbsarbeit gebunden, in
der die Reproduktion über Erwerbsarbeit deutlich unsicherer wird.
Diese Veränderungen sind nicht bloß den politischen Konjunkturen, den aktuellen
Machtverhältnissen am Arbeitsmarkt und den Präferenzen der Arbeitgeber und der
Erwerbstätigen geschuldet. Altvater/Mahnkopf (2002) setzen die zunehmende Unsicherheit in Zusammenhang mit der Tendenz einer Informalisierung der Arbeit, die eng
mit dem Prozess der Globalisierung verbunden ist. Diejenigen Bereiche der Ökonomie,
die mit den Weltmarktstandards im Hinblick auf Produktivität, Innovation und Rentabilität nicht mithalten können, versuchen durch Unterlaufen der nationalen Normen für
Arbeit und Beschäftigung am Markt zu bleiben. Die Machtverschiebung zugunsten der
mobilen Produktionsfaktoren und die Überbewertung besonders herausragender Leistungen führen zu einer ökonomischen und sozialen Entwertung durchschnittlicher Leistungen und der Bewältigung von Standardabläufen.
Bourdieu (1998) interpretiert die ausgeweitete Prekarität als Teil einer neuen Herrschaftsform, die sich auf die Verallgemeinerung der Unsicherheit stützt. Unternehmen
ziehen also nicht nur ökonomisch Nutzen aus flexiblen, d.h. minder geschützten
Beschäftigungsformen, die daraus resultierende Unsicherheit für die Arbeitskräfte
erleichtert es den Unternehmen auch diese zu beherrschen. Auch Mückenberger (1989)
hatte darauf hingewiesen, dass „atypische“ Beschäftigungsformen von Arbeitgebern
nicht nur aus Kosten- und Flexibilitätsgründen gewählt werden, sondern auch der
Disziplinierung der ArbeitnehmerInnen dienen. Wenn es der Arbeitsmarkt also zulässt,
werden Unternehmen zum Beispiel befristete Beschäftigung auch deshalb ausweiten,
weil jemand in der Regel gefügiger ist, solange er oder sie den erwünschten Zugang zur
Kernbelegschaft noch nicht geschafft hat. Umgekehrt erleichtert der von der Randbelegschaft ausgehende Konkurrenzdruck dem Management die Kontrolle des Kerns.
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Destabilisierung und Prekarisierung
Der Prozess der Globalisierung und die Machtverschiebung zugunsten mobiler Faktoren
haben auch gravierende Konsequenzen für die Gerechtigkeitsnormen. So geht laut
Altvater/Mahnkopf (2002) der anerkannte Maßstab für durchschnittliche Leistungen,
zumutbare Leistungsanforderungen und die Bewertung unterschiedlicher Tätigkeiten
verloren. Das Problem besteht nicht nur darin, dass die Bedarfsgerechtigkeit gänzlich
suspendiert wird, sondern „auch das (liberale) Prinzip der Leistungsgerechtigkeit unter
den Bedingungen der Globalisierung einem Erosionsprozess ausgesetzt ist“ (S. 58).
„Einerseits betont der herrschende Diskurs, dass alle politischen Maßnahmen zur
‚Modernisierung‘ der Gesellschaft darauf abzielen, die Leistungsgerechtigkeit gegen eine (zu weit getriebene) Bedarfsgerechtigkeit wieder ins Recht zu setzen; andererseits unterminieren gerade die modernisierten gesellschaftlichen Verhältnisse
einer entgrenzten Ökonomie die Geltungsbedingungen dieses Prinzips: In der Vergangenheit wurden anerkannte Maßstäbe für Leistungsgerechtigkeit im nationalen
Rahmen ausgehandelt und in national spezifischen Tarifvertragssystemen kodifiziert. Normen, Regeln und Gesetze, für die der Volkssouverän verantwortlich war,
bildeten die Grundlage für ein Bezugssystem, das Rechte und Pflichten, Lasten und
Entschädigungen, Leistungen und Gegenleistungen auf die zielgerichtete Tätigkeit
und deren dominante Form, die betrieblich organisierte, ‚normale‘ Lohnarbeit,
gründete.“ (Altvater/Mahnkopf 2002:58)
Das Leistungsprinzip war in einer spezifischen Ausdeutung gerade auch Bestandteil des
Weltbildes und des soziale Identität verbürgenden Selbstverständnisses der Arbeiterschaft. Die Globalisierung führt jedoch dazu, dass es bei der Verteilung auf die Leistung
für den gesellschaftlichen Lebenszusammenhang immer weniger ankommt (Altvater/
Mahnkopf 2002:60).
Insofern sind unseres Erachtens identitäts- und anerkennungstheoretische Gesichtspunkte im Hinblick auf die Wahrnehmung und Bewertung des sozio-ökonomischen
Wandels von entscheidender Bedeutung. Die Kategorie der Anerkennung spielt für
unseren Zusammenhang v.a. deshalb eine wichtige Rolle, da Anerkennung als „das
grundlegendes Medium sozialer Integration und der Konstitution von Identität“
(Holtgrewe 2002:196), „das gesellschaftliche Normen und Werte in die Identitäten der
Subjekte übersetzt“ (Voswinkel 2003:67) begriffen werden kann. Identitäten bilden sich
intersubjektiv und interaktiv in ständiger Auseinandersetzung mit sozialen Anderen und
deren Erwartungen bzw. mit dem generalisierten Anderen (Mead 1934/1973), also der
Gesellschaft, in Form von Normen und Werten heraus. Veränderungen in den Formen
von (gesellschaftlicher) Anerkennung wirken demnach auf soziale Identitäten zurück
und in der Folge auf die subjektive Wahrnehmung und Bewertung von Veränderungen
in der Arbeitswelt und am Arbeitsmarkt.
Für unseren Zusammenhang besonders interessant ist eine Bedeutungsverschiebung von
Anerkennungsformen in Bezug auf Leistung in der Arbeit weg von Anerkennung in der
Form der Würdigung, die stark auf Zugehörigkeit beruht, hin zur Form der Bewunderung für außergewöhnliche individuelle Leistungen (vgl. Voswinkel 2000). Handelt es
sich bei Bewunderung um eine vertikale, distinktionsbezogene Form der Anerkennung,
so ist Würdigung auf einer moralischen Begründung aufgebaut, die nicht nur den
Erfolg, sondern auch den Beitrag, das Opfer und die Anstrengung honoriert und damit
auch eine kompensatorische Funktion in Bezug auf die in den restriktiven, belastenden
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Destabilisierung und Prekarisierung
Arbeitsbedingungen enthaltene Missachtung erfüllt. Sie ist damit auch für jene
erreichbar, die nicht über hohe Ressourcenausstattung in Form verschiedener Kapitalien
im Sinne von Bourdieu verfügen. „Würdigung verschafft ein alternatives Prestiges, sie
vermittelt Anerkennung für Akteure mit wenig Macht, Erfolg und Prestige“ (Voswinkel
2003:70).
Die von Voswinkel herausgearbeitete Verschiebung der auf Leistung bezogenen Anerkennungsformen von „Würdigung“ zu „Bewunderung“ korrespondiert mit dem von
Altvater/Mahnkopf (2002) beschriebenen Erosionsprozess des (liberalen) Prinzips der
Leistungsgerechtigkeit und der sozialen Entwertung von durchschnittlichen Leistungen
und der Bewältigung von Standardabläufen. Im Rahmen dieses Prozesses verliert auch
ein am Pflichtethos orientiertes Arbeitsverständnis an Bedeutung. Es ist zum einen
keine hinreichende Bedingung mehr für Anerkennung und zum anderen aber auch keine
Garantie für Sicherheit und Stabilität.
Die Lohnarbeitsgesellschaft und die mit ihr verbundenen Sicherheiten und Gerechtigkeitsvorstellungen haben sich in einem langen historischen Prozess herausgebildet, der
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann und erst Anfang der 70er Jahre des
20. Jahrhunderts seinen Abschluss fand. Es ist also nicht lange her, seit die Arbeiter und
Arbeiterinnen nach Jahrhunderten der würdelosen Lage außerhalb und am unteren Ende
der Gesellschaft soziale Absicherung und Anerkennung gewannen, und es gelang,
„Arbeit und relative Sicherheit miteinander zu verbinden“ (Castel 2001:15). Derzeit
erleben wir einen beschleunigten Zerfallsprozess dieser Lohnarbeitsgesellschaft, der
sich für Castel in der Destabilisierung für Kernbereiche der Arbeiterschaft durch die
Flexibilitätsanforderungen der Wirtschaft, in der Ausbreitung der Prekarität und im
Auftauchen des neuen Typs der „Überzähligen“ oder der „unnützen Normalen“
(Donzelot) ausdrückt (ebenda:18).
Destabilisierung und Prekarität bedeuten, dass die gesellschaftliche Integration, also die
Teilhabe und Anerkennung, bedroht oder akut gefährdet ist. Zum einen hängt die
Integration vom materiellen Lebensstandards, von den Möglichkeiten zur Teilnahme am
Konsum ab. Erst auf der Basis einer stabilen Erwerbstätigkeit ist daher in der Regel ein
Engagement in anderen gesellschaftlichen Bereichen möglich. Zum anderen bleibt die
soziale Anerkennung an die Erwerbsarbeit geknüpft.
Auch wenn das Zeitalter im historischen Maßstab sehr kurz war, in dem auch jenen, die
für ihren Lebensunterhalt arbeiten müssen, relative Sicherheit und Anerkennung
gewährt wurden, gehen wir in der Untersuchung der Wahrnehmung des aktuellen
Umbruchs davon aus, dass die Orientierungen aller derzeit Erwerbstätigen sehr stark
von den Versprechen zunehmender Sicherheit und sozialer Anerkennung geprägt sind.
Ihre Ansprüche sind also in Relation zu den Errungenschaften der Lohnarbeitergesellschaft zu sehen, wie im Hinblick auf ihre Betroffenheit von den Folgen des Umbruchs
weniger die etwaigen absoluten Verschlechterungen, als vielmehr die relativen Benachteiligungen von Bedeutung sind. Es geht also, um mit Bourdieu zu sprechen, weniger
um die Frage, ob und wo die „große Not“ ausbricht, sondern darum, die Leiden
wahrzunehmen und zu verstehen, wie sie sich aus der jeweiligen Perspektive der
Betroffenen aus der Entwicklung „kleiner Nöte“ ergeben (Bourdieu 1997a:19). Hinzu
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Destabilisierung und Prekarisierung
kommt, dass die Leiden erzeugende Verarmung, Unsicherheit und Ungerechtigkeit
innerhalb einer reichen Gesellschaft zustande kommt. „Armut im Wohlstand“ wird
besonders stark und deprivierend empfunden (Bohle 1997) – und entsprechend wohl
auch die Armutsgefährdung.
Wie werden die hier kurz angesprochenen Veränderungen nun von den Betroffenen
wahrgenommen und verarbeitet? In einem anderen Zusammenhang, nämlich der Krise
und Arbeitslosigkeit Anfang der 80er Jahre in der BRD, unterschieden Neumann,
Oechsle und Zoll (1984) zwischen einer reduktionistischen und einer solidarischen
Form der Krisenwahrnehmung. So wird vielfach eine mögliche eigene Krisenbetroffenheit abgewehrt und Arbeitslosigkeit als individuell verschuldet angesehen. Die Betroffenen sowie Randgruppen, wie AusländerInnen, werden „aus der Gemeinschaft
derjenigen ausgegrenzt, mit denen man übereinstimmende Interessen hat“ (Neumann et
al. 1984:114). Zugleich führte die Existenzangst aber auch zu einem verstärkten
Bedürfnis nach Solidarität mit anderen. Die AutorInnen betonen, dass für die Art der
Krisenwahrnehmung entscheidend ist, wie die Existenzangst verarbeitet wird. Wird sie
verdrängt, ist eine Leugnung und Personalisierung der Krise und der Krisenfolgen zu
erwarten, wird hingegen die eigene Verunsicherung angesprochen, „muß die Angst
nicht in der Projektion auf andere bewältigt und muß Sicherheit nicht in
Zwangsmaßnahmen gegenüber den Betroffenen gesucht werden“ (ebenda).
Im folgenden stellen wir dar, wie die gegenwärtigen Umbrüche am österreichischen
Arbeitsmarkt von Arbeitern und Arbeiterinnen gedeutet werden. Dabei geht es uns um
die Grundlagen der Deutungsmuster ebenso wie um die konkreten Formen der Bewältigung von Verunsicherung und Existenzangst. Die Interviews gaben Auskunft über
Gefährdungen und Kränkungen, die mit prekären Erwerbs- und Lebensverhältnissen,
aber auch mit der Destabilisierung von Kerngruppen der Arbeiterschaft verbunden sind.
Damit wird ein Blick auf Folgen des gegenwärtigen Zerfallsprozesses der Lohnarbeitsgesellschaft ermöglicht.
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Wahrnehmung von Unsicherheit und Ungleichheit
2.
WAHRNEHMUNG UND VERARBEITUNG ZUNEHMENDER
UNSICHERHEIT UND UNGLEICHHEIT DURCH
ARBEITERINNEN UND ARBEITER
Die Interviews mit Personen, die sich zwar in regulären Dienstverhältnissen befinden,
deren Beschäftigung jedoch unsicher ist bzw. deren Position sich verschlechtert hat,
haben wir hauptsächlich in einer Region, einer Industrieregion in der Steiermark,
geführt. Ihre Abstiegsbedrohung hängt zum einen mit der Krise und der Privatisierung
der verstaatlichten Stahlindustrie zusammen, die zu einem Rückgang bei Löhnen und
Sozialleistungen geführt und die Sicherheit des Arbeitsplatzes verringert haben: Zum
Zeitpunkt der Interviews in einem Betrieb waren beispielsweise Teile der Belegschaft
aufgrund von Auftragseinbrüchen von Kurzarbeit betroffen. Gleichzeitig stieg in der
privaten Metall- und Elektroindustrie in der Region die Bedrohung durch die Verlagerung von Produktionsstätten nach Osteuropa – einzelne GesprächspartnerInnen waren
unmittelbar davon betroffen. Zwei Interviews in dieser Gruppe wurden in einer ländlichen, nicht industrialisierten Region geführt, und bei drei weiteren standen die Ausgliederung und Privatisierung von Post und Telekom im Mittelpunkt. In dieser Gruppe der
abstiegsbedrohten Beschäftigten in einem Normalarbeitsverhältnis überwiegen die
männlichen, angelernten Arbeiter und Facharbeiter. Sie stellen acht der zehn InterviewpartnerInnen.
Die Gruppe der befragten prekär Beschäftigten hingegen besteht aus neun Frauen und
zwei Männern, womit der bekannten Tatsache Rechnung getragen wurde, dass vor
allem Frauen prekär beschäftigt sind. Der Begriff prekär oder Prekarisierung wird dabei
weit gefasst: Es finden sich darunter in Arbeitslosigkeit befindliche Personen ebenso
wie atypisch Beschäftigte. Das bedeutet, dass diese Untergruppe des
Untersuchungssamples sowohl hinsichtlich ihres Beschäftigungsstatus und ihrer
Branchenzugehörigkeit als auch hinsichtlich ihrer Berufslaufbahnen sowie ihrer
Perspektiven und Chancen sehr heterogen ist. Gemeinsam ist ihnen, dass sie gerade
arbeitslos sind, durch ihre Arbeit kein existenzsicherndes Einkommen erzielen können
oder ihre Beschäftigung hochgradig unsicher ist. Mehrere InterviewpartnerInnen in
dieser Gruppe, sie sind angelernte IndustriearbeiterInnen und zur Zeit arbeitslos,
stammen ebenfalls aus der erwähnten Krisenregion. Das Werk, in dem sie beschäftigt
waren, wurde geschlossen, nachdem die Produktion nach Ungarn verlagert worden war.
Die im Rahmen des SIREN-Projekts geführten Gespräche mit „AufsteigerInnen“
werden in der folgenden Darstellung nicht berücksichtigt.
2.1.
Grundlagen für die Wahrnehmung und Bewertung des sozioökonomischen
Wandels: Arbeitsethos, Leistungsorientierung und
Identitätskonstruktionen
Ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis, wie der sozioökonomische Wandel von den
ArbeiterInnen wahrgenommen und bewertet wird, ist in ihren Identitätskonstruktionen
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Wahrnehmung von Unsicherheit und Ungleichheit
zu finden. Alle Befragten sind sich ihres gesellschaftlichen Status als ArbeiterInnen
bewusst und leiten daraus sowohl ihre soziale Identität als auch ihr Gesellschaftsbild ab.
Arbeit und Leistung stehen dabei im Zentrum ihres Selbstverständnisses und Selbstwertes und fungieren gleichzeitig als Bewertungsmaßstab für gesellschaftliche Vorgänge.
Arbeit und Leistung können als Schnittpunkt von sozialer Identität einerseits und
gesellschaftlicher Integration andererseits verstanden werden. Das ist zum einen
wichtig, da ein erheblicher Teil des Selbstwertes aus dem, was man in der Arbeit leistet,
bezogen wird. Eine Identifikation mit der Arbeit und eine intrinsische
Arbeitsmotivation zeigen sich nicht nur bei den Facharbeitern, sondern auch bei den
Angelernten. Obwohl er als (Metall)Facharbeiter angelernte Tätigkeiten verrichten
muss, betont Herr K. zum Beispiel, dass es die Arbeit ist, die seinem Leben Halt,
Stabilität und Sinn gibt. Dies kommt unter anderem in dem Satz zum Ausdruck: „Auch
wenn's blöd klingt, ich arbeite gern“ (A11, S. 8), in dem er sich faktisch dafür
entschuldigt, den unwirtlichen Arbeitsbedingungen angelernter Industriearbeit positive
Seiten abzugewinnen. Das zeigt sich aber auch bei Herrn O., der als gelernter
Installateur 19 Jahre am selben Arbeitsplatz im Stahlwerk Schwerarbeit unter
ungünstigsten Bedingungen (Monotonie, Staub, Schmutz) verrichtete. Dies führte bei
Herrn O. aber nicht zu einer gleichgültigen, rein instrumentellen Haltung seiner Arbeit
gegenüber, sondern dazu, auch dieser Form von Arbeit einen Sinn abzuringen. Er betont
mehrfach, dass er gern gearbeitet und immer versucht hat, seine Arbeit ordentlich, und
damit ist gemeint qualitativ hochwertig, zu erledigen. „Aber trotzdem hat's mich
interessiert, sonst wär ich nicht 19 Jahre geblieben. Wenn man gar nicht mag, bleibst’
nicht, haust den Hut drauf.“ (A15, S. 12). Herr Ö., der vor kurzem in Pension gegangen
ist, streicht in der Bilanz seines Arbeitslebens seine Leistungsorientierung und
Arbeitsdisziplin hervor: „In sechsundvierzig Jahren ein halbes Jahr im Krankenstand
gewesen und das war ein Unfall.“ (A27, S. 16)
Gleichzeitig ist den Befragten bewusst, dass Arbeit auch für die Integration in die Gesellschaft von zentraler Bedeutung ist. Wie in den Interviews immer wieder deutlich
wurde, ist sie für die Arbeiter, auch in ihrem subjektiven Bewusstsein, die einzige
Möglichkeit einen einigermaßen passablen Lebensstandard und damit auch ein Leben in
Würde zu erreichen. Damit werden Arbeit und Leistung auch bei der Bewertung anderer
zum zentralen Kriterium, und abweichende Lebensentwürfe können nur schwer akzeptiert werden.
Ist bei den männlichen angelernten Arbeitern die zentrale Funktion von Erwerbsarbeit
für die Identitätskonstruktionen keineswegs überraschend, so stellt sich diese Frage bei
den Arbeiterinnen doch etwas differenzierter. Entsprechend ihrer doppelten Vergesellschaftung (Becker-Schmidt 1988) sind für ihre soziale Identität beide Lebensbereiche,
Erwerbsarbeit und Familie/Kinder, von Bedeutung. Diese Brüchigkeit und Widersprüchlichkeit spiegelt sich auch in den Erwerbsverläufen wider. Etwa bei Frau F., die
ihre beruflichen Pläne im Gastgewerbe aufgrund einer ungewollten Schwangerschaft
zugunsten der Kindererziehung aufgeben musste, ihr Wiedereinstieg erfolgte – nicht
zuletzt wegen der geregelten Arbeitszeiten – als angelernte Arbeiterin in der Elektro-
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Wahrnehmung von Unsicherheit und Ungleichheit
industrie. Allerdings verweist der in den Gesprächen geäußerte Stolz der Frauen auf die
eigene Leistungsfähigkeit und –bereitschaft im Betrieb doch auch bei ihnen auf die
Bedeutung der Erwerbsarbeit für die Identität. Obwohl Erwerbsarbeit hauptsächlich
dazu dient Geld zu verdienen, hat sie auch die Funktion den „eigenen Lebensweg zu
sichern“ (A5, S. 19).
Die Veränderungen der Arbeitswelt, die sie unmittelbar betreffen, ergeben sich für viele
GesprächspartnerInnen aus der Unternehmenspolitik, deren Protagonist das Management ist. Dabei entzündet sich Empörung oft nicht so sehr an materiellen Einbußen,
solange sich diese in einem einigermaßen erträglichen Rahmen bewegen. Beklagt wird
vielmehr die fehlende Anerkennung und die Abwertung ihrer Position als Arbeiter
durch eine verstärkte Ökonomisierung der innerbetrieblichen Beziehungen. Das ist bei
den Postbediensteten der Fall, wie Herr I. verdeutlicht: „Der Arbeitnehmer selbst,
zumindest bei uns bei der Post, ist quasi nur mehr das Letzte. Auf den wird überhaupt
nicht mehr geschaut.“ (A9, S. 6) Aber auch bei den Stahlarbeitern: „... die obere, die
mittlere Ebene, das hat sich sehr, sehr verschlechtert. Also das hat sich grundsätzlich
verändert, man hat einfach das Gefühl, man will mit den Unteren eigentlich nichts mehr
zu tun haben.“ (A13, S. 15) Ein solcher auf das rein Instrumentelle reduzierter Umgang
verletzt die Arbeiter in ihrer Identität und führt zu Kränkungen und
Missachtungsgefühlen.
Während bei den zwei Postbediensteten diese Entwicklung sehr individualisierend als
Schwäche und als persönliche Fehler des Management gedeutet werden, sehen die
Metallarbeiter und auch Herr H. aus der Telekommunikation die zunehmende Internationalisierung und die damit einhergehende stärkere Profitorientierung der Unternehmen
als Hintergrund. Die großen internationalen Konzerne, so klagen auch die arbeitslosen
Industriearbeiterinnen, suchen eben den für sie billigsten Standort, um noch höhere
Profite zu erzielen. Die Kellnerinnen hingegen beziehen sich in ihrer Wahrnehmung des
sozio-ökonomischen Wandels nicht auf bestimmte Unternehmen, sondern auf die
Situation am Arbeitsmarkt. Ihnen gelingt es gegenwärtig nicht, ein existenzsicherndes
Anstellungsverhältnis im Gastgewerbe zu finden. Sie machen dafür den Zuzug ausländischer Arbeitskräfte verantwortlich. „Vor allem Tschechinnen und Slowakinnen“, so
Frau Ü. (A29), „sind im Service, aber auch in der Küche, sehr nachgefragt, da sie zu
niedrigeren Löhnen als inländische Kräfte, oder oft auch nicht angemeldet, arbeiten.“
Auffallend ist, dass neben der Erwerbssituation und dem regionalen Arbeitsmarkt
insbesondere die Lebensgeschichte, die Familiensituation und das Herkunftsmilieu die
Muster der Wahrnehmung und Bewältigung prägen. Insofern sind die subjektiven
Wahrnehmungen und die Verarbeitungsmuster der Industriearbeiterinnen und Kellnerinnen recht ähnlich. Frauen, die Kinder versorgen, machen sich einerseits größere
Sorgen um ihre materielle Existenz, betrachten andererseits die Erwerbssituation auch
unter dem Gesichtspunkt der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Familienarbeit,
wodurch manche prekäre Situation in einem milderen Licht erscheinen kann.
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Wahrnehmung von Unsicherheit und Ungleichheit
2.2.
Das Ende des Tauschs von Leistungswillen und Unterordnung gegen
Sicherheit und Lebensstandard
Die in den Interviews geäußerten Ungerechtigkeitsgefühle stehen in einem deutlichen
Zusammenhang damit, dass die Zumutungen und Belastungen in der Arbeit, denen die
Arbeiter unterworfen sind, sowie ihr Interesse an der Arbeit nicht ausreichend wahrgenommen und anerkannt werden. Damit wird für sie auch ihr Platz in der Gesellschaft
in Frage gestellt. Hinzu kommt, dass ihren Anstrengungen und Opfern oft keine
adäquaten Gegenleistungen mehr gegenüber stehen. Die Befragten verorteten sich meist
(relativ weit) unten in der Gesellschaft, was auch nach 30 Jahren Wohlstandsgesellschaft von ungebrochenem Realismus und untrüglichem Gespür für die „feinen Unterschiede“ zeugt. Aus dieser Perspektive erfolgt ihre Betrachtung und Interpretation
gesellschaftlicher Vorgänge.
Erwerbsarbeit wird als zentraler gesellschaftlicher Integrationsmechanismus akzeptiert,
die für sie deutlich eingeschränkten Wahlmöglichkeiten im Hinblick auf die Erwerbstätigkeit und die Lebensführung werden nicht thematisiert. Bestehende Ungerechtigkeiten
werden nicht so deutlich wahrgenommen bzw. in hohem Ausmaß toleriert, so lange der
grundlegende soziale Tausch zu funktionieren scheint, dass nämlich für die Unterwerfung unter die Zumutungen entfremdeter Arbeit im Gegenzug bescheidener Wohlstand,
Sicherheit sowie soziale Anerkennung geboten werden. Wenn durch eine striktere
Ökonomisierung der sozialen Beziehungen im Betrieb und auch auf der gesellschaftlichen Ebene dieser langfristige Tausch aufgekündigt wird, es zu einer zunehmenden
Missachtung der mit den Arbeitsbedingungen verbundenen Zumutungen und Belastungen kommt und die Sicherheit des Arbeitsplatzes in Frage gestellt wird, entstehen
Gefühle der Kränkung und Abwertung. Die Wahrnehmung, dass den „Unteren“ in der
Gesellschaft keine Beachtung geschenkt wird und anderen Gruppen, die es nicht
verdienen, mehr Anerkennung zuteil wird, lassen Ungerechtigkeitsgefühle und Ressentiments entstehen. Diese können sich sowohl gegen „die da oben“ als auch gegen „die
weiter unten“ richten. Latent vorhandene Vorurteile führen in einem solchen Klima zu
manifesten emotionalen Ausbrüchen.
Zu Kränkungen kommt es vor allem durch Vorgänge in den Betrieben: Es wird von
Mobbing aufgrund des Eintretens für den ArbeitnehmerInnenschutz, von fehlender
Einbeziehung in innerbetriebliche Angelegenheiten sowie Gleichgültigkeit und Missachtung von Kompetenzen und Wissen durch das Management, von Kündigungen aus
heiterem Himmel nach langjähriger enger Verbundenheit mit dem Kleinunternehmer,
von der Versetzung nach Ungarn als einziges Angebot um im Unternehmen verbleiben
zu können und vielen anderen widrigen Situationen berichtet. Herr G., ein Briefträger,
bringt die Kränkungen über die mangelnde Wahrnehmung der Arbeitsbelastung in
emotional aufgeladenen Aussagen über diejenigen „hinterm Schreibtisch“, über
Vorgesetzte und die Unternehmensleitung, die alle keine Ahnung hätten, was es
bedeutet, „draußen“ Dienst zu machen, deutlich zum Ausdruck:
„ ...ein Briefträger, ein Packlfahrer ... Die zwei die sind den ganzen Tag draußen,
nicht, ich war um6 Uhr 50 da und kein Tag, wo ich vor sieben auf’d Nacht heimgegangen bin. Bin weggefahren um ½ 8 vom Postamt, bin (...) gekommen um 5 Uhr
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Wahrnehmung von Unsicherheit und Ungleichheit
am Nachmittag. Egal ob Sommer oder Winter ... Die, die da hinten drinnen sitzen,
haben ja keine Ahnung, was sich da draußen abspielt.“ (A7, S. 20)
Am Beispiel von Herrn K. werden aber auch über den Betrieb hinausgehende, gesellschaftliche Ungerechtigkeitsgefühle deutlich. Sie stehen mit seiner Leistungsorientierung in Zusammenhang und werden sowohl von Gruppen, die in der Gesellschaft weiter
oben stehen, als auch von solchen weiter unten hervorgerufen. So beklagt er sich zum
einen über die PolitikerInnen (oben), als jene Gruppe, die sich dem zunehmend härteren
Wind der Ökonomisierung, der ihm scharf ins Gesicht bläst, entziehen und sich's richten
können, was sich für ihn (wie auch für andere) etwa an den ungerechtfertigt hohen
Einkommen, die sie für sich selbst beschließen, zeigt. Zum anderen stößt er sich massiv
an den „Leistungsunwilligen“, wobei er die Ungerechtigkeit konkret darin sieht, dass
diese in seinen Augen einen zu geringen Preis dafür zahlen müssen, dass sie sich nicht
den Anforderungen der Arbeitsgesellschaft unterwerfen. Wie in einem Brennglas
bündelt und erhitzt sich dieses emotional-aggressive Ungerechtigkeitsgefühl am
Beispiel seines Freundes, der sich mit allen möglichen Tricks durch die Kontrollen der
Arbeitsmarktgesellschaft laviert.
„Das sind eben die Sachen, weil du unmittelbar betroffen bist: ich komm von der
Schicht heim, der kommt vom Schotterteich heim, ‚Super, geschwitzt, so heiß gewesen, unten gesessen, ein Bier getrunken, schöne Frauen.’ Du kommst heim dreckig, verschwitzt vom Arbeiten. (Freund:) ‚Nein.... Kurs brauch ich keinen, und das
nicht und dort geh ich auch nicht mehr hin, weil da passt das nicht und ...’. Da
denkt man sich eigentlich: warum geh ich arbeiten, der lebt ja auch nicht schlecht.
Der hat keine Schulden, der hat eine Wohnung, kommt aus damit, der kann sich
jeden Tag seine zehn, zwölf Bier kaufen und so lange er sich das kaufen kann mit
der Notstandshilfe, kriegt er zuviel. Oder das gibt’s nicht anders, der will ja gar
nicht mehr arbeiten gehn.“ (A11, S. 30)
Selbst kommt er schmutzig und verschwitzt aus der Fabrik – der Freund ist zwar
ebenfalls verschwitzt, aber vom Baden am Schotterteich. In dieser Sequenz kommt die
ganze Ungerechtigkeit zum Ausdruck. Jenen, die sich nicht den zentralen Leistungskriterien unterwerfen, soll es nicht möglich sein, ein gutes Leben zu führen, auch wenn
Herr K. eingesteht, dass sein Freund auf vieles verzichten muss. Aber solange es diesem
subjektiv gut geht, dieser sich’s auch auf dem niedrigen Niveau gut gehen lässt, wird
seine eigene Unterwerfung unter die Zumutungen des Systems entwertet. Darin besteht
für ihn die große Ungerechtigkeit. Die eigenen Zwänge, denen man sowohl aufgrund
objektiver Bedingungen wie aufgrund verinnerlichter Leistungsorientierung
unterworfen ist, werden als Maßstab für die Bewertung anderer herangezogen.
Auch bei den interviewten Frauen in prekären Erwerbssituationen tragen einseitige
Aufkündigungen des sozialen Tauschs entscheidend zu ihrem Gefühl, ungerecht
behandelt worden zu sein, bei. Aber auch ein zweites wird sichtbar: Die interviewten
Frauen erleben eine Verdopplung von Ungerechtigkeit, als Arbeitskraft und als Frau,
was zweifellos mit ihrer doppelten Vergesellschaftung korrespondiert. Am deutlichsten
wird dies an Frauen, die als Alleinerzieherinnen (nach gescheiterter Ehe) für ihre
Unabhängigkeit und Selbstständigkeit einen hohen Preis gezahlt haben, und zwar in
Form von enormen Belastungen, Schuldgefühlen, zuwenig Zeit für die Kinder zu haben,
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Wahrnehmung von Unsicherheit und Ungleichheit
materiellen Einschränkungen und nicht zuletzt auch teilweise in Form der Aufgabe
beruflicher Perspektiven.
Ein Beispiel ist Frau F. Sie verweist zum einen auf die Erfahrung, als Frau in der
Gesellschaft nicht für ganz voll genommen zu werden. „Ich meine, großteils werden ja
Frauen eh als behindert angeschaut.“ (A6, S. 12) Als Beispiele nennt sie ungleiche
Bezahlung, Nachtarbeitsverbot und Erfahrungen als alleinerziehende Mutter. Zum
anderen zählt sie eine Vielzahl wahrgenommener Ungerechtigkeiten auf, die im Zuge
der Schließung des Betriebes und der Verlagerung der Produktion stattgefunden haben.
Als besondere Kränkung bzw. Kette von Zumutungen hat sie dabei die durch die
Einschulung von Ungarinnen – der neue Standort des Werkes ist in Ungarn – erzwungene aktive Mitwirkung am Verlust des eigenen Arbeitsplatzes erlebt: durch Anlernen
der ungarischen Arbeiterinnen, durch Weitergabe von eigenem Wissen und Kompetenzen die Verlagerung noch aktiv unterstützen und die „schlampigen“ Arbeitsergebnisse
der Ungarinnen auch noch ausbessern zu müssen. Während im eigenen Betrieb die
Qualitätskriterien immer äußerst streng gehandhabt wurden und die Arbeiterinnen vom
Management bei Verfehlungen zurechtgewiesen wurden, galten diese strengen Maßstäbe bei den Ungarinnen anscheinend nicht. Diese konnten sich aus der Sicht von Frau
F. erlauben, auch schlampige Arbeit abzuliefern, die noch dazu wiederum von jenen,
die schlussendlich ihren Arbeitsplatz verloren und auf der Strecke blieben, ausgebessert
werden mussten.
Kernpunkt des Ungerechtigkeitsempfindens von Frau Ü., als zweites Beispiel, ist, dass
sie, die „ihr ganzes Leben mit hoher Leistungsbereitschaft gearbeitet hat, sich verausgabt hat“, und davon gesundheitliche Folgen zu tragen hat, in den letzten Jahren keine
Stelle mehr im Gastgewerbe gefunden hat, die ihren Lebensunterhalt sichert, weil die
Unternehmen billige Arbeitskräfte aus dem Ausland teils illegal beschäftigen. Das
bedeutet für sie als Frau, die jahrelang ihre Selbstständigkeit auch durch materielle
Unabhängigkeit gesichert hat, was ihr sehr wichtig ist und worauf sie auch stolz ist, dass
sie heute wieder – ohne eigenes Verschulden und ihren Anstrengungen zum Trotz –
vom Einkommen ihres Lebensgefährten abhängig ist.
2.3.
„Schön langsam weiß man überhaupt wirklich nicht mehr, was jetzt
wirklich sicher ist“ – Sicherheit und Berechenbarkeit als Basis der
Lebensführung
Im Lebensentwurf von angelernten ArbeiterInnen kommt den Aspekten Sicherheit und
Berechenbarkeit des Lebens eine zentrale Bedeutung zu. Sie sind sich ihrer niedrigen
Position im sozialen Raum bewusst und sehen gleichzeitig, dass ihnen die Arbeit wenig
Aufstiegsmöglichkeiten bietet. Haben sie einen einigermaßen gut bezahlten (Industrie)Arbeitsplatz erreicht, sind sie in ihrer Orientierung am Machbaren daran
interessiert, diesen abzusichern. Genauso realistisch sind sie sich gleichzeitig ihrer
leichten Ersetzbarkeit an Arbeitsplätzen für Angelernte und ihrer prinzipiell schwachen
Position am (regionalen) Arbeitsmarkt bewusst. Das trifft bei älteren Arbeitern (über 45
Jahren) in höherem Maße zu als bei Jüngeren, die, wie z.B. Herr. K., bis zu einem
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Wahrnehmung von Unsicherheit und Ungleichheit
gewissen Grad noch auf ihre Arbeitskraft (im wahrsten Sinne des Wortes) vertrauen
können.
Die Industriearbeit im allgemeinen und jene im verstaatlichten Stahlwerk im besonderen, ist daher in zweifacher Weise ein Synonym für Sicherheit, Stabilität und Berechenbarkeit in bezug auf den Lebensentwurf und die Lebensführung von ArbeiterInnen. Der
relative hohe Lohn und die relative Sicherheit des Arbeitsplatzes erlauben ihnen eine
vorausschauende Planung und damit auch eine Erhöhung ihrer Lebensqualität. Denn
größere Anschaffungen (Auto, Wohnungseinrichtung etc.) können von angelernten ArbeiterInnen nur durch die Aufnahme von Krediten und nicht aus dem laufenden
Einkommen finanziert werden. Damit wird für viele bis zu einem gewissen Grad die
(Vor)Verlegung der Zukunft in die Gegenwart möglich. Dazu sind allerdings stabile
Beschäftigungsverhältnisse erforderlich.
Das kommt bei Herrn G. zum Ausdruck, für den die Sicherheit des Arbeitsplatzes ein
wichtiges Motiv für die Berufswahl und die Arbeit bei der Post war und dem die
erzwungene Frühpensionierung und der damit verbundene Lohnverlust einen Strich
durch seine langfristig angelegte (Lebens-)Rechnung samt Kreditrückzahlungen
machte. Dies ist auch der Hauptgrund für seinen heftigen Widerstand gegen die
Frühpensionierung. Herr Ö. wiederum hat wegen eines sicheren Arbeitsplatzes, der für
ihn Voraussetzung für die Familiengründung in seiner Heimatgegend war, einen
beruflichen Abstieg vom qualifizierten Metallfacharbeiter zum angelernten
Straßendienstarbeiter und zugleich erhebliche Lohnverluste in Kauf genommen.
Die fix begrenzte und auf Wochen voraus feststehende Arbeitszeit im Industriebetrieb
ermöglicht eine Abstimmung der sozialen Kontakte. Wie sich zunehmende Unsicherheit
durch den sozio-ökonomischen Wandel in diesem Bereich auswirken kann, zeigt sich
am Beispiel von Herrn O., an dessen Fall die Bedeutung von fixen Arbeitszeiten für
eine berechenbare Lebensführung deutlich in den Blick rückt. Herr O. hat durch
zweimaligen Verlust des Arbeitsplatzes, zuerst im Stahlwerk, dann als
Gasanlagenmonteur, einen zentralen Teil seines Lebensgerüstes verloren. In seinem
nunmehrigen Job als Taxifahrer sind Wochenenddienste und unregelmäßiges
Arbeitsende die Regel. Mehr als die materielle Seite schmerzt ihn der damit
einhergehende Verlust von Sozialkontakten sowie der Umstand, dass er sein wichtigstes
Hobby, die Tätigkeit als Fußballschiedsrichter, dadurch nicht mehr ausüben kann.
„Ja so die Hobbies und Freundschaften und das, das ist minimal geworden, weil
du eben nie was planen kannst. Ich kann heute nicht sagen am 16. möcht ich
dorthin fahren, weil es von Woche zu Woche verschieden ist, wie du Dienst hast.
Natürlich die Freundschaft und diese Dinge werden sehr karg dadurch. Das ist
vorher natürlich leichter gewesen, weil wenn du Freitag zu Mittag oder Freitag auf
d’Nacht aufhörst, weißt du am Wochenende hast du Zeit, kannst du was planen.“
(A15, S. 12)
Herr K. wiederum verweist im Interview auf eine sehr konkrete und unmittelbare
Auswirkung der mit Kurzarbeit verbundenen prinzipiellen Unsicherheit: größere
Anschaffungen und Projekte, wie etwa eine neue Küche oder der schon lange anstehende Badezimmerumbau, werden bewusst verschoben. Solche Investitionen stellen in
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Wahrnehmung von Unsicherheit und Ungleichheit
der aktuell unsicheren Arbeitsplatzsituation ein zu großes Risiko dar. Für Herrn P. ist
die Sicherung von Arbeitsplätzen überhaupt das wichtigste gesellschaftspolitische Ziel
– „Für mich ist das Wichtigste, dass die Region belebt wird, und dass Arbeitsplätze geschaffen werden.“ (A16, S. 23) – was bei ihm, auch unter dem Eindruck der zunehmenden Unsicherheit des eigenen Arbeitsplatzes und damit zusammenhängenden Ohnmachtsgefühlen zu einer extrem defensiven Haltung führt, aus der heraus er bereit ist,
Rechte der ArbeitnehmerInnen zugunsten der Sicherung bestehender und der Schaffung
neuer Arbeitsplätze preiszugeben.
Die zum Teil sehr realen Ängste um den eigenen Arbeitsplatz und die damit verknüpfte
Integration in die Gesellschaft verbinden sich mit solchen auf gesellschaftlicher Ebene.
So antwortet Herr M. auf die Frage nach den NutznießerInnen dieses Wandels:
„Profitieren sicher die Grossen, sag ich jetzt einmal. ... Das ist auch mit dem Geld
das gleiche, die Pensionen irgendwo anlegen, da sag ich Ihnen ganz ehrlich, wenn
Sie dann hören, dass das in irgendwelche Aktien oder egal wie angelegt wird, da
sag ich Ihnen ganz ehrlich, das ist ein Wahnsinn, also wenn man das hört, da geht
mir das G’impfte auf. Denn schön langsam, weiß man überhaupt nicht mehr was
noch wirklich sicher ist.“ (A13, S. 27)
Insbesondere bei den Älteren produziert die Befürchtung, dass zentrale gesellschaftliche
Eckpfeiler der Lebenssicherung im Zuge des sozio-ökonomischen Wandels unterhöhlt
werden, tiefgreifende Unsicherheits- und Ohnmachtsgefühle.
Auch oder gerade bei den GesprächspartnerInnen in prekären Erwerbssituationen ist
Sicherheit ein zentraler Moment im Lebensentwurf. Im Unterschied zu den angelernten
Arbeitern im verstaatlichten Stahlwerk und den „Postlern“ hatten die befragten prekär
Beschäftigten seit Beginn ihrer Berufslaufbahn immer schon wenig sichere Arbeitsplätze inne. Dies ist zum einen auf die Branchen zurückzuführen, in denen sie beschäftigt waren bzw. sind – wie das Gastgewerbe – zum anderen auf das Geschlecht. Das
„Normalarbeitskonstrukt“, das eine durchgängige Erwerbstätigkeit bis zur Pensionierung vorsieht, war – bekanntermaßen – schon immer ein Modell für männliche
Erwerbskarrieren.
Keine der prekär beschäftigten Frauen weist einen durchgängigen Erwerbsverlauf auf.
Die Mehrzahl hat ihre Berufstätigkeit aufgrund der Geburt von Kindern unterbrochen,
zumindest für die Dauer der Karenzzeit, einige auch länger. Gleichzeitig finden sich in
den Berufsbiografien befristete Beschäftigungen, teilweise Saisonarbeit, Zeiten der
Arbeitslosigkeit etc. Fast alle haben etliche Arbeitsplatzwechsel hinter sich, sowohl
innerhalb einer Branche als auch zwischen Branchen. Ihre Sicherheit bezog sich daher
immer vornehmlich auf ihre Arbeitsmarktchancen. Sie haben immer wieder einen
Arbeitsplatz gefunden, der ihren Lebensunterhalt sicherte, auch wenn sie dabei viele
Kompromisse eingehen mussten. Genau diese Sicherheit scheint aber im Moment
wegzubrechen. Dies hat für einige regionale Gründe, sie leben in Krisenregionen mit
hoher Arbeitslosigkeit, steht zum zweiten in Zusammenhang mit ihrem Alter, so sind
die im Gastgewerbe Beschäftigen über 50 Jahre alt, und hängt drittens mit ihren
Qualifikationen zusammen, sie haben zwar großteils eine Lehre abgeschlossen, waren
aber im weiteren Berufsverlauf un- oder angelernt beschäftigt. Die Reaktionen der
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14
Wahrnehmung von Unsicherheit und Ungleichheit
Frauen schwanken zwischen Hoffnung, Resignation und Zorn. Misserfolge bei der
Arbeitssuche bzw. bei der Suche nach Vollzeitarbeitsplätzen versuchen sie mit Zweckoptimismus zu begegnen: „Ich habe es bis jetzt geschafft, also muss es auch weiter zu
schaffen sein“. Der Zorn richtete sich hingegen gegen jene, die es sich aus ihrer Perspektive scheinbar richten können, wie PolitikerInnen, aber auch ImmigrantInnen.
Die derzeitige Lage – arbeitslos oder atypisch beschäftigt – hat natürlich auch
materielle Unsicherheit zur Folge. Existentiell bedroht ist die Arbeiterin Frau E. Sie
nahm vor fünf Jahren bei ihrem Einstieg in den Industriebetrieb, der zu diesem
Zeitpunkt als sicher galt, einen Kredit für den Kauf ihres Elternhauses von ihren
Geschwistern auf. Für Frau Ü. ist die Angst vor dem materiellen Abstieg stark
verknüpft mit der Angst vor sozialer Isolation, konkret mit der Angst, mit dem
Lebensstandard der Freunde und Bekannten nicht mehr mithalten zu können, sich keine
gemeinsamen Urlaubsreisen, keine gemeinsamen Restaurantbesuche mehr leisten zu
können.
2.4.
Die Bedeutung der Region als (latenter) Referenzrahmen der eigenen
abstiegsbedrohten Position
An den Interviews in der Industrieregion fällt auf, dass der Niedergang der Region
insgesamt zwar eine Rolle spielt, aber das tatsächliche Ausmaß der daraus resultierenden persönlichen Abstiegsbedrohung nicht direkt thematisiert bzw. gar nicht in dieser
Schärfe wahrgenommen wird. Es entsteht der Eindruck, dass die ArbeiterInnen die
Gefahren aus Selbstschutz verdrängen, was es ihnen erlaubt, ihr Leben ohne allzu
schmerzhafte Brüche aufrecht zu erhalten. Durch ihre Orientierung an und Verankerung
in der Region ist ihre Arbeitsmarktmobilität stark eingeschränkt und ein Verlust des
Arbeitsplatzes aufgrund der schlechten regionalen Arbeitsmarktsituation für viele eine
echte Existenzbedrohung. Dies gilt insbesondere für die Arbeitskräfte über 45 Jahren,
die das auf direkte Nachfrage auch so sehen, es aber im allgemeinen vermeiden darüber
zu sprechen. Sie klammern sich vielmehr an den derzeitigen Arbeitsplatz als einzigen
verbliebenen Strohhalm, was auch zu defensiven Haltungen führt.
Wenn aber die Bedrohung als solche bzw. der Niedergang der gesamten Region
verdrängt wird, reagiert man besonders sensibel auf symbolische Manifestationen, die
diesen Verfall wieder ins Bewusstsein rücken. Dies verdeutlicht sich in besonderer
Weise am Beispiel des „Casinos“. Das Casino war früher ein zum Werk gehöriges
Repräsentationsgebäude mitten im Ort mit feinem Restaurant und Veranstaltungssaal.
Es ist ein Symbol für die Hochblüte der verstaatlichten Industrie in der Region und im
speziellen des Werks im Ort. Das heißt, der Niedergang der Fabrik und dessen Auswirkungen auf den Ort spiegeln sich in besonders drastischer Weise im Niedergang des
Casinos wider. Es stand eine Zeitlang leer, und danach wurden dort Flüchtlinge
einquartiert. Der aktuell desolate Zustand wird nicht so sehr mit der ökonomischen
Entwicklung als vielmehr mit den Flüchtlingen in Verbindung gebracht, wie Herr L.
schildert:
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Wahrnehmung von Unsicherheit und Ungleichheit
„Es spielt alles eine Rolle und vielleicht für uns da drinnen (gemeint sind die
Arbeiter im Stahlwerk), ist sicher, dass das Casino viel mitspielt. ... Auf alle Fälle
hat das natürlich den Eindruck hinterlassen – das Casino war ein schmuckes
Gebäude, und jetzt ist es desolat, ob das auf die zurückzuführen ist (Flüchtlinge
Anm. d. I.), weiß ich gar nicht, das ist im Laufe der Zeit. Natürlich bei der
Bevölkerung selber hier in H. hinterlasst es diesen Eindruck, nicht.“ (A12, S. 15)
Für Herrn P. schwelt zusätzlich zur akuten Bedrohung seines Arbeitsplatzes der schleichende Niedergang der Region wie eine schmerzliche Wunde in seiner Identität. Er hat
seine gesamte Lebenszeit in der Region verbracht und ist existentiell und emotional an
diese gebunden. Er ist in der Zeit der Hochblüte der Region, die von einem Ausbau der
verstaatlichten Stahlindustrie ebenso wie von einem wirtschaftlichen Aufschwung der
privaten Metallindustrie geprägt war, aufgewachsen und hat den kontinuierlichen
Abstieg der letzten zwanzig Jahre miterlebt. Die düsteren Aussichten am Arbeitsmarkt,
der Rückgang der Bevölkerungszahlen und die sozialen Auswirkungen dieser
Entwicklung, die in seinem Wohnort deutlich sichtbar werden („das ist eine sterbende
Stadt“) treffen Herrn P. hart. Die Benachteiligung als Person, als Arbeiter bzw. Angestellter, dem nur die Rolle des ohnmächtigen Spielballs ökonomischer Entscheidungen
bleibt, und jene als Region mit zunehmenden sozialen Verfallserscheinungen verschmelzen zu einem resignativen Gefühl, weniger wert zu sein, nicht wahrgenommen
und beachtet zu werden. Im eng miteinander verquickten Niedergang der verstaatlichten
Stahlindustrie mit jenem der Region spiegelt sich die allgemeine Abwertung ihrer
gesellschaftlichen Position als Industriearbeiter, was unweigerlich (wenn auch zum Teil
verdrängte) Auswirkungen auf ihre persönliche und soziale Identität nach sich zieht.
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16
Schlussfolgerungen
3.
SCHLUSSFOLGERUNGEN: DIE WAHRNEHMUNG DES
ZERFALLS DER LOHNARBEITSGESELLSCHAFT UND DIE
POLITISCHEN FOLGEN
Die subjektiven Wahrnehmungen und Bewertungen des sozioökonomischen Wandels
sind bei mehr oder weniger allen Befragten von einer hohen Leistungsorientierung
geprägt. Erwerbsarbeit und gute Arbeitsleistungen sind zudem als zentrale Stütze der
Identität vieler Befragter anzusehen. Hinzu tritt bei mehreren Frauen die ökonomische
Unabhängigkeit und der Stolz, trotz aller Hindernisse Beruf und Kinder vereinbaren zu
können. Von postmaterialistischen Werten oder hedonistischen Orientierungen ist also
in unserem Sample wenig zu finden. Deutliche Unterschiede in den Wahrnehmungen
und Bewertungen sind auf verschiedene Lebensgeschichten, soziale Milieus und
Merkmale der Region zurück zu führen.
Die Mehrzahl der von uns Befragten nimmt ihre Erwerbssituation als zunehmend
unsicher wahr. Ausnahmen sind Selbstständige, die von ihren Fähigkeiten sehr überzeugt sind und Angestellte, die hohes Vertrauen in das Unternehmen haben. Auffallend
ist, wie häufig und wie groß die Zugeständnisse waren, um ein Ausmaß an Sicherheit zu
erreichen, das eine geregelte Lebensführung und einen angemessenen, wenn oft auch
bescheidenen Lebensstandard ermöglicht. Viele haben auf ihren Wunschberuf verzichtet, wechselten vom Gastgewerbe in die Fabrik oder nahmen bessere Verdienstmöglichkeiten anderswo nicht wahr. Erst vor diesem Hintergrund werden die Folgen des
Verlusts von Sicherheit verständlich. Im Kern geht es um Enttäuschungen, die sich aus
der Aufkündigung des sozialen Tauschs ergeben, in dem für harte Arbeit und die
Unterwerfung unter Zwänge Anerkennung, relativer Wohlstand und relative Sicherheit
der Lebensführung erworben wurden. Das bisherige Leben lang viel geleistet zu haben,
„ohne Murren alles gemacht zu haben“, zählt plötzlich überhaupt nicht mehr, wenn der
Betrieb vor der Schließung steht oder am Arbeitsmarkt keine existenzsichernde Stelle
zu finden ist.
Aber es geht im Gegensatz zu früher unseres Erachtens nicht nur um die Folgen einer
Krise oder die subjektiven Auswirkungen der steigenden Arbeitslosigkeit. Die Deutungen der ArbeiterInnen spiegeln Aspekte des Zerfallsprozesses der Lohnarbeitsgesellschaft wider. Auch wenn die materiellen Aspekte der Veränderungen, also Einkommen
und Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, im Vordergrund stehen, kommt der
fehlenden Anerkennung oder Abwertung beispielsweise als ArbeiterIn in der
Bewertung der Veränderungen eine zentrale Bedeutung zu. Die größere soziale Distanz
zwischen den ArbeiterInnen und Angestellten und den mittleren Vorgesetzten und die
verlorene Wertschätzung der Leistungen führt zu tiefen Kränkungen. Die ArbeiterInnen
reagieren damit nicht nur auf unmittelbare Nachteile, sondern sprechen implizit auch
die Erosion der Leistungsgerechtigkeit an.
Sowohl bei den durch Kündigungen betroffenen ArbeiterInnen als auch bei anderen
klingt an, dass sie die soziale Welt nicht mehr verstehen. Sie bewegt sich nicht mehr
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Schlussfolgerungen
nach den Regeln, an die sie sich selbst in der Erwartung auf Gegenseitigkeit immer sehr
genau gehalten haben. Zumindest bei einigen Interviews wurden also anomische
Bedingungen spürbar. Häufiger sind aber Reaktionen, die auf die Einhaltung alter oder
auch neuer Regeln pochen, wobei zu den alten das Leistungsprinzip und zu den neuen
die Möglichkeiten zur Vereinbarung von Beruf und Kindern zu zählen sind.
Ein gemeinsames Merkmal der Veränderungen der erfassten Arbeitswelten ist, dass
frühere Sicherheitsversprechen nicht mehr eingelöst und die Arbeitsbedingungen härter
werden. Dafür werden teils unfähige Manager, teils die PolitikerInnen, teils die
Schmutzkonkurrenz am Arbeitmarkt und teils die Globalisierung und die Profitinteressen der Großunternehmen verantwortlich gemacht. Erfahrungen mit Betriebsverlagerungen und mit Konkurrenz durch AusländerInnen auf dem Arbeitsmarkt machen verständlich, warum viele Befragte beim Thema Erweiterung der EU „ein mulmiges
Gefühl“ oder gar „panische Angst“ erfasst.
Veränderungen der Arbeitsbedingungen werden oft erst auf Nachfrage oder indirekt
zum Ausdruck gebracht; Sicherheit und erträgliche Arbeitsbedingungen werden selten
direkt offen eingefordert. Es fehlt offensichtlich an legitimen Ausdrucksformen für das
zunehmende Arbeitsleid wie auch für wünschenswerte Arbeitsbedingungen, denn wer
möchte etwa schon dadurch auffallen, sich die rosigen Zeiten früheren „Beamtentums“
in der Arbeit zurück zu wünschen.
Es zeigt sich als Problem, dass Themen, wie die Entfremdung in der Arbeit und das
hohe Arbeitsleid, seit geraumer Zeit in der Öffentlichkeit und in der Politik keine
Konjunktur haben. Das scheint der Kern so mancher Äußerung über Ungerechtigkeit zu
sein: das eigene Leid wird mit dem fremden Leid verglichen; der scheinbar glückliche
„Sozialschmarotzer“ und der anscheinend gut versorgte Flüchtling werden zur Provokation. Die Ebene des Vergleichs ist also die subjektive Betroffenheit, also das relative
Glück oder Unglück. Solange Arbeitslose und Flüchtlinge auch arm und unglücklich
aussehen, ist das eigene Leiden verkraftbar. Ist das nicht der Fall, fragt man sich:
„Vielleicht bin ich ein Trottel gewesen“.
Für die gesellschaftliche Stellung von un- und angelernten ArbeiterInnen hat der oben
beschriebene Veränderungsprozess der Anerkennungsformen von Würdigung zu
Bewunderung fatale Folgen. Die traditionelle Form der Anerkennung, nämlich die
Würdigung ihres schweren (Arbeits)Loses, wird ihnen zunehmend verweigert, während
gleichzeitig ihre Arbeitsbedingungen und auch ihre Ressourcen kaum Spielräume für
Bewunderung zulassen.
Diese Veränderung wird von unseren InterviewpartnerInnen schmerzlich erfahren: Zum
einen im Betrieb selbst, wenn vielfach beklagt wird, dass das Management keine
Ahnung von der Realität der Belastungen in der Arbeit hat oder das Gefühl vermittelt,
mit den ArbeiterInnen nichts mehr zu tun haben zu wollen. Das spielt v.a. in den von
Privatisierungen betroffenen ehemaligen verstaatlichten Unternehmen, bei Post/Telekom und in der Stahlindustrie eine große Rolle. Zum anderen aber auch auf der gesellschaftlichen Ebene. Hier sind es neben den zunehmenden ökonomischen Risiken, der
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Schlussfolgerungen
Instabilität und Bedrohung v.a. die symbolischen Formen der Ausgrenzung durch
Nicht-Anerkennung und Nicht-Wahrnehmung, welche die soziale Integration bedrohen.
Wenn Anerkennung ein grundlegendes Medium sozialer Integration ist, dann ist NichtAnerkennung oder Missachtung eine Form sozialer Ausgrenzung. Es handelt sich dann,
v.a. bei den vom Abstieg Bedrohten, um eine Gruppe von intern Ausgegrenzten (Castel).
Denn obwohl sie noch vom zentralen Integrationsmechanismus des Normalarbeitsverhältnisses erfasst sind, wird ihnen auf der symbolischen Ebene, in den vorherrschenden gesellschaftlichen Diskursen mit ihren Schlagworten: Wissensgesellschaft, lebenslanges Lernen, Flexibilität oder Kreativität, zunehmend die Anerkennung verweigert
und damit potentiell ihre soziale Integration in Frage gestellt. Wenn die Fähigkeiten und
Kompetenzen, auf die sich un- und angelernte Beschäftigte stützen können, in der
Wissensgesellschaft zunehmend als wertlos betrachtet werden, erhöht sich damit automatisch ihre Verwundbarkeit. Mit dem völligen Absturz, der aufgrund der Unsicherheit
ihrer Arbeitsplätze nur einen Steinwurf oder eine Managemententscheidung weit entfernt ist, kann/muss jederzeit gerechnet werden.
Arbeitsethos, Fleiß, Anständigkeit reichen im flexibilisierten Kapitalismus nicht mehr
aus, um Ansprüche auf Anerkennung und Integration geltend machen zu können. Wenn
das Besondere, das Außergewöhnliche, der Erfolg zur Norm(alität) wird, haben Un- und
Angelernte besonders schlechte Karten. Die intersubjektive Herstellung von Anerkennung impliziert auch, dass ihre Realisierung immer schon ein Feld gesellschaftlicher
Konflikte und Konfrontationen war (vgl. Honneth 1992). Dem gemäß war auch die
Anerkennungsform der Würdigung nicht nur ein paternalistisches Zugeständnis,
sondern zum Teil auch Ergebnis von Auseinandersetzungen und Kämpfen zwischen
gesellschaftlichen Gruppen und Klassen. Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn sich
der beschriebene Abwertungs- und Missachtungsprozess auf der politischen Ebene
niederschlägt und die Politik zu einer zentralen Arena des Kampfes um Anerkennung
wird. Der Rechtspopulismus spielt dabei in Österreich eine wichtige Rolle und zwar
nicht nur indem er mit den Mitteln der Demagogie latente Ressentiments aktualisiert,
sondern indem er ein Feld besetzt, das im Zuge des neoliberalen Zeitgeistes von den
anderen Parteien verlassen wurde.
Wenn Dörre (1997) argumentiert, dass sich durch die globalisierte Konkurrenz entstehende anomische Spannungen bei den Facharbeitern im Gefühl, dass die eigenen
Leistungen, Fähigkeiten und Qualifikationen nicht mehr genügend Anerkennung in der
Gesellschaft finden, niederschlägt, so lässt sich das auf die in unserem Sample vertretenen angelernten ArbeiterInnen folgendermaßen anwenden. Obwohl auch diese durchaus
einen doppelten Bezug zu ihrer Arbeit, also neben dem instrumentellen auch einen
inhaltlichen aufweisen, kann es bei ihnen nicht die fehlende Anerkennung ihrer Qualifikationen sein, die schmerzt. Hier ist es vielmehr das Gefühl, für die unwirtlichen
Arbeitsbedingungen (Staub, Lärm, Schichtarbeit), denen sie in der Industriearbeit unterworfen sind, und dem damit verbundenen Leiden weder entsprechende Anerkennung
noch adäquate Sicherheiten zu erhalten.
Anomische Spannungen entstehen dann dadurch, dass selbst die Orientierung an und
Verinnerlichung von zentralen Normen der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft, wie
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Schlussfolgerungen
Leistungsbereitschaft und Disziplin, nicht vor einer Gefährdung bzw. Demontage des
Insiderstatus schützen. Anders ausgedrückt: Tüchtig und anständig zu sein, reicht im
flexibilisierten Kapitalismus bei weitem nicht mehr aus, um sich gegen existentielle
Bedrohungen zu schützen. Diese Aufkündigung des „alten“ Gesellschaftsvertrags, der
eine gesellschaftliche Integration als Gegenleistung für die Unterwerfung zusicherte,
und die Auslieferung an die Funktionsmechanismen eines entgrenzten, globalisierten
Marktes wird von den Betroffenen als Ungerechtigkeit und Betrug empfunden. Und
zwar von (Noch-) In- wie Outsidern. Einzig der Grad der Verbitterung variiert entsprechend dem Ausmaß und der Härte der aktuellen Betroffenheit.
Auf die zentrale Forschungsfrage des SIREN-Projekts, ob Veränderungen in der
Arbeitswelt dazu beigetragen haben, dass Botschaften rechtspopulistischer Politiker und
Parteien Anklang finden, brachte die Analyse einige Antworten, die wir abschließend
kurz anreißen wollen. Der Zusammenhang wird etwa nach dem Konzept der „Problemverschiebung“ (Bohle et al. 1997, Bourdieu 1997b) häufig darin gesehen, dass Probleme
der sozialen Ungleichheit oder der Ausbeutung, für die es in der Gesellschaft keine
legitimen Ausdrucksmöglichkeiten gibt, sich bei damit gar nicht in direktem Zusammenhang stehenden Themen, wie etwa der Immigration, entladen. Eine andere Erklärung stellt auf die Beschädigung der persönlichen und sozialen Identität im Prozess des
sozialen Wandels ab: Die Betonung ethnischer Grenzziehungen und die Forderung nach
der Bevorzugung der InländerInnen kann als Stütze der Identität betrachtet werden
(Dörre 2001). So hat Ottomeyer (2000) Fremdenfeindlichkeit als leicht erhältliche
Selbstwertdroge bezeichnet.
Die Interpretation unserer Interviews ergab zwar Hinweise, die solche Erklärungen
stützen. Doch die wichtigsten Zusammenhänge scheinen uns andere zu sein: Zunächst
ist nicht zu leugnen, dass es rechtspopulistischen Politikern sehr gut gelungen ist,
tatsächliche Probleme und Interessen vieler Bürgerinnen und Bürger anzusprechen.
Dies bezieht sich unter anderem auf Probleme, die sich aus der Immigration und aus
dem multikulturellen Zusammenleben ergeben. Die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt,
die mangelhafte Betreuung in den Schulen oder fehlender Wohnraum sind nicht durch
Aufrufe zur Toleranz aus der Welt zu schaffen, sondern werden durch eine solche
Nicht-Anerkennung nur noch schlimmer gemacht.
Ein weiterer zentraler Zusammenhang scheint uns zu sein, dass die von negativen
Veränderungen in der Arbeitswelt Betroffenen in den meisten Fällen gezwungen waren,
ihre Position in der sozialen Welt zu überdenken. Mit Abstieg oder sozialer Ausgrenzung bedroht zu sein oder für die Aufrechterhaltung des Lebensstandards einen hohen
Preis zu zahlen, obwohl man sich den Normen der Arbeitsgesellschaft voll und ganz
unterwirft, führt zu heftigen Enttäuschungen und Ängsten. Diese können als Potentiale
politischer Subjektivität angesehen werden, wobei die folgenden zwei Muster besonders
hervor traten:
Ein Muster enthält starke Gefühle der Ungerechtigkeit, die sich aus Frustrationen
legitimer Erwartungen im Hinblick auf verschiedene Aspekte der Arbeit, der Beschäftigung, des sozialen Status und des Lebensstandards beziehen. Es sind insbesondere
Umstrukturierungen der Unternehmen, Kündigungen, Frühpensionierungen, neue
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20
Schlussfolgerungen
Managementmethoden oder die verstärkte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, welche
die Qualifikationen, die Erfahrungen und die erbrachten Opfer oft mit einem Mal
entwerten. Solche Frustrationen finden ihren Ausdruck als Ungerechtigkeitsempfinden,
insofern auf andere Gruppen verwiesen wird, die sich nicht oder nicht in diesem
Ausmaß den Forderungen der zunehmend gnadenlosen Arbeitswelt unterwerfen, für die
aber scheinbar viel besser gesorgt wird, ob dies nun die Politiker und Manager oder die
Flüchtlinge und „Sozialschmarotzer“ sind. Leitmotiv der Deutungsmuster ist die
Einschätzung, dass die „Anständigen und Fleißigen“ und damit moralisch Überlegenen
betrogen worden sind und den Eindruck gewinnen müssen, dass es dumm von ihnen
war, ehrlich, loyal und gehorsam gewesen zu sein. Auf diese Wahrnehmungen zielt der
Rechtspopulismus ab, wenn er ein nach oben gegenüber den betrügerischen Eliten und
nach unten gegen die Unterklassen abgegrenztes „Volk“ konstruiert, Wahrnehmungen,
die er freilich mit seinen Deutungsangeboten selbst mitproduziert.
Ein weiteres deutliches Muster in unserem qualitativen Material bildet sich um die
Abstiegsängste, Unsicherheiten und Gefühle der Machtlosigkeit, die mit der Entwertung
von Qualifikationen, mit dem Niedergang von Regionen und mit zunehmend prekärer
Beschäftigung einhergehen. Die Wahrnehmung, ein Spielball der ökonomischen
Entwicklung und damit letztlich anonymer Kräfte zu sein, fügt sich zur Konstruktion
der Bevölkerung als passives Opfer übermächtiger Gegner durch den
Rechtspopulismus. Auch der nostalgische Blick vieler zurück auf bessere Zeiten macht
die Resonanz der rechtspopulistischen Glorifizierung traditioneller Gemeinschaften
verständlich. Hinter diesen Deutungen steht die Überzeugung, keinen Schutz und keine
Vertretung zu haben und sich nur auf sich selbst verlassen zu können. Dies ergibt sich
nicht nur aus Erfahrungen etwa beim Verlust des Arbeitsplatzes, sondern auch aus
solchen auf der symbolischen Ebene: Die fehlende Anerkennung der Probleme in der
öffentlichen und insbesondere in der politischen Diskussion wird schmerzlich erfahren.
Dadurch fehlt es auch an legitimen Ausdrucksformen für Arbeitsleid, Abstiegsängste
und
verletztes
Gerechtigkeitsempfinden.
Die
Empfänglichkeit
für
den
Rechtspopulismus erklärt sich somit zum Teil schon allein daraus, dass dieser die
Probleme und die mangelnde Belohnung der „Tüchtigen und Anständigen“ zum
öffentlichen Thema macht und vielen so jene gesellschaftliche Anerkennung zuteil
werden lässt, die ihnen alle anderen versagen.
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Literatur
LITERATUR
Altvater, Elmar/Mahnkopf, Birgit (2002): Globalisierung der Unsicherheit. Arbeit im Schatten,
schmutziges Geld und informelle Politik, Westfälisches Dampfboot, Münster
Becker-Schmidt, Regina (1983): Entfremdete Aneignung, gestörte Anerkennung. Lernprozesse
über die Bedeutung der Erwerbsarbeit für Frauen; in: Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982, hg. im Auftrag der
Deutschen Gesellschaft für Soziologie von Matthes, J., Frankfurt/Main/New York
Becker-Schmidt, Regina (1987): Frauen und Deklassierung; in: Beer, Ursula (Hg.), Klasse
Geschlecht. Feministische Gesellschaftsanalyse und Wissenschaftskritik, Bielefeld
Bohle, Hans Hartwig (1997): Armut trotz Wohlstand; in: Heitmeyer, Wilhelm (Hg.), Was treibt
die Gesellschaft auseinander?, edition suhrkamp, Frankfurt/Main
Bohle, Hans/Heitmeyer, Wilhelm/Kühnel, Wolfgang/Sander, Uwe (1997): Anomie in der
modernen Gesellschaft: Bestandsaufnahme und Kritik eines klassischen Ansatzes soziologischer Analyse; in: Heitmeyer, Wilhelm (Hg.), Was treibt die Gesellschaft auseinander?, edition suhrkamp, Frankfurt/Main
Bourdieu, Pierre (1997a): Position und Perspektive; in: Bourdieu et al., Das Elend der Welt,
UVK, Konstanz
Bourdieu, Pierre (1997b): Verstehen; in: Bourdieu et al., Das Elend der Welt, UVK, Konstanz
Bourdieu, Pierre (1998): Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die
neoliberale Invasion, UVK, Konstanz
Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit,
DVK, Konstanz
Castel, Robert (2001): Der Zerfall der Lohnarbeitsgesellschaft; in: Bourdieu, Pierre (Hg.), Der
Lohn der Angst – Flexibilisierung und Kriminalisierung in der ‚neuen Arbeitsgesellschaft‘, Liber – Internationales Jahrbuch für Literatur und Kultur 99/00, UVK, Konstanz
Dörre, Klaus (1997): Modernisierung der Ökonomie – Ethnisierung der Arbeit: Ein Versuch
über Arbeitsteilung, Anomie und deren Bedeutung für interkulturelle Konflikte; in:
Heitmeyer, Wilhelm (Hg.), Was treibt die Gesellschaft auseinander? edition suhrkamp,
Frankfurt/Main, S. 69-117
Dörre, Klaus (2001): Reaktiver Nationalismus in der Arbeitswelt, in: Widerspruch, 41 (1)
Flecker, Jörg/Kirschenhofer, Sabine/Mairhuber, Ingrid/Papouschek, Ulrike (2001): Socioeconomic change and right-wing extremism in Austria, SIREN Literature Review,
FORBA, Wien
Geissler, Birgit/Oechsle, Mechthild (1994): Lebensplanung als Konstruktion: Biographische
Dilemmata und Lebenslauf-Entwürfe junger Frauen; in: Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim,
Elisabeth, Riskante Freiheiten, Frankfurt/Main
Holtgrewe, Ursula (2002): Anerkennung und Arbeit in der Dienstleistungsgesellschaft. Eine
identitätstheoretische Perspektive, in: Moldaschl, Manfred/Voß, Günter (Hg.), Subjektivierung von Arbeit, Rainer Hampp Verlag, München und Mering
Honneth, Axel (1992): Kampf um Anerkennung, Frankfurt/Main
Mairhuber, Ingrid (2001): Frauenarmut – ein sozialpolitisches Problem?!, in: Heitzmann
K./Schmidt, A. (Hg.), Frauenarmut, Frankfurt/Main
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Literatur
Mead, George, Herbert (1934/1973): Geist, Identität und Gesellschaft. Suhrkamp, Frankfurt/
Main
Mückenberger, Ulrich (1989): Der Wandel des Normalarbeitsverhältnisses unter Bedingungen
einer Krise der Normalität; in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 4/1989, S. 211-223
Neumann, Enno/Oechsle, Mechthild/Zoll, Rainer (1984): Existenzangst und Alltagssolidarität;
in: Zoll, Rainer (Hg.), „Hauptsache, ich habe meine Arbeit“, edition suhrkamp, Frankfurt/Main
Offe, Claus (1970): Leistungsprinzip und industrielle Arbeit. Europäische Verlagsanstalt,
Frankfurt/Main
Ottomeyer, Klaus (2000): Fremdenfeindlichkeit als Selbstwertdroge; in Berghold J./ Ottomeyer,
K./Menasse, E. (Hg.), Trennlinien – Imagination des Fremden und Konstruktionen des
Eigenen, Drava, Klagenfurt/Celovec
Tálos, Emmerich/Wörister, Karl (1998): Soziale Sicherung in Österreich, in: Tálos, Emmerich
(Hg.), Soziale Sicherung im Wandel, Österreich und seine Nachbarn – ein Vergleich,
Böhlau, Wien
Voswinkel, Stephan (2000): Anerkennung der Arbeit im Wandel. Zwischen Würdigung und
Bewunderung; in: Holtgrewe, Ursula/Voswinkel, Stefan/Wagner, Gabriele (Hg.), Anerkennung und Arbeit, UVK Universitätsverlag, Konstanz
Voswinkel, Stephan (2003): Bewunderung ohne Würdigung? Paradoxien der Anerkennung
doppelt subjektivierter Arbeit; in: Honneth, Axel (Hg.), Befreiung aus der Mündigkeit.
Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus, Campus, Frankfurt/Main
Wörister, Karl (2001): Soziale Sicherheit. Aktuelle Daten, AK Wien
Zilian, Hans-Georg (2002): Der ‚Populismus’ und das Ende der Gleichheit; in: Eismann,
Wolfgang (Hg.), Rechtspopulismus – Österreichische Krankheit oder europäische Normalität, Czernin Verlag, Wien, S. 56-73
Zoll, Rainer (Hg.) (1984): „Hauptsache, ich habe meine Arbeit“, edition suhrkamp, Frankfurt/
Main
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